Die Rückkehr - Frederick Helmut Pinggera - E-Book

Die Rückkehr E-Book

Frederick Helmut Pinggera

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Beschreibung

Maria Marsala. Eine Saga in drei Büchern. Die Geschichte meiner Großmutter, dieser rätischen Urfrau, die von hier ist und meiner Mutter Mine, die aus der Stadt kommt. Über das Berlin der 36er Jahre kommt sie in das Dorf oben am Hang. Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können treffen im Haus meines Vaters aufeinander. Nur ich, das Kind mit den goldenen Flügelchen, berühre sie beide. Eines Tages aber kommt die Marsala zurück. Dies ist unsere Geschichte: Eine Seelenreise.

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Für meine Großmutter, die ich, der Kleine, Marsala nannte

Wir haben am Ende, aus kindischer Lust, »Verstecken« gespielt in Wäldern und Gründen, Und haben uns so zu verstecken gewußt, Daß wir uns nimmermehr wiederfinden.

Heinrich Heine, Buch der Lieder, Lyrisches Intermezzo, XXVI

Inhaltsverzeichnis

# PROLOG. FESSURA

#1: ERSCHÜTTERUNGEN, BEGEGNUNG IM BLUTMOND, (AUGUST 2018)

#2 SICILY, DOWN UNDER

#3 NIGHTRIDE, NACHTFAHRT DER SEELE

#4 GOSSNLIEGN

#5 MONGOLENFLECKE

#6 »ER«, GROSSVATER

#7 MINE, IL VOLO

#8 TRADATAGE, LAURENZISTEARN

#9 ANGST UMEINANDER

#10 DIE ROTE BANK

#11 RITZUNGEN MIT PFLAUMENKERNEN

#12 ZUR SCHULE

#13 SANDDORN

#14 IM WINTER GAB ES SCHNEE

#15 SOMMERFRISCHE

#16 RACHE

#17 STEINBOCKJAGD IM SPÄTHERBST

#18 LANGASSUNN/ FRÜHJAHRSSONNE

#19 SOANDLAN MIT DI STOANDLAN

#20 GOLD

#21 TREIBHOLZ

#22 ZGANAL

#23 UNSERE SELTSAME WEIHNACHT

#24 DIE TÄNZERIN IM FELD

#25 RADIORAUSCHEN

#26 DIE APOKALYPSE DES JOHANNES

#27 TOTENWACHE

#28 OOTSCHAPPIERT

# PROLOG. FESSURA

Bei Fessura, im oberen Teil unseres Dorfes, hatte die Erde einen Sprung. A crack in earth, wie die Spalte einer Vulva. Und hier, aus diesem Erdsprung kam Wasser hervor, gesammelt, scheinbar aus dem Nichts.

Dort hatte sie mir zu trinken gegeben, die Alte, die ich Maria Marsala rief. Frisches Quellwasser. Wie eine Erdmutter.

Sie hielt diese ihre olivgrünen Hände in die Höhe und das Nass rann durch ihre hohle Handfläche direkt in meinen weit geöffneten Mund und es brannte mir den Rachen hinunter, als wäre es Feuer, und doch belebte es mich so, als hätte sie mir ihr Blut gegeben.

Sie gab mir zu trinken dort, meine Marsala, aus fleischwarmer Hand. Nie mehr habe ich nur annähernd Gleiches getrunken.

Seelenheil.

Tage- und nächtelang lagen wir danach in unserer Gasse, hielten uns an den Händen, die Rücken an der Erde und die Augen in den Sternen. Es waren mehr als Steine im Steinbruch.

Und dann sehe ich sie vor mir, diese verschlissene Haut meiner Großmutter, die so abgetragen war wie altes, brüchiges Schuhwerk.

Als ich sie eines Tages frage, ob denn alles wahr sei, was sie mir da erzählte, schaut sie mich aus scharf geschlitzten Mongolenaugen an und meint: »Alles, was du dir vorstellen kannst, mein Bub, ist wahr.«

Von dem Tag an schreibt es in mir, durch sie.

#1: ERSCHÜTTERUNGEN, BEGEGNUNG IM BLUTMOND, (AUGUST 2018)

Ich las die Zeichen, mein Freund, nicht die Buchstaben.

Der Holunder unter dem Haus hatte das Laub abgeworfen, stand da wie abwesend, war nur mehr Stroh um diese Jahreszeit. Welche es war, ich weiß es nicht. Sie fehlte mir, und so schloss ich die Augen in der Ahnung nach den Dingen, machte mich einmal mehr auf die Suche nach ihr.

Das Totenbrett, es stand da, angebissen an der Oberkante durch einen Raben, der eifrig darauf hin und her rutschte, als ich ihm zusah. Nebelsuppe an dem Tag. Man sah nicht weiter als ein paar Meter, und der Himmel war verdunkelt und die Sonne darin verloren.

In den Lägern von Trada schliefen wir in der Nacht Bauch an Bauch wie die Tiere. Auf alten Wegen, ausgetreten von der Zeit durch Schuhe und Hufe, waren wir hochgestiegen, meine Frau und ich, den Rinnen der Schafe entlang.

Wir saßen in der Seite des Munwarter, unseres heiligen Berges, auf der Höhe der Steinernen Männer, als weit vor uns, an der Jennwand, der Mond erschien. Er war rot wie Blut.

Wolkenfetzen im Blutmond. Dünne Fäden, verwischte Ondulierung. Und vorne ein Seil, eine Lebensschnur. Darauf eine Frau. Tamtamtamtam.

Wie ein Siebenschläfer, eine Baummaus. In Trippelschrittchen läuft sie von einem Ende zum anderen. Traumtänzerin im Scherwind. Böig geblasene Versuchung. Meine Marsala. Unverkennbar an ihrem Glockenrock.

Im Blutmond

Als wir die Augen schließen, dringt aus der Ferne zu uns ihre Geschichte:

»Geboren unter keinem guten Stern«, sagt die Stimme. Geboren war sie in den ersten Tagen des Novembers. Man hatte ihrer Mutter, der Großen, den Auftrag gegeben, die Schafe zu holen. Gegen Abend kommt böiger Südwind auf, Schneeluft. Fetzen, vollgesogen, die an steilen Hängen schwer hinunterfallen, als wären sie besoffen.

Als der Schneefall einsetzt, ist es trübe im Gelände, keine Sicht. So muss sie bleiben und das friedliche Fallen federleichter Flocken gibt ihr diese rasende Ruhe, eine seltene Geborgenheit. Sie rastet, müde von den Strapazen eines ausgesetzten Lebens. Es beutelt sie, wirft sie herum, von der einen Seite hin zur anderen.

Sie schaut dem Schnee zu. Und das grüne Schafhaar an ihrem weiten Umhang wird langsam weiß, und es ist diese Wärme in der Kälte, die ihr die seltsame Lust gibt auszuharren. Diese schüttere Före, unter deren Dach sie sitzt, hält ihr einen Kreis offen. Schneefrei.

Am Morgen danach findet sie der Schäfer zusammengekauert. Und aus der Decke zieht er ein Kleines hervor. Sie hatte über Nacht ihr Kind geboren, Maria, ihr einziges, das kommen würde. Die, die ich Marsala rief.

Verlegen seine Rede, als der Mann in das Dorf kommt. Er stammelt, wirkt verstört. In kurz gehackten Sätzen sagt er: »Man wird sie holen müssen.« Und: »Erfroren, draußen. Liegengeblieben über Nacht.«

Die Kleine liegt bäuchlings auf dem Arm des Hirten. Am anderen Arm trägt er ein frisches Lamm, gefolgt vom Mutterschaf. Unsicheres Blöken, Suchen. Das Kind tat das nicht.

Den Ort, an dem dies stattfand, nennen die Menschen von dem Tag an die »Toten Böden«.

In immer denselben grauen Kleidern verrichtet die Kleine von klein auf die Geschäfte einer Großen. »Hartes Brot für eine Junge«, sagt eine Frau, »schrubben, kochen, Kartoffeln mit Suppe, Suppe mit Kartoffeln«. Mit flinken rauen Händen stopft sie löchrige Strohsäcke, ihr Lager. Auf die fällt sie tagtäglich wie tot.

Da kommt »er« eines Tages, Gabriel, ihr Glücksritter.

Lange war er nur ein Punkt, draußen auf Piola, plötzlich sitzt er da, neben ihr auf der Bank. Annäherung, fast im Schlaf. Dann ist er über ihr, in ihr am Kanapee, und als er geht, sagt er, dass er sie »holen kommen werde«.

Ohne ein »Vater im Himmel« am Morgen sagt sie ihrem Vater, dass er »zum Wirt gehen soll«.

Tagesgeschäft: Der Vater im Wirtshaus, sie auf den Feldern. Erde, die kollert, Mist, den sie hochträgt. Morgengebet, Brennsuppe und Feld. Neun Uhr Andacht, dann Feld. Mittagsläuten mit Andacht, dann Feld. Drei Uhr Andacht, dann Feld. Ave-Maria-Läuten, dann Füttern.

Zähes Landleben, unterbrochen nur vom Blöken der Schafe und von den in den Boden gemurfelten Worten eines gottverlassenen Gebets.

Der Vater betrunken seit den Tagen des Schneefalls, täglich. So hat der Richter von Scarpatetti in Glurns die Felder den Nachbarn zugewiesen, der Vater das Haus verpfändet.

»Er«, Gabriel, lässt den Vater zu sich kommen, hinauf zum Tschnetta-Wirt, und erzählt ihm, er habe »die Taschen voller Trinkgeld«, er werde »sie auslösen«. »Sie«, denkt er, der Alte. Bläst durch die Nüstern wie ein Ochse. Aber sagen tut er nichts. Außer: »Ja.«

»Er« wird sie heiraten.

Sie lässt den Alten am Weihwasserbrunnen stehen, als sie hinaustritt ins Freie. Einer quer über die Talschaft gespannten Schnur turnt sie entlang. Scherwinde. Doch heute wechselt sie die Seite.

Heu im Haar, riechen beide nach den Schafen, der Erde und bald auch schon nach Alltag.

Dann nimmt »Er« sie mit in die Schweiz. In Davos verpasst man ihr ein langes Kleid: einen walisischen Glockenrock mit aufgenähten rhätischen Spiralen. Viel zu ähnlich ihrem Temperament, zieren die blutroten Ringe diesen dunklen, fast samtigen Stoff. Mongolentemperament in den Venen, bleibt die Frau dort oben, in diesem gottesfürchtigen Landstrich, eine Fremde mit ihrer südländischen Art.

Sie kann nicht schreiben, nur schauen, kann nicht lesen, nur hören, kann nicht still sein. Und so sagt sie eines Nachts: »Komm, wir gehen heim.«

»Bernarda ist angekommen.«

Marsalas Kelch ist geöffnet in diesem Frühjahr. Mit blutrotem Gesicht erscheint das Mädchen am Morgen in der Welt. Der Mann wird jetzt ein Kind, mit ihr. Instinkt des Lebens, lässt er sich von der Kleinen gefangen nehmen, knetet ihr den Nacken. Er, der große Gabriel, reibt ihr mit zarter Tatzenhand die Haut.

Dann halten sie ein »kloakengrünes Telegramm« in ihren Händen. Die Ränder des Schreibens sind abgegriffen. Selten kommt Post, und wenn sie kommt, ist es nichts Gutes. In der Ecke des Absenders steht ein Adler. »Doppelkopf«, sagt die Marsala, Schnäbel, scharf und spitz, als würden sie loshacken. »K. u. k. Ministerium der Landesverteidigung«, steht da, »Einberufung«.

Gabriel geht. Es rattern Züge. Bozen, Wien. Da ist er nie gewesen. Lemberg, Galizien.

Da findet die Marsala ein Gedicht in ihrer Tasche. Erinnerung an glücklichere Tage vor dem mit leichtem Grünspan übersäten Spiegel einer halbhohen Wäschekommode. Rilke, der es ihr nach einer Lesung in Davos in die Rocktasche schiebt. »Novembertage«, heißt es. Jetzt holt sie es hervor.

Sie kann es auswendig. Die Buchstaben erkennt sie nicht, doch sie malt sie ab. Es sind Zeichenfetzen, die sie laut redend schreibt an dem Abend. Sie faltet das Blatt, steckt es in ein hautgelbes Couvert, das er ihr erst geschickt hat, vertauscht dabei die Adressen, schickt es ihm nach in die »russischen Sümpfe von Lemberg«.

In einem Lazarett lesen sie es ihm vor.

Dann kehrt er heim. Sie kann ihm Buben schenken im nächsten Frühjahr, Zwillinge. Meinen Vater. Der schenkt das Leben irgendwann mir.

So lehrt sie mich aufstehen von der Erde, Furchen nachzugehen, dem Erdboden entlang, und den Geschichten zu trauen, so die sich schlüssig anfühlen. Sie heißt mich, den Kopf in den Nacken zu legen und aufrecht zu gehen. Niemals waren wir Meister und Schüler, immer »Partisanin und Partisan«: Sie möge keine Sklaven.

Als ich alles kann, beschließt sie zu gehen, ist »ootschappiert« an einem schönen Nachmittag.

Da ziehen der Vetter Hermann und ich ihr »das Totenbrett unter dem Arsch heraus« und bringen es an den Ort, den die Menschen die »Toten Böden« nennen. Mein Ort der Erinnerung.

Eines Tages aber ist da ein Riss, a crack in the earth. Dem werde ich nachgehen.

Dann sehe ich uns auf dem Rücken liegen, die Marsala und mich, drüben in Trada vor den gleißend weißen Bergen, und aus dem Firmament fallen Sternenteile, die glimmend auf die Erde schlagen und zu tausenden Stücken zerschellen.

»Laurenzistearn«, höre ich mich sagen, »plekkat drstoubn, offplotzt ban Grint« (Laurenzisterne, nackt zerstoben, aufgeplatzt am Kopf ).

Rekonvaleszenz der Gefühle.

»Triff mich«, sagt die Marsala. Ist immer noch da draußen auf dem Seil. Nebel, der nun dichter scheint, Schneetreiben. Dann, Fetzen von Sprache. Als wäre sie steckengeblieben kurz vor dem Ende, auf offener Weite. Nach unten gekippt. Wippend.

Spiralförmig baumelt ihr Haar in die Tiefe, lustlos und silberfarben. Eine ins Leere fallende Schnur. Wie ein Pendel schlägt sie hin und her, ehe sie zur Ruhe kommt.

Hängt am Ring um ihre Füße, reglos.

Und kopfüber.

#2 SICILY, DOWN UNDER

Stromboli, San Vito Lo Capo, 2019. «A volte ritornano«, sagte der Mann, «manchmal kommen sie zurück.«

Als am 3. des Monats July die Kuppe des Vulkans Stromboli explodiert, dringt Magma aus einem handbreiten Riss. Kriechend schiebt sich das Feuer die Kante des Berges hinunter, bäuchlings wie ein fußlahmes Tier. Dann trifft die rotglühende Lava auf das Wasser, das zischt, und die Masse erstarrt sterbend zu astralschwarzem Stein. Streifen der Verwüstung durchziehen aschtrocken die Kruste, und über dem Spalt am Gipfel hängt blaugrau der Rauch.

Hinter einer kaputten Jalousie steht ein Mann, schaut hinaus in die Nacht. Lädierte Szenerie. Feucht kleben ihm die Kleider an der Haut, und die Farbe des drittklassigen Hotels blättert von den Wänden.

Aufgeschwollen und aufgedunsen alles. Auch diese Nacht.

Jetzt, wo der Wind dreht, treiben Boote auf dem offenen Meer. Frauen, die aus Schlauchbooten kriechen, Kinder in den Armen, und aufgerissene Rucksäcke schwimmen lose treibend in einer aufgeworfenen See.

Scheinwerfer suchen das Wasser ab. Hektisches Rufen, banales Zueinanderfinden, Menschen, in Decken gehüllt, sitzen apathisch im Kegel bläulich flackernder Sirenen. Als sie ihre flachweißen Hände aus eisenverschweißten Kerkergittern strecken, sieht man, dass sie um Hilfe bitten, und da ihre Zungen abgeschnitten sind, reden sie mit den Augen.

Sie reden in simplen Gesten vom Herkommen. Auf der Stirn erscheinen ihnen Bilder: Karawanen von Menschen, die Sanddünen entlangtrotten, in endloser Länge, sie durchqueren erst Länder, dann die See.

Ich liege auf dem Bett, rücklings. Da steigen die Figuren des t’Hertogenbosch an Land: Kröten mit gespaltenen Köpfen, Sensen führende Eulen mit Gazellenbeinen und Kardinäle, die an purpurroten Spieltischen mit Würfeln aus Menschenknochen um die Seelen der Gestrandeten spielen: »Christenmenschen müssen wir machen aus ihnen.«

Sie kommen aus den Wassern, irren über die Hänge und ziehen kriechend eine nasse Fährte hinter sich her. Vor leeren, versperrten Häusern bitten sie um Brot und um Einlass.

Als das Rufen verebbt, kann ich nicht mehr schlafen.

Jetzt kommt eine Frau aus den Wassern, sitzt in der Menge Wartender, hat ihren Rock weit über die Knie gestreift, patschnass. Es ist der Glockenrock der Marsala, eindeutig, ich kann diese rhätischen, nach innen drehenden Sonnen zählen, es sind dreizehn.

Rettungssirenen, Scheinwerfer, drehendes Blaulicht. Lava, die sich ins Meer schiebt. Berstend. Immer noch. Weltuntergangsstimmung. Und ich stehe hier, an der zerbrochen kaputten Holzjalousie eines drittklassigen Hotels und schaue gebannt in die Nacht.

Schwefelrauch draußen und Schwüle hier drinnen. Die Luft, die hier steht, riecht nach mock orange, bitterer Orange.

Als die Nacht zum Morgen kippt, trägt der Mond einen blauen Hof und ich gehe, halb schlafend noch, zum Meer. Das Wetter hat sich beruhigt. Lau immer noch, und in immer gleicher Kadenz schlagen Wellen an die untere Kaimauer. Boote baumeln lose hängend an langen Tauen und ihre Ruder sinken gemächlich platschend in die See. Wasser, matt onduliert, schimmernd. Leicht tänzelndes Schlagen.

Da kommt sie mir entgegen, vom Meer herauf. In ihrem wehenden Kleid, übersät mit den Spiralen der rhätischen Sonne, hängt sie am Arm eines Mannes, den ich in einem Musikvideo schon einmal gesehen habe: Frederick Vasco Negroamaro.

Sie hat eine Haut wie dunkler Sand, fast olivgrün. Er ist in verrückte Kleider gehüllt. Er dirigiert sie, redet unablässig, er hat ihr seinen Arm unter-geschoben, führt sie hölzern.

Erschreckend, diese Ähnlichkeit mit mir. Nein, nicht die Statur, auch nicht die Sprache, sondern lediglich Körperhaltung, Gesten und Mimik. Sie waren wie meine.

»Alter ego in moto? Gibt es das?«, denke ich.

Alter ego in moto/Sicily

Dann ist sie vorüber. Ich drehe mich vorsichtig um, folge ihren Spuren mit den Augen. Ihre Tritte sind noch im Sand und der Wind spielt unablässig sein Spiel.

Will sie mich nicht sehen?

In der Ferne scheppern Automaten. Als ich an einen Lunapark komme, kaufe ich mir einen Luftballon. Der ist aus lamelliertem Plastik, rot und silbern, so, dass er schillert und glänzt. »Den will ich«, sage ich, lege ganze sieben Euros hin und halte ihn fest. Er baumelt zappelnd an einer langen Schnur, wirbelt zitternd in der vom Meer hereinziehenden Brise.

»Marsala« steht auf dem Schild zum Eingang dieser Siedlung, und es erinnert mich an ihren Likör. Er war dunkelgrün, schmeckte nach abgestandenem Löwenzahn und wirkt jetzt bitter nach.

»Fratelli Marsala.« An der Eingangspforte zu dem Werk geben sie mir eine Werbekarte, die ich ihr nun schreibe: »Liebe Maria«, so beginne ich, »ich schreibe dir heute aus Marsala. Verzeih meine Sehnsucht. Ich hatte dich wohl vergessen, aber vorhin bist du an mir vorübergegangen. Warum redest du nicht mit mir?«

Ich bitte um eine Öse, hänge die Karte mit meiner Nachricht an das Band. Dann lasse ich den silbrig-roten Ballon starten. Schwänzelnd dreht er sich den Gebäuden entlang nach oben, bis er in diesem flachen, blaugrauen, ruhigen Himmel verschwindet.

Auf offener Strecke dann, in freiem Land beginne ich mit ihr zu reden. So für mich und in Gedanken verloren sage ich: »Offenbar bist du an mir vorübergegangen.« Ich murmele es stoisch vor mich hin. »Offenbar ist hier gar nichts«, mault sie kurz, knapp, scharf, dreckig.

Sie redet wieder. Ganz die Extrovertierte. »Bissgur mit Mongolenfleck«, sage ich jetzt zu ihr. Und ich starre in den Himmel. »Außer, dass wir uns zugeneigt sind«, gibt sie zurück. Sie redet mit mir wie mit einem Kind, aber das »wir« versöhnt mich.

Und so will ich nicht weggehen von da, ohne eine Gegenprobe.

An den müden Hängen dieses staubtrockenen Landes wachsen Kamillen. Eine breche ich mir, dann zupfe ich ihr die Blüten aus dem Bauch. Eine für eine. Kurz überfliege ich ihre Anzahl.

Überflüssig. Ich ahne schon, wie es ausgeht.

#3 NIGHTRIDE, NACHTFAHRT DER SEELE

Sie liegt in der Luft. Tagträumend kann ich sie sehen, und als ich zwischen aschgrauen Gardinen hindurch aus dem Fenster blinzele, steht unten ein Wagen. Ein dunkelroter Cadillac Eldorado mit weit offenem Schlag. Hinten sitzt diese Frau, alleine, wie verloren. Das Kopftuch trägt sie heute im Nacken.

Pochen an der Tür. Vorsichtig öffne ich. Vor mir steht ein Mann, schlaksig und groß, trägt eine Kappe, unser Typ. Gedeckt graue Klamotten lassen ihn altmodisch aussehen, und diese hirschhornfarbene Sonnenbrille ist aus einem weit zurückliegenden Film.

Diese Kappe sitzt ihm tief in der Stirn, fast in den Augen. Über dem Rand eine Aufschrift: »Hotel Passo Stelvio.« Ich suche sein Gesicht, aber er trägt keines.

Der Mann kommt also von dort, wo ich zu Hause war.

In der Hand hält er die Karte. »Gestern habe ich die meiner Marsala geschrieben«, sage ich erstaunt.

Er dreht sie zwischen den Fingern. Feingliedrige, zarte Hände voller Sommersprossen. »An mein Engelchen«, steht da. »Du wirst kommen.« Höflichkeit ist noch immer nicht ihre Sache. Doch irgendetwas muss es bedeuten. »Wie ein Berg denken heißt, ihn als Ganzes zu verstehen«, sage ich.

Er war fort. Diese Schrift gestochen scharf, die der leibhaftigen Marsala.

»Was willst du von mir?«, brülle ich hinter geschlossenem Fenster. Noch suche ich sein Bildnis, das des Fahrers, im Kram meiner Vergangenheit. Aber Erinnerung ist ein scheues Ding, sie mag es nicht, wenn man sie drängt.

Ein Hineinwerfen von Gegenständen und Kleidungsstücken in einen sperrigen Koffer wird es, denn Unruhe lässt mich fliehen. Ich werde diese barocke Südstaatenvilla also verlassen, mein kleines Hotel »Al cavallino matto«.

Ich lege Trinkgeld auf den Rand des Bettes. Schuhe, die auf abgewetzten Steintreppen rutschen. Geräusch eines im Traum strauchelnden Pferdes.

The driver/Der Fahrer

Beim Durchqueren der Halle rattern die Räder wie Flugrotoren. Sie schlagen klackernd an die Fliesen eines dunkelbraunen Cottobodens und der Concierge, den ich um die Rechnung bitte, sagt konsterniert, dass die Signora diese schon bezahlt habe: »La signora ha saldato tutto«, sagt er missmutig, »E La sta aspettando da ieri sera.«

Er schaut mich an wie ein Lehrer seinen Schulbub: Sie warte schon auf mich seit gestern Abend.

»Ah, che meraviglia«, meine ich. «Che pirla«, ruft er mir nach, halblaut. In seinen Augen war ich ein erbärmlicher Idiot.

Draußen ist es taghell. So sauge ich die Luft ein, während der livrierte »Mann vom Dienst«, unser Chauffeur, am Wagen steht, die Scheiben putzt und mir den Schlag aufhält: »Vom Dschungel in den Zoo sind es immer nur ein paar Schritte«, sage ich, »nicht wahr, mein Dienstmann?«

Diese Nähe, als ich ihn passiere.

»Du würdest es doch auch tun?«, frage ich in seine regungslose Mine. Ein Funken von Vertrautheit. Hat er genickt?

Die Frau von gestern war vergraben in einen übergroßen beigen Sessel, trug Büßerkleidung. Die Haare geschoren. Rhätische Sonnen auf einer Stola. Subtile Kreise. Perlen eines holzgeschnitzten Rosenkranzes, wie ein Accessoire.

Die Frau aber ist real. Als sie die armlangen roten Handschuhe abstreift, greife ich nach sienabraun gebrannten Knochenarmen. Olivblau die Haut am Rücken ihrer Hand, über die ich streife. Sie zuckt, dann lächelt sie verlegen, sagt: »Zier dich nicht.«

Dann schaut sie, legt ihre offene Hand in meine. Die Innenfläche weiß. Meine lege ich daneben. »Zwei große ›M‹s «, sage ich, »Kreuzungspunkte, viele«.

Ihre Augen nach oben gedreht, der Kopf nach vorne geneigt, wartet sie scheu auf meine Ansprache: »Wie lange schon habe ich diese Haut entbehrt«, sage ich. Ich führe ihre Finger an meinen Mund, rieche daran: »Wermut mit Ziegenmilch«, sage ich, dann küsse ich sie, diese grundtiefen Griffel, sauge den Geruch in mich. Wiedergeburt der Sinne.

»Es ist heiß heut draußen«, sagt sie, wirkt verwirrt.

Sattes, schweres Schmatzen, als der Schlag zufällt. Der Fahrer rutscht in seinen bis dahin verwaisten Sitz, schaut in das Spiegelchen, erwartungsvoll: »Fahr uns nach Lichtweer, an den Beginn unseres Landes«.

Sie ist bestimmt, weiß wie immer, was sie tut. So schiebt er umständlich Gänge in ihre Position, treibt das kleine Lenkrad an einer dünnen Stange. Das Gefährt ruckelt, dann rollte es über die abschüssige Rampe, und hinaus.

Wir ziehen einer gut frequentierten Küstenstraße entlang, und bald schlagen die Ritzen der Betonplatten rhythmisch. Felsigen Vorsprüngen entlang pirscht sich der Wagen voran, gefedert wie ein Schiffchen auf Rädern.

Asphaltbahnen.

Nach vorsichtigem Tasten kriechen wir nun wortlos ineinander. Es ist ein Liebkosen, eine subtile, lange nicht mehr geübte Kunst. Unterirdischen Kavernen entlang dringen wir vor, durch Innenbahnen, knietief ins Blut. Wie in Trance läuft das, als wäre es pure Lust, die Zeit unendlich.

Fenster, beschlagen von Atem. Draußen ist Sommer. Eine Autobahn entlang eines Grabenbruchs gezogen, läuft nordwärts.

Endlosen Hautflächen entlang waten wir an Ellenbögen vorbei, machen Halt kurz in feuchten Achselhöhlen, zwängen Hände in die Vertiefung am Genick. Ich streiche ihr über die spitzen Wangenknochen, sie streicht über meine dünne Haut; durchsichtig sind wir, wie Seidenpapier.

Und dann liegen meine erschöpften Finger in der tiefen Senke ihres Schlüsselbeins. Und bleiben da.

Zwei Seelen, die in Schleife geraten, in einem Magnetfeld stehen. In einem seltsamen Dialog treiben wir dahin. Resonanz entsteht, Schwingung in Gefilden, die wir lange nicht mehr betreten hatten.

In dem Spiegelchen vorne sehe ich meinen grauen Bart, halblang und halb-schlecht rasiert. »Falten hast du, Mann«, denke ich. Ihre Augen scheinen verdunkelt zu treiben auf sumpfigen Wassern, leuchten zuckend, erinnern an einen versunkenen Schamanen.

Jetzt sucht er mich, der Fahrer. So treffe ich ihn, da, in dem quer-hängenden, kleinen Board.

Hitze gegen Nachmittag.

Sie sitzt, neigt sich, fällt. Ein Wesen in Seenot, ausgeliefert den Windungen der Strecke. Sie wiegt nichts mehr, die Frau. Wie viel sollte eine Seele wiegen bei ihrem Eintritt ins Totenreich? Mein alter Lehrer Josef erscheint mir, zeichnet das Gleichnis der Feder an die Schultafel. Ich sehe das Bild.

Jetzt bin ich mittendrin.

Wie ein blinder Dritter reitet unser beflissener Dienstmann die weinfarbene Karosse entlang einer endlos geradeaus laufenden Strecke. Er scheint ein Wissender auf der Nachtfahrt zu sein, kutschiert unsere Seelen entlang der Naht nun zwischen Asphalt und Aschen.

Unruhige Finger, manikürt. Zarte Hände ragen aus halblangen Lederhandschuhen, liegen still am silbrig glitzernden Lenkrad und drehen dann an blanken Knöpfen: »warped by the rain, driven by the snow, I’m drunk and dirty, don’t ya know, and I’m still willin‹ «.

Das Lied, es ist von früher.

Wie zwei verlorene Hunde, die sich wiedergefunden haben, liegen wir da, ein Knäuel Menschenkinder. Das Land liegt flach, die Luft ist aufgedunsen, als wir in eine weite Ebene kommen. Dösen, Stillstand und Wachtraum.

»Wer sich hierher verirrt, ist aufgehoben«, sagt sie plötzlich. Es ist diese alte, vertraute, verlässlich klingende Stimme, die mir ins Fleisch fährt. Brüchig, krächzend.

Nackte Füße, sie ist barfuß.

Der Fahrer schleicht entlang der offenen Erde. »Ich will dich nicht verletzen«, sagt sie, »das ist das Letzte, was ich will, aber du bist größer geworden.«

Sie redet wie ein Traumdeuter. Ich lasse sie. Wir sind aneinandergekettet, vielleicht waren wir es schon immer, jedenfalls hatten wir nun sieben Tage und Nächte miteinander verbracht auf unserer waghalsigen Flucht durch narbig aufgerissene Seelenlandschaft.

Und so bleiben wir sicherheitshalber fest aneinandergeschmiegt, aus Angst vor dem Verlorengehen. Wie zwei dem Schicksal zu entrinnen suchende Kinder.

An einer schon am Morgen belebten Tankstelle hielt der Fahrer, betankte sorgsam den Wagen. Wieder und wieder schaute er nach mir, wo ich hinging, was ich machte. »Toilette, Kaffee, Brioche mit Marmelade«, sage ich, »Was sonst?«

»Let us move.« Die Marsala ist bestimmt. So setzt er die Gänge, wie eine mit Fahrerlaubnis ausgestattete Marionette.

Von der Ebene kommend zog der Wagen jetzt in eine tiefe Schlucht, einem Fluss entlang, der zwischen aufragenden Felsen hervorkam. Weinfelder, die an uns vorbeiziehen. Eine Hügellandschaft, die sich aufbaut, bleiche Berge, ein Tal. Wie von selbst sucht sich der Wagen seinen Weg.

Besoffen von Heimweh irren wir durch die zum Himmel ragenden Riesen hinein in das dahinter liegende Land.

Der Marsala vibrieren die Nasenflügel. Klein, dieser Kopf. Adern wie ein Pferd. Sie betet, sucht Ruhe, dreht Perlen an ihrem altmodischen Rosenkranz. »Auf was wartest du?«, frage ich sie.