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Mit Hilfe der Gräfin du Barry entkommt die junge Dienstmagd Manon dem Bordell und tritt in den Dienst der königlichen Mätresse am glanzvollsten Hof Europas: Versailles. Als König Ludwig XV. stirbt, muss seine Geliebte den Hof verlassen und Manon verliert ihre Arbeit. Marie Antoinette, Frankreichs neue Königin, bietet dem vielseitig begabten Mädchen eine Anstellung an. An der Seite der verschwenderischen Monarchin steigt Manon zur Schminkmeisterin von Versailles auf. Doch dann verliebt sie sich …
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Seitenzahl: 389
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Josephine Gaspard
Die Schminkmeisterin von Versailles
Historischer Roman
Paris im Jahr 1773 Mit Hilfe der Gräfin du Barry entkommt die junge, bildhübsche Manon ihrem Schicksal im Bordell und tritt in den Dienst der königlichen Mätresse am glanzvollsten Hof Europas: Versailles. Dort lernt sie sowohl die angenehmen als auch die dunklen Seiten des Palastes kennen. Als König Ludwig XV. unerwartet stirbt, wird Madame du Barry vom Hof verjagt und Manon verliert ihre Anstellung. Marie Antoinette, Frankreichs neue Königin, nimmt das Mädchen auf, dessen Gespür für Kosmetik, Frisuren und dekorative Accessoires sie schon lange bewundert. An der Seite der leichtsinnigen Monarchin steigt Manon la Belle nicht nur zur Schminkmeisterin von Versailles, sondern auch zu ihrer Freundin und Vertrauten auf. Während Manon wegen der königlichen Verschwendungssucht vor dem ständig wachsenden Volkszorn warnt, ignoriert Marie Antoinette alle Vorzeichen. Bis zum Sturm auf Versailles bleibt die Schminkmeisterin bei Marie Antoinette und wird schließlich Zeugin ihres grausamen Todes unter der Guillotine.
Josephine Gaspard war mehr als zwanzig Jahre im Ausland tätig. Nach der Geburt ihres Sohnes kehrte sie nach Europa zurück und ließ sich in Heidelberg nieder. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Bayern. Unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht sie Biografien, Sachbücher und (historische) Romane.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © Fokasu Art / stock.adobe.com;
Andrea Raffin / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3052-2
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden, obwohl sich sein Grundgerüst auf die Regierungszeit der französischen Könige Louis XV. und XVI. sowie die wichtigsten Daten historischer Ereignisse stützt. Einige Figuren – wie Gräfin du Barry, der Page Zamor, König Louis XV., der Dauphin Louis Auguste sowie seine Gemahlin Marie Antoinette und ihre Freunde sind historisch belegt und haben ihren Platz in der Geschichte. Diese sind im Personenverzeichnis mit einem * gekennzeichnet. Fiktive Figuren, wie die Schminkmeisterin Manon, Hauptmann Cronsteed, Madame Elodie, die Kammerfrau Fanny, die Zofen Louise und Agathe, der Lakai Pierre und viele Geschehnisse in Versailles sind Produkte meiner Fantasie, ebenso wie die Dialoge zwischen den Protagonisten. Ich habe mir die Freiheit genommen, Zeiten, Ereignisse und Schauplätze nach meiner Vorstellung zu interpretieren und der Erzählung anzupassen.
Manon la Belle, ehemaliges Dienstmädchen im Bordell Maison Reine Margot, die als Schminkmeisterin der Königin Marie Antoinette ihr Glück macht, bis ihre Herrin dem Grauen der französischen Revolution zum Opfer fällt.
Ellie, Marie, Emma, Sophie, Freudenmädchen im Bordell Maison Reine Margot
Madame Elodie, die Bordellwirtin
Jacques Hubert, der Majordomus des Bordells
*Gräfin du Barry, ehemaliges Straßenmädchen, aufgestiegen zur Geliebten des französischen Königs, die mächtigste Frau in Versailles, tonangebend in Sachen Mode, Frisuren und Kosmetik, erste Herrin von Manon
*Zamor, der Page der Gräfin
Fanny, Kammerfrau der Gräfin
*König Louis XV., König von Frankreich, Liebhaber der Gräfin du Barry
*Louis Auguste XVI., Dauphin von Frankreich, der Nachfolger seines Großvaters Louis XV.
*Marie Antoinette, Dauphine, die österreichische Gattin des Thronfolgers
*Madame Noailles, nach der Eheschließung die sittenstrenge erste Hofdame der Dauphine
*Prinzessin Lamballe, Seelenfreundin der Dauphine
*Herzogin Polignac, exzentrische Freundin der Dauphine
*Madame Campan, Erste Kammerfrau der Königin
*Hans Axel Graf von Fersen, schwedischer Gesandter und Favorit der Königin Marie Antoinette
Hauptmann Eugen von Cronsteed, Fersens Adjutant, Manons Geliebter
*Philippe, Herzog von Bourbon d’Orleans, Cousin von Louis XVI., gehört zur Entourage der Dauphine
*Karl X. Philipp, Graf von Artois, jüngerer Bruder von Louis XVI., der gemeinsam mit seiner Gemahlin *Maria Theresia von Savoyen ebenfalls der Clique der Dauphine angehört
Louise, Erste Kammerfrau im Petit Trianon
Agathe, Zofe und Gehilfin von Louise
*Adélaïde, Victoire und Sophie, die missgünstigen Töchter von Louis XV., Tanten des Dauphins
*Graf von Mercy-Argenteau, österreichischer Botschafter am französischen Hof, die Augen und Ohren der Kaiserin Maria Theresia in Versailles
*Kaiserin Maria Theresia, die Mutter von Marie Antoinette
*Joseph II., Sohn von Maria Theresia, der ältere Bruder von Marie Antoinette
Monsieur Thierry, Leibkoch von Marie Antoinette
Prolog:Paris, Revolutionsplatz, am 16. Oktober 1793
Erster Teil: Im Bordell Maison Reine Margot
Zweiter Teil: Im Salon der Favoritin
Dritter Teil: In den Gemächern der Königin
Vierter Teil: Dem Ende entgegen
Paris, Revolutionsplatz, am 16. Oktober 1793
Seit Tagen regnete es ohne Unterlass, und von der Seine her wehte ein kalter Wind. In diesem Jahr war der Herbst früh gekommen. Die Frau in dem Kleid aus grob gewebtem Leinen zog ihre bäuerliche Haube noch weiter ins Gesicht und hielt frierend das Schultertuch zusammen. Durchnässt von Kopf bis Fuß zitterte sie am ganzen Leib. Der Mann an ihrer Seite fragte: »Ist dir kalt, Manon? Willst du lieber gehen? Wir könnten dort drüben bei einem der Schankwirte einen Becher heißen Würzwein trinken. Er würde dich ein wenig aufwärmen. Komm, Liebste, lass uns gehen.«
Doch die Frau schüttelte stur den Kopf und starrte weiter nach vorn, dorthin, wo sich ein hölzerner Aufbau über den Köpfen der grölenden Menge erhob. Dicht gedrängt standen die Pariser um das Schafott mit den blutverschmierten Planken und den schmutzigen Sägespänen, während sie gespannt auf das Erscheinen der Delinquentin warteten, die heute ihren Kopf unter dem Fallbeil der Guillotine verlieren würde. Diese Hinrichtung versprach ein unvergessliches Spektakel zu werden.
Ein Windstoß wehte den Gestank von getrocknetem Blut, Schweiß und Fäkalien über den Richtplatz und ließ die Frau vor Ekel würgen. Rasch barg sie den Kopf an der Brust ihres Mannes und atmete dessen tröstlich-vertrauten Geruch nach Heu, Pferden, Leder und Tabak ein. Manon, die ehemalige Schminkmeisterin und Freundin der Königin, war in Begleitung ihres Ehemannes, Eugen Ritter van Cronsteed, aus ihrem Versteck im Elsass in ihre Heimatstadt gekommen, um der Hinrichtung ihrer früheren Herrin beizuwohnen. Heute sollte Marie Antoinette, einst Königin von Frankreich, auf dem Schafott sterben. Nach dem Willen des Geschworenengerichts war sie wegen Unzucht und Hochverrates zum Tode verurteilt worden. Noch immer weigerte sich Manon zu glauben, dass die Witwe Capet, wie die Königin seit ihrer Inhaftierung genannt wurde, tatsächlich ihr Leben verlieren sollte. Sie hoffte, dass das Todesurteil in letzter Minute aufgehoben und Marie Antoinette stattdessen in die Verbannung geschickt werden würde.
In längst vergangenen Zeiten hatte Manon die Königin über alles geliebt. Ihre Bewunderung hatte der Frau gegolten, die bereits mit 19 Jahren auf dem Thron saß und über 20 Millionen Franzosen herrschte. Damals hatte sie sich in der Gunst ihrer jungen Herrin gesonnt und das luxuriöse Leben an deren Seite genossen. Nicht einen Augenblick lang wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass es mit Marie Antoinette einmal ein derart unrühmliches Ende nehmen würde.
Das Geschrei des Pöbels schwoll an und wurde immer lauter, dröhnte so gewaltig, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Als das Rattern der Räder auf dem Pflaster und das Klappern von Pferdehufen zu hören war, gab es für die rasende Menge kein Halten mehr. Der Schinderkarren, von Gendarmen bewacht, näherte sich dem Richtplatz. Jetzt waren die hasserfüllten Rufe aus der Menge deutlich zu verstehen:
»Hure!«
»Verräterin!«
»Aufs Schafott mit Madame Défizit!«
»Tod der Österreicherin!«
Warum nur hatte Marie Antoinette damals in Versailles alle wohlgemeinten Ratschläge missachtet? Warum hatte sie die Not ihre Untertanen bis kurz vor Beginn der Revolution ignoriert? Warum hatte sie trotz aller Warnungen weiterhin Unsummen für Kleider und Schmuck ausgegeben, anstatt den Hunger ihres Volkes zu lindern?
Mit kalter Wut erinnerte sich Manon an ein Gespräch zwischen Graf von Mercy-Argenteau, dem ranghohen österreichischen Gesandten, und der Königin, in dem der Diplomat Marie Antoinette berichtete, dass die einfachen Menschen dagegen protestierten, dass riesige Mengen Mehl für das Pudern von Frisuren und Perücken verschwendet wurden, während die Bäcker in der Backstube vor leeren Regalen standen. Mit einem kleinen Lächeln hatte Marie Antoinette darauf geantwortet: »Ach herrje, lieber Graf, das bisschen Mehl zum Wohle der Schönheit. Daran kann die Brotknappheit wohl nicht liegen«
Sprachlos angesichts solch unfassbarer Ignoranz hatte Mercy-Argenteau nur den Kopf geschüttelt, bevor er zum Abschied noch einmal mahnend die Stimme erhob: »Ich hoffe sehr, dass Ihr diese Haltung nicht einmal bereuen müsst, Majestät. Bedenkt, wozu ein hungerndes Volk in seinem Elend fähig ist.«
Daraufhin hatte Marie Antoinette lediglich mit den Schultern gezuckt und das Problem in der nächsten Minute vergessen.
Heute also war der Tag der Abrechnung des Volkes mit der Monarchie gekommen. Die ehemalige Königin Marie Antoinette sollte für ihre unbedachten Worte und Handlungen mit dem Leben bezahlen.
Der Schinderkarren rollte auf den Platz, die Soldaten drängten die entfesselte Meute zurück, die sich mit erhobenen Fäusten nach vorn schob, bereit, die Frau mit den gefesselten Händen vom Karren zu zerren und in Stücke zu reißen.
Neben ihrem Mann atmete Manon erleichtert auf. »Eugen, das ist nicht die Königin. Sieh doch selbst, es ist eine alte Frau mit schlohweißem Haar. Marie Antoinette aber hat das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht«, stieß sie atemlos hervor.
Grob wurde die Gefangene von zwei Gendarmen vom Karren gerissen und die Stufen zum Schafott hinaufgestoßen. Sie wandte das Gesicht den Menschen auf dem Platz zu – und mit einem leisen Aufschrei erkannte Manon, dass sie sich geirrt hatte. Die verhärmte Frau in dem zerschlissenen Kleid war tatsächlich Frankreichs frühere Monarchin. Ungewollt füllten sich Manons Augen mit Tränen. Mit einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Trauer beobachtete sie ihre ehemalige Gönnerin.
Auf der Plattform warteten der Scharfrichter sowie seine beiden Gehilfen neben Abbé Lothringer auf die Delinquentin. Der Priester sollte ihr geistlichen Beistand leisten, doch das Geschrei der Massen hatte mittlerweile eine unerträgliche Lautstärke erreicht. Verwünschungen und Flüche flogen der schmalen Gestalt neben der Guillotine entgegen. Die Henkersgesellen packten die Frau an den Armen und banden sie unter das Fallbeil. Da rief sie mit lauter Stimme: »Lebt wohl, meine lieben Kinder! Nun werde ich euren Vater wiedersehen!«
Dann fiel das Beil, ein Blutstrom ergoss sich über die Planken, und der Kopf der Königin rollte in die Sägespäne. Einer der Männer ergriff ihn an den Haaren, hob ihn hoch und präsentierte ihn der tobenden Menge, die nach vorn drängte, um ihre Taschentücher mit dem Blut der französischen Königin zu tränken, als Andenken an das grausige Ende der Monarchie.
In diesem Augenblick donnerte ein ohrenbetäubender Schrei aus Tausenden Kehlen über den Platz.
»Lang lebe die Republik!«
»Manon, du nichtsnutziges Weibsbild, wo treibst du dich wieder herum? Schwing gefälligst deinen faulen Hintern hierher und hilf mir, das Korsett zu schnüren!«
In der Küche legte die so Gescholtene vorsichtig die Brennschere aus der Hand, die sie soeben im Feuer erhitzt hatte, raffte den Rock und beeilte sich, die Treppe in die obere Etage hochzulaufen, wo Madame Elodie, die Besitzerin des Edel-Bordells Maison Reine Margot, auf sie wartete.
»Hier bin ich, Madame!«, rief das junge Mädchen beim Eintreten.
Die Hausherrin, die vor Jahren im berühmt-berüchtigten Bordell von Madame Gourdan als Freudenmädchen ihr Handwerk gelernt hatte, erhob sich aus ihrem Sessel und stellte sich ans Himmelbett, wo sie mit beiden Händen den Bettpfosten umklammerte, nicht ohne Manon vorher mit dem Fächer auf die Wange zu schlagen, als Strafe für deren Trägheit.
»Nun mach schon und beeile dich. Du weißt doch, dass ich eine Anprobe im Salon Gabrielle habe. Wegen deiner Trödelei werde ich noch zu spät kommen.«
Manon griff nach den Bändern des Korsetts und zog mit aller Kraft. Es war gar nicht so einfach, die ausladenden Rundungen von Madame in das schmale Gestell zu zwängen.
»Enger!«, schrie ihre Herrin mit feuerrotem Kopf, und Manon strengte sich noch mehr an.
»So, nun her mit den Unterröcken, dem grünen Kleid mit der cremefarbenen Spitze und dem Hut mit der Satinschleife«, keuchte die Bordellwirtin, nachdem ihre Fülle gebändigt und sie mit dem Ergebnis zufrieden war. »Los, los, nun mach schon, ich habe nicht ewig Zeit.«
Madame Elodie scheuchte Manon durch das Schlafgemach und ließ sich Schultertuch, Handschuhe und Parfüm reichen. Es dauerte noch eine Weile, bis sie zum Ausgehen fertig war. Als sie endlich aus der Tür rauschte, sank Manon erschöpft auf den Sessel.
»Ist die Alte endlich weg?«
Das Gesicht, das um die Ecke lugte, war bildhübsch, mit großen grünen Kulleraugen, umrahmt von einer Mähne kupferfarbener Locken.
Als Manon nickte, kam Ellie ins Zimmer, ergriff den Arm des Dienstmädchens und zog sie mit sich. »Komm mit in die Küche, ma petite, wir sitzen schon alle beim Frühstück. Das hast du dir redlich verdient. Die Alte ins Korsett zu pressen ist anstrengender, als ein Weinfass zu stemmen. Danach braucht man eine ordentliche Stärkung.«
Die beiden Mädchen lachten vergnügt und hüpften die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Dort saßen die sechs Damen des Maison Reine Margot um den Küchentisch und ließen sich frisches Weißbrot, Rahmbutter, Kompott und Käse schmecken. Lautstark wurden die Erlebnisse der letzten Nacht ausgetauscht und die Eigenheiten der Freier, die im Haus »Gäste« genannt werden mussten, mit bissiger Ironie kommentiert. Marie, ein Bauernmädchen aus Burgund, verstand es wie keine andere, die Männer nachzuäffen, die vergangene Nacht mit den Freudenmädchen verbracht hatten.
»Gegrunzt hat er wie eine brünstige Wildsau, während er auf mir lag, und als er gekommen ist, hat er geröchelt, als hätte er den Fangschuss erhalten«, berichtete Sophie, die Tochter eines Wildhüters aus dem Luberon. Die Mädchen kreischten vor Vergnügen, als Marie die Geräusche nachahmte und dazu Grimassen schnitt, bis sie mit lustvoll verdrehten Augen über ihrem Teller zusammensank. Mit Händeklatschen und Beifallsrufen belohnten die Kurtisanen die Schauspielkunst ihrer Kameradin. Erst als die Tür zum Hinterhof aufgerissen wurde und eine Stimme donnerte: »Was ist denn hier los? Muss ich euch Hühnern wieder einmal Benehmen beibringen?«, verstummte das Gelächter. Jacques Hubert, der Majordomus des Bordells, das den Namen der leichtlebigen Königin Margarete de Valois trug, trat an den Tisch. Die Mädchen wussten, dass ihm schnell die Hand ausrutschte, die dann hart auf der Wange oder dem Rücken der Betroffenen landete. Jetzt bebte sein mächtiger Schnurrbart vor Empörung über die lockeren Tischsitten seiner Schützlinge. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er eine nach der anderen argwöhnisch, bis sein Blick zum Schluss an Manon hängen blieb.
»Und du da, hast du nichts zu tun, Mademoiselle? Hockst faul herum und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein? Los, an die Arbeit, aber schnell! Oder soll ich Madame erzählen, dass du dein Brot mit Faulenzen verdienst?«
»Ach Jacques, lass sie, sei nicht so streng mit ihr. Sie ist doch noch ein Kind. Warum gönnst du ihr nicht die kurze Verschnaufpause?« Sophie, mit 21 die Älteste der Kurtisanen, schlug einen versöhnlichen Ton an.
»Ein Kind, soso. Na, da wird das Kind aber bald eine Überraschung erleben«, knurrte der Hüne mit finsterer Miene.
»Was meinst du damit, Jacques?«, schaltete sich nun auch Marie ein, für die der Majordomus ein besonderes Faible hatte.
»Sie ist beinahe 14, habe ich recht? Mit 14 ist sie genau im richtigen Alter. Da wird sich so manch ein edler Herr für das knusprige Hühnchen interessieren, zumal sie ja auch recht ansehnlich ist. Sie kann ihr Geld auf dem Rücken liegend verdienen, genau wie ihr alle. Ankleiden, frisieren und euch Farbe ins Gesicht schmieren – das ist doch keine anständige Arbeit für eine hübsche Frau im richtigen Alter. Jetzt glotzt mich nicht an, als wäre ich Gil de Rais, der Kinderfresser, höchstpersönlich. Was habe ich denn Schlimmes gesagt?«
Der Majordomus griff nach dem letzten Stück Brot und kaute geräuschvoll mit offenem Mund.
»Willst du uns damit sagen, dass Madame die Kleine schon bald als Hure arbeiten lässt?«, zischte Marie. »Ihre Jungfräulichkeit an den Meistbietenden verschachert, so wie sie es mit mir gemacht hat?«
Die junge Frau war aufgesprungen und ging mit gesenktem Kopf drohend auf den Majordomus zu. Obwohl sie nur ein zierliches Persönchen war und er ein breitschultriger Riese, wich er vor der zornigen Frau zwei Schritte zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand.
»Das habe ich nicht gesagt«, versuchte Jacques die Aufgebrachte zu beruhigen.
»Aber gemeint«, schleuderte Marie ihm finster entgegen.
Der Majordomus schwieg, besann sich dann seiner Würde, rückte den steifen Kragen seiner Jacke zurecht und scheuchte die Mädchen mit einer Handbewegung aus der Küche. Manon war als Erste aus der Reichweite seiner schaufelartigen Hände geflohen und wartete in Sophies Zimmer darauf, ihr die Haare zu richten, sie zu schminken und ihr in das tief dekolletierte Gewand aus rosenfarbener Seide zu helfen, dessen Ausschnitt ihre Brüste beinahe gänzlich entblößte, unter dem sie aber weder Hemd noch Schnürbrust oder gar ein sogenanntes Panier trug, ein kuppelförmiges, vorn und hinten abgeflachtes, zu den Seiten weit ausladendes Gestänge.
»Was für ein wunderschönes Kleid«, hauchte Manon bewundernd, während sie mit einer weichen Bürste sorgfältig Haare und Staub von dem Stoff entfernte. »Wenn du darunter ein Panier tragen würdest, und ich würde dir die Haare aufstecken und pudern, würdest du aussehen wie eine echte Herzogin.«
»Ich soll aber nicht aussehen wie eine Herzogin, sondern wie eine Hure, jedenfalls nach dem Willen von Madame Elodie«, schimpfte Sophie und hob den Kopf, damit Manon ihr ein paar freche Stirnlöckchen zurechtzupfen konnte. Anschließend tauchte die Dienerin den Zeigefinger nacheinander in jedes der zahlreichen Rougetöpfchen mit verschiedenen Rottönen, die auf Sophies Frisiertisch standen. Vorsichtig verrieb sie eine Schicht nach der anderen auf den hohen Wangenknochen der jungen Frau, bis diese mit der Schattierung zufrieden war. Ein Tupfer Rosenrot auf den Lippen, ein wenig Reispuder auf Stirn, Nase und Kinn vervollständigten die puppenhaft wirkende Maske der jungen Kokotte. Aber Manon war damit nicht ganz zufrieden.
»Warte, ich will dir noch die Wimpern schwärzen.«
Mit einem winzigen Bürstchen, das sonst für das Bürsten der Augenbrauen verwendet wurde, etwas Speichel und ein wenig Holzkohle färbte sie Sophies Wimpern, bis deren Augen im pechschwarzen Haarkreis förmlich zu glühen schienen.
»Das sieht ja verführerisch aus! Den Kerlen wird es sicher gefallen«, lobte die Kurtisane die Schminkkünste des jungen Mädchens.
»Aber reib dir bloß nicht die Augen, sonst verschmierst du mein Kunstwerk«, lachte die Kleine.
»Danke, Manon, ich werde darauf achten. Mit dieser Aufmachung kann ich mich im Salon sehen lassen, denke ich.« Sophie drehte sich vor dem Spiegel hin und her, um sich von allen Seiten zu bewundern.
»Wunderschön siehst du aus, Sophie«, lächelte Manon und arrangierte eine goldglänzende Locke auf Sophies Schulter.
»Du auch, ma petite. Kein Wunder, dass man dich ›Manon la Belle‹ nennt. Selten habe ich ein hübscheres Kind als dich gesehen. Du machst deinem Namen wirklich alle Ehre.« Sie streichelte Manons Wange, dann trat sie einen Schritt zurück und sagte: »Du darfst dir das blaue Spitzenhemd nehmen, ich schenke es dir. Es ist an der Schulter eingerissen, aber du wirst es schon flicken können. Das Blau passt gut zu deinen himmelblauen Augen und den silberblonden Haaren.«
Mit diesen Worten schwebte sie davon und ließ einen durchdringenden Duft nach Veilchenparfüm zurück, während Manon rasch nach dem Geschenk griff und ihre Wange an den feinen Stoff schmiegte.
Am Abend war der Salon des Bordells gut besucht. Die Damen des Hauses räkelten sich in reizvollen Posen in den prächtigen Fauteuils und führten gepflegte Unterhaltungen mit ihren Gästen. Sophie war bereits in Begleitung eines englischen Earls in ihrem Zimmer verschwunden. Madame Elodie saß am Cembalo und klimperte mehr schlecht als recht eine Weise des Komponisten Joseph Bologne. Als ihr Blick auf Manon fiel, die mit einem mit Champagnergläsern gefüllten Tablett herumging, um den Gästen eine Erfrischung anzubieten, beobachtete sie das Mädchen eine Weile. Dann brach sie ihr Spiel abrupt ab, erhob sich und winkte Manon zu sich.
»Komm mit, ich habe mit dir zu reden.«
Verängstigt stellte das Dienstmädchen das Tablett auf einem der Tische ab und folgte seiner Herrin in einen winzigen fensterlosen Raum, den die Bordellwirtin als Kontor bezeichnete. In Erwartung einer harten Bestrafung wegen einer angeblichen oder tatsächlichen Verfehlung blieb sie an der Tür stehen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Solange Jacques nicht auf der Bildfläche erscheint, gibt es auch keine Prügel, dachte Manon.
»Nur nicht so schüchtern, mein Kind, komm herein und setz dich dort auf den Hocker«, lud Madame das Mädchen ein.
Das kam zögerlich näher und nahm vorsichtig auf der Kante des Sitzmöbels Platz. Eigentlich war es ihm nicht erlaubt, in Gegenwart der Bordellwirtin zu sitzen. Ruhepausen waren bei ihrer nie enden wollenden Arbeit auch nicht möglich.
»Du bist jetzt beinahe ein Jahr in meinem Haus«, begann Elodie mit sanfter Stimme. »Gefällt es dir bei mir?«
»Oh ja, Madame, sehr gut!«, beeilte sich Manon zu versichern. »Ich habe einen warmen Schlafplatz neben der Küche und genug zu essen. Das ist mehr, als ich in meinem Elternhaus hatte. Dort gab es mehr Not als Brot.«
»Es freut mich, ma petite, dass du dich bei mir wohlfühlst«, lächelte die Dame des Hauses. »Aber bislang hast du nur für Kost und Logis gearbeitet. Wie würde es dir gefallen, dafür auch einen guten Lohn zu erhalten?«
»Einen Lohn, Madame? Sie meinen damit – Geld?«, fragte das Mädchen zweifelnd. »Aber – was müsste ich denn dafür tun?«
»Nicht viel, eigentlich fast gar nichts. Nur freundlich zu den Gästen sein«, gurrte die Bordellwirtin.
»Aber das bin ich doch! Wirklich, Madame!«, wandte Manon erschrocken ein. »Oder hat sich ein Gast über mich beschwert?«
»Aber nein, liebes Kind, ganz im Gegenteil. Ich höre nur Gutes über dich. Du gefällst den Männern, ihre Blicke folgen dir voll Verlangen, wenn du im Salon Champagner servierst. Steh doch einmal auf und dreh dich im Kreis, damit ich dich anschauen kann«, verlangte sie.
Gehorsam erhob sich Manon und drehte sich langsam, sodass Madame Elodie sie von allen Seiten begutachten konnte.
»So, und nun leg dein Kleid ab!«, befahl die Frau plötzlich in scharfem Ton.
»Aber … aber, Madame! Ich kann nicht einfach … Das geht doch nicht …«, stotterte das Mädchen, bestürzt über den überraschenden Stimmungswechsel seiner Herrin.
»Soll ich etwa Jacques hereinholen, damit er dir aus den Kleidern hilft?«, keifte die Frau hinter dem Schreibtisch. »Los, zieh dich aus!«
Mit zitternden Händen legte Manon die Schürze ab, streifte das graue Leinengewand von den Schultern und ließ es zu Boden fallen. Darunter war sie nackt.
»So, und jetzt dreh dich noch einmal, damit ich mir die Ware anschauen kann, die du zu bieten hast.«
Während Manon sich um die eigene Achse drehte, Brust und Scham mit Armen und Händen bedeckte, war Jacques lautlos ins Kontor getreten. Seine Augen glitten wie giftige Schlangen über den Körper des Mädchens.
»Nun, mein Lieber, was sagst du dazu? Das Gesicht eines Engels, eine Haut wie Sahne, der Körper einer griechischen Göttin. Ob sie unseren Gästen wohl gefallen wird?«, wollte Madame Elodie von ihrem Majordomus wissen.
Als Manon den Mann bemerkte, hob sie rasch ihr Gewand vom Boden auf, um es schützend vor sich zu halten und damit ihre Nacktheit zu bedecken. Doch Jacques war mit einem Schritt bei ihr und riss ihr die Arme herunter. Mit seinen riesigen Händen betastete er die knospenden Brüste und den straffen Bauch und zwickte sie grob in die runden Hinterbacken.
»Sie ist jung und gesund, aber eindeutig zu mager. Nichts, was mit regelmäßigen Mahlzeiten nicht zu ändern wäre. Aber sie scheint recht widerborstig zu sein«, urteilte der Beschützer des Bordells.
»Nichts, was mit einer ordentlichen Tracht Prügel nicht zu ändern wäre, oder was meinst du, lieber Jacques?«, konterte die Bordellwirtin süffisant.
Der Majordomus des Bordells nickte zustimmend.
»Sobald sie ein wenig besser im Futter steht, wird sie an den Höchstbietenden versteigert«, entschied Madame Elodie.
Damit war Manons Schicksal besiegelt.
*
Vor den Fenstern des Maison Reine Margot zog bereits der Morgen herauf, als der letzte Freier in trunkener Seligkeit aus dem Bordell torkelte. Manon schleppte noch ein mit leeren Gläsern und Flaschen beladenes Tablett in die Küche, dann schlich sie die Treppe nach oben zu Maries Zimmer. Sie wusste, dass Marie heute keinen Übernachtungsgast bei sich hatte, darum öffnete sie die Tür einen Spalt, um zu sehen, ob ihre Freundin noch wach war. Marie saß vor dem goldgerahmten Spiegel und betrachtete aufmerksam ihr makelloses Gesicht, in der Hand die Bürste mit dem Elfenbeingriff, eines der Geschenke ihrer reichen Kunden. Als sie Manon bemerkte, legte sie das kostbare Stück beiseite und winkte das Mädchen zu sich.
»Zu so später Stunde noch wach, Mademoiselle la Belle?«, neckte sie die Kleine mit einem Grinsen.
Doch als sie Manons verstörte Miene sah, gefror ihr Lachen. Die erfahrene Kurtisane, die mit einem Blick ihre Bestürzung erkannte, griff nach der Hand des Mädchens und zog sie aufs Bett, wo sich die beiden in die Satinkissen fallen ließen.
»Was ist passiert?«, wollte Marie wissen, den Kopf auf den Unterarm gestützt. »Hat dir einer der Kerle etwas angetan? Hat sich dir einer aufgedrängt?«
Als Manon wortlos den Kopf schüttelte, atmete die Freundin erleichtert auf.
»Was ist es dann? Du bist ja ganz verstört. Etwas ist dir zugestoßen. Erzähl doch, was ist geschehen?«
Da sprudelte die Geschichte über die bevorstehende Versteigerung wie ein Wasserfall aus Manon heraus. Als sie endete, wischte sich die Kleine die Tränen ab, die ihr während des Erzählens über die Wangen gekullert waren.
Marie hatte zugehört, ohne den Redeschwall auch nur einmal zu unterbrechen und ohne eine Miene zu verziehen. Als Manon ein weiteres Mal verzweifelt aufschluchzte, zog sie das Mädchen an sich und streichelte ihm tröstend über Kopf und Rücken.
»Aber das ist doch nichts Schlimmes, ma petite. Hast du geglaubt, du kannst in einem Hurenhaus arbeiten und dabei deine Jungfräulichkeit bewahren? Wozu sollte das denn gut sein?« Die Kurtisane lachte auf. »Sieh es doch einmal von der positiven Seite. Madame verschafft dir einen wohlhabenden Gönner, der dich jede Woche besucht und dich mit Geschenken und Leckereien verwöhnt. Du bekommst schöne Kleider, ein wenig Schmuck, Pralinés, hin und wieder einen Theaterbesuch, und wirst für deine Dienste ordentlich bezahlt. Ganz ehrlich, ich habe jeden Tag befürchtet, dass beim Einkaufen auf dem Markt ein betrunkener Soldat oder ein Bierkutscher in einer dunklen Ecke über dich herfällt und dich nimmt, ohne einen Sou dafür zu bezahlen. Wäre dir das vielleicht lieber?«
Mit liebevoller Geste strich Marie der Weinenden eine verschwitzte Strähne aus der Stirn. Als das Mädchen nicht antwortete, legte die Kurtisane einen Finger unter Manons Kinn, hob ihren Kopf an und sah ihr fest in die Augen.
»Es gibt schlimmere Schicksale, als im Maison Reine Margot zu arbeiten, mein Kind. Du bist jung und bildschön. Vielleicht schaffst du es, dir einen Baron oder Grafen zu angeln, der dich hier herausholt und dir im Marais-Viertel eine feine Wohnung einrichtet. Dann musst du nur noch ihm zur Verfügung stehen, wäre das nicht nett?«, lockte Marie mit sanfter Stimme.
»Auch eine Hure mit nur einem Freier ist eine Hure!«, stellte Manon nüchtern fest.
»Und was ist daran auszusetzen?« Maries Geduld mit der widerspenstigen Dienerin begann zu schwinden.
»Ich will keine Hure sein!«
»Sondern was?«, fragte die Kurtisane unwillig. »Eine Gräfin, eine Herzogin? Was willst du denn?«
»Ich möchte bei einer großen Dame in Diensten stehen, mich um ihre Garderobe kümmern, sie bei der Auswahl der Roben, Perücken, der Schminke und des Parfüms beraten, sodass ein jeder von ihrer Erscheinung derart geblendet ist, dass er fragt, wer diese fabelhafte Erscheinung erschaffen hat. Eine Künstlerin am lebenden Objekt zu werden – das ist mein Traum.«
Marie richtete sich auf und starrte das Dienstmädchen kopfschüttelnd an.
»Du bist ja völlig verrückt! Welche edle Dame sollte eine aus der Gosse in ihren Dienst nehmen? Die uneheliche Tochter einer armen Näherin! Du kannst froh sein, in einem vornehmen Haus wie diesem arbeiten zu dürfen. Hör auf, von Edeldamen und ihren Festgewändern zu träumen und gib dir Mühe, einen reichen Freier zu finden, der dir ein sorgenfreies Leben bietet. Etwas anderes ist Frauen wie uns nicht möglich, hast du das verstanden?«
»Dir vielleicht, mir nicht!«, schrie Manon, worauf ihre Freundin Marie die Hand hob und die Unverschämtheit mit einer schallenden Ohrfeige quittierte.
»Es reicht, Mädchen, geh jetzt, ich bin müde und will endlich schlafen!« Die Kurtisane drehte Manon den Rücken zu und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.
Ohne ein weiteres Wort stieg Manon aus dem Bett und floh mit schmerzender Wange hinunter in die Küche.
Von nun an achtete Madame Elodie streng darauf, was und wie viel ihr Dienstmädchen aß. Zuvor hatte Manon es nur selten gewagt, sich zu den Kurtisanen zu setzen, wenn Madame und ihr Majordomus in der Nähe waren. Meist hatte sie sich zwischen Tür und Angel mit den Essensresten der anderen begnügt, außer, wenn die Mädchen ihr kleine Leckerbissen zusteckten. Doch jetzt wurde ihr ein Platz am Tisch zwischen Marie und Ellie eingeräumt und sie kam, wie alle anderen Frauen des Maison Reine Margot, in den Genuss von Ragout, Coq au Vin, Potaufeu und Cassoulet, Köstlichkeiten, die ihr vorher versagt geblieben waren. Die Mahlzeiten orderte die Hausherrin stets in einem benachbarten Wirtshaus, weil in der Küche des Bordells nicht gekocht werden durfte. Madame verabscheute Küchendünste im Haus, zum einen aus Angst, sie würden sich in den Kleidern und Haaren der Mädchen festsetzen, zum anderen, weil ihre noblen Gäste sich dadurch belästigt fühlten.
»Hier, nimm doch noch ein Stück von der Birnentarte mit Rahm«, forderte sie Manon auf und legte ihr nach einem späten Mittagessen noch ein riesiges Stück Kuchen auf den Teller. »Er schmeckt wirklich ganz vorzüglich, ein Gedicht!« Sie häufte sich selbst den Teller randvoll.
»Danke, Madame, aber ich platze gleich«, wehrte das Mädchen ab und schob das Gebäck zurück.
»In meinem Magen ist noch genug Platz«, befand Ellie und zog den Kuchen zu sich heran.
Ein schmerzhafter Aufschrei folgte, weil Madame dem gierigen Freudenmädchen mit ihrem geschlossenen Fächer hart auf die Fingerknöchel schlug.
»Hände weg, du verfressenes Luder. Bist du nicht schon fett genug? Der Kuchen gehört Manon, und sie wird ihn aufessen, und zwar jeden Bissen. Los, Mädchen, nun mach schon, oder muss ich dich stopfen wie eine Weihnachtsgans?«
Gehorsam schob sich Manon einen Brocken nach dem anderen in den Mund, von Madame mit Argusaugen überwacht. Erst als auch noch der allerletzte Krümel verzehrt war, durfte sie aufstehen und an ihre Arbeit zurückkehren, während die anderen Frauen munter plaudernd sitzen blieben, um sich mit einem Gläschen Eau de Vie auf ihren bevorstehenden Dienst einzustimmen.
Sowohl das reichhaltige Mittagessen als auch die Birnentarte mit Sahne lagen Manon wie Blei im Magen, als sie sich in der Küche auf Hände und Knie niederließ, um den Boden zu schrubben. Erst als an der Hintertür ein leises Scharren ertönte, unterbrach sie die schweißtreibende Tätigkeit und richtete sich auf. Rasch wischte sie die Hände an der Arbeitsschürze ab, erhob sich, öffnete die Tür einen Spalt und spähte neugierig hinaus in den sonnigen Nachmittag. Auf dem Treppenabsatz stand eine Dame in einer prachtvollen weißen Satinrobe à l’anglaise nach der neuesten Mode, verziert mit Rüschen, Schleifen und Spitzen, durch die ein Unterkleid aus zartblauer Seide schimmerte. Ihre Taille war derart eng geschnürt, dass Manon sich fragte, wie sie überhaupt atmen konnte, ohne das Korsett zu sprengen, und das Dekolleté war so unanständig tief, dass die rosigen Brustspitzen hervorblitzten, sobald die Dame sich bewegte. Die gepuderte Perücke, geschmückt mit farbigen Straußenfedern und Diamantspangen, umrahmte ein sinnliches Gesicht mit verlockend vollen Lippen, veilchenblauen Augen und niedlichem Stupsnäschen. Vor Ungeduld wippte die Dame von einem Fuß auf den anderen und zeigte dabei ihre eleganten Seidenschuhe mit Brillantschleifen und überhohen Absätzen. Halb verborgen hinter den ausladenden Röcken lugte ein schwarzes Gesicht hervor, ein Mohrenknabe, der die Schleppe seiner Herrin krampfhaft mit beiden Händen festhielt. Mit einem Blick erkannte Manon, wen sie da vor sich hatte.
»Jeanne!«, rief sie entzückt, warf ihre Arme um die Wespentaille der Edeldame und drückte ihr Gesicht an die rauen Goldstickereien des Mieders.
»Madame la Comtesse, wenn ich bitten darf, Mademoiselle la Belle. Jeanne – das war einmal«, lachte die junge Frau, befreite sich aus der stürmischen Umarmung und küsste das junge Mädchen herzhaft auf den Mund.
»Mit einer derart überschwänglichen Begrüßung habe ich gar nicht gerechnet. Aber ich freue mich auch, meine kleine Nachbarin von einst wiederzusehen.«
»Oh, Jeanne, ich bin ja so froh, dass du hier bist!«, rief das Dienstmädchen, ohne den Titel der anderen zu beachten. Doch nachdem sie sich besonnen hatte, knickste sie unbeholfen. Dann senkte sie die Stimme zu einem Flüstern: »Frau Gräfin, ich muss unbedingt mit dir reden. Aber es ist streng geheim, niemand darf davon erfahren.«
»Ein Geheimnis? Wie aufregend!«, lachte die Gräfin verschmitzt. »Jetzt bin ich aber neugierig, was du mir erzählen willst. Doch zuerst muss ich mit Madame sprechen. Ist sie zu Hause?«
»Sie ist oben und hält ihr Mittagsschläfchen. Eigentlich darf sie nicht gestört …«, begann Manon, doch Jacques’ Stimme unterbrach ihre Erklärung.
»Madame la Comtesse, welch eine Ehre! Darf ich Euch ins Haus bitten? Zur Seite, du Trampel, mach Platz, damit die Frau Gräfin eintreten kann.«
Er dienerte eifrig vor Marie-Jeanne Gräfin du Barry, der neuesten Mätresse König Ludwig XV., die die Nachfolge der berühmten Madame Pompadour angetreten hatte. Es war noch nicht lange her, als das damals 17-jährige Freudenmädchen vom Etablissement der Madame Gourdan ins Maison Reine Margot wechselte, wo sie durch Schönheit, Witz und Schlagfertigkeit dem Grafen du Barry aufgefallen war, der sie erst zu seiner Geliebten machte, um sie danach kurzerhand mit seinem jüngeren Bruder Guillaume zu verheiraten. Auf diese Weise wurde aus der Pariser Kurtisane eine hoffähige Adelige. In Versailles gelang es der frischgebackenen Gräfin mühelos, die Aufmerksamkeit des alternden Monarchen auf sich zu ziehen. Wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, war sie nach nur wenigen Stunden bei Hofe im königlichen Bett gelandet und hatte bereits am darauffolgenden Nachmittag ein prunkvolles Appartement neben den Gemächern des Königs bezogen. Der greise Herrscher liebte nichts so sehr wie willige junge Frauen, außer vielleicht derbe Zoten, vulgäre Witze und anstößige Anekdoten. Jeanne, von frühester Jugend an mit allen Schlichen und Kniffen einer Straßenhure vertraut, besaß davon ein unerschöpfliches Repertoire, sehr zum Vergnügen des Königs.
Nun also lebte Jeanne als große Dame in Versailles, doch sie hatte ihre Freunde und Weggefährten von einst nicht vergessen. In unregelmäßigen Abständen kam sie im Maison Reine Margot vorbei, um mit ihren früheren Freundinnen zu plaudern, zu lachen und zu lästern. Die Dirnen verlangten nach immer neuen schlüpfrigen Geschichten aus der Welt des Hochadels, mit denen Jeanne sie bereitwillig versorgte. Doch heute stand ihr der Sinn offenbar nicht nach scharfzüngiger Zerstreuung, denn sie schob den Majordomus achtlos beiseite und eilte die Stufen hinauf in den ersten Stock. Zurück blieben Jacques, Manon und der Mohrenknabe, die der Gräfin hinterherblickten. Nach kurzem Zögern forderte Jacques den jungen Bediensteten auf, ihm zu folgen, und Manon hörte, wie er ihm eine Tasse Tee anbot, ein kostspieliger Luxus, der sonst ausschließlich der Hausherrin vorbehalten blieb.
Da es später Nachmittag war, ging Manon in den winzigen Verschlag neben der Küche, der ihr als Schlafkammer diente. Sie schlüpfte in ihr »gutes« Gewand und band sich die weiße Spitzenschürze um, denn das Bordell würde bald seine Pforten öffnen. Vor einer Spiegelscherbe, die an das nackte Mauerwerk gelehnt stand, flocht sie einen festen Zopf, den sie wie eine Krone um den Kopf feststeckte. In Kürze musste sie den Gästen aufwarten, Champagner und Cognac servieren, und, wenn gewünscht, Essen aus dem Wirtshaus holen. Bis in die frühen Morgenstunden würde sie auf den Füßen sein, sich um das leibliche Wohl der Freier und Kurtisanen kümmern. Der Tag des Dienstmädchens begann früh, endete spät und war angefüllt mit harter Arbeit. Doch selbst dieses Los erschien dem Mädchen besser als die Aussicht, den Gästen als Hure zur Verfügung stehen zu müssen. Aber vielleicht konnte sie auf Hilfe hoffen, vielleicht würde ihre Freundin Jeanne ihr beistehen.
Die Mädchen kannten sich von Kindesbeinen an, waren beide in den Elendsquartieren von Paris aufgewachsen. Die eine wie die andere waren uneheliche Töchter. Manon hatte ihren Vater nie kennengelernt. Die Mütter der Mädchen waren Näherinnen, die mit ihrer Hände Arbeit einen kargen Lohn verdienten, der kaum zum Überleben reichte. Jeanne, die schon als ganz junges Mädchen ihren Körper auf den Gassen und Märkten feilbot, hatte Manon den Platz im Maison Reine Margot verschafft, da Manons Mutter noch zwei andere Mäuler zu stopfen hatte und froh war, ihre Älteste loszuwerden.
Bald war am Rascheln der Seidenkleider zu erkennen, dass die Mädchen nach unten in den Salon kamen, gefolgt von Madame und der Gräfin, die sich jedoch gleich ins Kontor zurückzogen. Jacques hatte seinen Platz an der Tür eingenommen, während Manon in der Küche Gläser polierte. Der dunkelhäutige Knabe saß still in einer Küchenecke und betrachtete gelangweilt seine goldenen Schuhspitzen. Nach einer Weile wurde die Tür leise geöffnet und Jeanne spähte herein.
»Da bist du ja, ma petite«, wisperte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Jetzt habe ich einen Augenblick Zeit für dich, denn Madame wurde zu einem Gast gerufen. Warum wolltest du mich sprechen?«
»Ach, Jeanne, Madame will mich an einen Freier verkaufen, ich soll als Hure für sie arbeiten«, sprudelten Manons Nöte aus ihr heraus. »Aber das will ich nicht, auf keinen Fall. Eher gehe ich in die Seine. Kannst du mir nicht helfen?«
Nur mit Mühe unterdrückte sie ein verzweifeltes Schluchzen.
»Ruhig, ruhig«, murmelte Jeanne erschrocken. »Du musst deswegen nicht gleich ins Wasser gehen. Mir fällt schon etwas ein.«
Ganz undamenhaft stützte sie beide Ellbogen auf den Tisch, legte ihr Kinn auf die Hände und schien nachzudenken.
»Wie würde es dir gefallen, mit mir nach Versailles zu kommen? Du könntest … hm, lass mich mal überlegen … dich um meine Leibwäsche und die Schuhe kümmern. Wie würde dir das gefallen? Die Wäsche ausbessern, sie zu den Waschfrauen bringen, nach dem Waschen und Plätten ordentlich gefaltet verstauen, außerdem meine Schuhe reinigen und pflegen. Mittlerweile besitze ich nämlich mehr als 50 Paare. In meinen Schränken und Truhen herrscht oft ein heilloses Durcheinander. Du weißt ja, wie ungern ich mich um Hausfrauendinge kümmere. Wärst du in der Lage, für Ordnung zu sorgen?«
»Aber ja, Jeanne, ich tue alles, was du mir befiehlst. Ich könnte dich schminken und frisieren. Wenn du willst, säubere ich auch deinen Leibstuhl«, stimmte das Mädchen eifrig zu.
»Nein, das musst du nicht. So etwas erledigt schon ein Kammerherr des Königs«, lachte die Gräfin und fächelte sich mit ihrem bemalten Seidenfächer Luft zu.
»Nimmst du mich gleich heute mit?«, bettelte Manon. »Jetzt, sofort? Damit ich keine Stunde länger in diesem Haus bleiben muss?«
»Das geht nicht, Mädchen. Ich muss erst mein Alterchen fragen, ob ich dich zu mir nehmen darf. Außerdem sollte ich eine dicke Geldbörse mitbringen, denn ohne eine saftige Ablöse wird Madame dich nicht ziehen lassen. Aber ich verspreche dir, bald zurückzukommen, und dann nehme ich dich mit nach Versailles.«
»Dein Alterchen? Wer ist denn das?«, wollte Manon wissen.
»Na, der König, du Dummchen«, grinste die Gräfin. »Er ist 63 Jahre alt und schon ein wenig tattrig. Wie soll ich ihn sonst nennen? Mein Jüngelchen?«
»Du nennst den König ›Alterchen‹?«, stammelte das Mädchen entsetzt. »Was passiert, wenn er das hört?«
»Das hat er bereits und sich darüber schlapp gelacht!«, erwiderte seine Mätresse respektlos. »Nichts liebt er mehr als einen derben Spruch. Weißt du, wie ich mir mein Alterchen geangelt habe?«
Als das Dienstmädchen fragend den Kopf schüttelte, erzählte die Gräfin: »An meinem ersten Abend in Versailles saßen wir in kleiner Runde am Spieltisch, wo ich meinen gesamten Einsatz beim Roulette verlor. Als ich den letzten Louisdor zu Lebel hinüberschob, der die Bank hielt, sagte ich: Je suis frite – ich bin hin. Der König hat daraufhin gelacht, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.«
»Aber … aber … das ist doch allerübelste Gossensprache«, hauchte Manon entsetzt. »Von Madame würde ich mir dafür eine kräftige Maulschelle einfangen. Und der König hat dich nicht hinauswerfen lassen, als du das gesagt hast?«
»Nein, du Schaf, er fand es zum Schreien komisch und hat es den ganzen Abend lang wiederholt. Je suis frite, je suis frite, solange bis es alle seine Höflinge nachgeplappert haben. Der König liebt es, wenn ich ihm Frechheiten an den Kopf werfe, je schamloser, desto besser. Er wird begeistert sein, wenn ich ein Dienstmädchen aus dem Puff in meinen Dienst nehme.«
Bei den rüden Worten der Gräfin stieg Manon die Röte ins Gesicht. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, rauschte Madame ins Zimmer. Als ihr Blick auf das Mädchen fiel, das am Tisch saß, schlug sie ihr mit dem Fächer auf beide Wangen und schrie: »Was hockst du hier untätig herum? Hast du keine Arbeit? Raus mit dir, kümmere dich um unsere Gäste. Verzeiht, liebe Gräfin, aber ich muss diesem Tollpatsch noch Benehmen beibringen, bevor ich sie unseren Kunden anbieten kann.«
Hart umfasste die Hausherrin den Arm der Kleinen und riss sie vom Stuhl hoch. Mit einem heftigen Stoß beförderte sie das Mädchen aus der Küche, bevor sie sich der Gräfin zuwandte.
*
Am Horizont zog bereits die Morgendämmerung herauf, als Manon todmüde auf ihren Strohsack fiel. Nachdem sie Schürze und Kleid abgestreift und sorgfältig an einen Haken gehängt hatte, bemerkte sie die dunklen Flecken auf Armen und Brust, die nicht nur von Madames Schlägen, sondern auch von den geilen Handgreiflichkeiten der Freier herrührten. Heute hatte einer der »Gäste« sie mit einem brutalen Ruck von den Füßen gerissen und auf seinen Schoß gezerrt, wo er ihre Brust befingerte und ihr einen feuchten Kuss auf die Lippen presste. Angeekelt von seinem üblen Atem war Manon aufgesprungen und in die Küche geflohen, gefolgt vom Gelächter der Kurtisanen und dem betrunkenen Grölen der Männer.
»Lieber Gott, mach, dass Jeanne mich hier herausholt, bevor Madame mich an einen dieser Wüstlinge verkauft. Ich will alles tun, was Jeanne mir aufträgt, wenn sie mir nur hilft«, betete das Mädchen, bevor es in einen traumlosen Schlummer sank.
Doch die Tage und Wochen vergingen, ohne dass die Gräfin du Barry ins Maison Reine Margot zurückkehrte. Durch die üppigen Mahlzeiten rundeten sich Manons Wangen und Hüften, ihre Brust unter dem grauen Leinenkleid zeigte erste weibliche Formen. Nicht mehr lange, und Madame Elodie würde Manons Jungfräulichkeit dem Meistbietenden zum Kauf anbieten, als wäre das Mädchen nichts anderes als ein Stück Vieh auf dem Markt.
An einem Nachmittag im August wurde Manon ins Kontor gerufen. Dort wartete neben Madame eine Frau, die sich gemeinsam mit der Bordellwirtin über ein Stoffmusterbuch beugte. Als sich das Mädchen schüchtern ins Zimmer schob, drehten die Frauen sich zu ihr um.
»Da bist du ja, mein Kind«, flötete Madame ungewohnt freundlich. »Zieh dich aus, damit die Schneiderin Maß nehmen kann. Nun, Mademoiselle Colette, was meinen Sie? Welche Farbe würde die Kleine wohl am besten kleiden?«
Da Manon, starr vor Entsetzen, zu keiner Reaktion fähig war, streifte ihr die Hausherrin eigenhändig das Kleid von den Schultern, das zu Manons Füßen liegen blieb. Die Fremde musterte die Gestalt des Mädchens mit fachmännischem Blick und befahl ihr, sich langsam im Kreis zu drehen.
»Zu den türkisfarbenen Augen und den silberblonden Locken empfehle ich ein kräftiges Blau, den Rock höchstens knöchellang, damit ihre hübschen Füße und schlanken Fesseln zur Geltung kommen. Ich würde nur wenige Rüschen rund ums Dekolleté und an den Ärmeln nehmen. Zu viel Zierrat lenkt von ihrer tadellosen Figur und dem exquisiten Gesicht ab. Weder Tand noch Schmuck soll das Auge des Betrachters auf sich ziehen, denn Mademoiselle la Belles Liebreiz wirkt für sich. In dem royalblauen Satinkleid mit champagnerfarbenen Rüschen wird sie unwiderstehlich aussehen. Ihr werdet keine Mühe haben, sie an den Mann zu bringen, Madame Elodie.«
Die beiden Frauen lachten, und die Schneiderin zog ihr Maßband hervor, um an Manons Schultern, Brust, Taille und Hüften Maß zu nehmen. Danach widmeten die Frauen ihre Aufmerksamkeit wieder der Wahl des geeigneten Stoffs für das neue Kleid und ließen das nackte Mädchen unbeachtet stehen. Zögernd griff es nach seinem Kleid, um damit so rasch als möglich seine Blöße zu bedecken.
»Worauf wartest du noch?«, keifte Madame, sobald Manon den letzten Haken geschlossen hatte, und wedelte mit der Hand, als wolle sie eine lästige Fliege verscheuchen. »Marsch, an die Arbeit!« Zitternd vor Angst ergriff Manon die Flucht.
In der oberen Etage stand Maries Zimmertür weit offen, als Zeichen dafür, dass sie keinen Herrenbesuch hatte. Mit zwei Fingern kratzte Manon am Türrahmen, um sich bemerkbar zu machen. Marie, die gerade die Strumpfbänder an ihren weißen Seidenstrümpfen befestigte, blickte auf und lächelte Manon entgegen.
»Nur nicht so schüchtern, Liebchen, komm herein«, lud sie das Mädchen ein. »Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet. Was ist geschehen?«
»Die Schneiderin ist unten. Sie fertigt ein Kleid für mich an, in dem ich mich den Gästen präsentieren soll.«
»Ich weiß, seit Tagen tratschen die Mädchen über nichts anderes als dein bevorstehendes ›Debüt‹ in der nächsten Woche, das mit einem großen Fest gefeiert werden soll. Madame hat alle vermögenden Gäste geladen, einen Herzog, einige Grafen, dazu Offiziere und hohe Beamte. Die Freier fiebern dem Ereignis mit Spannung entgegen, ganz so, als wäre es die Theaterpremiere einer berühmten Primadonna. Madame erwartet sich einen satten Gewinn von diesem Ereignis, also gibt dein Bestes.«
»Aber, Marie, ich will mich nicht verkaufen lassen, das habe ich dir doch gesagt!«, rief Manon verzweifelt. »Kannst du mir nicht helfen?«
Kopfschüttelnd zog Marie das Mädchen zu sich heran.
»Und wie sollte ich das wohl anstellen, hm? Soll ich mich mit der Bordellwirtin oder dem Majordomus anlegen? Weißt du denn nicht, dass ich mit einem stattlichen Betrag in Madames Schuld stehe? Oder glaubst du etwa, die Roben, die Schminke, das Parfüm, Kost und Logis wären Geschenke von Madame Elodie an ihre Mädchen? Wir alle arbeiten bei ihr unsere Schulden ab. Erst dann sind wir frei und dürfen vielleicht, und nur mit ihrer Zustimmung, das Maison Reine Margot verlassen. Willst du, dass ich Madames Zorn auf mich ziehe? Nein, Manon, nicht einmal für dich würde ich so weit gehen.«
Marie strich dem Mädchen tröstend über Kopf und Schultern.
»Was ist schon dabei, mit einem Mann zu schlafen? Warum sträubst du dich so sehr? Vielleicht bereitet es dir sogar Vergnügen. Einer muss ja schließlich der Erste sein.«
»Aber ich würde gern selbst entscheiden, mit wem ich das Bett teile«, widersprach Manon störrisch.
»Nicht, solange du unter der Fuchtel von Madame Elodie stehst. Hast du es immer noch nicht begriffen? Madame entscheidet über das Schicksal aller Mädchen in ihrem Haus, und dazu gehörst auch du.«
Von dieser Stunde an lebte Manon in nicht enden wollender Angst. Was, wenn ihre Freundin Jeanne ihr Versprechen längst vergessen hatte? Wenn der König seine Mätresse nicht gehen ließ? Wenn er ihr verboten hatte, sie nach Versailles zu holen?
Angespannt lauschte sie auf das kleinste Geräusch vor dem Haus. Sobald eine Kutsche vorfuhr, eilte sie ans Fenster, um nachzusehen, ob sich nicht Gräfin du Barry von einem Lakaien aus der Karosse helfen ließ. Doch jedes Mal wandte sie sich enttäuscht ab, denn es waren immer nur die Kutschen der »Gäste«, die sich zum Bordell bringen ließen.
Am Morgen der Versteigerung wurde Manon befohlen, den Holzzuber in Madames Kabinett, in dem auch ihr Leibstuhl stand, mit warmem Wasser zu füllen. Marie und Emma standen bereit, um Manon zu entkleiden und in den Zuber zu heben. Das Haar des Mädchens sowie ihr Körper wurden sorgfältig mit duftender Lavendelseife gewaschen. Nach dem Abtrocknen wurde jedes einzelne Haar am Körper mit Pinzetten entfernt, eine schmerzhafte und langwierige Prozedur.