Die Schnecke am Hang - Arkadi Strugatzki - E-Book

Die Schnecke am Hang E-Book

Arkadi Strugatzki

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Beschreibung

Auf einem fernen Planeten haben die Menschen auf einem Hochplateau mitten im Urwald eine Station errichtet, von der aus der Wald dieser Welt verwaltet werden soll. Dies ist die Geschichte von Kandid, der sich in den Tiefen des Waldes verirrt hat und dort auf eine geheimnisvolle Gesellschaft von Amazonen stößt. Und es ist die Geschichte von Pfeffer, der aus der Sicherheit der Station heraus versucht, dem Wald Herr zu werden ...

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Das Buch

Auf einem fernen Planeten haben die Menschen auf einem Hochplateau mitten im Urwald eine Station errichtet, von der aus der Wald dieser Welt erforscht und verwaltet werden soll. Dies ist die Geschichte des Wissenschaftlers Kandid, der sich nach einem Unfall in den Tiefen des Waldes verirrt und dort auf eine geheimnisvolle Gemeinschaft von Amazonen stößt. Er versucht immer wieder, in die Station zurückzukehren, doch er hat das Gedächtnis verloren und kann das Dorf der Ureinwohner nicht verlassen. Und es ist die Geschichte von Pfeffer, der im kafkaesken Verwaltungsapparat der Station mit sinnlosen Arbeiten beschäftigt wird und sich nichts sehnlicher wünscht, als einen Passierschein für den Wald zu bekommen, den er nur einmal mit eigenen Augen sehen will …

»Die Schnecke am Hang« gehört bis heute zu den beliebtesten Romanen von Arkadi und Boris Strugatzki – ein mitreißendes Planetenabenteuer ebenso wie eine beißende Satire auf einen außer Kontrolle geratenen Verwaltungsapparat, die in der Sowjetunion bis 1988 nicht erscheinen durfte.

Die Autoren

Arkadi (1925–1991) und Boris (1933–2012) Strugatzki zählen zu den bedeutendsten und erfolgreichsten russischen Autoren der Nachkriegszeit. Ihre Romane sind nicht nur faszinierende Parabeln über die Stellung des Menschen im Universum, sondern auch schonungslose Abrechnungen mit Ideologiegläubigkeit und Personenkult. Etliche ihrer Texte durften in der Sowjetunion nicht erscheinen. Inzwischen hat die Gesamtauflage ihrer Werke die fünfzig Millionen überschritten, sie wurden in über dreißig Sprachen übersetzt, und viele ihrer Romane wurden verfilmt.

Mehr über Arkadi und Boris Strugatzki und ihre Romane erfahren Sie auf:

diezukunft.de

ARKADI UND BORISSTRUGATZKI

DieSchneckeam Hang

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

Улитка на склоне

Aus dem Russischen von Hans Földeak

Ergänzung anhand der ungekürzten und unzensierten Originalversion und Übersetzung der Nachbemerkung von Boris Strugatzki: Erik Simon

Textbearbeitung und Redaktion: Anna Doris Schüller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige Taschenbuchausgabe

Copyright © 1966, 1968 by Arkadi und Boris Strugatzki

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe und Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock / Robsonphoto

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-22994-8V001

www.diezukunft.de

Tief drinnen biegt der Wald hinein

Zum Schluchtentiegel.

Dort harrt die Zukunft sichrer mein

Als Brief und Siegel.

Sie zwingt nicht Zweifel noch Gewalt,

Noch Schmeichelhoffen,

Sie liegt genauso wie der Wald

Ganz tief, ganz offen.

Boris Pasternak

Ganz langsam krieche,

Schnecke, am Hang des Fuji

zum Gipfel hinan!

Issa, Sohn des Bauern

1

PFEFFER

Von so weit oben sah der Wald aus wie ein riesengroßer, mürber Schwamm oder wie gefleckter dicker Schaum. Der Wald hockte da wie ein Tier, das sich irgendwann einmal versteckt und auf die Lauer gelegt hatte, dann eingeschlafen war und im Schlaf von struppigem Moos überwuchert wurde. Er wirkte wie eine unförmige Maske, die ein Gesicht verdeckt, das bisher noch niemand gesehen hat.

Pfeffer streifte seine Sandalen ab, setzte sich hin und ließ die nackten Füße über dem Abgrund baumeln. Sofort, so schien es ihm, wurden seine Fußsohlen feucht – als hätte er sie in den warmen lila Nebel getaucht, der dicht unter dem Felsvorsprung hing. Er griff in seine Jacke, zog die kleinen Kieselsteine heraus, die er aufgelesen hatte, und legte sie fein säuberlich neben sich. Dann suchte er sich den kleinsten heraus und ließ ihn sacht nach unten fallen – hinein in das Lebendige, Schweigende, Gleichgültige und alles für immer Verschlingende … Der weiße Funke erlosch, und nichts geschah. Kein Zweig zitterte, und kein Auge öffnete sich, sei es auch nur einen Spaltbreit, um ihn anzublicken. Da warf Pfeffer das zweite Steinchen.

Wenn er alle anderthalb Minuten ein Steinchen warf, dachte er, und wenn es richtig war, was die einbeinige Köchin mit Spitznamen Casalunia erzählte, und auch Madame Bardot, die Leiterin der Gruppe »Hilfe für die Einheimischen«; wenn nicht stimmte, was Kraftfahrer Trumpf und der Unbekannte aus der Gruppe »Technische Erschließung« einander zuraunten; wenn die menschliche Eingebung etwas wert war und sich nur ein einziges Mal im Leben Erwartungen bestätigten, dann würde sich beim siebten Steinchen knackend das Gestrüpp hinter ihm öffnen. Und heraus, auf das zertrampelte, vom Morgentau silbrige Gras der Lichtung, träte der Direktor – mit nacktem, schweißglänzendem, behaartem Oberkörper. Er trüge eine graue Gabardinehose mit lila Seitenstreifen, würde kräftig und geräuschvoll einatmen und sich dann, ohne auf irgendetwas anderes zu achten – weder auf den Wald unter sich, noch auf den Himmel über sich –, vornüberbeugen und die breiten Handflächen ins Gras tauchen. Wenn er sich anschließend wieder aufrichtete, würde man den Windstoß spüren, den seine breiten Hände bei der Bewegung entfachten. Bei jedem Hinunterbeugen würde sich die dicke Speckfalte über den Hosenbund wälzen und mit Kohlendioxid und Nikotin angereicherte Luft unter Zischen und Gurgeln aus seinem aufgerissenen Mund entweichen. Wie ein U-Boot, das die Wassertanks durchbläst. Wie der Schwefelgeysir auf Paramuschir …

Und nun bog sich das Gestrüpp hinter ihm knackend auseinander … Pfeffer blickte sich vorsichtig um, sah anstelle des Direktors jedoch nur einen guten Bekannten: Claudius Octavian Heymbacken aus der Gruppe »Ausrottung«. Er kam langsam näher, blieb zwei Schritte hinter ihm stehen und musterte ihn mit seinen durchdringenden, dunklen Augen. Er wusste oder ahnte etwas, irgendetwas Wichtiges – das konnte Pfeffer in seinem langen, starren Gesicht lesen. Es war das versteinerte Gesicht eines Menschen, der eine ebenso sonderbare wie beunruhigende Nachricht zu überbringen hatte: Noch kannte niemand auf der Welt diese Nachricht, aber es war klar, dass sie alles verändern würde, alles bisher Gewesene von nun an bedeutungslos wäre und jeder bis an seine Grenzen gefordert sein würde …

»Wem gehören diese Schuhe?«, fragte Heymbacken und blickte sich um.

»Das sind keine Schuhe«, sagte Pfeffer. »Das sind Sandalen.«

»Ach so?« Heymbacken lachte kurz auf und zog einen großen Notizblock aus der Hosentasche. »Sandalen. Aha. Sehr-r gut. Und wem gehören diese Sandalen?«

Er näherte sich der Schlucht, blickte vorsichtig in die Tiefe hinab und tat sogleich einen Schritt zurück.

»Da sitzt ein Mensch am Abgrund«, sagte Heymbacken. »Neben ihm liegen Sandalen. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Wessen Sandalen sind das, und wo ist ihr Besitzer?«

»Das sind meine Sandalen«, sagte Pfeffer.

»Ihre?« Heymbacken warf einen zweifelnden Blick auf seinen Notizblock. »Sie sitzen barfuß hier? Warum?« Er steckte den großen Notizblock schwungvoll zurück in die Tasche und zog nun einen kleinen heraus.

»Weil es nicht anders geht«, erklärte Pfeffer. »Gestern ist mir der rechte Schuh hinuntergefallen, und da habe ich beschlossen, in Zukunft nur noch barfuß hier zu sitzen.« Er beugte sich vor und blickte zwischen seinen Knien hindurch hinab. »Dort liegt er. Ich werde ihn jetzt mit einem Steinchen …«

»Moment!« Geschickt griff Heymbacken nach Pfeffers vorschnellender Hand und nahm ihm das Steinchen weg.

»Tatsächlich, ein gewöhnlicher Stein«, sagte er. »Aber das ändert vorläufig nichts … Pfeffer, ich verstehe nicht, warum Sie mich belügen. Der Schuh ist doch von hier aus unmöglich zu sehen, selbst wenn er wirklich da unten liegen sollte. Ob er sich aber dort befindet oder nicht, ist eine andere Frage; wir werden uns später damit beschäftigen. Da Sie den Schuh von hier aus aber nicht sehen, können Sie auch nicht davon ausgehen, ihn mit einem Stein zu treffen – nicht einmal dann, wenn Sie über die entsprechende Zielsicherheit verfügten und sich nur darauf, ich meine auf das Treffen, konzentrierten … Aber wir werden das sofort klären.«

Er steckte den kleinen Notizblock in die Brusttasche und holte den großen wieder hervor. Dann zog er seine Hose ein Stück weit nach oben und ging in die Hocke.

»Aha, Sie waren gestern also auch hier?«, fragte er. »Weshalb? Warum sind Sie schon zum zweiten Mal hier an der Schlucht, während die anderen Mitarbeiter der ›Verwaltung‹, ganz zu schweigen von den nicht angestellten Fachleuten, höchstens dann hierherkommen, wenn sie ihre Notdurft verrichten müssen?«

Pfeffer erschrak. Dann aber dachte er: Das ist nur die Dummheit. Nein, nein, es ist keine Provokation, es geschieht nicht aus Bosheit. Man darf das nicht ernst nehmen. Das ist einzig und allein die Dummheit. Und der Dummheit darf man keine Bedeutung beimessen, niemand tut das. Die Dummheit findet immer etwas, worauf sie ihr Geschäft verrichten kann, und achtet für gewöhnlich nicht einmal darauf. Die Dummheit hat noch nie auf die Dummheit geachtet …

»Ihnen gefällt es wohl, hier zu sitzen«, biederte sich Heymbacken an. »Sie lieben wahrscheinlich den Wald. Lieben Sie ihn? Antworten Sie!«

»Und Sie?«, fragte Pfeffer.

»Vergessen Sie sich nicht«, antwortete Heymbacken beleidigt und schlug den Notizblock auf. »Sie wissen sehr gut, wo ich arbeite: Ich gehöre der ›Gruppe für Ausrottung‹ an. Und deshalb ist Ihre Frage, das heißt Ihre Gegenfrage, ohne Sinn und Bedeutung. Sie wissen, dass mein Verhältnis zum Wald durch meine dienstlichen Pflichten bestimmt wird. Wie es sich aber mit Ihrer Beziehung zum Wald verhält, weiß ich nicht. Und das ist nicht gut, Pfeffer. Denken Sie unbedingt darüber nach; das rate ich Ihnen. Es liegt in Ihrem Interesse, nicht in meinem. Wie kann man nur so eigensinnig sein? Sitzt barfuß über der Schlucht, wirft mit Steinchen … Wozu das alles, fragt man sich. An Ihrer Stelle würde ich jetzt alles erzählen und Klarheit in die Sache bringen. Es könnte doch sein, dass mildernde Umstände vorliegen und Sie letztlich nichts zu befürchten haben? Na, Pfeffer? Sie sind doch ein erwachsener Mann und sollten wissen, dass Zweideutigkeit nicht hinnehmbar ist.« Er klappte den Notizblock zu und dachte nach. »Der Stein hier zum Beispiel. Solange er still daliegt, ist er in seinem natürlichen Zustand und erweckt keinen Zweifel. Aber dann wird er von einer Hand ergriffen und irgendwohin geworfen. Merken Sie den Unterschied?«

»Nein«, sagte Pfeffer. »Das heißt: natürlich, ja.«

»Sehen Sie … Mit einem Mal ist die Natürlichkeit dahin, und sie kehrt nicht wieder zurück. Wessen Hand? – fragen wir. Wohin wirft die Hand? Wem wirft sie den Stein zu? Oder: Auf wen? Wozu? … Ebenso stellt sich die Frage: Wie können Sie am Rand dieses Abgrunds sitzen? Können Sie es von Natur aus, oder haben Sie sich das antrainiert? Ich zum Beispiel könnte es nicht. Und mir wird angst und bange, wenn ich nur darüber nachdenke, zu welchem Zweck ich es mir antrainieren könnte … Mir wird schwindlig. Und das ist ganz natürlich. Der Mensch hat am Rand einer Schlucht nichts zu suchen. Besonders dann nicht, wenn er keinen Passierschein für den Wald hat. Zeigen Sie mir doch bitte Ihren Passierschein, Pfeffer.«

»Ich habe keinen.«

»Soso. Sie haben keinen. Und warum nicht?«

»Das weiß ich nicht … Man gibt mir keinen.«

»Richtig, man gibt Ihnen keinen. Das ist bekannt. Aber warum gibt man Ihnen keinen? Mir hat man einen gegeben, vielen anderen ebenfalls, aber Ihnen, warum auch immer, gibt man keinen.«

Pfeffer schielte vorsichtig zu ihm hinüber. Heymbackens lange dünne Nase zuckte, und seine Augen blinzelten ununterbrochen.

»Wahrscheinlich deswegen, weil mir keiner zusteht«, gab Pfeffer zurück. »Wahrscheinlich deshalb.«

»Pfeffer, ich bin nicht der Einzige, der sich für Sie interessiert«, fuhr Heymbacken in vertraulichem Ton fort. »Wenn nur ich es wäre … Es gibt aber noch viel wichtigere Leute, die sich für Sie interessieren. Hören Sie, Pfeffer, vielleicht setzen Sie sich etwas von der Schlucht weg, damit wir uns besser unterhalten können? Mir wird ganz schwindlig, wenn ich Sie anschaue.«

Pfeffer stand auf. »Das liegt daran, dass Sie nervös sind«, sagte er. »Aber lassen wir das. Es ist Zeit, in die Kantine zu gehen, sonst kommen wir noch zu spät.«

Heymbacken sah auf die Uhr. »Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte er. »Ich habe mich ein wenig ablenken lassen. Weil Sie, Pfeffer, mich ständig … Ach, ich weiß gar nicht, wie ich sagen soll.«

Pfeffer hüpfte auf einem Bein und zog sich dabei die Sandale an.

»Jetzt gehen Sie doch um Himmels willen von der Schlucht weg!«, rief Heymbacken gequält und fuchtelte mit seinem Notizblock vor Pfeffers Nase herum. »Sie bringen mich noch ins Grab mit Ihren Dummheiten!«

»Bin schon fertig«, sagte Pfeffer und stampfte mit den Sandalen auf. »Ich tu’s nie wieder. Gehen wir?«

»Gehen wir«, sagte Heymbacken. »Aber ich möchte festhalten, dass Sie bisher auf keine meiner Fragen geantwortet haben. Sie machen mir wirklich Kummer, Pfeffer. So kann es nicht weitergehen.« Er warf einen Blick auf den großen Notizblock, zuckte dann mit den Achseln und klemmte ihn unter den Arm. »Es ist sogar ziemlich merkwürdig … Man erhält keinerlei Eindrücke, geschweige denn Informationen. Nichts als Unklarheiten.«

»Welche Fragen soll ich denn beantworten?«, fragte Pfeffer. »Ich musste mit dem Direktor sprechen. Deshalb war ich hier.«

Heymbacken erstarrte so abrupt, als hätte er sich im Gestrüpp verfangen.

»Ach … So wird das bei euch gemacht«, sagte er mit völlig veränderter Stimme.

»Was wird gemacht? Nichts wird gemacht …«

»Nein, nein«, flüsterte Heymbacken und blickte sich ängstlich um. »Schweigen Sie. Sie brauchen gar nichts zu sagen. Ich habe schon verstanden. Sie hatten recht.«

»Was haben Sie verstanden? Womit hatte ich recht?«

»Nein, nein, ich habe nichts verstanden. Gar nichts. Und jetzt genug davon. Sie können ganz beruhigt sein. Ich habe nichts verstanden; ich war gar nicht hier und habe Sie nicht gesehen. Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich habe den ganzen Morgen auf diesem Bänkchen hier gesessen. Das können viele bestätigen; ich rede mit ihnen, werde sie bitten …«

Sie gingen am Bänkchen vorbei, stiegen die abgebröckelten Stufen hinauf und bogen in die Allee ein, die mit feinem, rotem Sand bestreut war. Dann betraten sie das Gelände der »Verwaltung«.

»Völlige Klarheit kann es nur auf einem bestimmten Niveau geben«, führte Heymbacken aus. »Und jeder sollte wissen, worauf er Anspruch erheben kann. Ich wollte Klarheit auf meinem Niveau; das ist mein Recht, und ich habe es genutzt. Aber dort, wo die Rechte aufhören, beginnen die Pflichten, und ich kann Ihnen versichern, dass ich meine Pflichten genauso gut kenne wie meine Rechte …«

Am Weg sahen sie Mehrfamilienhäuser mit etwa zehn Wohnungen pro Haus; hinter den Fenstern hingen Tüllgardinen. Sie gingen an der Garage mit dem Wellblechdach vorbei, überquerten den Sportplatz, sahen an zwei Pfosten ein einsames, löchriges Volleyballnetz hängen und kamen dann zu den Depots, wo Arbeiter gerade einen riesigen roten Container von einem Lkw hievten. Als sie am Hotel vorbeigingen, sahen sie den Verwalter mit einer Aktentasche in der Tür stehen; seine Augen waren hervorgequollen und blickten starr aus dem krankhaft blassen Gesicht. Dann marschierten sie an einem hohen Zaun entlang, hinter dem Motorenlärm zu hören war. Die Zeit drängte. Sie beschleunigten ihre Schritte, verfielen in Trab, und als sie schließlich in die Kantine stürzten, kamen sie dennoch zu spät. Alle Plätze waren besetzt, nur am Aufsichtstischchen in der hintersten Ecke waren noch zwei Stühle frei. Auf dem dritten saß der Kraftfahrer Trumpf, und als er bemerkte, dass die beiden an der Schwelle unschlüssig von einem Bein aufs andere traten, winkte er ihnen mit der Gabel zu und lud sie an seinen Tisch ein.

In der Kantine tranken alle Kefir. Auch Pfeffer nahm sich welchen, sodass auf der schmutzstarren Tischdecke nun sechs Flaschen nebeneinander standen. Als Pfeffer seine Füße unter den Tisch streckte, um es sich auf dem harten Stuhl etwas bequemer zu machen, klirrte plötzlich Glas, und auf den Gang hinaus rollte eine leere Flasche Brandy. Kraftfahrer Trumpf hob sie schnell auf und stellte sie zurück unter den Tisch; wieder hörte man Glas klirren.

»Passen Sie auf Ihre Füße auf«, zischte er.

»War keine Absicht«, sagte Pfeffer. »Ich wusste ja nichts davon.«

»Ich vielleicht?«, erwiderte Kraftfahrer Trumpf. »Da unten stehen vier Flaschen – wie willst du beweisen, dass du nichts damit zu tun hast?«

»Ich zum Beispiel trinke nie«, meinte Heymbacken erhaben. »Daher betrifft mich das Ganze auch nicht.«

»Wir wissen, wie Sie ›nie‹ trinken«, sagte Trumpf. »Und genauso ›nie‹ wie Sie, trinken wir auch …«

»Aber ich habe eine kranke Leber«, wandte Heymbacken beunruhigt ein. »Hier ist das Attest, bitte …«

Er zog eine zerknitterte Heftseite mit dreieckigem Stempel hervor und hielt sie Pfeffer unter die Nase. Es war tatsächlich ein Attest; die unleserliche Handschrift verriet den Mediziner. Pfeffer konnte nur ein Wort entziffern: »Antabus«. Als er das Papier in die Hand nehmen wollte, um es genauer anzusehen, zog Heymbacken die Hand zurück und hielt es Kraftfahrer Trumpf unter die Nase.

»Das ist das neueste«, sagte er. »Ich habe auch eins von vorigem und von vorvorigem Jahr, aber die liegen im Safe.«

Kraftfahrer Trumpf sah das Attest nicht einmal an. Er leerte ein Glas mit Kefir, schüttelte den Kopf und roch am Gelenk seines Zeigefingers. Dabei traten ihm Tränen in die Augen, und er sagte mit heiserer Stimme: »Was gibt es denn noch alles im Wald? – Bäume.« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Die Bäume aber bleiben nicht auf einer Stelle stehen: Sie springen! Versteht ihr das?«

»Wie?!«, fragte Pfeffer neugierig. »Was soll das heißen – sie springen?«

»Was das heißt? – Da steht ein Baum und rührt sich nicht. Ein richtiger Baum eben. Dann aber fängt er an, sich zu krümmen, streckt und spreizt sich. Und wie! Einen Krach macht das – unvorstellbar! Sie springen bis zu zehn Meter. Mein Fahrerhaus wurde davon eingedrückt. Aber dann stehen sie wieder still.«

»Warum?«, fragte Pfeffer.

Er konnte sich das mühelos vorstellen – obwohl sich der Baum natürlich nicht krümmte und spreizte, sondern eher zu zittern anfing, wenn man sich ihm näherte. Der Baum versuchte davonzulaufen. Vielleicht ekelte er sich. Vielleicht hatte er aber auch Angst.

»Und warum springt der Baum?«, fragte er noch einmal.

»Weil es ein ›springender Baum‹ ist; er heißt so«, erklärte Trumpf und schenkte sich Kefir nach.

»Gestern ist eine Lieferung von neuen Elektrosägen eingetroffen«, meldete Heymbacken und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ungeheuer leistungsstark sind die. Ich würde sogar sagen, es sind gar keine Sägen, sondern Sägemähdrescher – unsere Sägemähdrescher für die Ausrottung.«

Alle ringsum tranken Kefir. Die einen aus geschliffenen Gläsern, die anderen aus Blechkrügen, Kaffeetassen, selbstgedrehten Papiertüten oder direkt aus der Flasche. Sie hielten ihre Beine fest unter die Stühle geklemmt und konnten bestimmt alle ein Attest über Leber-, Magen- oder Zwölffingerdarmerkrankungen vorweisen. Für dieses Jahr ebenso wie für die vergangenen Jahre.

»Ich wurde zum Manager gerufen«, fuhr Trumpf nun lauter fort. »Und der fragt mich, wieso mein Fahrerhaus eingedellt ist. Du Aas, sagt er, hast du schon wieder Schwarzfahrten gemacht? … Bitte, Herr Pfeffer, spielen Sie doch mal mit ihm Schach; Sie könnten ein gutes Wort für mich einlegen, er schätzt Sie und spricht oft von Ihnen … Pfeffer, sagt er, das ist ein kluger Kopf. Dem stelle ich keinen Wagen, ihr braucht gar nicht erst zu fragen. So einen darf man nicht fortlassen. Versteht das doch endlich, ihr Trottel: Ohne ihn wäre es zum Kotzen hier … Bitte, legen Sie ein gutes Wort für mich ein, ja?«

»Schon gut«, sagte Pfeffer matt. »Ich werde es versuchen. Aber was heißt – einen Wagen …?«

»Mit dem Manager kann ich sprechen«, sagte Heymbacken. »Wir waren zusammen bei der Armee. Ich war Hauptmann und er Leutnant unter mir. Bis heute hebt er die Hand an die Mütze, wenn er mich grüßt.«

»Und dann sind da noch die Nixen«, sagte Trumpf und ließ das Kefirglas in seiner Hand hin und her pendeln. »Sie leben in den großen klaren Seen. Liegen einfach da, versteht ihr? Völlig nackt …«

»Diese Fantasie hat Ihnen wohl Ihr Kefir eingegeben«, sagte Heymbacken.

»Ich habe die Nixen mit eigenen Augen gesehen«, widersprach Trumpf und setzte das Glas an die Lippen. »Und das Wasser aus den Seen darf man nicht trinken.«

»Sie können gar keine Nixen gesehen haben, weil es nämlich keine gibt«, sagte Heymbacken. »Nixen gibt es nur im Märchen.«

»Bist selber ein Märchen«, sagte Trumpf und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

»Moment«, sagte Pfeffer. »Moment. Trumpf, Sie sagen, dass die Nixen bloß daliegen. Und was passiert sonst noch? Sie können doch nicht einfach nur daliegen – und weiter nichts?!«

… Vielleicht leben sie unter Wasser und kommen ab und zu an die Oberfläche. So wie wir aus einem verrauchten Zimmer auf den Balkon hinaustreten und mit geschlossenen Augen das Gesicht in die kühle Mondnacht tauchen. Und dann liegen die Nixen einfach nur da. Einfach so, nichts weiter. Ruhen sich aus. Führen leise Gespräche, lächeln sich zu …

»Fang keine Diskussion mit mir an«, sagte Trumpf und sah Heymbacken mit strengem Blick an. »Wann warst du denn schon im Wald? Du bist kein einziges Mal dort gewesen und willst immer mitreden.«

»Ist sowieso alles Unsinn«, sagte Heymbacken. »Was sollte ich auch in eurem Wald? … Dabei habe ich einen Passierschein und Sie, Trumpf, haben keinen. Zeigen Sie ihn doch bitte mal her, Trumpf.«

»Ich selbst habe die Nixen nicht gesehen«, wandte sich Trumpf an Pfeffer. »Aber ich glaube fest daran, dass es sie gibt. Die Kumpel erzählen es. Sogar Kandid sprach davon, und Kandid wusste alles über den Wald. In den Wald ging er wie zu einem Weib, da fand er sich auch im Dunkeln zurecht. Und im Wald ist er auch umgekommen.«

»Wenn es stimmt, dass er umgekommen ist«, bemerkte Heymbacken vielsagend.

»Was heißt hier wenn?! Er ist mit dem Hubschrauber weggeflogen und seitdem spurlos verschwunden. Das war vor drei Jahren. Es gab eine Todesanzeige in der Zeitung und einen Leichenschmaus – was willst du denn noch? Kandid ist abgestürzt, das ist sicher.«

»Wir wissen viel zu wenig«, sagte Heymbacken, »um irgendetwas mit Sicherheit behaupten zu können.«

Trumpf spuckte aus und ging zur Theke, um sich noch eine Flasche Kefir zu holen. Sofort beugte sich Heymbacken zu Pfeffers Ohr und flüsterte: »Bedenken Sie, dass es zu diesem Kandid eine vertrauliche Anordnung gibt … Ich halte mich für befugt, Sie als Außenstehenden davon in Kenntnis zu setzen.«

»Was für eine Anordnung?«

»Davon auszugehen, dass er lebt«, flüsterte Heymbacken tonlos und wandte sich wieder ab. »Ein guter, frischer Kefir ist das heute«, rief er unvermittelt.

In der Kantine wurde es laut. Die, die schon gefrühstückt hatten, standen auf, rückten mit den Stühlen und marschierten zum Ausgang. Dabei unterhielten sie sich laut, zündeten sich Zigaretten an und warfen die Zündhölzer auf den Boden. Heymbacken drehte sich empört um und sagte zu jedem, der vorbeiging: »Aber meine Herren, Sie sehen doch, wir führen hier ein Gespräch …«

Als Trumpf mit der Flasche Kefir zurückkam, fragte ihn Pfeffer: »Der Manager hat das doch sicher nicht ernst gemeint – ich meine, dass er mir keinen Wagen gibt? Wahrscheinlich hat er nur Spaß gemacht?«

»Warum sollte er Spaß machen? Er schätzt Sie wirklich sehr, Pfeffer, und ohne Sie ginge es ihm lausig hier. Deswegen wäre es für ihn ein großer Verlust, wenn Sie fortgingen … Nehmen wir an, er ließe Sie gehen, was hätte er davon? Darüber macht man keine Späße.«

Pfeffer biss sich auf die Lippen.

»Aber wie soll ich dann wegkommen? Ich habe hier nichts mehr zu tun, und mein Visum läuft ab. Ich will jetzt einfach weg von hier.«

»Normalerweise«, sagte Trumpf, »fliegt man nach drei strengen Verweisen hochkant raus. Man schickt sogar extra einen Bus, holt den Fahrer aus dem Bett; da bleibt Ihnen nicht einmal die Zeit zum Packen … Erster Verweis – der Mann wird degradiert. Zweiter Verweis – er wird zur Bewährung in den Wald geschickt. Dritter Verweis – gute Nacht und auf Wiedersehen. Wenn ich will, dass man mir kündigt, saufe ich eine Flasche Schnaps und schlage dem da eins in die Fresse.« Er zeigte auf Heymbacken. »Dann streichen sie mir die Zulagen und versetzen mich zu den Scheißefahrern. Und was mache ich dann? Ich saufe nochmal dasselbe, und der da kriegt wieder die Fresse voll, verstehst du? Dann werde ich auch bei den Scheißefahrern entlassen und raus zur Biostation geschickt. Da kann ich dann Mikroben fangen. Ich aber denke gar nicht dran, zur Biostation zu fahren, sondern saufe noch eine Flasche und haue ihm das dritte Mal in die Fresse. Das genügt dann. Ich werde wegen Randalierens entlassen und innerhalb von 24 Stunden ausgewiesen.«

Heymbacken drohte Trumpf mit dem Finger. »Das sind doch alles falsche Informationen, Trumpf. Zum einen muss zwischen den Vorfällen mindestens ein Monat vergehen, sonst zählen die Vergehen als eins, und der Betreffende kommt in den Bau. In dem Fall aber wird seine Akte innerhalb der ›Verwaltung‹ gar nicht weitergereicht. Zum anderen bringt man den Schuldigen nach seinem zweiten Vergehen in Begleitung eines Aufsehers unverzüglich in den Wald, wo er kein drittes Vergehen nach seinem Belieben mehr verüben kann. Hören Sie nicht auf ihn, Pfeffer, bei diesen Dingen kennt er sich nicht aus.«

Trumpf schlürfte von seinem Kefir, verzog das Gesicht und gab einen grunzenden Laut von sich. »Ja, stimmt«, gab er zu. »Von diesen Sachen habe ich wirklich … Also … Entschuldigen Sie bitte, Herr Pfeffer.«

»Aber nicht doch, Trumpf«, sagte Pfeffer bekümmert. »Ich kann sowieso niemandem einfach so, ganz ohne Grund, in die Fresse schlagen.«

»Sie müssen ihm ja nicht unbedingt ein paar aufs Maul geben«, sagte Trumpf. »Man kann ihm zum Beispiel auch den Hintern versohlen. Oder ihm die Klamotten vom Leib reißen.«

»Nein, ich kann das nicht«, sagte Pfeffer.

»Das ist schlecht«, sagte Trumpf. »Dann sieht es nicht gut aus für Sie. Aber vielleicht machen wir es so: Kommen Sie morgen früh um sieben Uhr in die Garage, setzen Sie sich in meinen Wagen und warten Sie. Ich bringe Sie weg.«

»Wirklich?«, rief Pfeffer froh.

»Ja. Ich muss morgen aufs Festland, Schrott wegfahren. Da können wir zusammen los.«

Auf einmal schrie jemand in der Ecke laut auf: »Was hast du gemacht, he! Du hast meine Suppe verschüttet!«

»Der Mensch muss in seinem Wesen einfach und klar sein«, sagte Heymbacken. »Ich verstehe nicht, warum Sie von hier wegwollen, Pfeffer. Niemand will weg, nur Sie.«

»Bei mir ist das immer so«, sagte Pfeffer. »Ich mache immer das Gegenteil von dem, was andere machen. Und warum sollte der Mensch einfach und klar sein?«

»Der Mensch sollte kein Trinker sein«, verkündete Trumpf und roch am Gelenk seines Zeigefingers. »Oder etwa nicht?«

»Ich trinke nicht«, sagte Heymbacken. »Und zwar aus dem einfachen, jedermann verständlichen Grund: Ich habe eine kranke Leber. Beim Trinken werden Sie mich also nicht erwischen, Trumpf.«

»Was mich jedes Mal im Wald erstaunt«, sagte Trumpf, »das sind die Sümpfe. Sie sind heiß, verstehst du? Mir gefällt das nicht, kann mich einfach nicht dran gewöhnen. Wenn etwas passiert, wenn du zum Beispiel vom Knüppeldamm rutschst, hockst du in deinem Fahrerhaus und kommst nicht mehr raus. Rundherum heiße Kohlsuppe … dampft und riecht auch wie Kohlsuppe. Ich habe davon probiert, aber es schmeckt nicht, vielleicht ist auch zu wenig Salz drin … Nein, der Wald ist einfach nichts für Menschen. Und was wollen sie da auch finden? Eine Maschine nach der anderen schicken sie rein, wie in ein Eisloch. Eine nach der anderen geht unter; sie lassen sich neue zuteilen, die gehen dann auch unter, aber sie geben nicht auf.«

… Grüne duftende Fülle. Fülle an Farben, Fülle an Gerüchen. Fülle an Leben … Jedoch alles sehr fremd. Es scheint bekannt, ja, sogar ähnlich, aber eigentlich ist es ganz und gar fremd. Wahrscheinlich tut man sich deswegen so schwer damit: weil es fremdartig und vertraut zugleich ist. Nur mit Mühe findet man sich damit ab … Denn es ist aus unserer Welt hervorgegangen, ist Fleisch von unserem Fleisch, doch es hat mit uns gebrochen und will nichts von uns wissen. So hätte wohl der Pithecanthropus über uns, seine Nachfahren, gedacht – mit Bitterkeit und Schrecken …

»Sobald Anweisung erfolgt«, verkündete Heymbacken, »werden wir nicht mehr eure lausigen Bulldozer und Geländefahrzeuge einsetzen, sondern etwas mit Hand und Fuß. Und innerhalb von zwei Monaten werden wir dort alles in Sch… äh … in eine sauber betonierte Fläche verwandeln. Alles wird trocken und eben sein.«

»Du würdest«, sagte Trumpf, »wenn man dir nicht rechtzeitig eins in die Fresse haut, sogar den eigenen Vater in eine betonierte Fläche verwandeln … damit bei ihm alles einfach und klar ist.«

Dumpf heulte die Sirene auf. Die Fensterscheiben klirrten. Im selben Moment erdröhnte über der Tür die durchdringende Glocke, und an den Wänden blinkten Lichtsignale auf. Auf dem Display über der Theke war in großen Leuchtbuchstaben zu lesen: »AUFSTEHEN! HINAUSGEHEN!« Heymbacken erhob sich rasch, verstellte die Zeiger seiner Armbanduhr und stürzte wortlos hinaus.

»Ich gehe auch«, sagte Pfeffer. »Ist Zeit für die Arbeit.«

»Ja, es ist Zeit«, stimmte Trumpf zu. »Höchste Zeit.« Dann zog er seine Steppjacke aus, rollte sie akkurat zusammen, rückte die Stühle aneinander und legte sich darauf. Die Jacke schob er sich unter den Kopf.

»Also, morgen um sieben?«, sagte Pfeffer.

»Was?«, fragte Trumpf mit schläfriger Stimme.

»Ich komme morgen um sieben.«

»Wohin?«, fragte Trumpf und wälzte sich auf den Stühlen von einer Seite auf die andere. »Diese verdammten Stühle rutschen auseinander«, murmelte er. »Wie oft habe ich denen schon gesagt, dass sie eine Liege hinstellen sollen …«

»In die Garage«, sagte Pfeffer. »Zu Ihrem Wagen.«

»Ach so, ja … Kommen Sie, und dann sehen wir weiter. Die Sache ist nicht so einfach.«

Er zog die Beine an den Körper, schob die Hände unter die Achseln und begann sogleich tief und schwer zu atmen. Pfeffer sah ihn noch eine Weile an. Trumpfs Arme waren behaart, und unter den dichten Haaren entdeckte er eine Tätowierung: »Was uns umbringt«, stand da, und: »Immer vorwärts«. Pfeffer ging zum Ausgang.

Als er draußen war, folgte er dem Schild; es führte ihn durch eine gewaltige Pfütze in den Hinterhof. Er wich einem Berg leerer Konservenbüchsen aus, zwängte sich durch ein Loch im Bretterzaun und betrat das Gebäude der »Verwaltung« durch den Diensteingang. In den Gängen war es kalt und dunkel, es roch nach Tabakrauch, Staub und modrigen Akten. Es war niemand zu sehen, und durch die mit Kunstleder beschlagenen Türen drang kein Laut. Pfeffer kam zu einer schmalen Treppe, an der das Geländer fehlte, und drückte sich an der abgewetzten Wand entlang bis in den ersten Stock. Dort angekommen, steuerte er auf eine Tür zu, über der die Leuchtschrift blinkte: »Wasche vor der Arbeit die Hände«. An der Tür prangte der große schwarze Buchstabe »M«. Pfeffer stieß die Tür auf und bekam einen kleinen Schreck: Er befand sich nämlich nicht nur im Waschraum, sondern gleichzeitig in seinem Arbeitszimmer … Das heißt, es war natürlich nicht sein Arbeitszimmer, sondern das von Kim, dem Leiter der Gruppe »Wissenschaftlicher Schutz«. Aber man hatte Pfeffer einen Tisch ins Zimmer gestellt, seitlich von der Tür an die gekachelte Wand. Darauf stand die große »Mercedes«, die die Hälfte des Tisches einnahm, und damit die Maschine nicht verstaubte, war eine Schutzhaube darübergestülpt. Kims Tisch befand sich vor dem breiten, geputzten Fenster, und Kim selbst saß über seinen Rechenschieber gebeugt da und war vertieft in seine Arbeit.

»Ich wollte mir die Hände waschen …«, sagte Pfeffer ein wenig verlegen.

»Dann wasch sie dir«, sagte Kim und nickte mit dem Kopf. »Da ist das Waschbecken. Hier wird es jetzt richtig gemütlich, weißt du. Gleich werden sie alle zu uns kommen.«

Pfeffer ging zum Becken und wusch sich die Hände mit kaltem und heißem Wasser, benutzte dafür zwei verschiedene Seifen und eine spezielle, entfettende Paste; dann rieb er sie mit einem Bastwisch und unterschiedlich harten Bürsten ab. Anschließend schaltete er den elektrischen Trockner ein und hielt seine feuchten, rosigen Hände in den warmen Luftstrom.

»Um vier Uhr heute Morgen wurde allen mitgeteilt, dass wir in den ersten Stock umziehen«, sagte Kim. »Und wo warst du? Bei Alewtina?«

»Nein, ich war an der Schlucht«, sagte Pfeffer und setzte sich auf seinen Stuhl.

Plötzlich flog die Tür auf, und der Prokonsul trat ins Zimmer. Er winkte freundlich mit der Aktentasche und verschwand mit eiligen Schritten hinter der Trennwand. Dann quietschte die Toilettentür, und der Riegel wurde geräuschvoll vorgeschoben. Pfeffer nahm die Schutzhaube von der »Mercedes« und saß einige Zeit bewegungslos da. Dann stand er auf, ging zum Fenster und öffnete es sperrangelweit.

Der Wald war von hier aus nicht zu sehen, aber er war da. Er war immer da, auch wenn man ihn nur von der Schlucht aus sehen konnte. In der ganzen »Verwaltung« gab es keinen einzigen Platz, von dem aus man den Wald hätte sehen können; er war immer von irgendetwas verdeckt. Mal war es das cremefarbene Gebäude mit den Maschinenwerkstätten, mal die dreistöckige Garage für die Privatwagen der Mitarbeiter. Mal war er durch die verwaltungseigenen Viehstallungen nicht zu sehen, mal durch die Wäschestücke, die neben der Wäscherei aufgehängt waren. Oder er wurde vom Park mit seinen Beeten und Pavillons verdeckt, vom Riesenrad und von den Gipsfiguren badender Frauen, die über und über mit Bleistift bekritzelt waren. Dann wiederum standen Wohnhäuschen mit efeuumrankten Veranden und kreuzförmigen Fernsehantennen davor. Von hier, das heißt von den Fenstern des ersten Stocks aus, konnte man den Wald wegen der hohen Ziegelmauer nicht sehen. Die Mauer befand sich zwar noch im Bau, hatte aber schon eine stattliche Höhe erreicht und würde das ebenerdige Gebäude der Gruppe »Technische Erschließung« bald überragen. Man sah den Wald also nur vom Rand der Schlucht aus, und dort verrichtete man auch seine Notdurft … auf den Wald …

Aber selbst einem Menschen, der den Wald nie gesehen, nie von ihm gehört, an ihn gedacht, ihn nie gefürchtet und nie von ihm geträumt hatte, konnte der Wald nicht verborgen bleiben – allein deshalb, weil es die »Verwaltung« gab. Ich, zum Beispiel, dachte schon früh über den Wald nach, diskutierte darüber, träumte davon – aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass es ihn in Wirklichkeit gibt. Nicht einmal, als ich zum ersten Mal an der Schlucht war, konnte ich glauben, dass er tatsächlich existiert, sondern erst dann, als ich an der Auffahrt das Schild las: »Verwaltung für den Wald«. Mit dem Koffer in der Hand stand ich vor dem Schild, voller Staub und durstig nach der langen Reise, las es immer wieder und merkte, wie mir die Knie weich wurden. Da wusste ich auf einmal, dass es ihn gibt. Und alles, was ich vorher darüber gedacht hatte, war nur eine schwache Fantasie gewesen, blasser, fader Schein. Der Wald existierte, und mit ihm befasst war dieser riesige, düstere Bau …

»Kim«, fragte Pfeffer, »werde ich den Wald wirklich nicht zu Gesicht bekommen? Ich reise ja schon morgen ab.«

»Möchtest du denn dorthin?«, fragte Kim zerstreut.

… Grüne, heiße Sümpfe, nervöse, schreckhafte Bäume, Nixen, die im Mondlicht von ihrem geheimnisvollen Tun in den Tiefen des Wassers ausruhen, scheue, sonderbare Eingeborene, ausgestorbene Dörfer …

»Ich weiß nicht«, sagte Pfeffer.

»Du darfst ja gar nicht hin, Pfefferchen«, sagte Kim. »In den Wald dürfen nur Menschen, die nie zuvor über ihn nachgedacht haben. Denen der Wald egal ist. Dir aber bedeutet er etwas. Deshalb ist er gefährlich für dich, er wird dich täuschen.«

»Möglich«, sagte Pfeffer. »Aber ich bin nur deshalb hierhergekommen, um den Wald zu sehen.«

»Aber was bringt dir die bittere Wahrheit?«, fragte Kim. »Was wirst du damit anfangen? Was willst du im Wald machen? Dem schönen Traum nachweinen, der sich zum Schicksal gewandelt hat? Beten, dass alles anders sein möge? Oder willst du das, was ist, so verändern, dass es zu dem wird, was sein soll?«

»Aber wozu bin ich dann überhaupt hergekommen?«

»Um dich zu vergewissern. Weißt du nicht, wie wichtig es ist, sich zu vergewissern? Die Leute kommen aus verschiedenen Gründen hierher. Die einen wollen im Wald Brennholz finden, die anderen die Bakterie des Lebens entdecken. Wiederum andere wollen ihre Dissertation schreiben, die nächsten sich einen Passierschein beschaffen – nicht, um tatsächlich in den Wald zu gehen, sondern nur so, für alle Fälle. Irgendwann könnte er mal nützlich sein, es hat ja nicht jeder einen. Und dann gibt es noch die, die aus dem Wald einen herrlichen Park machen wollen, so wie ein Bildhauer aus einem Marmorbrocken eine Statue formt. Und dann stutzen sie ihn – Jahr für Jahr. Damit bloß nie mehr ein Wald daraus wird.«

»Ich muss wirklich weg. Es gibt hier nichts für mich zu tun. Irgendjemand muss gehen – entweder ich oder ihr alle.«

»Komm, lass uns rechnen«, sagte Kim, und Pfeffer setzte sich an seinen Schreibtisch, suchte nach der schlecht und recht montierten Steckdose und schaltete die »Mercedes« an.

»Siebenhundertdreiundneunzigtausendfünfhundertzweiundzwanzig mal zweihundertsechsundsechzigtausendelf.«

Die »Mercedes« begann zu hämmern und zu rattern. Pfeffer wartete, bis sie wieder still war, und las stockend das Ergebnis ab.

»In Ordnung, kannst du löschen«, sagte Kim. »Und jetzt sechshundertachtundneunzigtausenddreihundertzwölf geteilt durch einsnullfünfzehn …«

Kim diktierte die Zahlen und Pfeffer tippte sie, drückte auf die Multiplikations- und Divisionstasten, addierte, subtrahierte, zog Wurzeln, und alles lief wie immer.

»Zwölf mal zehn«, sagte Kim. »Multiplizieren.«

»Einsnullnullsieben«, las Pfeffer mechanisch vor. Dann stutzte er und sagte: »He, das stimmt doch nicht. Das muss doch hundertzwanzig heißen.«

»Weiß ich«, erwiderte Kim ungeduldig. »Einsnullnullsieben«, wiederholte er. »Und jetzt brauche ich die Wurzel aus zehnnullsieben …«

»Sofort«, sagte Pfeffer.

Hinter der Trennwand wurde der Riegel aufgeschoben, und der Prokonsul tauchte wieder auf – rosig, frisch und zufrieden. Er wusch sich die Hände und stimmte ein wohlklingendes Ave Maria an. Dann rief er: »Was für ein Wunder dieser Wald doch ist, meine Herren! Und wie sträflich wenig wir über ihn sprechen und schreiben! Dabei wäre es wirklich angebracht, mehr über ihn in Umlauf zu bringen. Er ist wunderbar und weckt unsere edlen Gefühle. Er trägt zum Fortschritt bei, ja, scheint selbst das Symbol des Fortschritts. Aber es gelingt uns einfach nicht, die Verbreitung von dummen, unqualifizierten Gerüchten, Geschichten und Witzen zu unterbinden. Für den Wald wird im Grunde keine Propaganda betrieben, und die Leute denken und reden weiß der Teufel was darüber …«

»Siebenhundertfünfundachtzig mal vierhundertzweiunddreißig«, sagte Kim.

Die Stimme des Prokonsuls schwoll an. Er hatte eine kräftige, gut ausgebildete Stimme, die die »Mercedes« übertönte.

»›Wir leben wie im Wald‹ … ›Hinterwäldler‹ … ›Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen‹ … ›Der eine in den Wald, der andere ins Holz‹ … Das ist es, wogegen wir ankämpfen, was wir ausrotten müssen. Nehmen wir einmal Sie, Monsieur Pfeffer, warum nehmen Sie den Kampf nicht auf? Sie könnten doch im Klub einen ausführlichen, sachdienlichen Vortrag über den Wald halten, aber Sie tun es nicht. Ich beobachte Sie schon eine ganze Weile und warte – aber vergebens. Woran liegt das?«

»Ich war noch nie dort«, sagte Pfeffer.

»Das ist nicht so wichtig. Ich war auch nie dort und habe eine Vorlesung über den Wald gehalten. Dem Echo nach zu urteilen, war es eine sehr lehrreiche Veranstaltung. Es geht nicht darum, ob man im Wald gewesen ist oder nicht, sondern darum, die Tatsachen von Mystik und Aberglauben zu befreien, die Hülle herunterzureißen, die Spießbürger und Utilitaristen darüber gestülpt haben …«

»Zwei mal acht geteilt durch neunundvierzig minus sieben mal sieben«, sagte Kim.

Die »Mercedes« begann zu rattern, und die Stimme des Prokonsuls schwoll wieder an.

»Ich habe die Vorlesung als studierter Philosoph gehalten, und Sie als Linguist könnten es ebenso machen. Ich gebe Ihnen die Thesen, und Sie entwickeln sie vor dem Hintergrund der aktuellen linguistischen Erkenntnisse weiter … Oder womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Dissertation?«

»Ich schreibe über die ›Besonderheiten von Stil und Rhythmik weiblicher Prosa des späten Heian, dargestellt am Makura no sôshi‹«, sagte Pfeffer. »Ich fürchte, dass …«

»Ausgezeichnet! Genau das, was wir brauchen. Machen Sie deutlich, dass es sich nicht um Sümpfe und Morast handelt, sondern um erstklassigen Heilschlamm; nicht um springende Bäume, sondern um die Errungenschaft einer hochentwickelten Wissenschaft; nicht um Eingeborene und Wilde, sondern um eine uralte Zivilisation stolzer, freier, bescheidener und dabei sehr kraftvoller Menschen, die hohe Ziele verfolgen. Und kein Wort von Nixen! Kein lila Nebel oder vernebelte Andeutungen – entschuldigen Sie den verunglückten Kalauer … Es wird großartig, Mijnheer Pfeffer, eindrucksvoll, glauben Sie mir. Und es ist gut, dass Sie den Wald kennen und Ihre persönlichen Eindrücke weitergeben können. Meine Vorlesung war auch gut, aber ein wenig abstrakt, fürchte ich. Als Ausgangsmaterial habe ich die Sitzungsprotokolle herangezogen. Und Sie, als Erforscher des Waldes …«

»Ich bin kein Erforscher des Waldes«, sagte Pfeffer mit Nachdruck. »Man lässt mich ja nicht einmal hinein. Ich kenne den Wald nicht.«

Der Prokonsul nickte zerstreut und notierte sich rasch etwas auf die Manschette.

»Ja, wirklich«, sagte er. »Es ist eine bittere Wahrheit, dass es bei uns noch immer Formalismus, Bürokratismus und ein heuristisches Herangehen an die Persönlichkeit gibt … Das können Sie ruhig auch erwähnen; darüber sprechen alle. Und ich werde versuchen, Ihren Vortrag mit der Direktion abzustimmen. Ich freue mich ungemein, Pfeffer, dass Sie sich endlich an unserer Arbeit beteiligen. Ich beobachte Sie schon seit Langem sehr aufmerksam … Also, ich habe Sie für nächste Woche eingetragen.«

Pfeffer schaltete die »Mercedes« ab.

»Nächste Woche bin ich nicht mehr hier. Mein Visum ist abgelaufen, und ich reise ab. Morgen schon.«

»Na ja, das werden wir schon irgendwie in Ordnung bringen. Ich spreche mit dem Direktor. Er ist auch Klubmitglied und wird es einsehen. Gehen Sie davon aus, dass Sie noch eine Woche bleiben.«

»Nicht nötig«, sagte Pfeffer. »Das ist gar nicht nötig.«

»Doch!«, sagte der Prokonsul und sah ihm in die Augen. »Es ist nötig, und das wissen Sie sehr gut, Pfeffer! Auf Wiedersehen.« Er tippte mit zwei Fingern an die Schläfe und winkte beim Hinausgehen mit seiner Aktentasche.

»Wie ein Spinnennetz«, sagte Pfeffer. »Ich komme mir vor wie eine Fliege. Der Manager will nicht, dass ich wegfahre, Alewtina will es nicht, und der da auch nicht …«

»Ich will auch nicht, dass du wegfährst«, sagte Kim.

»Aber ich halte es hier nicht mehr aus!«

»Siebenhundertsiebenundachtzig mal vierhundertzweiunddreißig …«

Und trotzdem werde ich abreisen, dachte Pfeffer und drückte auf die Tasten. Ihr seid zwar dagegen, aber ich fahre trotzdem. Ich werde kein Tischtennis mit euch spielen und kein Schach; ich werde nicht bei euch schlafen oder Tee mit euch trinken; ich will eure Lieder nicht mehr singen und auch nicht auf der »Mercedes« rechnen; keine Streitereien mehr schlichten oder Vorlesungen für euch halten, die ihr sowieso nicht versteht. Und denken für euch werde ich auch nicht. Denkt doch selber. Ich fahre. Jawohl! Ihr werdet sowieso nie begreifen, dass Denken kein Zeitvertreib, sondern eine Pflicht ist …

Draußen, hinter der halbfertigen Mauer, hörte man das wuchtige Aufschlagen eines Rammbärs, Presslufthämmer ratterten, Ziegelsteine prasselten, und oben auf der Wand saßen vier Arbeiter in einer Reihe. Ihre Oberkörper waren nackt, sie hatten Schirmmützen auf und rauchten. Dann dröhnte und knatterte ein Motorrad direkt unter dem Fenster.

»Da kommt jemand vom Wald«, sagte Kim. »Gib noch schnell sechzehn mal sechzehn ein.«

Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann stürzte herein. Er trug einen Overall, und die abgeknöpfte Kapuze baumelte an der Schnur des Funkgeräts über seiner Brust. Von den Schuhen bis zum Gürtel war er übersät mit spitz hervorstechenden, blassrosa Sprösslingen. Um das rechte Hosenbein wand sich eine orangefarbene Schlingpflanze, die kein Ende nehmen wollte und über den Boden schleifte. Die Schlingpflanze zuckte noch, und Pfeffer kam es so vor, als sei sie ein Fangarm des Waldes, könnte sich jeden Augenblick anspannen und den Mann zurück in den Wald zerren – durch die Gänge der »Verwaltung«, die Treppe hinunter, über den Hof an der Mauer entlang, vorbei an der Kantine und den Werkstätten, dann wieder hinunter, die staubige Straße entlang durch den Park, an den Statuen und den Pavillons vorbei, zur Serpentineneinfahrt, zum Tor, aber nicht durch das Tor, sondern vorbei, zur Schlucht, und hinab …

Der Mann trug eine Motorradbrille, sein Gesicht war staubbedeckt, und Pfeffer erkannte ihn nicht gleich. Es war Stojan Stojanow von der Biostation. In der Hand hielt er eine große Papiertüte. Er ging ein paar Schritte über den gekachelten Boden, dessen Mosaik eine Frau unter der Dusche darstellte. Die Papiertüte versteckte er hinter seinem Rücken. Er blieb vor Kim stehen und machte ein paar merkwürdige Bewegungen mit dem Kopf, so, als jucke ihn der Hals.

»Kim«, sagte er. »Hier bin ich.«

Kim gab keine Antwort. Nur seine Feder war zu hören, sie kratzte und riss am Papier.

»Kim, Lieber«, sagte Stojan einschmeichelnd. »Ich bitte dich … inständig …«

»Verschwinde«, sagte Kim. »Du bist ja übergeschnappt.«

»Ein letztes Mal«, sagte Stojan. »Ein allerletztes Mal.«

Er machte wieder merkwürdige Bewegungen mit dem Kopf, und Pfeffer sah sich seinen hageren, kahl rasierten Hals an; im Nacken, direkt unterhalb des Schädels, entdeckte er einen kurzen rosigen Sprössling, er war ganz zart, spitz und drehte sich schon wie eine Spirale in die Haut ein. Pfeffer schien es fast, als zittere der Sprössling vor Gier …

»Du brauchst es nur zu übergeben und zu sagen, dass es von Stojan ist. Das ist alles. Wenn sie dich ins Kino einlädt, sag einfach, du hättest noch etwas Dringendes zu erledigen. Wenn sie dir Tee anbietet, sag, du hättest gerade welchen getrunken, und Wein lehne auch ab, wenn sie welchen bringt. Bitte, Kim. Es ist wirklich das allerallerletzte Mal!«

»Was stehst du so krumm?«, fragte Kim wütend. »Dreh dich mal um!«

»Habe ich schon wieder einen abgekriegt?«, fragte Stojan und wandte Kim den Rücken zu. »Na ja, ist jetzt auch nicht so wichtig. Du brauchst es nur zu übergeben, alles andere ist unwichtig.«

Kim beugte sich über den Tisch zu Stojan und machte sich an seinem Hals zu schaffen. Er drückte etwas heraus. Dann massierte er die Stelle mit weit auseinandergestemmten Ellbogen, murmelte Flüche vor sich hin und bleckte angewidert seine Zähne. Stojan trat geduldig von einem Bein aufs andere, hielt den Kopf nach unten gebeugt und krümmte den Hals.

»Hallo, Pfeffer«, sagte er. »Ich habe dich lange nicht gesehen. Wie geht es dir? Ich habe wieder etwas mitgebracht, damit könntest du was machen … zum allerallerletzten Mal.« Er breitete das Papier auseinander und zeigte Pfeffer einen kleinen Strauß giftiggrüner Waldblumen. »Und wie die riechen! Unglaublich!«

»Hör schon auf zu zucken«, schrie ihn Kim an. »Stell dich ruhig hin! Du Verrückter! Trottel!«

»Verrückt«, stimmte Stojan begeistert zu. »Trottel. Ja, kann sein. Es ist aber wirklich zum allerallerletzten Mal!«

Die rosigen Triebe auf seinem Overall begannen bereits zu welken; sie kräuselten sich und fielen auf den Boden, wo sie das ziegelrote Gesicht der Frau unter der Dusche verdeckten.

»Das war’s«, sagte Kim. »Hau ab.«

Er wandte sich von Stojan ab und warf etwas Blutiges in den Abfalleimer; es schien noch zu leben, krümmte sich.

»Ich gehe ja schon«, sagte Stojan. »Sofort. Aber weißt du … Rita ist wieder so komisch. Ich komme gerade von der Biostation und habe irgendwie immer Angst, wenn ich von dort wegfahre. Pfeffer, alter Freund, du solltest zu uns kommen, vielleicht mal mit denen sprechen …«

»Kommt gar nicht infrage!«, sagte Kim. »Pfeffer hat dort nichts verloren.«

»Was heißt hier nichts verloren?!«, schrie Stojan. »Quentin schmilzt – man kann ihm direkt dabei zusehen! Und dann lief vor einer Woche Rita weg. Letzte Nacht kam sie zurück, blass, völlig durchnässt und steif vor Kälte. Der Wachposten wollte sie anfassen, aber sie hat irgendwas mit ihm gemacht, und bis jetzt liegt er bewusstlos da. Außerdem ist das ganze Versuchsfeld mit Gras zugewachsen.«

»Und weiter?«, fragte Kim.

»Quentin hat den ganzen Morgen geweint …«

»Das weiß ich alles«, unterbrach ihn Kim. »Ich verstehe nur nicht, was Pfeffer mit alledem zu tun hat.«

»Was heißt hier zu tun hat? Was redest du denn? Wer, wenn nicht Pfeffer? Ich doch nicht, oder? Und auch du nicht … Man wird ja nicht Heymbacken holen, Claudius Octavian!«

»Jetzt reicht’s!«, sagte Kim und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Geh endlich an die Arbeit. Und dass ich dich während der Arbeitszeit nicht mehr hier sehe. Mach mich nicht wütend.«

»Schon gut«, sagte Stojan. »Das war’s. Ich gehe. Wirst du es übergeben?«

Er legte den Strauß auf den Tisch und lief hinaus. In der Tür rief er: »Und der Abfluss vom Plumpsklo funktioniert wieder …«

Kim nahm den Reisigbesen zur Hand und fegte alles, was verstreut auf dem Boden lag, in die Ecke.

»Idiot!«, sagte er. »Ein Verrückter! Und dann diese Rita … Jetzt kann ich alles wieder von vorne durchdenken. Sollen sich zum Teufel scheren mit ihrer blöden Romanze …«

Unter dem Fenster knatterte das Motorrad, dann wurde es wieder still. Nur der Rammbär dröhnte noch hinter der Mauer.

»Pfeffer«, sagte Kim. »Weshalb warst du heute Morgen an der Schlucht?«

»Ich hatte gehofft, den Direktor zu sehen. Man sagte mir, dass er dort manchmal seine Morgengymnastik macht. Ich wollte ihn bitten mich gehen zu lassen, aber er kam nicht. Weißt du, Kim, ich glaube, dass hier alle lügen. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass auch du lügst.«

»Der Direktor«, sagte Kim nachdenklich. »Das ist die Idee. Gut gemacht! Sehr schlau …«

»Trotzdem werde ich morgen abreisen«, sagte Pfeffer. »Trumpf nimmt mich mit, er hat es mir versprochen. Morgen werde ich also nicht mehr kommen. Nur, damit du es weißt.«

»Nein, das habe ich nicht erwartet«, fuhr Kim fort, ohne auf ihn zu hören. »Sehr schlau. Vielleicht sollte man dich wirklich dorthin schicken – um Klarheit zu schaffen?«

2

KANDID

Kandid wachte auf, und sein erster Gedanke war: Übermorgen verschwinde ich von hier. Im selben Augenblick wurde auch Nawa, die in der anderen Ecke des Zimmers schlief, unruhig. Sie fragte: »Kannst du nicht mehr schlafen?«

»Nein«, antwortete er.

»Dann lass uns reden«, schlug sie vor. »Wir haben uns schon lange nicht mehr unterhalten. Seit gestern Abend. Also?«

»In Ordnung.«

»Sag mir zuerst, wann du fortgehst.«

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Bald.«

»Immer sagst du bloß: bald, bald. Mal bald, mal übermorgen. Vielleicht denkst du ja, dass das ein- und dasselbe ist? … Aber nein, jetzt hast du ja schon sprechen gelernt … Am Anfang hast du alles durcheinandergebracht, Haus und Dorf hast du verwechselt, Gras und Pilze, sogar die Toten und die Lebenden, und dann hast du angefangen, vor dich hinzumurmeln, lauter unverständliches Zeug, niemand ist daraus schlau geworden …«

Er öffnete die Augen und starrte auf die niedrige, kalkverspritzte Decke, an der Ameisen entlangliefen. Sie bewegten sich in zwei gleichmäßigen Kolonnen – von links nach rechts die beladenen, von rechts nach links die unbeladenen. Vor einem Monat war es umgekehrt gewesen: Von rechts nach links hatten sie kleine Brocken des Pilzgeflechts transportiert, und von links nach rechts waren sie leer gegangen. In einem Monat würde es wieder umgekehrt sein, es sei denn, sie bekamen neue Anweisungen. Entlang der Kolonnen standen in lockerer Kette die großen, schwarzen Signalgeber. Unbeweglich verharrten sie in Erwartung von Befehlen. Ihre langen Antennen wippten. Vor einem Monat, dachte Kandid, bin ich auch aufgewacht und habe gedacht, dass ich übermorgen fortgehe, aber wir sind nirgendwohin gegangen. Und lange davor wachte ich auch einmal auf und dachte, dass wir übermorgen fortgehen, was wir natürlich nicht taten. Aber wenn wir übermorgen nicht fortgehen, gehe ich allein. Natürlich habe ich mir das früher auch schon vorgenommen, aber jetzt gehe ich ganz bestimmt. Es wäre gut, sofort aufzubrechen, ohne mit jemandem zu sprechen oder jemanden zu fragen, aber das kann man nur mit klarem Kopf tun, jetzt geht das nicht. Gut wäre, es sich ganz fest vorzunehmen: Sobald ich mit klarem Kopf aufwache, stehe ich auf, gehe hinaus auf die Straße, in den Wald hinein und lasse nicht zu, dass mich jemand anspricht. Es ist sehr wichtig, dass ich mich in kein Gespräch verwickeln, mich nicht überreden lasse … Besonders diese Stellen über den Augen, schon saust es dir in den Ohren, dass dir schlecht wird, Kopf und Glieder wie gelähmt sind. Aber Nawa, sie spricht ja schon …

»… So kam es«, sagte Nawa, »dass uns die Totenmenschen in der Nacht wegführten. Nachts sehen sie schlecht, ganz blind sind sie, das wird dir jeder sagen, sogar der Bucklige. Der ist zwar nicht von hier, sondern kommt aus dem Nachbardorf, das heißt, aus dem Dorf, das neben dem lag, wo ich früher mit Mama wohnte, als ich dich noch nicht kannte. Du kannst den Buckligen also gar nicht kennen. Sein Dorf wuchs irgendwann ganz mit Pilzen zu, die Pilze sind richtig über das Dorf hergefallen, und das ist nicht jedermanns Sache. Der Bucklige zum Beispiel verließ sein Dorf sofort. ›Nun hat die ‚Erfassung‘ stattgefunden‹, sagte er. ›Die Menschen haben im Dorf jetzt nichts mehr verloren.‹ Wo war ich … Ach ja, der Mond war damals also nicht zu sehen, und wahrscheinlich haben sich die Totenmenschen verlaufen. Alle drängten sich zusammen, wir in der Mitte, und es wurde so heiß, dass einem die Luft wegblieb …«

Kandid blickte sie an. Nawa lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und ein Bein über das andere geschlagen. Sie lag ganz still, nur ihre Lippen bewegten sich ununterbrochen, und ihre Augen blitzten manchmal im Halbdunkel auf. Auch als der Alte hereinkam, sprach sie weiter; der Alte setzte sich an den Tisch, rückte den Topf zu sich heran, roch daran, wobei er geräuschvoll schnalzte, und fing an zu essen. Kandid stand auf und wischte sich den nächtlichen Schweiß vom Körper. Der Alte schlürfte und spuckte und wandte keinen Blick von der Holzschüssel, die wegen des Schimmels mit einem Deckel verschlossen etwas entfernt vom Topf stand. Kandid nahm ihm den Topf weg und stellte ihn zu Nawa hin, damit sie endlich schwieg.

Der Alte leckte sich die Lippen ab und sagte: »Es schmeckt nicht. Egal, zu wem du jetzt gehst, nirgendwo schmeckt es. Der Pfad, auf dem ich damals gegangen bin, ist auch zugewachsen. Ich bin viel gegangen damals – zur Dressur oder einfach nur zum Baden. Ich habe oft gebadet. Es gab da einen See, aber der ist jetzt versumpft, und es ist gefährlich geworden, den Weg dorthin zu nehmen. Trotzdem gehen die Menschen zum See – woher sonst sollten die vielen Ertrunkenen kommen? Und dann das Schilf. Ich kann fragen, wen ich will: Wieso gibt es da im Schilf Pfade? Niemand weiß es, ja, und es soll auch niemand wissen … Was habt ihr da in der Holzschüssel? Wenn es eingemachte Beeren sind, würde ich schon welche essen, eingemachte Beeren mag ich gerne, wenn es aber Reste von gestern sind, verzichte ich, die Reste könnt ihr selber essen.« Er machte eine Pause und ließ seinen Blick von Kandid zu Nawa und wieder zurück zu Kandid wandern. Dann fuhr er, ohne ihre Antwort abzuwarten, fort: »Und da, wo sich das Schilf einmal festgesetzt hat, ist Schluss mit dem Säen. Früher hat man dort noch gesät, weil es für die ›Erfassung‹ wichtig war, und hat dann alles zum Lehmfeld geschafft. Heute macht man das immer noch, aber man lässt es nicht mehr dort, sondern bringt es wieder zurück. Ich sage ihnen also, dass es so nicht geht. Aber das verstehen sie nicht. Und der Dorfälteste fragt mich vor allen Leuten, was das heißen soll: So geht es nicht? Da, wo du jetzt stehst, stand der Faust, sogar noch näher … Hier steht, sagen wir, Horcher, und da hinten, bei Nawa, die Glatzkopfbrüder. Alle drei standen sie da und hörten, was er mich fragte. Ich sage ihm, wie kannst du bloß, wir sind doch hier nicht allein … Sein Vater, wisst ihr, war ein sehr kluger Mann, aber vielleicht stimmt es auch, was die anderen sagen, dass er gar nicht sein Vater war, er ähnelt ihm nämlich überhaupt nicht. Warum soll ich das nicht vor den anderen fragen, sagt er, warum nicht?«

Nawa stand auf, reichte Kandid den Topf und begann aufzuräumen. Kandid aß. Der Alte verstummte und sah ihm einige Zeit zu; dabei bewegte er seine Lippen, als kaue er. Dann sagte der Alte: »Was ihr da im Topf habt, ist noch nicht ausgegoren, das kann man doch nicht essen.«

»Warum denn nicht?«, fragte Kandid, um ihn zu ärgern.

Der Alte kicherte. »Und du, Schweiger«, sagte er, »du solltest lieber deinen Mund halten. Erzähl mir lieber, das will ich nämlich schon lange von dir wissen, ob das Kopfabschneiden wehtut?«

»Was geht dich das an?«, schrie Nawa. »Was soll diese ewige Fragerei?«

»Da schreit sie«, stellte der Alte fest. »Schreit mich einfach an. Hat noch niemanden zur Welt gebracht, aber schreien tut sie. Warum hast du denn keine Kinder? Mit dem Schweiger lebst du schon so lange zusammen, aber Kinder hast du keine. Alle haben welche, nur du nicht. So geht es einfach nicht. Und weißt du, was das heißt, dass es so nicht geht? Das heißt: Es ist nicht erwünscht. Und weil es nicht erwünscht ist, darf man auch nicht so handeln. Was geht, steht noch nicht fest, aber was nicht geht, darf man nicht tun. Das sollten alle begreifen, du umso mehr, als du in einem fremden Dorf lebst; ein Haus hast du bekommen, den Schweiger hat man dir zum Mann gegeben. Vielleicht hat man ihm einen fremden Kopf aufgesetzt, aber sein Körper ist gesund, und deshalb geht es nicht, dass du dich vor dem Kinderkriegen drückst. Dieses ›es geht nicht‹ bedeutet nämlich, dass nichts weniger erwünscht ist als das.«

Wütend und beleidigt griff sich Nawa die Holzschüssel vom Tisch und ging in die Vorratskammer. Der Alte blickte ihr nach, schnaufte und fuhr fort: »Was bedeutet dieses ›es geht nicht‹ noch? Es bedeutet dasselbe wie schädlich …«

Kandid aß den Topf leer. Dann stellte er ihn polternd vor den Alten hin und ging hinaus. Über Nacht war das Haus von dichtem Grün überwuchert worden. Im undurchlässigen Pflanzengewirr ringsum war nur noch der Pfad zu erkennen, den der Alte ausgetreten hatte. Ebenso der Platz auf der Schwelle, wo der Alte gesessen hatte, hin- und hergerutscht war und darauf gewartet hatte, dass sie aufwachten. Die Straße war bereits gesäubert. Die grünen, handdicken Kriechgewächse, die sich gestern aus dem dichten Pflanzengeflecht über dem Dorf herausgewunden und vor dem Nachbarhaus Wurzeln geschlagen hatten, waren schon abgeschlagen. Man hatte sie mit Gärsäure übergossen, worauf sie sich dunkel verfärbt hatten und sauer geworden waren; sie verströmten einen scharfen, würzigen Geruch. Die Nachbarskinder schälten die Gewächse, rissen das schwärzlich-rote Fruchtfleisch heraus und stopften sich die Münder mit saftigen, spritzenden Stücken voll. Als Kandid vorbeiging, rief der Älteste von ihnen mit vollem Mund: »Schweigemensch – Totenmensch!« Aber keins von den Kindern stimmte ein; sie waren zu beschäftigt. Ansonsten war die Straße menschenleer. Sie schimmerte orange und rot vom hohen Gras, in dem auch die Hütten versanken, und alles ringsum war in ruhiges Dämmerlicht getaucht. Die wenigen Sonnenstrahlen, die das Blätterdach durchdrangen, warfen verschwommene grüne Flecken auf die Straße. Vom Feld her drang monotoner, disharmonischer Gesang herüber: »Frisch gesät, so ist’s recht, einmal links und einmal rechts …« Im Wald erscholl das Echo. Vielleicht war es auch nicht das Echo. Vielleicht waren es die Totenmenschen.

Hinker saß natürlich zu Hause und massierte sein Bein.

»Setz dich nur, setz dich«, sagte er freundlich. »Schau, hier habe ich weiches Gras für meine Gäste ausgelegt. Du gehst weg, wird erzählt?«

Schon wieder, dachte Kandid. Schon wieder alles von vorne.

»Ist es schlimmer geworden?«, fragte er und setzte sich.

»Mit dem Bein, meinst du? Nein, eigentlich nicht, aber es tut gut. Ich streiche darüber, weißt du, das ist angenehm. Wann gehst du weg?«

»Wie wir es besprochen haben. Wenn du mit mir kommst, dann übermorgen. Aber ich muss wohl einen anderen auftreiben, der den Wald kennt. Ich sehe ja, dass du nicht gehen willst.«