Nachspielzeit - Jürgen Becker - E-Book

Nachspielzeit E-Book

Jürgen Becker

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Beschreibung

Mit seinen neuen Gedichten, entstanden 2022/23, setzt Jürgen Becker ein Schreiben fort, das seine Motive vor allem im Wahrnehmen des Augenblicks, im Erleben des Alltags findet. So offenkundig dieses Schreiben von der Gegenwart bestimmt wird, fortwährend mischt sich ein Früher ein, die Anwesenheit des Vergangenen. Die Sätze, die Gedichte, die dabei entstehen, erzählen zumeist von vertrauten Selbstverständlichkeiten, die doch allesamt ungewiss und vom Verschwinden bedroht sind. Und wo Krisen und Kriege im Alltag spürbar werden, hält der Autor an den Hoffnungen fest. »Hoffen wir auf einen trockenen Sommer, auf Heu und Stroh, auf Gas in den Häfen und Kirschen für den Kirschpfannkuchen. Hoffen hat immer Saison …«

Jürgen Becker schreibt, in einem unverwechselbaren Sound, Selbstgespräche für Zuhörer. Sie können Spuren finden, Zugänge in die eigene Biografie. Seine Kriegs- und Nachkriegskindheit korrespondiert mit den Erinnerungen seiner Generation, seine aktuelle Erfahrung mit den Wahrnehmungen der Zeitgenossen, die nicht mehr so jung sind. »Jeder Tag schreibt mit, und er lässt seine Mitschrift nicht jeden Tag lesen.« Und das heißt auch, dass immer ein Schweigen mitspricht, wo Vergessenes keine Wörter findet, Verdrängtes nicht sprechen will.

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Seitenzahl: 61

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Cover

Titel

Jürgen Becker

Nachspielzeit

Sätze und Gedichte

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Regina Göllner

eISBN 978-3-518-78022-0

www.suhrkamp.de

Zeit vorbei, kein Warten mehr; fürs Nachspiel

laufen die Vorbereitungen.

Noch dehnen sich die Augenblicke aus, und

wie sie ihre Geschichte erzählen –

Herbstlaub kommt früher, sagt die Frankfurter, die

ich mir an der Tankstelle hole.

            Das Mädchen an der Kasse

seufzt: wieder kein Regen, Diesel wieder ganz oben.

Der Rechen hängt noch im Schuppen, und der Gashahn

bleibt zu.

    Die Piloten streiken nicht mehr; Kondensstreifen

zerschneiden den Luftraum. Die Äpfel leuchten

und hängen ganz fest; man kann nicht sehen, ob

sie alle wurmstichig sind.

          Besser, sagt das Mädchen noch,

Sie kommen abends zum Tanken, dann gehen die Zahlen

runter.

   Abends zieht sich der Himmel zu; man sitzt hinterm

Haus, wo später als sonst man Licht macht.

Der Tisch und der Blick in den Garten.

Wenn du wissen willst, wie ich meine Zeit verbringe,

müßtest du in der Nähe sein, hinter mir in der Küche,

draußen am Futterhäuschen, im Schuppen bei den Geräten.

Ich kann nur sagen, daß ich versuche,

mit der Leere zurande zu kommen, die jeden Morgen

aufs neue beginnt. Vielleicht, daß mit der vergehenden Zeit

eine Gewohnheit entsteht, an die man sich gewöhnen kann,

wie sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, sobald

die Nacht vorm Fenster steht und der Lichtschalter

ein paar Armlängen entfernt bleibt. Du siehst, ich sitze

so rum, wie früher, wenn du gewartet hast, daß ich aufstehe

und gerade hänge das schief hängende Bild an der Wand.

– zurückblättern, ein paar Seiten … zwei Wochen

nach Ostern noch Ostereier; sie halten sich länger,

wenn sie nicht abgeschreckt sind.

Beim Wiederlesen eines Gedichts liest man,

wie, wenn die eine aufhört,

die andere Stimme anfängt zu sprechen.

Der Sommer konnte kommen, und sicher war man sich nicht,

wie er kam, kurzärmlig oder mit schweren Waffen.

– danach die Stille im Vorort; man könnte meinen,

da wohnt keiner mehr.

Das Photo der Altstadt, in der keiner mehr wohnt;

Trümmer bis über den Bildrand hinaus.

Der Schnee von heut morgen ist auch wieder weg;

wir hatten für einen halben Tag Winter.

Das Foto aus der Arktis,

wo den Eisbären die Eisberge weglaufen.

Mittags ist der Audi verschwunden, Hamburger Nummer,

der seit einer Woche vor der Tür steht.

Keine Ahnung, was sich in den Häusern tut,

ob man Besuch hat, Krach hat, Kreuzworträtsel löst.

Im Wechsel der Augenblicke

mit der Gleichzeitigkeit der Anrufe aus Meiningen, Detroit, Heilbronn,

und im Regenschauer leuchtet die Sonne auf,

bevor sie verschwindet. Das Verschwinden hinterläßt

keine Liste, auf der man nachlesen kann,

was nicht mehr da ist.

Efeu wächst an der Hauswand hoch, schräg gegenüber,

wo einmal der Mann wohnte, der

mit der Schubkarre den Schnee in den Wald schob.

Der Arzt sagt, er will mich bald wiedersehen.

Ihm gefällt nicht, daß ich abnehme, abnehme.

Er will mich auch, wenn ich will, noch einmal impfen;

es wäre zum fünften Mal.

Im Wartezimmer hängt das Foto von einer Möwe.

Alle, die warten, hat sie im Blick.

Nicht alle bleiben krank für immer.

Nie wartet man in der Warteschleife allein.

So geht es, wenn man nicht mehr gut hört: man hört

die Türklingel unten im Hausflur nicht.

Wer es denn weiß, greift dann zum Handy,

und hat man sein Telefon in der Nähe,

bekommt man mit, daß Besuch vor der Tür steht.

Was ich nicht tue, andere tun es.

Wo es nicht regnet, wird keiner naß.

Was der Wind umwirft, hebt er nicht auf.

Wohin man geht, wo man nicht hin will.

Warum jemand anruft, das wird er schon sagen.

Wie es ist, was nicht sein soll.

Weil ich chinesisch nichts sagen kann,

kann ich chinesisch nicht schweigen.

Punkt 11; in der Stadt jaulen 136

Sirenen.

    Probealarm, sagte der Gastwirt

im Dorf,

    wo der Junge mit seinen Eltern

beim Frühstück saß, als

          die eine Sirene

losging, August 39.

Die Nachbarin ruft an, sie will mir

ein paar Waffeln bringen, fünf Minuten später

steht sie vor der Tür, und ich bedanke mich mit

einem Gläschen Quittenmarmelade, von meiner Frau noch

im vorigen Sommer. Ihre Frau fehlt mir,

sagt die Nachbarin, und dann tut sie, was

meine Frau tat mit Besen, Rechen, Heckenschere,

und im Vorgarten siehts aus wie im Sommer zuvor.

Spätsommer, noch einmal warm, und die Gondeln

der Seilbahn pendeln hoch im Himmelblau.

                  Als Charkiw

noch Charkow hieß, ging nach der Scheidung der Eltern

der Ehekrieg weiter. Das rostige Fahrrad, das die Mutter mir

schenkte, hatte sie eigenhändig lackiert … na so was

von alter Mühle, höhnte der Vater.

              Pegelstand unten;

die Schiffe fahren mit halber Fracht. Lieferketten, eins

dieser täglich scheppernden Wörter, hörste da noch zu …

                      Fronturlaub;

zuhaus im Schrank die Ausgehuniform; nach den Kämpfen

auf der Krim ausgezeichnet mit dem Krimschild, aufgenäht

am Oberärmel; Onkel Hans, in der Familie

der einzige Offizier.

        Knistern, Rascheln, Photoalbum.

Motive für das Radio-Stück, in dem die alten Tanten

nicht sagen, was es zu sehen gab draußen im Gelände zwischen

Streuobst und Baracken. Geräusche zeitlos; die Sense klirrt,

ob Senfglas, Suppenlöffel, Koppelschloß.

                Dürre Wiesen

hinter den Häusern. Rheinenergie empfiehlt Erhöhung

der Pauschale. Eine Gießkanne, und das blaue Gesicht

der Hortensie schaut noch einmal auf. Zwei Spechte,

fünf Meisen sind sich nicht einig, wem

die Futterkugel gehört.

         Latein und Griechisch,

der Vater schnalzte mit der Zunge, wenn er mir

die Vokabeln abhörte … als Russisch drankam,

hob er die Hände, nix davon wollte er wissen … nur war ich

ganz froh, wenn mit der einen, der andren Vokabel

ich sagen konnte, was Wladimir meinte, der einquartierte Oberleutnant,

oder was die Streife suchte bei der Razzia

in allen Zimmern.

        Unsichtbar und hängengeblieben,

vergessen und vorhanden, fortgemacht und noch da –

die Spuren des Früher folgen uns nach, ob wir

aufs Fahrrad steigen, zum Briefkasten gehen oder im Keller

Kartoffeln holen, und der Handschuh bleibt liegen,

wo man ihn verloren hat.

Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich,

daß es nicht mehr regnete. Es hatte lange Zeit

nicht geregnet, und es brannten die Wälder.

Wasser kam aus der Leitung, und wir sind

sauber geblieben, und mit uns

die Fliesen, die Wäsche, Teller und Tassen.

Draußen grollt und donnert es, zugange ist die Müllabfuhr.

Kaputt die Eieruhr, die Eier kochen und kochen.

Im Traum alle die Toten, die nicht gestorben sind.

Julian Schnabel fragt sich, warum er so oft

die gleichen Bilder malt, mit verschiedenen Farben.

Drinnen weht die Gardine ins Zimmer.

Die Luft, die man nach dem Einatmen ausatmet, atmet man wieder ein.