Die Saar-Töchter - Zeiten des Aufbruchs - Katja Dörr - E-Book

Die Saar-Töchter - Zeiten des Aufbruchs E-Book

Katja Dörr

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Beschreibung

Eine bewegte Zeit. Eine junge Frau. Eine große Liebe.

St. Ingbert, nahe der französischen Grenze, 1889: Elisabeth und Peter führen ein erfülltes Leben; Peter steht kurz vor seiner Pensionierung. Als eine Streikwelle aus dem Ruhrgebiet auf ihre Heimat überzugreifen droht, soll Peter dabei helfen, die Unruhen im Keim zu ersticken.

Seine jüngste Tochter Frieda ist längst alt genug, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und fühlt sich im Haus ihrer Eltern zunehmend eingeengt. Sie musste sich bisher um nichts sorgen, doch langsam wird ihr klar, dass sie mehr vom Leben will als ein Dasein als pflichtbewusste Tochter und Ehefrau. Als sie von den Unruhen unter den Bergleuten hört, ist sie fasziniert: So hat sie vorher noch niemanden reden hören - von Veränderung und Aufbruch ...

Sie fühlt sich hin- und hergerissen. Denn sie hat sich Hals über Kopf in den Bergarbeiter Hanno Siegler verliebt, der einer von genau den Aufrührern ist, die ihr Vater eigentlich stoppen sollte.
Und so muss sie sich das erste Mal entscheiden: Soll sie ihrem Vater beistehen, oder folgt sie ihren Idealen - und ihrem Herzen?

Die Fortsetzung der mitreißenden Familiensaga. Der Bergbau im Umbruch. Eine junge Frau zwischen den Verpflichtungen ihrer Familie und dem Ruf ihres Herzens.

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Inhalt

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Über dieses Buch

Titel

1889

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Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Eine bewegte Zeit. Eine junge Frau. Eine große Liebe.

St. Ingbert, nahe der französischen Grenze, 1889: Elisabeth und Peter führen ein erfülltes Leben; Peter steht kurz vor seiner Pensionierung. Als eine Streikwelle aus dem Ruhrgebiet auf ihre Heimat überzugreifen droht, soll Peter dabei helfen, die Unruhen im Keim zu ersticken.

Seine jüngste Tochter Frieda ist längst alt genug, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und fühlt sich im Haus ihrer Eltern zunehmend eingeengt. Sie musste sich bisher um nichts sorgen, doch langsam wird ihr klar, dass sie mehr vom Leben will als ein Dasein als pflichtbewusste Tochter und Ehefrau. Als sie von den Unruhen unter den Bergleuten hört, ist sie fasziniert: So hat sie vorher noch niemanden reden hören – von Veränderung und Aufbruch …

Sie fühlt sich hin- und hergerissen. Denn sie hat sich Hals über Kopf in den Bergarbeiter Hanno Siegler verliebt, der einer von genau den Aufrührern ist, die ihr Vater eigentlich stoppen sollte.

Und so muss sie sich das erste Mal entscheiden: Soll sie ihrem Vater beistehen, oder folgt sie ihren Idealen – und ihrem Herzen?

Die Fortsetzung der mitreißenden Familiensaga im Saarland. Der Bergbau im Umbruch. Eine junge Frau zwischen den Verpflichtungen ihrer Familie und dem Ruf ihres Herzens.

Titel

1889

1

St. Ingbert, 27. April 1889

»Wunderbar!«, schwärmte Peter, lehnte sich auf der mit blauem Samt gepolsterten Sitzbank zurück und legte den rechten Arm um seine Frau, die sich an seine Seite schmiegte. »Genau so hab ich es mir gewünscht.«

»Genau so, was?« Elisa schüttelte langsam den Kopf. »Es ist dir also tatsächlich lieber, mit deiner Familie in unserem Stammcafé ein Stück Kuchen zu essen, anstatt dich bei einem Sektempfang mit Dutzenden Gästen feiern zu lassen, auf dem Reden gehalten werden, die dich und deine Verdienste würdigen?«

Peter nickte heftig. »Und ich sehe immer noch nicht ein, was daran schlimm sein soll, Liebes«, sagte er und strich ihr über den blonden Lockenschopf, der seit einigen Jahren von feinen weißen Strähnen durchzogen war.

»Lass ihn doch, Mama«, mischte sich ihre älteste Tochter Margarete ein, die an der gegenüberliegenden Seite des Tisches neben ihrem Mann Gustav saß. »Du weißt schließlich am allerbesten, dass es keinen Sinn hat, Papa etwas ausreden zu wollen, das er sich in den Kopf gesetzt hat.«

»Hört, hört«, sagte Peter, versenkte seine Gabel in dem dicken Stück Käsekuchen, das vor ihm auf dem Teller lag, und zwinkerte ihr zu. »Von unserer Tochter kannst du noch was lernen, Elisa. Das Mädchen versteht mich einfach.«

»Das Mädchen ist sechsunddreißig Jahre alt, Peter.« Sie beugte sich zu ihm und hauchte einen Kuss auf seine stoppelige Wange. »Manchmal könnte man meinen, bei dir sei die Zeit irgendwann stehen geblieben. Aber zumindest die kannst selbst du nicht überlisten.«

»Ach papperlapapp«, erwiderte Peter. »Vergiss nicht, dass heute mein Ehrentag ist. Und an dem sage ich zu meinen Mädchen eben Mädchen, wenn ich möchte. So viel wird mir ja wohl noch erlaubt sein.«

Elisa musste über die gespielte Empörung in seinen Worten lächeln. Vor allem aber durchflutete sie ein warmes Gefühl, als sie in seine schelmischen und zugleich wachsam funkelnden Augen sah, in die sie sich vor fast vierzig Jahren verliebt hatte. Sicher, auch an Peters Äußerem war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Sein schwarzes Haar war schon vor gut einem Jahrzehnt vollständig ergraut, und den wilden Bart trug er längst nicht mehr. Zärtlich betrachtete sie die kleinen Fältchen um seine Augenwinkel und um seinen Mund. Trotz allem war er im Inneren eben immer noch ihr Peter. Jener eigensinnige Mann, der jederzeit zu so gut wie allem bereit gewesen war, außer dazu, sich mit seinem Schicksal abzufinden.

»Mir macht es nichts aus, wenn Papa Mädchen zu mir sagt.« Frieda grinste und verzog ihre sommersprossige Nase.

»Du bist ja auch eins«, hielt ihre ältere Schwester ihr entgegen. »Oder hast du jetzt, wo du bald einundzwanzig bist, plötzlich vor, erwachsen zu werden, Nesthäkchen?«

»Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst, du …«

»Schluss jetzt!« Elisa hatte ihre Stimme kaum erhoben, aber scheinbar genügte ihr scharfer Ton, denn beide Töchter sahen mit zusammengekniffenen Lippen auf ihre Kuchenteller hinunter.

Margarete fand als Erste ihre Stimme wieder. »Entschuldige bitte, Mama«

»Schon gut.« Elisa winkte ab. »Es ist ja nichts passiert. Esst euren Kuchen auf, und vergesst für einen Nachmittag mal eure kindischen Streitereien. Schließlich geht es hier nicht um uns, sondern wir feiern die anstehende Pensionierung eures Vaters. Peter, willst du noch …« Sie verstummte, als sie bemerkte, wie sich die Miene ihres Mannes verfinsterte, während er quer durch das kleine Café auf zwei ältere gut gekleidete Männer starrte, die durch die Eingangstür getreten waren.

»Na toll«, knurrte er leise. »Wenn die beiden auftauchen, gibt’s immer irgendwelche unangenehmen Nachrichten.« Er nippte an seinem Kaffee. »Und dass sie in diesem Moment hier reinspazieren, ist ganz sicher kein Zufall.«

Wer ist das?, wollte Elisa fragen, aber sie kam nicht mehr dazu, denn der Größere der neuen Cafégäste, ein hagerer Mann mit Nickelbrille und einer langen Hakennase, war an ihren Tisch getreten.

»Guten Tag«, sagte er und lüftete seinen schwarzen Hut, sodass sein haarloses Haupt zum Vorschein kam. »Die ganze Familie Lendl. Wie schön!«

»Wir feiern gerade ein wenig.« Peters Stimme klang zwar neutral, aber Elisa kannte ihn gut genug, um den frostigen Unterton herauszuhören. »Im kleinen Kreis.«

»Wir wollen auch gar nicht lange stören«, meldete sich nun der andere Mann zu Wort. Er schien ein wenig jünger als sein Begleiter zu sein und hatte ein rundliches Gesicht, aus dem seine großen nervösen Augen herausstachen. »Geben Sie uns fünfzehn Minuten ihrer Zeit, Herr Lendl?«

»Mama, Frieda, lasst uns doch kurz draußen ein wenig frische Luft schnappen«, schlug Margarete vor. »Das wird uns guttun. Und in der Zeit können die Männer besprechen, was sie zu besprechen haben.«

Die Männer, wiederholte Elisa in Gedanken. Ihre älteste Tochter ging offenbar davon aus, dass ihr Ehemann Gustav auch an dem Gespräch teilnehmen würde. Der ambitionierte Bergmann, der bereits seit gut fünfzehn Jahren in der Grube Luise seinen Dienst tat, war vor Kurzem zum Steiger befördert worden, einer begehrten und gleichzeitig sehr verantwortungsvollen Position, in der er sich nun beweisen musste. Sicher würde es also um die Grube gehen. Aber warum hatten die beiden Herren dann ihren Mann angesprochen, obwohl dieser doch nur noch Tage von seiner offiziellen Pensionierung entfernt war?

»Geht ruhig und vertretet euch etwas die Beine«, sagte sie zu ihren Töchtern. »Ich bleibe hier.“

»Frau Lendl«, wandte sich der jüngere der beiden Männer an Elisa, »wir werden sicher nicht lange brauchen. Wenn Sie bereit wären, uns kurz …«

»Sie hat gerade gesagt, dass sie hierbleibt«, fiel Peter ihm ins Wort und legte den Arm um Elisas Schultern. Sein Ton war merklich schärfer geworden. »Also bleibt sie auch. Was Sie mir zu sagen haben, kann auch meine Frau hören.«

Elisa warf ihm einen liebevollen Blick zu und legte ihre Hand sanft auf seinen Oberschenkel. Derweil standen die beiden Töchter auf und verabschiedeten sich mit einem stummen Nicken, während die Neuankömmlinge am Tisch Platz nahmen.

»Also, meine Herren«, sagte Peter, lehnte sich zurück und warf einen misstrauischen Blick in die Runde. »Was ist so wichtig, dass wir es unbedingt an diesem schönen Samstagnachmittag besprechen müssen?«

»Ich entschuldige mich nochmals für die Störung«, erwiderte der hagere Mann mit der Hakennase und sah über die dünnen Ränder seiner Brille hinweg zwischen Peter und Elisa hin und her. »Außerdem möchte ich mich kurz vorstellen, Frau Lendl – ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«

»Das sind wir nicht«, antwortete Elisa und bemühte sich, ebenso gefasst und abgeklärt zu wirken wie Peter. Innerlich spürte sie jedoch, wie sich eine gewisse Anspannung in ihrer Magengegend breitmachte. Irgendwie strahlten die beiden ungebetenen Gäste eine seltsam gedrückte Stimmung aus, die ihr nicht gefiel. »Ja, mein Name ist Lendl. Elisabeth Lendl. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Conrad Hiegmann.« Er stützte sich auf seinen kunstvoll gearbeiteten Gehstock und neigte kurz den Kopf. »Und das ist mein Kollege, Herr von Brügghoff. Wir beide unterstehen direkt dem Bergwerksvorsitzenden. Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite, Frau Lendl.« Er sah zu seinem jüngeren Kollegen, der jedoch keine Anstalten machte, etwas hinzuzufügen, und räusperte sich dann, wobei er sich Peter zuwandte. »Nun, Herr Lendl, lassen Sie mich zuerst sagen, dass sowohl wir beide als auch unser Vorgesetzter ihnen sehr dankbar für Ihre Leistungen in den letzten achtunddreißig Jahren sind.«

»Vierzig«

»Wie bitte?«

»Es waren nicht achtunddreißig, sondern genau vierzig Jahre«, stellte Peter klar und stürzte den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse in einem Schwung hinunter. »Wenn ich morgens aufstehe, kann ich jedes Einzelne davon in meinem Rücken spüren. Das können Sie mir glauben.«

»Ach so … hm«, murmelte Hiegmann, »also vierzig Jahre, Herr Lendl. Eine beachtliche Leistung.« Er warf nochmals einen Seitenblick zu seinem Begleiter und rückte seinen Hemdkragen zurecht. »Und, wie ich gehört habe, haben sie im Verlauf ihres Berufslebens an vielen verschiedenen Standorten gearbeitet und verfügen über viele Verbindungen?«

»Ich war schon in jeder Grube an der Saar.« Peter nickte. »Hab sie alle gesehen.«

»Beeindruckend«, schaltete sich Herr von Brügghoff ein. »Und sicher verfolgen Sie auch die aktuellen Entwicklungen. Nicht wahr? Ich meine das politische Geschehen in diesem Bereich.«

Peter gab ein unzufriedenes Brummen von sich, das Elisa nur allzu gut kannte. Die beiden Herren strapazierten offenbar seine Geduld.

»Hören Sie«, sagte er, »Sie haben jetzt sicher schon mehr als fünf Minuten damit zugebracht, sich vorzustellen und um den heißen Brei herum zu reden. Eigentlich wollten wir in einer Viertelstunde fertig sein. Wie wäre es, wenn Sie langsam zum Punkt kommen?«

»Nun gut.« Hiegmann holte tief Luft. »Dann sage ich Ihnen eben ganz direkt, worum es geht: Streiks, Herr Lendl. Sie greifen an allen Ecken und Ende des Reiches um sich und schaden empfindlich der Wirtschaft. Deshalb sind wir hier.«

»Streiks«, wiederholte Peter. Er nahm seinen Arm von Elisas Schultern, beugte sich über den Tisch und sprach mit gedämpfter Stimme weiter. »Ich habe davon gehört. Meine Tochter Kathrin lebt seit ungefähr zehn Jahren in England, wissen Sie? Etwas westlich von London. Sie schreibt uns regelmäßig und erzählt uns in ihren Briefen, was da drüben so vor sich geht.« Er lehnte sich wieder zurück. »Soweit ich es verstanden habe, sollen da vor Kurzem sogar die Frauen ihre Arbeit niedergelegt haben. Ein ganz schönes Spektakel, stand in den Zeitungen. Keine gute Presse für die Kerzenfabrik.«

»Streichhölzer«, sagte Elisa und errötete, als sie merkte, dass sie sich gerade in etwas einmischte, das eigentlich nur ihren Mann anging. Nun war es aber ohnehin zu spät. »Es war eine Streichholzfabrik, Peter. Ich kann mich noch gut an Kathrins Brief dazu erinnern.«

»Du hast recht“, sagte er. „Die Frauen müssen schrecklich schuften, und viele werden auch noch krank von dem Zeug, was da verarbeitet wird.

»Phosphor.« Dieses Mal ergriff von Brügghoff das Wort. »Ja, eine unangenehme Sache, aber sicherlich noch lange kein Grund für derlei Unruhen.«

Elisa schaffte es im letzten Moment, eine barsche Erwiderung herunterzuschlucken. Sie biss sie sich lediglich auf die Zähne und hob eine Augenbraue. Ihre zweitälteste Tochter Kathrina hatte ziemlich ausführlich aus dem betreffenden Zeitungsartikel zitiert. Die Zustände, die dort beschrieben wurden, erinnerten eher an die dunkle Zeit des Leibeigentums als an ein geordnetes Arbeitsverhältnis. Sie kannte Herrn von Brügghoff nicht, aber dass er so etwas als unangenehme Sache abtat, ließ ihn in ihren Augen nicht gerade in einem guten Licht erscheinen.

»Es betrifft, wie gesagt, nicht nur England«, nahm Hiegmann den ursprünglichen Gesprächsfaden wieder auf. »Auch hier im Reich spitzt sich die Lage zu. In Hamburg fing es letztes Jahr mit den Tischlern an und ging später mit den Schlossern weiter. In Berlin waren es die Maurer. Und alle stellen sie gleichen Forderungen: Sie wollen weniger arbeiten und dafür mehr Lohn.« Er zog ein seidenes Taschentuch aus der Brusttasche seines Jacketts und wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. »Wo kommen wir denn hin, wenn das Schule macht? Gerade jetzt, wo es mit der Wirtschaft steil bergauf geht!«

»Darüber kann man sich wohl berechtigte Sorgen machen«, sagte Peter, und Elisa spürte, dass er sich bemühte, sich möglichst neutral auszudrücken. Ihr Mann war in ärmlichen Verhältnissen auf einem halb verfallenen Hof aufgewachsen und konnte die Sorgen und Nöte einfacher Arbeiter gut nachvollziehen. »Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Die Direktion will verhindern, dass es auch bei uns zu solchen Aufständen kommt«, sagte Gustav.

Elisa warf ihrem Schwiegersohn einen überraschten Blick zu, denn bisher hatte er nur nervös zu Boden geblickt. Jetzt richtete er das Wort jedoch an ihren Mann.

»Wie man hört, wird auch unter den Bergleuten hier und da gemunkelt, dass es bald so weit sein könnte. Natürlich wird nicht offen darüber gesprochen, sondern nur unter vorgehaltener Hand. Aber die Direktion befürchtet, dass sich so etwas rasend schnell zu einem Flächenbrand entwickeln könnte.«

»Ich wiederhole mich nur ungern«, sagte Peter und sah nacheinander alle drei Männer an, die mit ihm am Tisch saßen, »aber was hat das Ganze mit mir zu tun?«

»Wie gesagt«, antwortet Hiegmann und rückte die Brille auf seinem langen Nasenrücken zurecht. »Sie haben viel Erfahrung, Herr Lendl. Gute Verbindungen. Man kennt und respektiert Sie unter den Bergleuten. Waren Sie nicht auch mal Partiemann?«

»Das war ich«, bestätigte Peter. »Und zwar acht Jahre lang. Drüben in Maybach.«

Elisa sah, wie Hiegmann und von Brügghoff sich kaum merklich zunickten. Von Peter wusste sie, dass einem Partiemann unter anderem die Aufgabe zukam, zwischen den Bergleuten und der jeweiligen Führung der Grube zu vermitteln. Langsam begann sie zu ahnen, was die beiden Männer von ihm wollten.

»Nun«, sagte von Brügghoff, »wir suchen jemanden mit exakt dieser Erfahrung und diesen Fähigkeiten. Und Sie standen da ganz oben auf unserer Liste.«

»Dann sollte ich mich also geschmeichelt fühlen?« Peters Stimme klang nahezu teilnahmslos, aber Elisa konnte an seiner angespannten Mimik sehen, dass er noch immer jedes seiner Worte sorgsam abwog.

»Durchaus«, antwortete Hiegmann ernst. »Es bietet sich Ihnen die Chance, dem Reich einen großen Dienst zu erweisen.«

„Ich …“, begann Peter, wurde jedoch durch eine freundliche Stimme unterbrochen, die zu einer jungen Frau mit weißer Schürze gehörte. »Guten Tag. Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit? Darf ich den beiden Herren vielleicht einen Kaffee bringen?«

»Danke nein«, antwortete Peter bestimmt, bevor einer der anderen die Gelegenheit dazu hatte. »Wir sind fertig, und die beiden Herren wollten auch gerade gehen.« Er sah zwischen diesen hin und her, während die Serviererin sich etwas betreten zurückzog. »Mein Dienst ist beendet. Nach vierzig Jahren, Sie erinnern sich? Damit habe ich mir einen ruhigen und friedlichen Ruhestand verdient. Und daher wünsche ich, dass Sie meine Familie und mich ab jetzt in Ruhe lassen.«

Wieder warfen die beiden Bergbaubeamten sich einen schnellen Blick zu. Dann räusperte sich Hiegmann und straffte seine Schultern. »Sie haben ihrem Arbeitgeber treu gedient, Herr Lendl. Zweifellos. Aber bitte bedenken Sie auch, was dieser umgekehrt alles für Sie getan hat. Immerhin kamen Sie als ungelernte Kraft und sind trotzdem schon nach kurzer Zeit zum Steiger befördert worden.«

»Jetzt hören Sie mal zu, Sie …«

Elisa sah Wut und Empörung in Peters dunkeln Augen aufblitzen, während seine Hände sich auf dem Tisch zu Fäusten ballten. Wenn sie nicht schnell einschritte, würde dieses Gespräch eine äußerst unerfreuliche Wendung nehmen.

»Die Beförderung wurde meinem Mann nicht geschenkt, falls Sie das andeuten wollen.« Sie sprach betont ruhig und legte eine Hand auf den Peters Unterarm. »Wie Sie sicherlich wissen, hat er bei dem Grubenunglück von 1850 vier seiner Kameraden in Sicherheit gebracht. Er hat ihnen das Leben gerettet, und zwar im Alleingang.«

»Frau Lendl, ich wollte keinesfalls andeuten, dass …«

»Ist mir egal.« Elisa winkte ab, und nun spürte auch sie, wie Zorn in ihr aufstieg. Was nahmen diese Leute sich eigentlich heraus, Peter so zu bedrängen, nachdem er sich vier Jahrzehnte lang für den Bergbau eingesetzt hatte?

»Bitte«, meldete sich Herr von Brügghoff zu Wort und hob die Hände, als wolle er den aufkeimenden Streit ausbremsen. »Lassen Sie uns noch einmal zu dem eigentlichen Thema zurückkommen.« Er machte eine lange Pause, strich sich den Kragen seines Jacketts glatt und wandte sich dann an Peter. »Vermutlich haben mein Kollege und ich uns falsch ausgedrückt, Herr Lendl. Ich fange deshalb noch einmal von vorn an.«

Peter hob als Erwiderung lediglich eine Augenbraue, sagte aber kein Wort.

»Wie mir zu Ohren gekommen ist, haben Sie einen Enkelsohn. Einen talentierten Burschen namens Erwin.«

Elisa sah zu Gustav, der ihrem Blick jedoch auswich und stattdessen nervös seine Handflächen aneinanderrieb.

»Der junge Mann will hoch hinaus«, fuhr von Brügghoff fort. »Er hat sich für ein Studium an der Bergakademie beworben.«

Peter schaute seinen Schwiegersohn an, der nervös auf seinem Stuhl hin und her rutschte. »So«, brummte er, »hat er das?«

»Nun ja«, brachte Gustav hervor und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, dass er das Zeug dazu hat. Schließlich hat er sich schon immer für dieses Feld interessiert. Seit er vier Jahre alt war, löchert er mich mit Fragen zu meinem Beruf und will genau wissen, wie alles geht und wie jede einzelne Maschine und jedes Werkzeug funktioniert. Und in der Schule war er fast immer Klassenbester. Und deshalb … also …«

»Wir können da sicherlich behilflich sein«, versicherte von Brügghoff und zog so das Gespräch wieder an sich. »Nicht wahr, Herr Kollege?«

»Selbstredend«, nickte Hiegmann mit ernster Miene. »Die Plätze sind begehrt, aber wenn er zum Beispiel ein Empfehlungsschreiben vorweisen kann, dann wird die Sache laufen wie geschmiert.«

»Also«, sagte von Brügghoff, wobei er sich schwungvoll von seinem Stuhl erhob. Sein Kollege tat es ihm gleich. »Dann ist wohl alles besprochen. Ich gehe davon aus, dass Sie über unser Angebot nachdenken werden, Herr Lendl?«

Peter warf einen letzten Blick auf die beiden Männer, und Elisa sah, wie sich die Muskeln in seinem Hals dabei anspannten. »Das werde ich«, antwortete er. »Verlassen Sie sich drauf.«

2

St. Ingbert, 27. April 1889

»So ein Hornochse!«, polterte Peter, als sie zurück in ihrem Haus waren. Die alten Holzdielen in ihrem Wohnzimmer knarzten, als er hektisch auf und ab lief. »Warum kann man denn nicht einmal mit mir reden, verflixt? Ist das wirklich so schwer?«

»Peter!«, ermahnte ihn Elisa, die neben ihrer Tochter Margarete auf dem hellbraunen Sofa gegenüber dem Kamin saß. »Du redest hier immer noch von deinem Schwiegersohn. Also mäßige dich bitte.«

»Ja, Herrgott noch mal!« Er blieb stehen, schloss die Augen und tat einen so tiefen Atemzug, dass sein Hemd über Brust und Bauch spannte. Elisa nahm ein leises Rasseln wahr, das ihr nicht gefiel. »Es tut mir leid, mein Schatz«, sagte er dann zu seiner Tochter, die ihn mit großen Augen und roten Flecken auf den Wangen ansah.

»Gustav hat es doch nicht böse gemeint, Papa. Unser Sohn hat sich das mit der Bergakademie nun einmal in den Kopf gesetzt. Und wenn Erwin ein Ziel vor Augen hat, dann kann er stur sein. Stur wie …«

»… wie sein Großvater«, beendete Elisa den Satz, was ihr einen warnenden Seitenblick ihres Ehemanns einbrachte. Offensichtlich konnte er gerade nicht über diesen Vergleich lachen, so treffend er auch sein mochte. »Ach, Peter«, fuhr sie deshalb fort. »Was ist denn nun eigentlich so schlimm an der ganzen Sache? Ärgerst du dich wirklich so sehr darüber, dass Gustav es dir nicht zuerst gesagt hat? Kannst du deinen Stolz nicht einfach mal beiseitelassen?«

»Stolz«, blaffte Peter. »Na, wenn es nur darum ginge, dann hätten wir wahrlich kein Problem. Aber das ist ganz und gar nicht das, was mir Sorgen bereitet.«

Statt weiter nachzuhaken, warf Elisa ihm nur stumm einen fragenden Blick zu.

»Ihr wart doch vorhin dabei, als dieser Biegmann und dieser … dieser …«

»Von Brügghoff«, half Elisa. »Und der andere Herr hieß Hiegmann, nicht Biegmann.«

»Ja, ja«, brummte Peter und fing wieder an, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen im Raum hin und her zu laufen. Ein paar rote Äderchen traten auf seinen Wangen hervor. »Die beiden eben. Ihr habt doch gehört, wie die mit uns geredet haben. Eine Unverschämtheit war das! Die können noch nicht lange in ihren Positionen sein, denn sie sind mir früher nie begegnet. Und dann wollen sie gleich über alles bestimmen!«

Elisa schaute unauffällig zu ihrer Tochter hinüber, die nun noch verwirrter aussah als zuvor, was sie gut nachvollziehen konnte. »Soweit ich mich erinnere«, sagte sie dann, »haben sie dich um deine Unterstützung gebeten und außerdem angeboten, unserem Enkel bei seiner Bewerbung zu helfen. Es tut mir leid, wenn ich etwas übersehe, aber was war daran denn unverschämt?«

»Du übersiehst einiges«, stellte Peter fest. Er blieb erneut stehen und schob seine Hände in die Hosentaschen und sah zur Zimmerdecke. »Alles, was ich wollte, war, mich nach vierzig Dienstjahren in Würde zur Ruhe zu setzen. Und jetzt soll ich …« Er schüttelte heftig den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ja, was eigentlich? Einen Streik verhindern, der vielleicht nie stattfinden würde? Das ist, als würde man einem Geist nachjagen. Wie hält man etwas auf, von dem man noch nicht einmal weiß, ob es wirklich existiert?«

»Dann sag denen, dass du ihnen nicht helfen kannst und außerdem in den Ruhestand willst. Geht das nicht?«

»Und ob das geht!«, echauffierte sich Peter. »Und du hast ja auch gehört, was dann passiert, nicht wahr? Sie werden meinen Enkel vom Studium ausschließen.«

»Hm«, machte Elisa, die spürte, wie sich langsam ein unangenehmes Drücken in ihrer Magengrube ausbreitete. »Entscheiden diese beiden Männer denn über die Zulassung?«

»Nein«, gab Peter zurück. »Aber sie kennen bestimmt die Leute, die es tun. Die kennen sich alle gegenseitig und sind bestens miteinander vernetzt.«

»Na gut«, sagte Elisa, lehnte sich ein Stück vor und legte die Hände an ihre Schläfen. »Und was heißt das jetzt letztlich für uns?«

»Das heißt«, erwiderte ihr Mann, »dass die beiden Herren sich zwar freundlich und unverbindlich gegeben, mir gleichzeitig aber ein Ultimatum gestellt haben: Entweder ich finde irgendwie einen Weg, einen Streik unter den Bergarbeitern zu verhindern, oder die werden meinem Enkel seine berufliche Laufbahn verbauen, bevor sie überhaupt begonnen hat.« Er stemmte seine kräftigen Hände in die Hüften. »Wenn Gustav vorher mit mir gesprochen hätte, dann hätte ich vorsorgen können. Ein paar Leute ansprechen, vielleicht ein paar Gefallen einfordern. So was eben. Aber dafür ist es nun zu spät.«

»Es tut mir leid, Papa.« Margaretes Stimme klang belegt. »Daran hätte Gustav denken sollen. Aber ich glaube immer noch, dass er nur das Beste im Sinn hatte und dich damit nicht in Schwierigkeiten bringen wollte.«

»Sicher, Liebes«, sagte Peter, der sich nun zu beruhigen schien. »Das weiß ich doch. Entschuldige, dass ich so aufbrausend war.«

Elisa rieb ihre Handflächen aneinander und sah zu ihrem Mann, der sich ihr gegenüber auf seinem Sessel niedergelassen hatte. Er sah so müde und abgekämpft aus, als wäre er seit dem Besuch im Café um zehn Jahre gealtert. Armer Peter. Dabei hatten sie doch heute die bevorstehende Pensionierung feiern wollen. Sie beide hatten schon Pläne gemacht, wie sie ab dann ihr gemeinsames Leben genießen und die Tage ruhig angehen wollten. Das alles konnte sie jetzt wohl vergessen.

»Hast du schon eine Entscheidung getroffen?«, fragte sie. »Was wirst du tun?«

»Das, was ich immer getan habe«, erwiderte er. »Meine Pflicht.« Elisa sah, wie er seinen Nacken gegen den Sessel drückte und die Finger in die Armlehnen grub. Das tat er immer, wenn sich seine Rückenschmerzen meldeten, was oft durch große Anspannung verursacht wurde. »Es kommt nicht infrage, dass meinem Enkel das Studium verwehrt wird. Und wenn das bedeutet, dass ich noch einmal von Grube zu Grube tingeln muss, um ich umzuhören und meine alten Kontakte anzuzapfen, dann soll es eben so sein!« Er biss die Zähne zusammen und fasste sich mit einer Hand zwischen die Schulterblätter. »Allerdings wird das bis morgen warten müssen, denn für heute bin ich geschafft, fürchte ich.«

»Ich sehe, dass dein Rücken wieder Probleme macht«, stellte Elisa fest. »Aber ich werde dich schon wieder gesund pflegen, keine Angst.«

Nachdem Margarete sich verabschiedet hatte, machte Elisa sich sofort daran, eine Wärmepfanne für Peter vorzubereiten, indem sie einige Holzscheite in den alten Küchenherd warf und einen Wasserkessel aufstellte. Während sie darauf wartete, dass das Feuer seinen Dienst tat, dachte sie über Peters Worte nach.

Wie hält man etwas auf, von dem man noch nicht einmal weiß, ob es wirklich existiert?

Das war eine verflixt gute Frage. Elisa kannte die harten Arbeitsbedingungen, mit denen die Bergleute von jeher zu kämpfen hatten. Ihre Arbeit war kräftezehrend und gefährlich, die Schichten waren oft sehr lang. Gleichzeitig fiel der Lohn nicht gerade üppig aus, vor allem wenn man bedachte, dass die Wirtschaft im Allgemeinen momentan einen Aufschwung nahm.

Unzählige Male hatte Peter selbst in den letzten Jahrzehnten immer wieder darüber geklagt: Einerseits wurde die Kohle von der Saar überall gepriesen und als unverzichtbar für die Industrie im Reich betrachtet. Andererseits hatten diejenigen, die tagtäglich ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, um diesen wichtigen Rohstoff aus der Erde zu holen, oft kaum genug Geld, um Frau und Kinder zu ernähren.

War es also möglich, dass sich auch hier, vor ihrer Haustür, ein handfester Streik zusammenbraute? Sicher hätte die Direktion Peter doch erst gar nicht angesprochen, wenn es nicht ernst zu nehmende Anzeichen gäbe, oder etwa nicht?

Elisa seufzte und berührte vorsichtig die Außenseite des Kessels. Das Wasser war noch nicht heiß.

Das Ziehen in ihrer Magengegend, dass sie bereits zuvor gespürt hatte, meldete sich erneut, und sie wusste, was das bedeutete. Ihr Bauchgefühl hatte sie noch nie getäuscht: Irgendwo braute sich ein Unheil zusammen. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass es Peter gelingen würde, sich möglichst wenig darin verwickeln zu lassen.

3

St. Ingbert, 27. April 1889

Es war schon dunkel, als Frieda auf der Fensterbank ihres Zimmers im Dachgeschoss saß und hinaus in die Nacht blickte. Es war der Jahreszeit entsprechend noch kühl, aber windstill, sodass es ihr nichts ausmachte, dass etwas Abendluft durch das geöffnete Fenster in ihr Zimmer strömte. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, morgens und abends ordentlich durchzulüften, auch weil sie dabei immer ihren Kopf freibekam.

Manchmal schimpfte ihre Mutter zwar deswegen und malte ihr Horrorszenarien aus, dass sie eine Lungenentzündung bekommen und im Hospital landen würde, aber das perlte mittlerweile an ihr ab. Schließlich war sie eine erwachsene Frau und konnte selbst entscheiden, was gut für sie war und was nicht.

Nesthäkchen, hörte Frieda Margaretes spöttische Stimme. Diese dumme Ziege wusste genau, dass ihr dieses elende Wort schon immer zuwider gewesen war. Während ihrer ganzen Kindheit und ihrer Jugend hatte es wie eine Art Stigma an ihr geklebt.

Margarete, die äußerlich eher den robusten Körperbau des Vaters geerbt hatte, war die kluge, vernünftige Schwester, und kam, was ihre ruhige und überlegte Art anging, ganz nach der Mutter. Zumindest stellte sie es selbst gern so dar, obwohl Frieda wusste, dass ihre Eltern früher auch einmal über die Stränge geschlagen und das eine oder andere Abenteuer erlebt hatten. Kathrin, die mittlere Tochter, wirkte mit ihrer zierlichen Figur auf den ersten Blick eher unauffällig, war jedoch aufgeweckt und mutig, weshalb die Leute sie von klein auf mit ihrem Vater verglichen hatten. Und in Frieda, die mehr als fünfzehn Jahre nach Kathrin zur Welt gekommen war, hatten eben alle immer nur das Nesthäkchen gesehen. Klein, süß und brav zu sein, das hatte die Welt von ihr erwartet. Aber sie hatte sich schon vor längerer Zeit vorgenommen, diese Erwartungen nicht zu erfüllen. Mehr noch, sie spürte den inneren Drang, diese aus bloßem Trotz ins Gegenteil zu verkehren. Niemand, der sie kannte, sollte Frieda Lendl als unscheinbare graue Maus in Erinnerung behalten. Ganz sicher nicht.

Wie so oft, wenn sie in Gedanken war, drehte Frieda eine ihrer blonden Locken zwischen Zeigefinger und Mittelfinger ihrer linken Hand hin und her. Dabei beobachtete sie, wie unten auf der Straße eine Gruppe junger Männer im Licht der Gaslaternen in Richtung Ortsmitte spazierten. Sie unterhielten sich angeregt, einige gestikulierten heftig, und andere ließen immer wieder laute Zwischenrufe hören.

Wie gern wäre Frieda genauso mit Freundinnen unterwegs gewesen, um ein wenig den Abend zu genießen und die Seele baumeln zu lassen. Stattdessen saß sie in ihrer kleinen Kammer im Haus ihrer Eltern fest. Und das Aufregendste, was sie heute erlebt hatte, war ein Ausflug in das alte Café an der Ecke, der von zwei seltsamen älteren Herren unterbrochen worden war, die irgendetwas von ihrem Vater gewollt hatten. Wundervoll. Was für ein atemberaubendes Leben sie doch führte.

»Frieda.« Die Stimme hinter ihr ließ sie herumfahren. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter angeklopft hatte, weil sie das immer tat, aber sie hatte es wohl nicht gehört. »Dein Vater ist schon im Bett, mein Schatz. Und ich bin jetzt auch erschöpft und lege mich für heute hin. Bitte denk dran, später noch das Fenster zu schließen, sonst …«

»Sonst hole ich mir heute Nacht noch den Tod. Ja, Mama.«

»Na dann, gute Nacht.«

An sich mochte Frieda die fürsorgliche Art ihrer Mutter, aber manchmal wurde es ihr zu viel. »Gute Nacht«, sagte sie. Allerdings eher zu sich selbst, denn ihre Mutter war längst auf der Treppe in Richtung Elternschlafzimmer ein Stockwerk tiefer. Dann stieg sie von der Fensterbank, schloss langsam die Läden sowie das große Fenster und blieb dann mitten im Raum stehen.

Und nun?, schoss es ihr durch den Kopf. Soll das etwa mein Samstagabend gewesen sein?

Langsam ging sie zur Zimmertür, legte die Hand darauf und biss sich auf die Unterlippe. Ihre Eltern könnten nicht verstehen, wie sie sich gerade fühlte. Wie auch? Die beiden waren um die sechzig Jahre alt und gingen nur noch selten aus dem Haus.

Und Margarete? Nun ja, ihre älteste Schwester war zwar naturgemäß deutlich jünger als die Eltern, benahm sich aber genauso wie diese. Frieda kam es fast so vor, als wäre sie schon als stets ernste und meist etwas mürrische Frau zur Welt gekommen. Jedenfalls war sie schon ewig verheiratet, hatte selbst zwei mehr oder weniger erwachsene Kinder und daher ebenso wenig mit der Situation vertraut, in der sich die jüngste Schwester gerade befand.

Frieda sah über ihre Schulter zu dem großen Fenster, das nun geschlossen war. Bildete sie sich das ein, oder konnte sie immer noch das Lachen und die Gespräche der Menschen hören, die unten auf der Straße vorbeizogen?

»Ach, was soll’s«, flüsterte sie und griff nach ihrem Mantel, der neben der Tür am Haken hing. »Man lebt schließlich nur einmal.«

Als sie eine halbe Stunde später unter dem Licht der Gaslaternen über den Gehweg Richtung Stadtmitte eilte, konnte sie es selbst kaum fassen. Sie hatte sich tatsächlich aus dem Haus geschlichen. Und das auch noch im Dunkeln! Zuvor hatte sie noch ein wenig abgewartet, um sicherzugehen, dass ihre Eltern auch wirklich eingeschlafen waren. Wenn einer von ihnen jemals von diesem Ausflug erfahren sollte, dann würde sie garantiert hundert Jahre Hausarrest absitzen müssen.

An einer Straßenecke blieb Frieda für einen Moment stehen und atmete tief durch, während sie das rasende Pochen ihres Herzschlags in ihrer Brust und in ihren Schläfen spürte. Warum war sie eigentlich so schnell gerannt, wo die Eltern doch ohnehin schliefen und vor dem Morgengrauen auch nicht nach ihr sehen würden? Sie wusste es selbst nicht. Alles, was Frieda wusste, war, dass sie sich in diesem Moment so lebendig fühlte wie schon seit Monaten nicht mehr. Statt lustlos und halb dösend in ihrem Zimmer herumzusitzen, strotzte sie vor Tatendrang und war geistig wie körperlich hellwach. Aber wohin mit dieser ganzen Energie?

Sie ließ ihren Blick schweifen und sah sich die Welt um sich herum erst einmal ganz genau an. So lebendig, wie sie sich den Ort vorgestellt hatte, war dieser längst nicht mehr. St. Ingbert wirkte um diese Zeit verschlafen und wenig aufregend. Rechts von ihr wurden im ersten Stock eines großen Gebäudes mit rotbrauner Backsteinfront die Fensterläden geschlossen, ein Stück vor ihr schlich eine schwarze Katze in eine schmale Gasse hinein, wo sie vielleicht auf die Jagd gehen wollte. Als Frieda jedoch nach links sah, tat ihr Herz einen kleinen Sprung. Kaum fünfzig Meter entfernt öffnete sich eine Tür, und durch den entstandenen Spalt strömten Licht, Stimmen und leise Musik. Die beiden Männer, die heraustraten, sahen mit ihren leicht rötlichen Gesichtern jung und etwas angetrunken aus. Offenbar hatte Frieda gerade eine Kneipe entdeckt, in der noch Leben war.

Begeistert ging sie darauf zu, blieb jedoch nach nur drei Schritten wie angewurzelt stehen, als sie erkannte, welche Dummheit sie fast begangen hätte. Ganz sicher schickte es sich als alleinstehende junge Dame nicht, sich ohne Begleitung in irgendwelchen Gaststätten herumzutreiben und das auch noch nach Anbruch der Dämmerung. Was sollte man da denn von ihr halten? Und noch schlimmer: Was wäre, wenn sie zufällig erkannt würde, zum Beispiel von einem der zahllosen Bekannten ihres Vaters?

Frieda verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. Ein solches Risiko wollte sie auf keinen Fall eingehen. Aber noch weniger war ihr danach, umzukehren und sich unverrichteter Dinge wieder in ihrem Zimmer zu verkriechen. Nicht, nachdem sie endlich den Mut aufgebracht hatte, sich hinauszuschleichen und so kurz davor war, endlich einmal am so richtig am Leben teilzunehmen.

Ohne dass sie einen Plan hatte, setzte Frieda sich wieder in Bewegung. Sie ging jedoch zunächst an der Eingangstür vorbei, um erst einmal die Lage zu überprüfen. Musik, das Gewirr von Stimmen und das Klirren der Gläser drangen an ihre Ohren. Drinnen herrschte ganz offensichtlich beste Stimmung. Ein paar Schritte weiter entdeckte sie, dass hinter der Ecke der Fassade eine Art Hinterhof lag, in dem sich hauptsächlich alte Fässer um einen Haufen Schrott herum aufgestapelt waren, der vor langer Zeit einmal eine Kutsche gewesen sein mochte. Einer spontanen Eingebung folgend bog sie dorthin ab und ließ sich für einen Moment auf einem staubigen Haufen Bretter nieder. Ob es hier vielleicht irgendwo einen Hintereingang gab, durch den sie unbemerkt hineinschlüpfen konnte?

»Mensch«, erklang plötzlich eine laute Stimme, die Frieda einen heftigen Schreck versetzte. »Es ist Samstagabend. Da könnt ihr es doch wohl auch mal für fünf Minuten gut sein lassen, oder?«

»Klar«, antwortete eine zweite Stimme, die offenbar zu einem jungen Mann gehörte, ebenso wie die erste. Dieser unbekannte Sprecher lallte jedoch hörbar. »Ich kann das. Hab auch schon gar keine Lust mehr auf dieses ewige Gerede. Aber der …«

Er brach ab und ließ stattdessen einen lauten Schluckauf vernehmen.

Frieda machte sich auf ihrem Platz ganz klein, senkte den Kopf und zog die Beine zu sich heran. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier in diesem halbdunklen Hinterhof Gesellschaft zu haben, und der Gedanke daran, dass sich mehrere angetrunkene Männer nur ein paar Meter von ihr entfernt befanden, rief ein mulmiges Gefühl in ihr hervor.

»Ihr seid mir vielleicht zwei Kameraden!« Eine dritte Stimme. Sie hatte eine etwas dunklere Färbung und klang sehr selbstsicher, wobei Frieda schätzte, dass sie eventuell auch schon mit dem ein oder anderen Glas Bier geölt worden war. »Wollt ihr denn nicht, dass sich mal was tut? Ist es euch egal, wenn ihr euch halb zu Tode schuftet für nichts und wieder nichts?«

»Ach«, meldete sich der erste Mann in spöttischem Ton zu Wort, »und du bist wohl unser Erlöser, was? Ist es das, was du dir einbildest, Hanno?«

»Quatsch!«, blaffte dieser. »Hör mir doch einfach zu, Mann. Kein Mensch redet von Erlösung. Was ich euch klarmachen will, ist, dass wir was bewegen können. Überleg mal, wie viele es von uns gibt und was wir alles leisten. Wir halten am Ende doch das Reich am Laufen.«

»Hast du gehört, Jupp«, mischte sich die zweite Stimme wieder ein. »Scheinbar ist er nicht nur der Erlöser, sondern auch noch der Kaiser, der das ganze Reich unter seiner Fuchtel hat.«

»Macht euch nur darüber lustig«, erwiderte Hanno. »Aber ihr wisst genauso gut wie ich, dass es so ist.« Frieda konnte hören, wie er auf dem festgetretenen Boden auf und ab schritt, während er weitersprach. »Laufen die Hütten ohne die Kohle, die wir aus den Stollen holen? Oder fährt ohne sie die Eisenbahn, hm? Nein. Der Bergbau ist das Rückgrat der Wirtschaft hierzulande. Er ist das Fundament, ohne das alles andere zusammenbrechen würde. Und deshalb sollten wir endlich das bekommen, was uns zusteht. Sie sollten uns endlich respektieren!«

Bergbau, dachte Frieda. Dann waren die drei bestimmt Bergleute, die in einer der umliegenden Gruben ihren Dienst taten. Und zumindest dieser Hanno schien mit so einigem unzufrieden zu sein, was seinen Beruf betraf.

»Du bist doch Partiemann«, sagte der Mann, der von dem anderen Jupp genannt worden war. »Also tu, was du tun musst, und setz dich für uns andere bei der Betriebsleitung ein. Rede mit denen. Das kannst du doch, oder nicht?«

Statt einer Antwort hörte Frieda nur ein lautes Schnauben und ein paar schlurfende Schritte, während die Männer sich anschwiegen.

»Ihr werdet es schon sehen«, grollte Hanno dann. »Und zwar ihr alle. Die Welle, die kommt, ist schon längst losgetreten.«

»Von mir aus«, rief der unbekannte Mann aus und seine Stimme klang nun deutlich gereizt. »Trotzdem gehe ich jetzt rein, trinke noch einen und versuche mal für ein paar Minuten, die Arbeit zu vergessen. Ihr könnt eure Predigt solange ohne mich abhalten.«

»Hanno«, sagte Jupp, als der Dritte im Bunde gegangen war, »er hat recht. Wir ackern von früh bis spät unter Tage, da muss man sich doch auch irgendwann mal ein bisschen erholen dürfen, oder? Und dieses ganze Gerede …« Er seufzte laut. »Und dann diese Sache mit deiner Welle. Kein Mensch weiß, wovon du da überhaupt fantasierst.«

»Ich meine«, entgegnete Hanno, »dass die Gruben an der Saar stillstehen werden. Und zwar alle.«

»Halt doch jetzt endlich die Klappe, Kerl!« Der schneidende Ton des Bergmanns und die Heftigkeit, mit der er auffuhr, ließen Frieda innerlich zusammenzucken. »Weißt du denn nicht, wie gefährlich solche Worte sein könnten? Es ist eine Sache, sich zu beschweren oder von besseren Zeiten zu träumen, aber eine ganz andere, zum Aufrührer zu werden! Das lasse ich nämlich nicht zu. Und jetzt schaffe ich dich zurück zum Schlafhaus, bevor du noch mehr Unsinn anstellen kannst.«

»Mir reicht es sowieso für heute«, erwiderte Hanno, der von dem Ausbruch seines Kollegen scheinbar wenig beeindruckt war. »Ich bin kein Aufrührer, Jupp. Das weißt du. Schließlich kennen wir uns jetzt schon unser halbes Leben lang. Aber ich habe Augen im Kopf und Ohren noch dazu. Und deshalb sag ich es dir noch mal: Was passieren wird, das wird passieren. Männer wie wir können jetzt nur noch entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.«

Frieda duckte sich noch tief in ihrem Versteck und hielt vor lauter Angst, entdeckt zu werden, die Luft an, während die beiden Männer kaum zwei Meter entfernt an ihr vorbeistapften und den Hinterhof der Kneipe verließen. Zur Sicherheit wartete sie noch einige weitere Minuten, bevor sie aufstand und sich umschaute. Rundherum war niemand mehr zu sehen und die Musik drang nur noch schwach durch die geschlossenen Türen der Gastwirtschaft.