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In diesem Buch, entstanden 2020/21, versammeln sich Gedichte, Notate, Satzreihen, Prosastücke zu einem Journal, in dem das tägliche Geschehen, die Erfahrung von Krise, das Fortwirken der Vergangenheit Seite für Seite mitgeschrieben haben. »Augenblicke entscheiden, wo es langgeht, wohin sich das Geschehen bewegt … Sätze aus einem Früher, das nicht aufgehört hat, im Hier und Heute mitzusprechen.«
Es ist die Fortsetzung eines Selbstgesprächs, das »hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten«, und das heißt auch: der Verfasser vergegenwärtigt Impulse und Motive, die seine früheren Texte durchziehen; er lässt sich auf Wiederholungen ein, wo es darum geht, im zuvor Gesagten den verborgenen Rest des Nichtgesagten, das Übersehene oder Vergessene, zu entdecken. »Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.«
So kommt die Vergangenheit mit Neuigkeiten, die mit den Neuigkeiten der Gegenwart korrespondieren; so kehren Gewohnheiten zurück, die vielleicht vergessen, aber nie verschwunden waren. Und dabei kreuzen sich Erfahrungen und entstehen Zusammenhänge, die etwas kenntlich machen von den Widersprüchen und Täuschungen, den Ungewissheiten und Möglichkeiten unserer gegenwärtigen Existenz.
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Seitenzahl: 69
Jürgen Becker
Die Rückkehr der Gewohnheiten
Journalgedichte
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2022
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin 2022
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Umschlagfoto: Rango Bohne
Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-77217-1
www.suhrkamp.de
für die Erinnerung an Rango Bohne
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
– fortsetzend das Selbstgespräch
Was tut man
Weitere Variationen.
Im Hamburger Treppenhaus
Zwei Leute
Der alte Eimer
Wenige Passanten
Draußen ist es still
Pflaumenmus vom Herbst geblieben
Stiller nie die Ostertage
Draußen flirrt der Blütenstaub
Was du schreibend sagst
Nachts
Rauschen hinter den Wäldern
Es ist trocken
Eine russische Fotografin
Die Bilder hängen
Maiglöckchen
Vereinzelt
Und die Pappeln
Schnitt, nächste Saison
Wir sitzen
Rekombinationen
Wo wir wohnen
Im Rückspiegel
Fast zum Verzweifeln
Gedicht mit Prosasätzen
Still waren die Wochen
Keine Theorie mehr
Für eine Weile
Nach dem Gewitter
Die Menschen
Straßenschilder
Bilder
Später Sonntagnachmittag
Die Räume
Im Traum die Redezeit
Wenn man auf sie wartet
Wiedergefundene Sätze
Wenige Wolken
Kommt uns doch mal besuchen
Die Wespe
Eines Tages
Versäumte Gelegenheiten
Das Klavier
Vergessenes Erleben
Einer nach dem anderen
Sehschwäche
Wir schweifen ab
Dieses müd morbide Gelb
Nun zieht sich
Bestandteile
Keine Reise
Sieh mal
Sommer war
Die Neue Landschaft
Das Ticken
Der kalte Tag
Wie um zu beweisen
Zugvögel zurück in den Norden
Informationen zum Buch
Hinweise zum eBook
– fortsetzend das Selbstgespräch, und wie es hervorkommt
aus dem Schatten des früher Gesagten, an der langen Leine
von etwas, das man Kontinuum nennt.
Regenfelder, Februar
fängt an; tagsüber Licht in den Häusern. Ob man
es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf.
Hausdächer aus den dreißiger Jahren; Straßen mit Biographien,
die wegen Verdacht der Nachprüfung unterliegen; Windböen,
ein paar krachende Ziegel. Der Deutschlandfunk bringt
keine Verkehrsmeldungen mehr.
Stille liegt noch
zwischen Westwall und Maginot-Linie im Februar 40: Zeilen
für einen Lebenslauf, der hineinreicht ins Blickfeld
zwischen Baukränen und dem Himmel Berlins. Jahrzehnte
schreiben mit in einer Küchentisch-Chronik, in der, ob
mit richtig oder falsch geschriebenem Namen, jeder von uns
vorkommt.
Der Vormittag. Ein Chinese taucht auf,
und Passanten wechseln die Straßenseite.
Zuhause sehe ich, daß die Zeitung, die ich
an der Tankstelle kaufte, von gestern ist.
Der Nachmittag. Gestern war, als mein Vater
noch lebte und von Leuten erzählte,
die alle deutschfreundlich waren in Ländern
vor und nach dem Krieg.
Im Nachbarland
Stimmen, die es anders erzählen, und ob man
zuhörte oder aus dem Zimmer ging –
Schnitt.
Nachrichten stündlich. Die Züge fuhren wieder,
eingleisig im Osten, zweigleisig im Westen, bis
wo eine Brücke im Wasser lag.
Variationen
in einer Reihenfolge, die sich an die Daten hält.
Mit Daten nur, das ist so eine Sache, die
einmal vertraut, dann wieder verwirrend erscheint.
Sicher, im Rückblick rutschen die Bilder zusammen,
und so wird ungenau, was du sagst. Zuverlässig
bleibt der Bleistift, der erst schreibt, wenn die Hand
ihn bewegt –
Wenn nachts die weiße Katze
draußen auf der Bank liegt, ein heller Streifen
sich unter den Vorhängen herzieht, das Licht
im Garten des unbewohnten Hauses angeht
und die kreisenden Scheinwerferarme sich kreuzen
über den dunklen Rändern der Stadt –
Augenblicke
entscheiden, wo es langgeht, wohin sich
das nächste Geschehen bewegt; von alleine passiert
nichts. Und was du mitbekommst, reicht nicht aus,
um all die Zusammenhänge zu sehen, ohne die
kein Wasserkessel summt, der Bildschirm schwarz,
die nächste Seite leer bleibt.
Was tut man, wenn man nichts tun kann.
Es schneit. Der Schnee bleibt nicht liegen.
Es schneit weiter.
Schweigeminuten, die sich wochenlang hinziehn.
Dann helfen Zitate weiter.
Der alte Schrank, der alte Ausgehanzug.
Und wieder kommt Post nicht, auf die ich warte
seit Wochen. Die Sache mit Großmutter und ihrem Enkel,
damals im Garten, bleibt stumm ein Geheimnis;
den alten Geschwistern, die darüber reden, hört
keiner zu. Das Photoalbum der Familie
zieht keine öffentliche Spur … fast schon
ein Trost, daß man unter sich bleiben und bestimmen kann,
wann die Gräber eingeebnet werden
– vielleicht ein Versuch,
die Zeit aufzuhalten und geräumtes Gelände
zurückzugewinnen. Weit kommst du nicht mehr, aber
fang nicht damit an, deine Schritte zu zählen; allein
dein Schatten, falls Sonne vorhanden, begleitet dich.
Sonntagmorgen. Beim Frühstückmachen schneide ich mir
in den Finger. Ich denke, die Blutorange vom Discounter
will mich warnen vor dem Paradies. Draußen im Geäst
baumeln schlaffe Luftballons, und ich lese Seite 3
aus der Sonntagszeitung vor.
Zeitgenossen
mit Durchblick, fliegender Wechsel zwischen Küchenstuhl
und rotem Teppich. Im Inneren nagen die Zweifel,
aber der Sog der Drehtür läßt kein Innehalten zu.
Nicht alles sagen, was man weiß; im Radio kann man
das Stirnerunzeln nicht hören oder wenn einer immer nur
nickt.
Hört man die Veränderung in der Stimme … man hört
sie nicht; auch die Kinderzeit-Stimme, bis in den April
der Todesanzeige, behielt ihren eisklaren nordischen Klang
(einmal im Jahr ging das Telefon). Erst spät, nach
einem langen Schweigen, liegt etwas wie Sandpapier
zwischen den Geräuschen des Sprechens, das zögernd
über schmale Atemwege kommt. Kein Wortlaut
für mobilmachende Mitteilungen; die Muschel springt nicht
auf; gelassen rollt die Dünung hin und her
– kann sein,
daß man mit jedem Wort das Falsche sagt. Dennoch,
im Krisenfall versteht man sich. Möglich auch, daß
man das Richtige sagt und damit die Krise erst
auslöst. So oder so, es kommt auf die Art
des Verstehens an, auf Vorgänge im Hintergrund,
die fürs Protokoll nicht vorgesehen sind. Mitbringsel,
die Nachspeise, das Mienenspiel der Beteiligten,
die Stimmungslage läßt sich ja steuern. Rollkoffer,
Twitter, der Fahrer weiß wohin –
Gegenden, Städte,
die man nicht wiedersehen wird. Man blättert
in der Reisebeilage und schaut den Zugvögeln nach.
Seekarten, Stadtpläne liegen verstaubt im Regal.
Der Landweg führt zum Briefkasten gegenüber;
zu Wasser geht es quer über die Pfützen im Hof;
der Wolkenzug überm Vorort stiftet den Luftweg.
Im Wandschrank der Geruch von alten Lederkoffern, und
läßt man nachts das Fenster offen, hört man,
wie auf der Autobahn das Meer rauscht.
Weitere Variationen.Am nächsten Morgen
Rührei mit Tomaten. Toronto läßt grüßen; beim
Wiedersehen gab es den Coffeeshop nicht mehr.
Vergessen den Wortlaut der Gespräche, die wir
in drei Sprachen versuchten, aber geblieben ist
ein Spurenverlauf, der bis in diese Zeilen führt.
Daß etwas davon kenntlich wird, wundert mich,
denn die Entfernung hat sich beschleunigt,
die Verwischungen breiten sich aus …
aber das kennen
wir ja. Das Früher: ein Repertoire. Es ist verfügbar
für jeden Fragebogen. Es liefert Zitate, wo es
um Anklage geht, um die Rechtfertigung, ums Verstehen,
wenn es an der Erfahrung fehlt, an Augenzeugen,
am Dabeigewesensein. Man kann es als Muster
benutzen, das zu jeglichem Verhalten paßt, ob
Persilschein, Blütezeit, Verkehrsdelikt, Rutschgefahr.
Andernfalls, wäre es wie vermintes Gelände, wie Gartengefilde
mit Selbstschußanlage, dann stünde man zögernd da;
man scheute das Risiko, die Nutznießerei
mit einer Verletzung, Verstümmelung zu bezahlen.
Wie hätte ich selber in diesem Früher … man muß
sich schon fragen und nicht so tun, als sei
im Nachhinein alles im Lot. Im Nachhinein: die Chronik
der Ungewißheit und des Erschreckens, ein imaginärer Text,
in dem so viele Stimmen mitgeschrieben haben, fremde
und allzu vertraute, ein Ensemble der Widersprüche,
Täuschungen und Möglichkeiten … Zu Lebzeiten
kein Ende in Sicht, in Sicht wie der Horizont, den
wir nie erreichen –
erreichbar der Tisch
und was darauf liegt. Eine Fläche, die was nun
bedeuten kann, wenn der Tisch leer steht, wenn er
zu sagen scheint: jetzt ist es soweit, jetzt fang nochmal
von vorne an. Ebenso möglich: Schluß jetzt, alles vorbei,
hau ab. Aber dazu kommt es ja nicht … Graphitstaub,
Tabakkrümel, Fingerabdrücke, der Schatten des Fensterkreuzes;
dann flattert ein erster, ein zweiter Zettel heran,
darüber rutscht dann die Zeitung, die Teetasse, Post
und Aschenbecher … Du siehst, wie langsam und logisch
ein Durcheinander entsteht, das vertrauter ist als