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Die meisten Vergewaltiger kannten ihre Opfer vorher, wodurch die Strafverfolgung und die gerichtliche Suche nach der Wahrheit oft komplex und undurchsichtig ist und die vergewaltigten Frauen ein zweites Mal traumatisiert werden. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Jon Krakauer mit Vergewaltigungsfällen in der amerikanischen Universitätsstadt Missoula. Minutiös und doch einfühlsam skizziert er die Ereignisse, die eine ganze Gesellschaft an der Frage nach Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge verzweifeln lassen, er spricht mit den Beschuldigten und den Opfern und schildert packend, wie schmerzhaft die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne bei Gericht sein kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für Linda
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Hans Freundl und Sigrid Schmid
ISBN 978-3-492-97335-9
November 2016
© Jonathan R. Krakauer, 2015
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Missoula. Rape and the Justice System in a College Town« bei Doubleday, einem Imprint von The Knopf Doubleday Group, Penguin Random House LLC. Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Covermotiv: Joel W. Rogers/Corbis
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Vergewaltigung ist etwas Einzigartiges. Kein anderes Gewaltverbrechen wird so kontrovers diskutiert, ist so tief verstrickt in die Auseinandersetzungen über Geschlechterpolitik und Sexualität … Und die hitzigsten Debatten auf diesem Gebiet ruft das Thema der Falschbeschuldigungen hervor. Jahrhunderte hindurch behauptete man und ging davon aus, dass Frauen leichtfertig »Vergewaltigung« riefen, dass ein großer Teil der Vergewaltigungsbeschuldigungen erfunden sei, getrieben von dem Verlangen nach Rache oder anderen Beweggründen.
David Lisak, Lori Gardinier,
Sarah C. Nicksa und Ashley M. Cote
»False Allegations of Sexual Assault«
Violence Against Women,Dezember 2010
Vergewaltigungen kommen häufiger vor, als den meisten Menschen bewusst ist, und junge Frauen im Collegealter sind die häufigsten Opfer. In einem Bericht des US-Justizministeriums vom Dezember 2014 wurde festgestellt: »Im Zeitraum von 1995 bis 2013 verzeichneten Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren die höchste Rate an Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen im Vergleich zu Frauen aller anderen Altersgruppen.« In dem Bericht wurde geschätzt, dass in den USA 0,7 Prozent dieser Hochrisikogruppe jedes Jahr zumindest einmal sexuelle Gewalt erleben – das sind ungefähr 110 000 junge Frauen. In dem Bericht ging es in erster Linie um die Dokumentation der Häufigkeit von Delikten, und ihm lag eine relativ enge Definition von sexueller Gewalt zugrunde. Insbesondere wurden die Personen, die an der Erhebung teilnahmen, nicht nach Vorfällen befragt, bei denen sie ihr Einverständnis nicht hatten geben können, weil sie unter Drogen- oder Alkoholeinfluss gesetzt worden waren.
Eine andere Bundesbehörde, die Centers of Disease Control and Prevention (CDC), veröffentlichte im September 2014 einen Bericht, in dem das Problem sexueller Gewalt in gesundheitspolitischer Hinsicht und nicht aus strafrechtlicher Perspektive untersucht wurde und in dem Übergriffen, bei denen Drogen oder Alkohol im Spiel gewesen waren, größere Beachtung geschenkt wurde. Diese Untersuchung ergab ganz andere Zahlen. Auf der Grundlage ihrer 2011 erhobenen Daten schätzte diese Behörde, dass quer durch alle Altersgruppen 19,3 Prozent aller amerikanischen Frauen »einmal in ihrem Leben eine Vergewaltigung erlitten haben«, und stellte fest, dass 1,6 Prozent der amerikanischen Frauen – fast zweieinhalb Millionen – »davon berichteten, dass sie in den zwölf Monaten vor der Erhebung vergewaltigt worden« seien.
Wie die unterschiedlichen Ergebnisse dieser beiden staatlichen Untersuchungen zeigen, ist es unmöglich, mit Sicherheit anzugeben, wie viele Frauen jedes Jahr vergewaltigt werden. Das Ausmaß sexueller Gewalt in Zahlen auszudrücken ist ein in hohem Maße spekulatives Unterfangen, denn mindestens 80 Prozent der Opfer melden das Verbrechen nicht den Behörden. Dieses Buch soll dazu beitragen, zu verstehen, was so viele Vergewaltigungsopfer davon abhält, zur Polizei zu gehen, und die Aus- und Nachwirkungen sexueller Gewalt aus der Sicht der Opfer zu begreifen.
Zu diesem Zweck habe ich in diesem Buch eine Serie von sexuellen Übergriffen in einer bestimmten amerikanischen Stadt – der Stadt Missoula in Montana – im Zeitraum von 2010 bis 2012 dargestellt. Die Opfer dieser Übergriffe waren Collegestudentinnen, allerdings sind junge Frauen, die nicht an einer Hochschule studieren, wahrscheinlich einem noch größeren Risiko ausgesetzt. Doch nicht nur junge Frauen – oder überhaupt nur Frauen – müssen befürchten, Opfer einer Vergewaltigung zu werden. In dem genannten CDC-Bericht wird vermutet, dass auch ungefähr zweieinhalb Millionen amerikanische Männer, das sind 1,7 Prozent der männlichen Bevölkerung, im Lauf ihres Lebens einmal Opfer einer Vergewaltigung werden.
Bei den Recherchen zu diesem Buch habe ich Interviews mit Opfern geführt, mit deren Familien und Bekannten und, wenn möglich, auch mit den Männern, denen diese sexuellen Übergriffe zur Last gelegt wurden, aber ich habe nicht mit allen Opfern gesprochen und auch nicht mit allen mutmaßlichen Tätern. Um möglichst viele Informationen zu sammeln und die Auskünfte meiner Quellen zu überprüfen und zu untermauern, habe ich mich auch ausführlich mit bekannten Psychologen und Rechtsanwälten unterhalten. Ich habe Gerichtsverhandlungen besucht, Tausende Seiten von Gerichtsprotokollen, E-Mails, Briefen, Polizeiberichten und Dokumenten über Disziplinarverfahren an Universitäten gelesen. Ich habe mir Aufzeichnungen von Polizeiverhören und Befragungen vor Disziplinarausschüssen angehört. Ich habe Zeitungsartikel und Berichte von staatlichen Untersuchungskommissionen sowie wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften ausgewertet.
Sämtliche Dialoge, die in diesem Buch zwischen An- und Abführungszeichen erscheinen, sind wörtliche Zitate der betreffenden Personen, wörtliche Zitate einer Person, die berichtet, was er oder sie persönlich gehört hat, wörtliche Zitate aus der Aufzeichnung eines Verhörs oder einer Verhandlung oder wörtliche Zitate aus dem Protokoll eines amtlichen Verfahrens.
Das Buch mag teilweise schwierig zu lesen sein. Einige der Ereignisse, die ich schildere, sind in hohem Maße erschreckend. Zudem treten sehr viele Personen auf, von einigen wurden die Namen geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen. Um den Lesern zu helfen, die Personen auseinanderzuhalten, werden die Namen jener Personen, die mehr als einmal auftauchen, in einem alphabetischen Personenverzeichnis am Ende des Buchs aufgeführt.
Jon Krakauer, im Februar 2015
Sollen wir Frauen als eigenständige Akteure behandeln, die selbst für sich verantwortlich sind? Natürlich. Doch selbst für sich verantwortlich zu sein hat nichts damit zu tun, dass man vergewaltigt wird. Frauen werden nicht vergewaltigt, weil sie zu viel getrunken oder Drogen genommen haben. Frauen werden auch nicht vergewaltigt, weil sie nicht vorsichtig genug waren. Frauen werden vergewaltigt, weil eben jemand sie vergewaltigt.
Jessica Valenti
The Purity Myth
Die Firma Office Solutions & Services in Missoula, ein Hersteller von Büromaterial, veranstaltete an 6. Januar 2012 ihre nachträgliche Weihnachtsfeier für das Jahr 2011. Gewissermaßen als kleinen Kontrast zu dem kalten, frostigen Wetter in Montana schmückte die Belegschaft die Räumlichkeiten mit bunten Hawaii-Elementen. Gegen 21 Uhr hatten sich 30 bis 40 Personen eingefunden – überwiegend Firmenmitarbeiter und deren Angehörige –, die sich unterhielten, Gesellschaftsspiele spielten und aus roten Plastikbechern Getränke zu sich nahmen, als eine glänzende Chrysler-Limousine auf den Parkplatz fuhr, der vom Partyraum aus zu überblicken war, und vor den großen, raumhohen Fenstern zum Stehen kam und die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zog. Zwei gut gekleidete Männer mit ernsten Gesichtern stiegen aus und blieben eine Weile neben dem Wagen stehen. »Es war ein sehr schönes schwarzes Auto«, erinnert sich Kevin Huguet, der Inhaber von Office Solutions.
Während er den Wagen bewunderte, fragte einer von Huguets Verkäufern ihn: »Wer sind diese Männer?«
Huguet hatte keine Ahnung. Also ging er nach draußen und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Wir sind von der Polizei von Missoula«, antwortete der Mann, der den Wagen gefahren hatte. »Ich muss mit Allison sprechen.«
»Allison ist meine Tochter«, erwiderte Huguet, den ein ungutes Gefühl beschlich. »Sie müssen mir schon ein bisschen mehr sagen.«
»Ist schon in Ordnung, Dad«, mischte sich die 20-jährige Allison Huguet ein, die ihrem Vater auf den Parkplatz gefolgt war.
Detective Guy Baker, ein 1,95 Meter großer und 113 Kilogramm schwerer Mann, blickte hinunter auf Allison, eine zierliche junge Frau mit hellen Augen und einem Pferdeschwanz. »Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Wir müssen das nicht hier vor Ihrem Vater erledigen. Wo können wir reden?« Er und Allison gingen ein paar Meter vom Auto weg, um sich ungestört unterhalten zu können, während Detective Mark Blood bei Kevin Huguet blieb.
»Hallo«, sagte Baker zu Allison in einem wärmeren Ton, nachdem sie sich ein Stück weit von den anderen entfernt hatten. Die beiden hatten bereits vor vier Jahren während ihres letzten Jahrs auf der Highschool häufig miteinander zu tun gehabt, als Allison ihn gebeten hatte, bei einem schulischen Projekt als ihr Mentor zu fungieren. Es war für beide eine schöne Erfahrung gewesen. Detective Baker erklärte Allison, warum er sie während der Weihnachtsfeier der Firma aufsuche. »Ich hielt es für wichtig, es Ihnen so schnell wie möglich persönlich mitzuteilen. Vor ungefähr einer Stunde habe ich Beau Donaldson verhaftet. Er hat ein volles Geständnis abgelegt und befindet sich jetzt im Gefängnis.«
Allison traten Tränen der Erleichterung in die Augen.
Drüben beim Auto wurde Kevin Huguet allmählich ungeduldig, als er beobachtete, wie sich Allison und Baker unterhielten. »Also ich will jetzt wissen, was da vor sich geht«, sagte er nach einigen Minuten zu Detective Blood. »Das ist meine Tochter, und ich will wissen, was hier los ist.« Kevin setzte sich in Bewegung und ging hinüber zu Baker.
»Ihre Tochter hat nichts verbrochen«, sagte Baker. »Es handelt sich um nichts dergleichen.« Dann wandte sich der Polizist wieder zu Allison und sagte: »Ich glaube, Sie sollten jetzt wirklich mit Ihrem Vater reden und es ihm sagen.«
Allison schaute ihren Vater an und erklärte mit zitternder Stimme: »Beau hat mich vergewaltigt.«
Kevin stand wie benommen auf dem kalten Gehweg. Er versuchte, zu begreifen, was seine Tochter gerade gesagt hatte, und legte die Arme um sie. Als er sie in den Armen hielt und allmählich zu verarbeiten begann, was Beau Donaldson ihr angetan hatte, verwandelte sich Kevins Schock in blinde Wut.
»Ich dachte, er würde zu Beau laufen und ihn umbringen oder ihm sonst etwas antun«, erzählte mir Allison, als sie sich an die Ereignisse dieses Abends erinnerte.
Beau Donaldson, der zum Zeitpunkt des Vorfalls in seinem dritten Jahr an der University of Montana war, spielte im Footballteam der Hochschule. Allison Huguet hatte ein Stipendium für die Eastern Oregon University. Sie waren beide in Missoula aufgewachsen und seit der ersten Klasse unzertrennlich gewesen, doch aus ihrer Freundschaft war nie mehr geworden.
Donaldson nannte Allison Huguet oft seine »kleine Schwester«, und dieses Gefühl wurde von ihr auch erwidert. In ihrer Kindheit und Jugend war Beau Donaldson für Allison gewissermaßen der Bruder gewesen, den sie nie gehabt hatte. In den vergangenen 16 Jahren hatten Allisons Eltern Beau Donaldson wie ein Familienmitglied behandelt. »Das ganze Leben lang ist man damit beschäftigt, seine Kinder zu beschützen, wenn man welche hat«, erklärte mir Kevin Huguet. »Aber wer rechnet damit, dass der Freund der eigenen Tochter in Wirklichkeit ein Monster ist, das in der Nacht über sie herfällt?«
Allison war ebenso wütend wie ihr Vater, doch ihre Wut war mittlerweile überlagert worden von einer Mischung aus verschiedenen anderen Gefühlen. Donaldson hatte sie am 25. September 2010 vergewaltigt. Sie hatte 15 Monate gewartet und still gelitten, bis sie zur Polizei gegangen war. Während dieser Zeit hatte sie außer ihrer Mutter und zwei oder drei engen Freundinnen niemandem erzählt, dass sie vergewaltigt worden war – nicht einmal ihr Vater und ihre Schwestern wussten davon. Eine solche Zurückhaltung zeigt sich häufig bei Opfern sexueller Gewalt. Nur rund 20 Prozent der Vergewaltigungen werden bei der Polizei angezeigt, was schwer verständlich erscheint, solange man sich nicht näher damit befasst, wie in den USA in rechtlicher Hinsicht mit Fällen sexueller Gewalt umgegangen wird.
Montana ist ein großer, aber relativ dünn besiedelter Bundesstaat. Obwohl Missoula die zweitgrößte Stadt dieses Bundesstaats ist, hat sie nur rund 70 000 Einwohner. Das sympathische und beschauliche Städtchen nimmt auswärtige Besucher sofort für sich ein und bringt nicht wenige dazu, sich schon kurz nach ihrer Ankunft für den Kauf einer Immobilie zu entscheiden. Ungefähr 42 Prozent der Einwohner haben einen Bachelor oder einen höheren Studienabschluss im Vergleich zu 28 Prozent im Rest der USA. Es gibt viele gute Restaurants und lebendige Kneipen. Ein berühmter Forellenfluss, der Clark Fork, rauscht schnell und klar durch die Innenstadt, gesäumt von einer aufgegebenen Bahnlinie, die in einen idyllischen Spazier- und Radweg umgewandelt wurde, der gern von Fußgängern, Radfahrern und Joggern genutzt wird. Südlich des Flusses erstrecken sich die unprätentiösen Wohnviertel der Stadt über ein ausgedehntes Tal, das von fünf Bergketten eingerahmt wird.
Von ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lebte die Stadt hauptsächlich von der Holzwirtschaft im umgebenden Hochland. Vor ungefähr 35 Jahren jedoch geriet die Forstwirtschaft in eine schwere Krise. Die meisten Sägewerke wurden geschlossen, und Holzfäller in schweren Stiefeln und Schutzhosen sah man in der Stadt immer seltener. Eine riesige Papierfabrik pumpte jährlich 45 Millionen Dollar in die lokale Wirtschaft (und erzeugte bisweilen einen giftigen Smog, der sich so dicht über die Stadt legte, dass die Autofahrer tagsüber das Licht einschalten mussten), bis auch sie schließlich 2009 stillgelegt und abgebaut wurde.
Heute ist die University of Montana mit Abstand der größte Arbeitgeber der Stadt. Mit ihren 15 000 Studenten und mehr als 800 Lehrkräften hat die UM, wie sie auch genannt wird, der Stadt mittlerweile ihren Stempel aufgedrückt. In Missoula gibt es auch wesentlich mehr Anhänger der Demokraten als im Bundesstaat insgesamt. Einheimische bemerken gern scherzhaft, in Missoula lasse es sich vor allem deswegen so gut leben, weil es nur 20 Minuten von Montana entfernt liege.
Doch trotz seiner liberalen Grundeinstellung ähnelt Missoula in vielerlei anderer Hinsicht vergleichbaren Städten in den Rocky Mountains. Die Einwohnerschaft besteht zu 92 Prozent aus Weißen, zwei Prozent sind amerikanische Ureinwohner, zwei Prozent Hispanoamerikaner und weniger als ein Prozent Afroamerikaner. Das durchschnittliche Familieneinkommen beträgt 42 000 Dollar. 20 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die meisten Einwohner Missoulas unterstützen das Recht, Waffen zu tragen, sowie die Forderung, die Bundesregierung solle sich weitgehend aus lokalen Angelegenheiten heraushalten.
Aufgrund der Verbindung des draufgängerischen »Frontier«-Geistes mit den vielfältigen Auswirkungen des Universitätsbetriebs hat sich jedoch in Missoula eine ganz eigene Kultur entwickelt. Die UM, die sich durch ihre Lehrangebote auf den Gebieten der Biologie und der Ökologie bundesweit hervorgetan hat, ist wahrscheinlich aber noch bekannter wegen ihrer Literaturkurse. Für das Creative Writing Program der Universität, das bereits 1920 eingerichtet wurde, waren auch spätere einflussreiche Schriftsteller wie Richard Hugo, James Crumley und William Kittredge eingeschrieben. In einem seiner unvergleichlichen Essays erinnerte sich Kittredge daran, was ihn ursprünglich nach Missoula gezogen hatte:
Ich suchte nach einer echten Welt, in der ich Fuß fassen konnte. Ich wollte jemand sein, den ich verstehen und aushalten konnte – eine romantische Idee, die heute im Westen anscheinend weitverbreitet ist … Die nördlichen Rockies erschienen mir wie ein unentdecktes Land, ein Land voller Geheimnisse, die niemand für sich behalten konnte.
Während eines feuchtfröhlichen Aufenthalts in Missoula im Jahr 1972, als er mit Kittredge zum Angeln ging, verliebte sich Raymond Carver, der bedeutendste Repräsentant des literarischen Minimalismus, Hals über Kopf sowohl in die Stadt als auch in Diane Cecily, die Leiterin des Universitätsverlags. Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Romancier Richard Ford verbrachte in den 80er-Jahren drei oder vier sehr produktive Jahre in Missoula, woran sich die Bürger der Stadt noch immer mit Stolz erinnern. Der am engsten mit der Stadt verbundene Literat ist jedoch Norman Maclean, der Autor von Aus der Mitte entspringt ein Fluss, einer semibiografischen Erzählung, die in Missoula und am nahe gelegenen Big Blackfoot River angesiedelt ist; ihre Verfilmung mit Brad Pitt aus dem Jahr 1992 wurde mit einem Oscar ausgezeichnet.
Doch von Kittredge, Ford oder Big Blackfoot einmal abgesehen, ist Missoulas größter Stolz die Footballmannschaft der University of Montana, die beliebten Grizzlies der Big Sky Conference, die 1995 und 2001 die nationale Meisterschaft der Football Championship Subdivision gewannen. Ihre zwölf aufeinanderfolgenden Titelgewinne bis 2010 waren die zweitlängste Siegesserie in der Geschichte der NCAA Division I. Im Jahr 1995 spendete der milliardenschwere Bauunternehmer Dennis Washington aus Missoula eine Million Dollar für den Bau des Washington-Grizzly Stadium, einer wunderschönen Arena, die 25 000 Besuchern Platz bietet und fast bei jedem Heimspiel ausverkauft ist. Die Bilanz der Grizzlies seit der Eröffnung des Stadions bis 2011 umfasst 174 Siege und nur 24 Niederlagen.
Die Grizzlies spielen nicht auf demselben Niveau wie die großen College-Footballmannschaften wie etwa Florida State, Ohio State oder Alabama. Man muss gerechterweise darauf hinweisen, dass ihre Bilanz wohl weit weniger eindrucksvoll wäre, wenn sie unter den hohen Anforderungen der Big Ten oder der Southeastern Conference spielen müssten anstatt in einer Provinzliga wie der Big Sky. Dennoch rufen die Grizzlies in Missoula dieselbe Art von fanatischer Begeisterung hervor wie die Seminoles in Tallahassee und die Crimson Tide in Tuscaloosa. Die UM-Fans bezeichnen sich selbst als »Griz Nation«. Missoula ist »Grizzlyville«. Die Bedeutung, die die Bewohner des westlichen Montana dem Football der Grizzlies beimessen, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Doch verschiedene Ereignisse der jüngeren Zeit haben zumindest einige Bewohner von Missoula dazu veranlasst, ihre Bewunderung für die Grizzlies zu hinterfragen. Im Dezember 2010 vergewaltigten vier Teamkollegen von Beau Donaldson aus der UM-Footballmannschaft eine Studentin, die zu betrunken war, um sich zu wehren, und weil die Sportler behaupteten, der Sex sei einvernehmlich erfolgt, wurden sie nicht angeklagt. Ein Jahr später, im Dezember 2011, vergingen sich drei Grizzly-Spieler an zwei Studentinnen, nachdem sie diese vermutlich unter Drogen gesetzt hatten. Doch auch von ihnen wurde keiner strafrechtlich belangt.
Als der zweite Vorfall von der Lokalzeitung aufgedeckt wurde, beauftragte UM-Präsident Royce Engstrom die Richterin Diane Barz, die 1989 als erste Frau an den Obersten Gerichtshof von Montana berufen worden war, mit einer Untersuchung. In einem vorläufigen Bericht, der am 31. Dezember 2011 veröffentlicht wurde, schrieb Barz:
Die Untersuchung hat Belege für mehrere Fälle nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs erbracht, die universitätsintern nicht gemeldet wurden. Die Universität ist aufgefordert, umgehend entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
In ihrem abschließenden Bericht, der am 31. Januar 2012 vorgelegt wurde, benannte die Richterin neun Fälle von sexuellen Übergriffen, die von UM-Studenten begangen worden waren (von denen allerdings nicht alle Footballspieler waren). Ganz oben auf der Liste stand die Vergewaltigung von Allison durch Beau Donaldson. Barz warnte:
Die Berichte über sexuelle Gewalt auf dem UM-Campus erfordern unverzügliches Handeln und die rasche Umsetzung der in Title IX vorgesehenen Maßnahmen. … Eine Hochschule, an der Vergewaltigungen toleriert werden, Opfer sexueller Gewalt nur unzulängliche Unterstützung erfahren und Disziplinarverfahren sich als ungerecht erweisen, stellt eine Gefährdung für alle Studenten dar. … Fälle von sexueller Gewalt werden an den Hochschulen vielfach verschwiegen, und viele Opfer sexueller Übergriffe leiden später an Depressionen oder posttraumatischen Störungen, sie neigen zu Drogenmissbrauch oder haben mit schulischen Problemen zu kämpfen.
Der Bericht von Diane Barz erschütterte Missoula. Ein Vierteljahr später gab das US-Justizministerium bekannt, dass es eine Untersuchung über eine Welle sexueller Gewalt im Westen von Montana in die Wege geleitet habe. Die Behörde teilte mit, dass in Missoula in den vergangenen drei Jahren mindestens 80 mutmaßliche Vergewaltigungsfälle angezeigt worden seien und das Justizministerium »sämtliche Übergriffe auf Frauen in Missoula, nicht nur auf Studentinnen«, untersuche.
US-Justizminister Eric Holder erklärte: »Die Anschuldigung, dass die University of Montana, die örtliche Polizei und die Bezirksstaatsanwaltschaft nicht in angemessener Weise gegen sexuelle Gewalt vorgegangen seien, ist sehr bestürzend.«
Die Welle von Vergewaltigungen in Grizzlyville führte zu besorgten Artikeln in vielen großen Zeitungen wie der New York Times oder dem Wall Street Journal. Doch am schädlichsten für das Ansehen Missoulas war ein 3800 Wörter umfassender Artikel auf der Internetseite Jezebel, der neun Tage nach der Erklärung des Justizministeriums erschien. Dieser Artikel von Katie J. M. Baker trug die Überschrift »Mein Wochenende in Amerikas ›Vergewaltigungshauptstadt‹«, und diese abwertende Bezeichnung sorgte für großen Wirbel und für einen Aufschrei der Empörung unter den Einwohnern Missoulas, die sich ungerecht behandelt fühlten.
Aus Bakers bissigem und zugleich einfühlsamem Text ging allerdings auch hervor, dass sie sich nicht sicher war, ob diese Bezeichnung für die Stadt tatsächlich gerechtfertigt war. Die Überschrift des Artikels stammte aus dem zweiten Absatz, in dem sie einen 20-jährigen Drogenhändler aus Missoula zu Wort kommen ließ, der darüber klagte, dass »die Leute meinen, wir wären jetzt die ›Vergewaltigungshauptstadt‹ Amerikas«, aber gleich hinzufügte: »Doch das sind wir nicht. Missoula ist eine ganz gewöhnliche Universitätsstadt.«
Tatsächlich entsprächen 80 Vergewaltigungsfälle in drei Jahren »durchaus dem nationalen Durchschnitt für Universitätsstädte von der Größe Missoulas«, wie Baker in ihrem Text feststellte. Nach aktuellen Statistiken des FBI wurden im Jahr 2012 im Durchschnitt 26,8 Fälle von »erzwungenem Geschlechtsverkehr« in Städten der Größenordnung Missoulas gemeldet, woraus sich für drei Jahre 80,4 Vergewaltigungsfälle ergeben. Mit anderen Worten, die Zahl der Vergewaltigungen in Missoula mag beunruhigend erscheinen, aber wenn die Angaben des FBI stimmen, fällt dies nicht aus dem normalen Rahmen. Das bedeutet, dass Vergewaltigungen in den USA in erschreckend hohem Maß verbreitet sind.
Als Allison Huguet fünf Jahre alt war, zog ihre Familie von Kalispell in der Nähe des Glacier-Nationalparks nach Missoula, wo sie sich in dem ruhigen Wohnviertel Target Range ein Haus kaufte, unweit der Stelle, wo der Bitterroot River und der Clark Fork zusammenfließen. Allison besuchte die Grundschule in Target Range und freundete sich rasch mit Beau Donaldson an. In den folgenden zwölf Jahren blieben die beiden eng verbunden.
Im Juni 2008 schlossen Huguet und Donaldson die Big Sky High School ab, wo sich beide als ehrgeizige Schüler und als gute Sportler hervorgetan hatten. Allison Huguet war Mitglied der Leichtathletikmannschaft und wurde in ihrem letzten Highschooljahr auch Stabhochsprungmeisterin von Montana. Beau Donaldson stellte auf dem Footballplatz zehn Schulrekorde auf und wurde als wertvollster Spieler des Teams ausgezeichnet. Als Donaldson ein Stipendium annahm, um an der UM Football spielen zu können, war dies der Lokalzeitung Missoulian einen Artikel wert. »Ich wollte schon immer für die Griz spielen«, erzählte Donaldson der Zeitung. Auch andere Hochschulen hatten Interesse an ihm bekundet, auch die Montana State University in Bozeman, der Erzrivale der University of Montana. Es war eine große Sache für Missoula, dass er sich für die UM entschied.
Huguet war stolz auf Donaldson. »Ich war schon immer der Meinung, dass er sehr intelligent ist«, erzählte sie mir. »Ich freute mich für ihn, als er das Stipendium erhielt. Er stammt aus einer Familie, in der niemand das College besucht hat. Die meisten haben nicht einmal einen Highschoolabschluss.« Allison Huguet verließ Montana nach der Highschool und schrieb sich an der Eastern Oregon University (EOU) ein, wo ihr ein Sportstipendium angeboten wurde. Nach ihrem Wegzug sah sie Beau Donaldson nur noch ein- oder zweimal.
Am 24. September 2010 hielt sich Huguet im Haus ihrer Mutter auf und bereitete sich auf ihre Rückkehr nach La Grande in Oregon vor, wo sie ihr drittes Jahr an der EOU beginnen sollte. An diesem Abend erhielt sie einen Anruf von ihrer Freundin Keely Williams, die ihr vorschlug, zu einer Party zu gehen, die Beau Donaldson in seinem Haus, das er im Universitätsviertel von Missoula gemietet hatte, veranstaltete. Williams war ebenfalls in Target Range aufgewachsen und kannte Allison Huguet, seit diese mit ihrer Familie nach Missoula gekommen war. Nachdem sie die Big Sky High School gemeinsam mit Huguet und Donaldson abgeschlossen hatte, hatte Williams die Stadt verlassen, um an der Portland State University zu studieren. Nun besuchte sie gerade für eine Woche ihre Eltern in Missoula. Als Williams Allison Huguet erzählte, dass auch die meisten Leute aus der Clique, mit der sie schon als Kinder um die Häuser gezogen waren, auf Donaldsons Party sein würden, erklärte sich Huguet begeistert dazu bereit, ebenfalls hinzugehen.
Keely Williams fuhr. Als sie gegen 22 Uhr an Donaldsons Haus ankamen, freuten sie sich, so viele Freunde aus Kindertagen wiederzusehen. »Als wir nach oben geführt wurden, kam mir sofort Beau entgegen, und ich umarmte ihn«, erinnerte sich Huguet. »Es war ein schöner Abend. Alle waren locker und entspannt und amüsierten sich.« Einige Gäste spielten Beer Pong im Keller und veranstalteten »Teerennen«, bei denen es darum ging, wer am schnellsten eine Flasche Twisted Tea austrinken konnte (einen sirupartigen Malzlikör, der von den UM-Studenten besonders geschätzt wurde).
Es war ein Freitagabend, und das Griz-Footballteam sollte am Samstagnachmittag gegen die Sacramento State University spielen, aber Donaldson hatte sich im vergangenen Sommer eine schwere Sprunggelenksverletzung zugezogen und war noch nicht wieder einsatzfähig. Er schüttete genüsslich alkoholische Getränke in sich hinein. In der Gesellschaft der alten Freunde, die sie so selten sahen, tranken auch Huguet und Williams mehr als gewöhnlich.
Gegen 1 Uhr 30 löste sich die Party allmählich auf, und die wenigen Leute, die noch anwesend waren, gingen nach oben ins Wohnzimmer. Donaldson und Huguet saßen nebeneinander auf einem Sofa. Huguet, die allmählich müde wurde, legte ein Kissen auf Donaldsons Oberschenkel, bettete ihren Kopf darauf und streckte sich auf dem Sofa aus. Diese Geste habe jedoch nicht im Entferntesten eine sexuelle Komponente gehabt, beteuerten Huguet und Williams später. »Allison hatte niemals Interesse an einer solchen Beziehung mit Beau«, beharrte Williams. »Wirklich niemals.«
Ein anderer Schulkamerad aus Target Range, Sam Erschler*, der ebenfalls in Donaldsons Haus wohnte, drängte Keely Williams und Allison Huguet, nicht nach Hause zu fahren, weil sie zu viel getrunken hätten. »Das war sehr fürsorglich von ihm«, räumte Huguet ein. »So ist Sam eben. Er sorgt sich immer um andere. Er sagte: ›Ihr könnt doch hier übernachten und auf dem Sofa schlafen.‹ Schließlich haben wir Ja gesagt.«
Kurze Zeit später stand Donaldson vom Sofa auf, ging nach unten, und Allison Huguet schlief voll angezogen auf der Couch ein. Huguet schlief gerne auf Sofas. Auch zu Hause verbrachte sie die Nacht oft lieber auf der Couch als in ihrem Bett. Keely Williams machte sich unterdessen auf die Suche nach einem leeren Bett und wurde auch bald fündig. »Es war sogar schon bezogen«, erzählte sie. »Ich dachte mir, wenn wir hier übernachten müssen, dann will ich in diesem Bett schlafen.«
Nachdem sie das leere Schlafzimmer entdeckt hatte, kehrte Williams ins Wohnzimmer zurück, um Huguet zu holen. Sie rüttelte sie wach und sagte zu ihr: »Ali, willst du dich nicht in ein richtiges Bett legen? Ich werde oben in diesem Zimmer schlafen, dort ist ein Bett.«
»Nein, ist schon gut hier«, erwiderte Huguet schlaftrunken. »Ich bleibe hier.« Williams brachte eine Decke und breitete sie über ihre Freundin, dann kehrte sie in das Schlafzimmer zurück. Als sie ging, war Allison Huguet die einzige Person, die sich im Wohnzimmer aufhielt. Alle übrigen Anwesenden schliefen anscheinend bereits in anderen Räumen.
Ungefähr zwei Stunden später wurde Allison Huguet aus dem Schlaf gerissen. Es war noch dunkel. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa, ihre Jeans und ihre Unterwäsche waren herabgezogen worden. »Ich erinnere mich, dass ich aufwachte, weil ich Beau stöhnen hörte und einen heftigen Druck und starke Schmerzen spürte«, sagte sie später aus. Beau Donaldson lag auf ihr und drang von hinten mit seinem Glied in ihre Scheide ein. »Ich öffnete die Augen, aber nur ein wenig«, erinnerte sie sich. »Schon allein von seinem Stöhnen wusste ich, dass er es war.«
Obwohl sie Angst hatte, zwang sie sich, die Augen geschlossen zu halten, und wartete darauf, dass er zum Ende kam. Allison Huguet ist Leistungssportlerin, und sie hatte auch schon einige Selbstverteidigungskurse absolviert. Sie ist 1,65 Meter groß und wog damals 59 Kilo. Beau Donaldson brachte 104 Kilo auf die Waage und spielte in der NCAA Division I sowohl als Verteidiger als auch als Linebacker. Sie dachte sich, wenn er sie vergewaltigen wollte, während sie schlief, dann würde er auch nicht davor zurückschrecken, ihr ernsthaft wehzutun, um ihren Widerstand zu ersticken oder sie daran zu hindern, um Hilfe zu rufen. »Er hätte mir ohne Weiteres den Hals wie ein Ästchen zerbrechen können«, erklärte mir Huguet. »Deshalb lag ich nur da und tat so, als würde ich schlafen.« Donaldson verging sich weitere fünf Minuten an ihr, bis er schließlich in ihr kam. Er hatte sich kein Kondom übergezogen.
Als er fertig war, zog er ihre Jeans ein Stück weit hoch, warf die Decke über sie und ging wortlos hinaus. Wie gelähmt blieb Allison Huguet eine Weile regungslos liegen, bis sie sicher war, dass Donaldson den Raum verlassen hatte. Dann griff sie sich ihre Schuhe und ihr Handy, schlich auf Zehenspitzen durch die Küche, verließ durch eine Hintertür das Haus und lief den Kiesweg hinab, um jemanden zu finden, der ihr helfen konnte. Als Donaldson Huguet die Hose herabgezogen hatte, hatte er den Knopf abgerissen und den Reißverschluss beschädigt, daher versuchte sie im Laufen, mit der Hand, in der sie die Schuhe trug, auch ihre Hose oben zu halten, während sie mit der anderen Hand die Nummer ihres Freundes wählte.
»Ich wusste nicht, warum ich ihn anrief«, erzählte Allison. »Er war nach Colorado gezogen. Er hätte mir überhaupt nicht helfen können. Ich glaube, ich konnte in diesem Augenblick nicht klar denken. Ich rief ihn zweimal an, aber er meldete sich nicht.«
Während sie weiterlief, wählte Allison als Nächstes die Nummer ihrer Mutter. »Als das Telefon läutete«, erzählte mir Beth Huguet, »schaute ich auf die Uhr. Es war 4 Uhr 11 am Morgen. Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein heiseres Krächzen. Es klang nach Panik, aber es kam sonst nichts. Ich wusste, es war Allison, auch wenn sie nichts sagte. Das werde ich nie vergessen. Das wird mich den Rest meines Lebens verfolgen.«
»Mom!«, brachte Allison schließlich heraus. »Er ist hinter mir her! Hilf mir! Rette mich, Mom!« Donaldson hatte irgendwie mitbekommen, dass Allison aus dem Haus geflüchtet war, und lief ihr nach.
»Ich hatte erst ein paar Sekunden mit meiner Mutter telefoniert, als ich plötzlich jemanden hinter mir hörte und sah, dass Beau mich verfolgte«, erzählte Allison. Wenige Augenblicke später streifte seine Hand ihren Rücken, und er fasste sie von hinten. »Ich schrie ins Telefon: ›Er hat mich vergewaltigt!‹, gerade in dem Moment, als er mich packte. Meine Mutter rief: ›Lauf weiter!‹« Allison wusste, dass Donaldson mehrere Schusswaffen besaß. Sie habe versucht, sich seinem Griff zu entwinden, erzählte sie: »Ich dachte, er würde mich töten. Ich rechnete damit, dass ich sterben würde.«
Sie rannte noch schneller die Allee hinunter und versuchte verzweifelt, Donaldson wegzustoßen, der an ihr zerrte. Allison achtete nicht darauf, dass ihre nackten Füße sich an den Kieselsteinen verletzten. »Ich versetzte ihm beim Laufen einen Stoß«, berichtete sie. »Ich weiß nicht, ob ich irgendetwas zu ihm gesagt habe. Ich habe nur mit meiner Mutter gesprochen. Und ich machte mir große Sorgen, denn der Akku in meinem Handy war schon schwach, und ich wusste, es würde bald ausgehen.«
Zwischen dem Schluchzen und Keuchen von Allison konnte Beth hören, wie Donaldson sagte: »Nein, Allison! Bleib stehen! Komm zurück! Sag nichts! Ich werde alles wiedergutmachen. Komm mit mir ins Haus zurück!«
»Seine Stimme klang so ruhig«, sagte Beth, die Lehrerin an einer Highschool ist. »Das war das Bestürzendste an dem Ganzen: Wie ruhig er war. Wie aufgelöst sie war und wie ruhig und gefasst er war. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.« Während sie mit Allison sprach, zog sich Beth Huguet rasch etwas an, stieg in ihren Wagen und raste mit 100 Stundenkilometern die South Avenue hinab zum Universitätsviertel, während sie ständig in ihr Mobiltelefon rief: »Lauf, Allison, lauf!«
Dann hörte Beth, wie Allison sagte: »Jetzt ist er nicht mehr hinter mir! O mein Gott, er läuft mir nicht mehr nach!« Aus irgendeinem Grund hatte Donaldson die Verfolgung aufgegeben und war umgekehrt. »Ich konnte es nicht fassen, dass Beau von mir abgelassen hatte«, erinnerte sich Allison. »Ich hatte ernsthaft geglaubt, er hätte eine Waffe und würde mich erschießen.« Obwohl er nicht mehr hinter ihr her war, rannte Allison weiter.
Beth erinnerte sich, dass Donaldson irgendwo im Universitätsviertel wohnte, aber dieses Gebiet ist ziemlich groß, und Allison wusste die Hausnummer nicht und auch nicht, in welcher Straße das Haus lag. Schließlich aber konnte Allison durchgeben, dass sie sich in der Nähe des Fußballplatzes befand, der an der South Avenue liegt, und Beth fuhr so schnell wie möglich in diese Richtung.
»Ich war barfuß und musste immer noch meine Hose festhalten, als ich die Allee hinter mir ließ und auf die South Avenue kam«, erzählte Allison. »Und da war meine Mutter.« Mittlerweile war der Akku in Allisons Handy leer, daher lief sie in die Mitte der Straße und brachte Beth durch Winken zum Anhalten.
»Sobald ich sie sah, wusste ich, dass etwas Schreckliches geschehen war«, sagte Beth. »Als sie herkam, humpelte und stolperte sie. Als sie in den Wagen stieg, begann sie, vor und zurück zu wippen, und schluchzte erbärmlich. Ich wendete und fuhr auf schnellstem Weg zum Community Hospital. Ich wusste, dass sie angegriffen worden war, aber ich wusste nicht, was genau passiert war.«
Einige Minuten nachdem sie gewendet hatten und auf dem Weg zum Krankenhaus waren, fiel Allison ein, dass sich Keely Williams noch immer in Donaldsons Haus befand und schlief und nichts von der Gefahr ahnte, in der sie schwebte. »Keely!«, schrie Allison. »Wir müssen umkehren und Keely holen!« Während Beth wendete und den Van wieder in Richtung von Donaldsons Haus steuerte, wählte Allison Keelys Nummer. »Beau hat mich gerade vergewaltigt!«, schrie sie ins Telefon, nachdem sich Williams gemeldet hatte. »Du musst sofort weg! Du musst sofort aus dem Haus verschwinden! Meine Mutter und ich warten draußen auf dich!«
Keely Williams griff nach ihrer Handtasche, schlüpfte in ihre Schuhe und flüchtete. Sie beeilte sich so sehr, dass sie sich im Dunkeln mit dem Kopf an der Türkante stieß und sich ein blaues Auge holte. »Ich rannte aus der Garage, und da waren sie auch schon«, berichtete sie mir. »Ich sprang auf den Rücksitz des Wagens. Allison saß vorn, zusammengekauert, und weinte. Sie wollte sich nicht umdrehen. Als ich sie so sah, fing auch ich zu weinen an und sagte, wie leid mir das alles tue.«
Als Keely Williams mehr als zwei Jahre später von diesen Ereignissen berichtete, begann sie zu schluchzen. »Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich diejenige war, die darauf gedrängt hatte, diese Party zu besuchen, um unsere alten Freunde wiederzusehen«, erzählte sie mir, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Ich bin gefahren, und dann habe ich zu viel getrunken, um uns wieder heimzubringen. Und ich habe Allison auf dem Sofa allein gelassen, weil ich in einem richtigen Bett schlafen wollte. Wenn wir einfach gegangen wären oder ich zusammen mit ihr in dem Schlafzimmer oder auf der Couch geschlafen hätte, dann wäre das alles nicht passiert. Ich weiß, ich muss mich nicht schuldig fühlen, aber ich tue es. Wie konnte ich sie dort nur allein lassen?«
»Du hast mich allein gelassen«, erwiderte Allison, »weil keine von uns einen Grund hatte, anzunehmen, dass uns in diesem Haus und in der Gesellschaft unserer Freunde Gefahr drohen würde. Wir haben ihnen völlig vertraut.«
* Name geändert.
Nachdem Beth Huguet Allison und Keely Williams abgeholt hatte, brachte sie Allison in die Notaufnahme des Community Medical Center von Missoula, um ihre Verletzungen behandeln zu lassen. Da aber in diesem Krankenhaus keine rechtsmedizinischen Untersuchungen von Vergewaltigungsopfern durchgeführt werden, schickte man Allison quer durch die Stadt zum First Step Resource Center, der für Vergewaltigungen zuständigen Einrichtung im St. Patrick Hospital, wo ein sogenanntes »Vergewaltigungs-Kit« angelegt werden sollte.
Gemäß dem United States Violence Against Women Act von 2005 haben Opfer von sexuellen Übergriffen Anspruch auf eine kostenlose Sicherung von möglichen Beweismitteln, auch als »Vergewaltigungs-Kit« bezeichnet. Es besteht aus sterilen Tupfern, kleinen Behältern, Plastikbechern, Objektträgern und weiteren Instrumenten zur Sammlung und Lagerung von Samenflüssigkeit, Blut, Schleim, Haaren und Gewebefasern, die in einem Gerichtsverfahren als Beweismittel herangezogen werden können. Die meisten Opfer empfinden diese Prozedur als sehr demütigend. Dies war zweifellos auch bei Allison der Fall. Als sie bei First Step ankam, erzählte sie, »wurde ich in den folgenden vier Stunden noch einmal vergewaltigt. Ich musste mich völlig nackt auf ein weißes Tuch stellen, und eine Krankenschwester strich über meinen ganzen Körper, um Material zu sichern, das DNA von Beau enthalten konnte.« Allisons intimste Stellen wurden von Fremden betastet, gekämmt, abgetupft, fotografiert und intensiv erforscht. Eine Schwester erstellte eine Videoaufnahme vom Inneren ihrer Vagina und dokumentierte die Stelle, die verletzt worden war, als Donaldson in sie eingedrungen war. »Der ganze Ablauf – so notwendig er auch war – war unglaublich traumatisierend«, sagte Allison, »auch wenn die Schwester und die Psychologin sich bemühten, mich zu beruhigen.«
Erst am Samstagvormittag gegen zehn Uhr kehrten Allison und Beth Huguet in Beths Haus in Target Range zurück. Es war eine lange Nacht gewesen, aber Allison konnte sich jetzt nicht in das wohlig warme Bett kuscheln und schlafen. Stattdessen duschte sie heiß, zog sich um und versuchte sich zu sammeln, bevor sie sich mit ihrem Vater traf, der am Nachmittag eigentlich das Footballspiel der Grizzlies mit ihr besuchen wollte.
Am östlichen Stadtrand von Missoula erhebt sich der Mount Sentinel gut 600 Meter über den Campus der University of Montana. Ungefähr auf einem Drittel der Höhe des Bergs ziert ein M aus Beton den Hang. Dieser zehn Stockwerke hohe Buchstabe ist das berühmteste Wahrzeichen der Stadt. Direkt unterhalb des M liegt das Stadion der Grizzlies.
Allisons Eltern hatten sich getrennt, als sie 15 Jahre alt gewesen war, und sich schließlich scheiden lassen. Auch wenn sie diesen Sommer im Haus ihrer Mutter verbracht hatte, hatte Allison ein enges Verhältnis zu ihrem Vater Kevin. Er war ein großer Fan der Grizzlies, und jedes Mal, wenn Allison an einem Spieltag in der Stadt war, gingen sie zusammen ins Stadion, um die Mannschaft spielen zu sehen. »Ich bin in Missoula geboren und aufgewachsen«, erzählte mir Kevin Huguet. »Football und die Grizzlies spielen hier eine wichtige Rolle.«
Als Kevin ein Junge war, führte sein Vater ihn und seine fünf Brüder ein Stück weit den steilen Hang des Mount Sentinel hinauf, von wo aus sie die Grizzlies kostenlos spielen sehen konnten. »Wir waren eine große Familie und hatten kein Geld«, erzählte Kevin, »aber wir konnten am Berghang sitzen und die Spiele umsonst anschauen.« Seit er sein gut gehendes Geschäft in der Stadt betrieb, war Kevin ein Sponsor der Grizzlies und besaß eine Dauerkarte. »Footballspiele sind in Missoula immer ein großes, tagesfüllendes Ereignis«, erklärte er. »20 000 Leute oder mehr stellen sich schon am Morgen vor dem Stadion an.«
Allison und ihr Vater frühstückten gewöhnlich bei ihm zu Hause, bevor sie zum Spiel gingen. Doch an dem Morgen, nachdem Beau Donaldson sie vergewaltigt hatte, war Allison nicht in der Stimmung, ihrem Vater bei gebratenem Schinken und Spiegeleiern gegenüberzusitzen, daher teilte sie ihm in einer SMS mit, dass sie das Frühstück auslassen und sich vor dem Anpfiff direkt am Stadion mit ihm treffen werde. Er schrieb ihr zurück, dass sie nicht zu spät kommen solle.
Allison steckte in einer Klemme. »Mein Vater sollte jetzt noch nicht erfahren, dass ich vergewaltigt worden war«, erläuterte sie. »Ich befand mich noch in einem Schockzustand. Ich war nicht in der Lage, zu denken oder Entscheidungen zu treffen. Ich tat also, als wäre alles normal. Vor allem dachte ich darüber nach, wie ich verhindern konnte, dass meine Augen wirkten, als hätte ich die vergangenen fünf Stunden durchgefeiert.« Sie setzte eine Sonnenbrille auf, um ihre blutunterlaufenen Augen zu verbergen, und machte sich auf zum Grizzly-Stadion.
Allisons große Familie hatte für alle Spiele Tickets an der 30-Yards-Linie, weniger als zwölf Reihen vom Spielfeldrand entfernt. Als sie ankam, war ihr Großvater schon da, auch einige Onkel, mehrere Cousins und ihr Vater. Als Erstes sagte ihr Vater zu ihr: »Siehst du Beau irgendwo da unten? Spielt er heute? Wie geht’s ihm eigentlich?«
»Ich weiß es nicht«, gab Allison knapp zurück. »Beau ist für mich das Letzte.« Kevin, der sie noch nie schlecht über Donaldson hatte reden hören, war verblüfft, ließ ihre Bemerkung aber unkommentiert stehen. Auf der anderen Seite des Spielfelds entdeckte Allison Donaldson, der zusammen mit seinen Teamkollegen an der Seitenlinie stand. Er trug ein weinrotes Trikot mit der Nummer 45, die silbern auf seiner Brust prangte.
Kurz vor der Halbzeitpause verließ Allison ihren Vater, um nicht weiter den Mann anschauen zu müssen, der sie gerade vergewaltigt hatte, und suchte Keely Williams, die gesagt hatte, dass sie ebenfalls zum Spiel gehen werde. Allison glaubte, wenn sie mit Keely redete, würde es ihr ein wenig besser gehen. Unterwegs traf sie auf Sam Erschler, jenen Freund, der Williams und sie überredet hatte, die Nacht in Donaldsons Haus zu verbringen, anstatt heimzufahren. Erschler, einer von Donaldsons ältesten Freunden, hatte keine Ahnung, dass etwas Schreckliches vorgefallen war. »Ich weiß nicht, warum oder weshalb ich es tat«, berichtete Allison, »aber ich habe ihm erzählt, dass Beau mich vergewaltigt hatte.«
»Das tut mir wirklich sehr leid, Al«, erwiderte Erschler und nahm sie in die Arme. Er erzählte Huguet, dass sich Donaldson am Morgen komisch benommen habe. Beunruhigt fügte Erschler hinzu: »Ich weiß nicht, was zur Zeit mit Beau los ist.«
Huguet ging weiter, fand Williams, und dann suchten die beiden jungen Frauen eine abgelegene Ecke des Stadions auf, um ungestört zu reden. Aber nach kurzer Zeit näherten sich ihnen zwei Studenten der Universität und sprachen sie an. »Die beiden Jungs haben uns angegraben«, erzählte mir Huguet. »Sie hielten sich für witzig und wollten einfach nicht weggehen. Da hat sie Keely schließlich angeschrien: ›Haut endlich ab! Sofort! Lasst uns in Ruhe!‹«
Nachdem die beiden Möchtegern-Casanovas abgezogen waren, sprachen Huguet und Williams den Rest des Footballspiels darüber, was in Donaldsons Haus geschehen war. Als Keely zu erklären versuchte, warum sie so starke Schuldgefühle darüber empfand, dass sie Allison alleine auf der Couch hatte schlafen lassen, vertraute sie ihr ein Geheimnis an, das bisher nur sehr wenige Menschen kannten: Vor zwei Jahren, als sie Montana verlassen und an die State University in Portland gegangen war, war auch sie von einem Bekannten vergewaltigt worden.
Es geschah gleich in der ersten Woche, die Keely Williams in Oregon verbrachte, noch vor Beginn des Semesters. »Es war in der Orientierungswoche«, erinnerte sie sich. »Es ging mir nicht gut. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Ich fand keine Freunde. Ich wäre am liebsten ganz woanders gewesen. Ich wollte einfach nur in meinem Zimmer sitzen. Ich wünschte, ich wäre nie aus Missoula weggegangen.« Dann rief Lewis Ronan* an, ein Junge, den sie von der Highschool flüchtig kannte und der ebenfalls an der Portland State studierte, und lud sie zu einer Party in seine Wohnung ein. »Sehr schön«, dachte Williams. »Jemand, den ich kenne.«
Es waren nicht viele Leute da. Als Williams ankam, saßen Ronans Freunde bereits zusammen und rauchten Marihuana mit einer Wasserpfeife. Williams begann, Drinks in sich hineinzuschütten. »Ich war richtig betrunken«, erzählte sie, »und dann musste ich mich übergeben, weil ich zu schnell getrunken hatte. Ein Mädchen, das mit mir im Bad war und das ich vorher gar nicht bemerkt hatte, half mir, mich wieder zurechtzumachen.« Das Mädchen bot Keely Williams an, sie zu ihrem Studentenwohnheim zurückzubringen, aber Keely war zu schlecht, um irgendwohin zu fahren. Daher blieb sie mit dem Mädchen in Ronans Badezimmer und legte ihr Kinn auf den Rand der Toilettenschüssel, in die sie sich immer wieder erbrach.
Als Keelys Brechanfälle aufhörten, bot ihr das andere Mädchen mehrmals an, sie nach Hause zu fahren, aber jedes Mal mischte Lewis Ronan sich ein und sagte: »Nein, sie bleibt heute Nacht hier.«
Schließlich willigte Williams ein, die Nacht in Ronans Wohnung zu verbringen, wie sie sich erinnerte: »Ich war total betrunken, mir blieb keine andere Wahl. Und dann schlief ich ein. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie ich in Lewis’ Zimmer ging. Aber irgendwann in der Nacht wurde ich wach und …« Williams stockte einen Augenblick und begann zu schluchzen. »Und da war er über mir und machte Sex mit mir«, fuhr sie schluchzend fort. »Und dann verlor ich wieder das Bewusstsein. Als ich am nächsten Tag aufwachte, wusste ich zuerst nicht, wo ich war oder wie ich wieder auf das Universitätsgelände kommen konnte. Ich sagte Lewis, dass ich nach Hause müsse, weil meine Mutter zu Besuch kommen werde.«
Ronan gab nicht zu, dass er etwas Falsches getan hatte: Er verhielt sich, als wäre alles in Ordnung, als er Williams zu ihrem Wohnheim fuhr. »Ich hatte noch gar nicht richtig begriffen, dass ich vergewaltigt worden war«, sagte sie. Als ihre Mutter kam, erzählte ihr Keely nichts von dem Vorfall. »Ich bat sie einfach nur, mich wieder nach Missoula mitzunehmen«, erklärte sie unter Tränen. »Ich sagte zu ihr: ›Ich will wieder heim, ich will nicht auf das College gehen. Ich will nicht in Portland bleiben.‹« Ihre Mutter hatte keine Ahnung, warum sich Keely so elend fühlte. »Sie erwiderte: ›Nein, du musst bleiben. Du bist doch noch keine Woche hier.‹«
Im weiteren Verlauf des Tages wurde Keely schmerzhaft bewusst, dass sich ihre Harnröhre nach dem gewaltsamen Geschlechtsverkehr in der Nacht entzündet hatte. Da sie es ihrer Mutter nicht sagen wollte, fuhr sie zu einem örtlichen Safeway und kaufte sich Cranberry-Saft und Pyridium, um die Entzündung zum Abklingen zu bringen. »Mein Urin wurde dadurch hellorange«, erinnerte sie sich, »aber es betäubte meine Harnblase, was mir half.« Die folgenden Tage verbrachte Williams größtenteils im Bett und trank Cranberry-Saft. Auf ihrer Brust bildeten sich violette Flecken an den Stellen, wo sie sich während der Brechanfälle gegen die Toilette gedrückt hatte.
Unterdessen begann Lewis Ronan, ihr Nachrichten zu schicken, in denen er schrieb, dass er sie gern wiedersehen würde. Offenbar war ihm überhaupt nicht bewusst, dass sie es nicht als angenehm empfunden hatte, dass sie während ihrer Bewusstlosigkeit vergewaltigt worden war. »Jedes Mal, wenn eine Nachricht von ihm kam, wurde mir übel«, erzählte mir Williams. »Ich spürte den Drang, mich zu übergeben. Ich wollte nicht, dass er mir mitteilte, dass er mit mir ausgehen wolle, oder dass er mich fragte, warum ich nicht mit ihm reden wolle. Ich dachte nicht bewusst: ›Dieser Kerl hat mich vergewaltigt‹, denn zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht begriffen, dass es Vergewaltigung ist, wenn man nicht aktiv einwilligt, mit jemandem zu schlafen. Ich wusste nur, dass das nicht in Ordnung war.«
Schließlich dämmerte Keely Williams, dass Ronan sie wohl tatsächlich vergewaltigt hatte. »Also habe ich ein wenig nachgeforscht«, sagte sie, »und da wurde mir klar, dass genau das geschehen war. Aber ich verstand noch immer nicht, warum jemand so etwas tat. Vielleicht hatte ich etwas gesagt, das ihn dazu verleitet hatte? Vielleicht hatte ich auch etwas getan, das ihn ermutigt hatte?« Ähnlich wie viele andere Vergewaltigungsopfer stellte sich Williams zunächst die Frage, ob sie selbst in irgendeiner Weise schuld gewesen sei.
»Aber inzwischen war etwas Zeit vergangen«, sagte Williams. »Ich wollte es einfach nur vergessen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte oder wem ich es erzählen sollte. … Ich wollte nicht, dass mir jemand wegen dieser Sache Fragen stellte. Ich wollte nicht darüber sprechen. Ich wusste, wenn ich es jemandem erzählte, der mir wirklich nahestand, würde sich diese Person Sorgen machen, mir Fragen stellen und mich drängen, etwas zu unternehmen, aber ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Daher habe ich nur meinem Exfreund erzählt, dass ich vergewaltigt worden war.«
Ihr früherer Freund glaubte Keely nicht und wurde wütend. »Du bist nur eine Schlampe. Du vögelst mit anderen Kerlen herum und versuchst, dich rauszureden, indem du behauptest, du wärst vergewaltigt worden.«
Zwei Jahre nachdem Lewis Ronan Keely Williams vergewaltigt hatte, im September 2010, als Beau Donaldson Allison Huguet vergewaltigt hatte, kam das Trauma, das Williams durchlitten hatte, wieder hoch. Als sie und Allison sich am Morgen nach dem sexuellen Übergriff auf Huguet in einer Ecke im Grizzly-Stadion unterhielten, erklärte Williams ihrer Freundin, dass sie sich zum Teil auch deswegen schuldig fühle, Huguet auf dem Sofa in Donaldsons Haus allein gelassen zu haben, weil sie sich sehr gut vorstellen könne, was Huguet jetzt durchleiden müsse, vor allem, als sie zusammengerollt und schluchzend im Auto ihrer Mutter gesessen habe. »Ich würde dir gern deinen ganzen Schmerz abnehmen«, sagte Williams zu Huguet. »Ich wünschte, ich wäre verletzt worden, damit du nicht all das durchmachen musst, was ich erlitten habe.«
Doch dass Williams so mit ihr fühlte, konnte Huguets Schmerz nicht lindern. Allison Huguet war vergewaltigt worden, und das musste sie sich früher oder später eingestehen. Deshalb sprachen die beiden Mädchen darüber, wie sie den ersten Schritt dazu tun konnte.
»Ich fühlte mich nicht stark genug, zur Polizei zu gehen«, sagte Huguet, »oder auch nur, es meinem Vater zu erzählen.« Dennoch wollte sie, dass Donaldson zugab, was er ihr angetan hatte. Die beiden Mädchen beschlossen, dass Allison Donaldsons Freund Sam Erschler bitten solle, Donaldson auszurichten, er solle zu Huguet nach Hause kommen und sich entschuldigen, und ihm mitzuteilen, dass sie ihn bei der Polizei anzeigen würde, wenn er sich weigern sollte.
Williams überredete Huguet, Donaldsons Entschuldigung heimlich aufzuzeichnen, wenn er sich bereitfände, sich mit ihr zu treffen. Williams studierte im Hauptfach Strafrecht an der Portland State University und wusste, dass es nach den Gesetzen Montanas illegal war, ein Gespräch aufzuzeichnen, sofern nicht alle Beteiligten dazu ihr Einverständnis bekundet hatten. Doch obwohl diese Aufzeichnung nicht vor Gericht verwertbar sein würde, erklärte Williams Huguet: »Du musst eine Aufnahme machen. Denn du weißt nicht, ob er es später noch einmal zugeben wird.«
Huguet erklärte sich einverstanden. »Ich hatte kein Verlangen, mit Beau zu reden«, sagte sie. »Und zu diesem Zeitpunkt hatte ich auch noch nicht die Absicht, ihn anzuzeigen. Aber das wusste Beau nicht. Ihm mit der Polizei zu drohen war meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, ihn dazu zu bringen, seine Tat zuzugeben. Und wenn ich mich irgendwann doch dazu entschließen würde, zur Polizei zu gehen oder jemand anderem zu erzählen, was geschehen war, dann wollte ich nicht darüber streiten müssen, ob Beau mich tatsächlich vergewaltigt hatte oder nicht. Ich wollte in der Lage sein, es zu beweisen.« Also ging Huguet am Samstagnachmittag nach dem Footballspiel mit ihrer Mutter zu RadioShack und kaufte sich für 45 Dollar ein Aufnahmegerät.
Beau Donaldson und Sam Erschler erschienen am Sonntagnachmittag beim Haus von Beth Huguet. Allison und ihre Mutter waren beide sehr aufgeregt. Bevor Donaldson und Erschler kamen, schaltete Allison das Aufnahmegerät ein und versteckte es zwischen den Kissen auf dem mehrteiligen Sofa ihrer Mutter. Donaldson nahm zufällig direkt daneben Platz. Als sich Donaldson gesetzt hatte, fragte ihn Allison: »Möchtest du dich bei mir entschuldigen, Beau, oder …?«
Donaldson antwortete: »Es tut mir wirklich sehr leid.« Nervös und abgehackt fuhr er fort: »Wir lagen beide auf dem Sofa. Ich war völlig hinüber. Wir waren beide betrunken. Ich meine, wir lagen beide da. Ich erinnere mich, dass wir auf der Couch herumgeknutscht haben. Wir lagen beide nebeneinander auf dem Sofa. Haben angefangen rumzumachen. Und dann – ich kann mich nicht mehr an alles erinnern … Ich weiß noch, dass wir rumgemacht haben.«
Wütend darüber, dass Donaldson ihr frech ins Gesicht log und glaubte, er könne damit davonkommen, erwiderte Allison: »Beau, wie kommt es dann, dass ich mich daran erinnere, dass ich auf dem Sofa eingeschlafen und dann mitten in der Nacht aufgewacht bin, als du auf mir gelegen hast und mit mir Sex hattest? … Beau, ich habe geschlafen!«
»Wir haben auf dem Sofa rumgeknutscht«, beharrte Donaldson.
»Nein, das haben wir nicht getan!«, widersprach Allison energisch.
»Es geht darum«, mischte sich Beth Huguet ein, »dass das hier Sex ohne Zustimmung war.«
»Und es geht darum, dass du mich missbraucht hast!«, rief Allison wütend.
»Das habe ich getan«, räumte Donaldson ein. Er schien zu begreifen, dass er mit Lügen nicht weiterkommen würde. »Ich gebe es zu. Ich hab’s getan. Es tut mir leid.« Keine zwei Minuten nach Donaldsons Ankunft hatte Allison das erhoffte Geständnis. Doch das Gespräch war noch lange nicht zu Ende.
»Ich habe mich nur deswegen überreden lassen, bei dir zu übernachten, weil wir uns schon seit der Schule kennen«, sagte Allison.
»Ich weiß«, erwiderte Beau. »Und … ich kann nicht alles auf den Alkohol schieben, denn das stimmt nicht. Ich habe etwas getan, was ich nicht hätte tun dürfen.«
Allison fragte ihn: »Hast du das früher schon mal gemacht?«
»Nein, noch nie!«, schluchzte Donaldson. »Das war das erste Mal, dass ich mich zu so etwas habe hinreißen lassen! Wirklich! … Es tut mir wahnsinnig leid.«
Beth erinnerte Donaldson daran, dass er das Vertrauen einer jungen Frau missbraucht habe, die ihn gewissermaßen als einen großen Bruder betrachtet habe.
Unter Tränen sagte Beau: »Sie ist wie meine kleine Schwester!«
»Wenn sie ein Problem hatte, ist sie immer zu euch gekommen«, fuhr Beth fort und bezog sich damit auf Donaldson und Erschler. »Wenn sie sich von irgendjemandem ungerecht behandelt gefühlt hat, wart ihr diejenigen, an die sie sich gewandt hat …«
Allison erinnerte Donaldson daran, dass sie immer zu ihm gestanden und anderen gegenüber stets gut über ihn gesprochen habe. Nun brach Donaldson zusammen und begann, unkontrolliert zu weinen.
»Weißt du, dass du sie innerlich verletzt hast?«, fragte Beth Huguet. »Du hast sie innen verletzt, in der Vagina. … Weißt du, wie schrecklich das ist? Mich als Mutter bringt das um. … Der Gedanke, dass sie auf diese Weise physisch verletzt worden ist. … Das ist so armselig.«
»Beau«, sagte Allison, »ich wünschte, du könntest dir vorstellen, wie es ist, ein Mädchen zu sein und aufzuwachen und zu spüren, dass ein 100 Kilo schwerer Mann auf seinem Rücken liegt und sich an ihm vergangen hat, während es noch geschlafen hat. Und dann musste ich noch liegen bleiben, bis du fertig warst.«
Allison fuhr fort: »Ich würde mich wahrscheinlich umbringen, wenn so etwas einem anderen Mädchen widerfahren wäre und ich es nicht der Polizei gemeldet hätte.«
Donaldson erwiderte, dass er verstanden habe. »Ich hätte mich auch selbst fast umgebracht in dieser Nacht«, sagte er. Nachdem er aufgehört habe, auf der Straße hinter Allison herzulaufen, erklärte er, habe er sich »im Carport ins Auto gesetzt mit meiner verdammten Knarre in der Hand«.
Allison und ihre Mutter bezweifelten die Aufrichtigkeit seiner Reue. »Ich weiß nicht, ob ihr beide das wisst«, sagte Beth, »aber Allison hatte eine Zystenruptur, als sie zehn Jahre alt war, und wurde damals von einem Arzt zum anderen geschickt. … Und deshalb … achtet sie sehr auf ihren Intimbereich. … Sie ist kein Mädchen, das herumvögelt. Sie geht nicht wahllos mit jedem ins Bett. Nicht, dass dir das ein Recht gäbe, sie zu vergewaltigen. Das ist nicht der entscheidende Punkt. Es ist nur … wir waren stundenlang im Krankenhaus. Weil du sie innen aufgerissen hast.«
»Allison, es tut mir wirklich furchtbar leid«, winselte Donaldson.
»Wenn ich nicht mit dir aufgewachsen wäre«, sagte Allison, »wenn ich nicht mit dir befreundet gewesen wäre, wenn du das irgendeinem anderen Mädchen angetan hättest, und das geht zur Polizei und zeigt dich an, dann ist dein ganzes Leben zerstört, Beau. … Kannst du dir die Schlagzeile auf der Titelseite des Missoulian vorstellen: ›Erneut ein Grizzly-Footballspieler in Schwierigkeiten. Anzeige wegen Vergewaltigung.‹ … Brauchst du Hilfe? Benötigst du Hilfe wegen Alkohol? Wegen Drogen? … Offenbar hast du hier ein Problem. Liebst du deine Freundin?«
»Ich liebe sie mehr als alles andere«, entgegnete Donaldson. »Ich möchte sie heiraten …«
»Das verstehe ich nicht«, erklärte Allison. »Wenn du sie liebst, warum betrügst du sie dann? … Mir ist klar, dass es nicht nur um mich geht.« In ihrem Freundeskreis waren Donaldsons Seitensprünge allgemein bekannt.
»Du musst einmal ernsthaft über dein Leben nachdenken«, mahnte Beth, »und in dich gehen und überlegen, was du ändern musst. Allison erwägt nicht zuletzt deswegen, zur Polizei zu gehen – Allison, sage mir, wenn ich das falsch sehe –, weil sie verhindern möchte, dass einem anderen Mädchen das Gleiche passiert. Sie möchte nicht in einem oder in zwei Monaten erfahren, dass du wieder ein Mädchen verletzt hast. Und dass sie das hätte verhindern können, wenn sie geredet hätte.«
»Allison«, schluchzte Donaldson, »es tut mir so leid …«
»Es geht auch darum, dass ich einen Freund habe«, erläuterte Allison, »der mir sehr wichtig ist. Über diese Sache kann ich nicht mit ihm reden. Ich kann das nicht ansprechen. Er würde wahrscheinlich auf der Stelle herkommen und dich umbringen. … Also, wenn ich noch einmal von einem solchen Vorfall höre, Beau, wenn ich von einem Mädchen höre, das du angerührt hast, dann gehe ich sofort zur Polizei …«
Beth Huguet drängte Donaldson, sich in Behandlung zu begeben. »Du musst wirklich mit jemandem sprechen und sagen: ›Das habe ich getan. Wie kann ich mich ändern?‹ Und du musst dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder passieren kann.«
»Ich brauche tatsächlich Hilfe«, stimmte ihr Donaldson zu, der nun nicht mehr weinte. »Es tut mir wirklich leid.«
Allison erinnerte Donaldson: »Wenn ich jetzt zur Polizeiwache gehen würde, dann wäre dein Leben zerstört. Und deshalb werde ich es nicht tun. … Damit möchte ich nicht leben wollen. Aber ich bin auch nicht glücklich mit dem, was geschehen ist. … Du sollst nicht glauben, dass es in Ordnung war, weil ich keine Anzeige erstatte. … So etwas darf nie wieder vorkommen. … Lass dir helfen, Beau.«
Donaldson versicherte, dass er sich um eine Therapie bemühen werde. »Er hat mir versprochen, dass er sich wegen seiner Drogen- und Alkoholprobleme und seinem sexuellen Verhalten in Behandlung begeben würde«, erinnerte sich Allison. »Und ich habe ihm klargemacht, dass dieses Versprechen der einzige Grund war, warum ich nicht zur Polizei ging.«
* Name geändert.
Einige Tage nach dem Vorfall, erzählte mir Beth Huguet, »saß Allison, in Decken gehüllt, auf dem Sofa im Keller meines Hauses. Sie sagte kein Wort, aber man spürte, dass ihr eine Menge im Kopf herumging. Man sah es in ihrem Gesicht.«
»Ich war total überfordert«, erinnerte sich Allison. In wenigen Tagen sollte ihr drittes Jahr an der Eastern Oregon University beginnen, erzählte sie. »Aber ich war noch nicht so weit, das schützende Heim meiner Mutter zu verlassen. Ich wollte in der Nähe meiner Familie sein und mich von ihr geborgen fühlen.« Sie entschloss sich, das ganze Semester über in Missoula zu bleiben und ihre Kurse online zu absolvieren. Eine Woche nach ihrer Vergewaltigung erhielt sie einen Anruf ihrer jüngeren Schwester Kathleen, die in Boise in Idaho das College besuchte.
Kathleen Huguet berichtete Allison, dass ein gemeinsamer Bekannter herumerzählte, dass »du und Beau letztes Wochenende miteinander geschlafen habt«. Kathleen fragte Allison nicht, ob dieses Gerücht zutreffe, denn sie wusste, dass es unsinnig war: Beau Donaldson war der Letzte, mit dem Allison schlafen würde. Empört berichtete Kathleen, dass sie ihrem Bekannten eine harsche Facebook-Nachricht geschickt und ihn aufgefordert habe, keine lächerlichen Gerüchte zu verbreiten.
»Ich bekam einen Schock, als mir Kathleen das erzählte«, berichtete Allison. »Ich konnte es zunächst gar nicht richtig verarbeiten.« Donaldson und sein Freund Sam Erschler hatten Allison und ihrer Mutter versichert, dass sie niemandem von der Vergewaltigung erzählen würden. Dennoch kursierte in Missoula, in Boise in Idaho und in La Grande in Oregon bereits das Gerücht, dass sie freiwillig mit ihrem Vergewaltiger geschlafen habe.
Allison erzählte Kathleen nichts von der Vergewaltigung. Um sich Unterstützung zu holen, rief sie Keely Williams an und sagte zu ihr: »Ich kann das nicht glauben.« Dann schickte sie Beau Donaldson eine Nachricht, um ihn darüber zu informieren, was die Leute über sie beide sprachen. Sie warnte ihn: »Ich verspreche dir, ich gehe zur Polizei, wenn ich noch einmal von jemandem höre, dass ich mit dir geschlafen hätte.«
Donaldson schrieb sofort zurück, dass er zwar keine Ahnung habe, wer dieses Gerücht erfunden habe, er aber alles tun werde, um es aus der Welt zu schaffen.
Die Nachricht von Donaldson wirkte aufrichtig reumütig. Allison Huguet empfand sie auf überraschende Weise beruhigend. Sie verlieh ihr das Gefühl, dass sie die Dinge gewissermaßen unter Kontrolle hatte, oder vermittelte ihr zumindest eine Illusion von Kontrolle, ein Gefühl, das mehr als ein Jahr lang anhielt. »Zu dieser Zeit«, erzählte sie mir, »spürte ich, dass ich eine Art echtes Druckmittel in der Hand hatte, und daher hatte ich keine große Angst vor ihm. Und ich war zuversichtlich, dass er sich tatsächlich die Hilfe suchen würde, die er benötigte.« Huguet redete sich ein, dass sie, solange niemand wisse, dass sie vergewaltigt worden sei, weiterleben könne, als wäre nichts geschehen. Sie sah keinen Grund, warum sie sich in psychotherapeutische Behandlung begeben sollte.
»Das folgende Jahr war für mich sehr eigenartig«, sagte sie. »Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich in dieser Zeit häufig an die Vergewaltigung dachte oder gar nicht. Ich erinnere mich auch nicht mehr, ob ich gut schlafen konnte oder Albträume hatte. Diese ganze Zeit ist wie ein leeres Blatt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es mir recht gut gelungen ist, die Angelegenheit zu verdrängen.« In diesem Semester, so erzählte sie, »arbeitete ich Vollzeit in der Firma Office Solutions meines Vaters. Ich widmete mich intensiv meinem Studium und kam mit den Onlinekursen gut zurecht. Und an den Wochenenden fuhr ich manchmal nach Pullman.« Zwei von Huguets engen Freundinnen von der Eastern Oregon University hatten ihren Abschluss gemacht und waren in die Universitätsstadt Pullman im Bundesstaat Washington gezogen. Als Huguet sie besuchte, zog sie mit ihren Freundinnen durch die Kneipen. »Ich trank in diesem Jahr viel mehr als sonst«, erzählte sie. »Trinken und Feiern. Spaß haben. Rückblickend begreife ich, dass ich in dieser Zeit einige dumme Sachen gemacht habe. Und ich weiß jetzt auch, warum ich diese dummen Sachen gemacht habe. Aber damals war ich noch nicht bereit, die Tatsache zu akzeptieren, dass Beau mich in vielfacher Weise verändert hatte. Ich war nicht bereit, ihm das zuzugestehen.«