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Eigentlich möchte Polizeiinspektor Glebski nur Urlaub machen. Doch die anderen Gäste, mit denen er im Hotel Zum verunglückten Bergsteiger untergebracht ist, entpuppen sich als ein Haufen schräger Vögel. Da wären unter anderem das Millionärsehepaar Moses, Brun, ein kleiner Junge – oder ein Mädchen (wer weiß das schon), der unscheinbare Olaf Andvarafors und der vermeintlich lungenkranke Anwalt für Minderjährige namens Hinkus. Und als wäre das nicht genug, munkelt man, dass der Geist eines verunglückten Bergsteigers hier herumspukt. Fehlen nur noch Außerirdische und die Mafia. Aber die lassen auch nicht mehr lange auf sich warten ...
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Seitenzahl: 311
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Impressum
Originaltitel: Дело об убийстве, или Отель «У Погибшего Альпиниста»
Ruprecht Willnows 1973 im Verlag Volk und Welt erschienene Übersetzung der stark gekürzten Zeitschriftenfassung wurde für die vorliegende Ausgabe von Erik Simon durchgesehen, überarbeitet und anhand der 2001 veröffentlichten vollständigen, unzensierten Originalversion ergänzt.
Bei der Vorbereitung dieser Neuausgabe konnten nicht alle Rechteinhaber kontaktiert werden. Bitte wenden Sie sich mit eventuellen Fragen an den Verlag.
© 1970 by Arkadi & Boris Strugatzki
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by
Golkonda Verlags GmbH & Co. KG, München • Berlin
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.
Redaktion: Erik Simon
Korrektorat: Anne-Marie Wachs
Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN: 978-3-946503-57-6 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-946503-58-3 (E-Book)
Alle Rechte vorbehalten
www.golkonda-verlag.de
Wie gemeldet wird, ist im Kreis Wingi bei der Stadt Muir ein Flugapparat gelandet, dem kleine gelbgrüne Wesen mit jeweils drei Beinen und acht Augen entstiegen. Die sensationslüsterne Boulevardpresse erklärte sie eilig für Außerirdische …
Aus Zeitungen
Erstes Kapitel
Ich hielt an, stieg aus dem Wagen und nahm die Sonnenbrille ab. Alles war so, wie Sgut gesagt hatte. Ein einstöckiges Hotel, gelbgrün gestrichen, über der Veranda, zu der die Außentreppe führte, prangte ein schwarz umrandetes Schild »Zum Verunglückten Bergsteiger«. In den hohen, grobkörnigen Schneewällen beiderseits der Treppe steckten verschiedenfarbige Skier. Ich zählte sieben, an einen war noch der Stiefel geschnallt. Am Dach hingen armstarke, wulstige Eiszapfen, trübe schimmernd. Aus dem äußersten rechten Fenster im Erdgeschoss schaute ein blasses Gesicht, zugleich öffnete sich das Hauptportal, und ein vierschrötiger, kahlköpfiger Mann in fuchsroter Pelzweste über einem blendend weißen Nylonhemd trat heraus. Schwerfällig trottete er auf mich zu und blieb vor mir stehen. Er hatte ein grobes, rotes Gesicht, den Nacken eines Schwergewichtlers und schaute mich überhaupt nicht an. Sein melancholischer Blick war zur Seite gerichtet und erfüllt von trauriger Würde. Zweifellos war das Alec Snewar selbst, der Besitzer des Hotels und des Flaschenhalstales.
»Dort«, sagte er mit unnatürlich tiefer, dumpfer Stimme. »Dort ist es geschehen.« Er wies mit der Hand in seine Blickrichtung. In der Hand hielt er einen Korkenzieher. »Auf dem Gipfel da …«
Ich wandte mich um und schaute blinzelnd auf die graublaue, düstere Steilwand, die das Tal im Westen abschloss, auf die weißen Schneezungen und den gezackten Felsgrat, der sich scharf gegen den tiefblauen Himmel abhob.
»Ein Karabinerhaken war gebrochen«, fuhr der Mann mit dumpfer Stimme fort. »Er stürzte zweihundert Meter senkrecht in die Tiefe, in den Tod. An dem glatten Fels konnte er nirgends Halt finden. Vielleicht hat er geschrien. Niemand hat ihn gehört. Vielleicht hat er gebetet. Dann hat nur Gott ihn gehört, und die Erde erbebte, als er mit zweiundvierzigtausend Tonnen Kristallschnee aufschlug.«
»Was hat ihn denn hierher verschlagen?«, erkundigte ich mich, während ich die bedrohliche Felswand betrachtete.
»Erlauben Sie, dass ich mich in die Vergangenheit versenke«, sagte der Wirt, neigte den Kopf und legte die Hand mit dem Korkenzieher an die Stirnglatze.
Es war alles genau so, wie Sgut erzählt hatte. Nur der Hund war nirgends zu sehen, doch er hatte im Schnee an der Veranda und rings um die Skier zahlreiche Visitenkarten hinterlassen. Ich langte in den Wagen und nahm den Korb mit den Flaschen heraus.
»Schönen Gruß von Inspektor Sgut«, sagte ich, und sogleich tauchte der Wirt wieder aus der Vergangenheit auf.
»Das ist mal ein ehrenwerter Mann!«, sagte er lebhaft und mit ganz alltäglicher Stimme. »Wie geht es ihm?«
»Nicht schlecht«, antwortete ich und reichte ihm den Korb.
»Ich sehe, er hat die Abende an meinem Kamin nicht vergessen.«
»Er redet von nichts anderem«, sagte ich und wollte mich wieder dem Wagen zuwenden, doch der Hausherr packte mich am Arm. »Keinen Schritt zurück!«, sagte er streng. »Das macht Kaisa. Kaisa!«, brüllte er dröhnend.
Ein Hund sprang auf die Veranda, ein prächtiger Bernhardiner, weiß mit gelben Flecken, groß wie ein Kalb. Ich wusste bereits, dass das Tier die einzige Hinterlassenschaft des Verunglückten Bergsteigers war, abgesehen von den wenigen Habseligkeiten, die im Museumszimmer ausgestellt waren. Ich hätte gern zugeschaut, wie dieser Rüde mit dem weiblichen Namen mein Gepäck auslud, doch der Wirt führte mich mit festem Griff ins Haus.
Wir gingen durch eine dunkle Diele, wo ich den warmen Dunst des erloschenen Kamins spürte und moderne, niedrige Tischchen matt glänzten, und bogen links in einen Korridor. Der Wirt stieß mit der Schulter eine Tür mit der Aufschrift »Büro« auf. Ich wurde in einen gemütlichen Sessel platziert, der leise klirrende und gluckernde Korb in einer Ecke, und der Wirt schlug ein mächtiges Gästebuch auf, das auf dem Tisch lag.
»Vor allem möchte ich mich vorstellen«, sagte er und säuberte gewissenhaft die Federspitze mit den Fingernägeln. »Alec Snewar, Hotelbesitzer und Mechaniker. Sie haben gewiss die Windräder am Ausgang des Flaschenhalses bemerkt?«
»Ach, das waren Windräder?«
»Ja, Windmotoren. Die hab ich selbst entworfen und gebaut. Mit diesen meinen Händen.«
»Was Sie nicht sagen …«, murmelte ich.
»Ja. Ich selbst. Und noch viel mehr.«
»Und wo soll er hin?«, fragte eine durchdringende Frauenstimme hinter mir.
Ich wandte mich um. In der Tür stand eine dicke Frau mit meinem Koffer in der Hand, ein Pummelchen, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, mit roten Wangen und weit auseinanderstehenden, weit offenen blauen Äuglein.
»Das ist Kaisa«, erklärte der Wirt. »Kaisa! Dieser Herr hat uns Grüße von Herrn Sgut gebracht. Erinnerst du dich an Herrn Sgut? Solltest du.«
Kaisa lief sofort hochrot an, hob die Schultern und legte die Hand vors Gesicht.
»Sie erinnert sich«, erklärte mir der Wirt. »Hat sich’s gemerkt … Hm. Ich bringe Sie in Nummer vier unter. Unser bestes Zimmer. Kaisa, bring den Koffer von Herrn … hm …«
»Glebski«, sagte ich.
»Bring den Koffer von Herrn Glebski auf Nummer vier. – Sie ist von erstaunlicher Blödheit«, erklärte er mit gewissem Stolz, als das Pummelchen weg war. »In ihrer Art ein Phänomen. Also, Herr Glebski?« Er schaute mich erwartungsvoll an.
»Peter Glebski«, diktierte ich. »Polizeiinspektor, auf Urlaub. Für zwei Wochen. Allein.«
Der Wirt notierte sich diese Angaben gewissenhaft mit großen, krakeligen Buchstaben, und während er schrieb, kam der Bernhardiner ins Zimmer, mit den Krallen über das Linoleum patschend. Er schaute mich an, zwinkerte, ließ sich plötzlich mit einem Krach, als schütte jemand einen Armvoll Holzscheite hin, neben dem Safe zu Boden fallen und legte die Schnauze auf die Pranke.
»Das ist Lel«, sagte der Wirt und schraubte den Füller zu. »Sapiens. Versteht drei europäische Sprachen. Flöhe hat er nicht, aber sein Fell geht aus.«
Lel seufzte und legte die Schnauze auf die andere Pranke.
»Gehen wir«, sagte der Wirt und erhob sich. »Ich bringe Sie.«
Wir durchquerten wieder die Diele und gingen die Treppe hinauf.
»Wir essen um sechs«, teilte der Wirt mit. »Aber einen Happen zwischendurch kann man immer bekommen oder irgendwas zur Erfrischung trinken. Um zehn Uhr abends – ein leichtes Abendessen. Tanzen, Billard, Karten spielen, Gespräche am Kamin.«
Wir kamen in den Korridor im ersten Stock und bogen nach links. Gleich an der ersten Tür blieb der Wirt stehen.
»Hier«, sagte er jetzt wieder mit dumpfer Stimme. »Bitte sehr.«
Er stieß die Tür vor mir auf, und ich trat ein.
»Seit jenem unvergesslichen, grauenvollen Tag …«, begann er und verstummte plötzlich.
Das Zimmer war nicht schlecht, wenngleich etwas düster. Die Vorhänge waren halb herabgelassen, auf dem Bett lag seltsamerweise ein Eispickel. Es roch nach frisch entzündetem Tabak. Über einer Stuhllehne mitten im Zimmer hing eine Segeltuchjacke, auf dem Fußboden daneben lag eine Zeitung.
»Hm«, sagte ich verdutzt. »Mir scheint, hier ist schon jemand zugegen.«
Der Wirt schwieg und blickte gebannt auf den Tisch. Dort war nichts Besonderes zu sehen, lediglich ein großer Bronzeaschbecher, darin eine Pfeife mit geradem Rohr. Wohl eine Dunhill. Rauch stieg heraus.
»Jemand zugegen …«, brachte der Wirt schließlich hervor. »Ist er zugegen? … Aber warum eigentlich nicht?«
Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte, und wartete auf eine weitere Erklärung. Mein Koffer war nirgends zu sehen, dafür stand eine karierte Reisetasche mit zahlreichen Hoteletikettaufklebern in der Ecke. Sie gehörte nicht mir.
»Hier«, erklärte der Wirt schließlich mit etwas festerer Stimme, »ist seit sechs Jahren alles so geblieben, wie er es an jenem unvergesslichen, schrecklichen Tag vor seinem letzten Aufstieg hinterlassen hat.«
Ich schaute ungläubig auf die rauchende Pfeife.
»Ja!«, sagte der Wirt herausfordernd. »Das ist seine Pfeife. Und seine Jacke. Und dort liegt sein Eispickel. ›Nehmen Sie den Eispickel mit‹, habe ich ihm an jenem Morgen gesagt. Er hat nur gelächelt und den Kopf geschüttelt. ›Aber Sie wollen doch nicht für immer dort bleiben!‹, habe ich gerufen, und eine schreckliche Vorahnung ließ mich frösteln. ›Pourquoi pas?‹, hat er mir geantwortet. Ich weiß bis heute nicht, was das bedeuten sollte …«
»Es bedeutete: ›Warum denn nicht?‹«, warf ich ein.
Der Wirt nickte betrübt. »Das dachte ich mir … Und das da ist seine Reisetasche. Ich habe der Polizei nicht erlaubt, in seinen Sachen zu kramen …«
»Und das ist seine Zeitung«, ergänzte ich. Ich sah deutlich, dass es der »Muirer Bote« von vorgestern war.
»Nein, natürlich nicht«, sagte der Wirt.
»Das meine ich auch.«
»Nein, natürlich nicht«, wiederholte der Wirt. »Und die Pfeife hat selbstverständlich nicht er, sondern jemand anders angesteckt.«
Ich murmelte etwas von fehlender Achtung für die Erinnerung an Verstorbene.
»Nein«, entgegnete der Wirt nachdenklich. »Hier ist alles komplizierter. Hier ist alles viel komplizierter, Herr Glebski. Doch darüber später. Gehen wir jetzt in Ihr Zimmer.«
Ehe wir den Raum verließen, warf er dennoch schnell einen Blick in die Toilette, öffnete und schloss die Türen des Wandschrankes, trat ans Fenster und klopfte die Vorhänge ab. Ich glaube, er hätte am liebsten auch unters Bett geschaut, doch er beherrschte sich. Wir traten auf den Korridor.
»Inspektor Sgut hat mir erzählt«, fuhr der Wirt nach kurzem Schweigen fort, »sein Spezialgebiet seien die sogenannten Schränker. Und was ist Ihr Fachgebiet, falls das nicht geheim ist, versteht sich?«
Er öffnete mir die Tür mit der Nummer vier.
»Mein Fachgebiet ist langweilig«, antwortete ich. »Amtsmissbrauch, Veruntreuung, Unterschlagung, Urkundenfälschung …«
Das Zimmer gefiel mir sofort. Alles blitzte vor Sauberkeit, die Luft roch frisch, auf dem Tisch war kein Stäubchen, und hinter dem blank geputzten Fenster breitete sich eine schneebedeckte Ebene vor den fliederblauen Bergen.
»Schade«, sagte der Wirt.
»Warum?«, fragte ich geistesabwesend und schaute ins Schlafkabinett. Hier hantierte noch Kaisa. Mein Koffer war geöffnet, die Sachen waren sorgfältig ausgebreitet oder aufgehängt, und Kaisa klopfte die Kissen auf.
»Eigentlich ist es ja gar nicht schade«, erklärte der Wirt. »Haben Sie nicht auch schon bemerkt, Herr Glebski, wie viel interessanter das Unbekannte im Vergleich zum Vertrauten ist? Das Unbekannte wühlt die Gedanken auf, lässt das Blut schneller durch die Adern fließen, bringt erstaunliche Phantasien hervor, lockt und lässt hoffen. Das Unbekannte gleicht einem flackernden Feuer im schwarzen Abgrund der Nacht. Doch wenn man es kennengelernt hat, wird es platt, grau und verschmilzt mit dem grauen Hintergrund des Alltags.«
»Sie sind ein Dichter, Herr Snewar«, bemerkte ich noch verwirrter. Ich betrachtete Kaisa und konnte Sgut verstehen. Vor dem Hintergrund des Betts sah das Pummelchen ungemein verlockend aus. Sie hatte etwas Unbekanntes an sich, etwas noch nicht Vertrautes.
»Hier sind Sie zu Hause«, sagte der Wirt. »Machen Sie es sich bequem, erholen Sie sich, tun Sie, was Sie wollen. Skier, Wachs, Bergausrüstung, alles zu Ihren Diensten, unten. Nötigenfalls wenden Sie sich direkt an mich. Essen um sechs. Doch wenn Sie jetzt gleich etwas zu sich nehmen wollen, sich aufmuntern wollen – ich meine, etwas zu trinken –, wenden Sie sich an Kaisa. Ich empfehle mich.«
Und er ging.
Kaisa machte sich immer noch zu schaffen und erreichte einen Grad unvorstellbarer Vollendung des Bettenbauens, ich aber steckte mir eine Zigarette an und trat ans Fenster. Ich war allein. Dem Himmel sei Dank, gütiger Gott, endlich allein! Ich weiß, so sollte man nicht sprechen, nicht einmal denken, doch wie schwer lässt es sich heutzutage einrichten, einmal wenigstens eine Woche, wenigstens einen Tag, wenigstens ein paar Stunden allein zu sein! Nein, ich liebe meine Kinder, ich liebe meine Frau, ich habe überhaupt nichts gegen meine Verwandten, und die meisten von meinen Freunden und Bekannten sind durchaus taktvolle, angenehme Menschen. Aber wenn sie Tag für Tag, Stunde für Stunde pausenlos um mich herumwimmeln, einander dabei ablösen, und man hat nicht die geringste Chance, diesem Gedränge zu entkommen, sich von allen zu lösen, sich einzuschließen, abzuschalten … Ich selbst habe es nicht gelesen, doch mein Sohn behauptet, die größte Geißel des Menschen in der modernen Welt seien Einsamkeit und Entfremdung. Ich weiß nicht recht. Entweder sind das dichterische Phantastereien, oder ich bin einfach so ein Pechvogel. Jedenfalls sind zwei Wochen Entfremdung und Einsamkeit genau das, was ich brauche. Und es soll nichts geben, was ich tun müsste, sondern nur Dinge, die ich tun will. Die Zigarette, die ich rauche, weil ich Lust habe, und nicht, weil mir jemand eine Schachtel unter die Nase hält. Und die ich nicht rauche, wenn ich keine Lust dazu habe, und keineswegs, weil Madame Seltz keinen Rauch verträgt … Ein Glas Brandy am Kaminfeuer ist gut. Das wird wirklich nicht übel. Überhaupt wird es mir hier wohl recht gut gehen. Und das ist einfach wunderbar. Ich fühle mich wohl mit mir selbst, mit dem eigenen Körper, der noch verhältnismäßig jung, noch kräftig ist, den man auf Skier stellen und weit wegfliegen lassen kann, über die weite Ebene, zu den fliederblauen Felsgraten, über stiebenden Schnee – dann wird einem so richtig wohl ums Herz.
»Soll ich was bringen?«, fragte Kaisa. »Wünschen Sie was?«
Ich schaute sie an, wieder hob sie die Schultern und versteckte sich hinter ihrer Hand. Das bunte Kleid saß prall und stand vorn und hinten ab. Darüber eine winzige Spitzenschürze, dralle, bloße Arme und um den Hals eine Kette aus großen Holzperlen. Die Fußspitzen hielt sie leicht nach innen gedreht, und sie ähnelte keiner einzigen von meinen Bekannten, und das war auch gut.
»Wer wohnt jetzt hier bei Ihnen?«, fragte ich.
»Wo?«
»Hier bei Ihnen. Im Hotel.«
»Im Hotel? Hier bei uns? Ja, hier wohnen welche …«
»Na, wer denn?«
»Na wer? Herr Moses wohnen mit Frau. In der Eins und in der Zwei. Und in der Drei auch. Nur wohnen sie nicht dort. Aber vielleicht mit der Tochter. Man sieht nicht durch. Eine schöne Frau, macht große Augen …«
»Ja?«, sagte ich, um sie zu ermuntern.
»Herr Simonet wohnen hier. Hier gegenüber. Spielen immer Billard und klettern an den Wänden herum. Sind ein Spaßvogel, aber trübsinnig. Irgendwas Psychisches.« Sie errötete wieder und setzte an, die Schultern hochzuziehen.
»Und wer noch?«, fragte ich.
»Herr du Barnstocre, Hypnotiseure vom Zirkus.«
»Barnstocre? Der echte?«
»Weiß nicht, vielleicht. Hypnotiseure … Und Brun.«
»Was für ein Brun?«
»Na, die mit dem Motorrad. In Hosen.«
»So«, sagte ich. »Sind das alle?«
»Hier wohnen noch welche. Sind wohl erst seit Kurzem da. Aber einfach so da … Sind einfach nur da. Schlafen nicht, essen nicht, sind bloß einquartiert.«
»Ich verstehe nicht«, gab ich zu.
»Niemand versteht das. Sind da, und fertig. Lesen Zeitungen. Neulich haben sie Herrn du Barnstocre die Pantoffeln weggenommen. Wir suchen sie, suchen überall – keine Hausschuhe. Dabei haben sie sie ins Museum geschleppt und dort stehen lassen. Und Spuren machen sie auch noch …«
»Was für welche?« Ich gab mir größte Mühe, sie zu verstehen.
»Nasse. Im ganzen Korridor laufen sie ’rum. Und angewöhnt haben sie sich, nach mir zu klingeln. Mal aus einem Zimmer, mal aus ’nem anderen. Ich geh hin, und niemand ist da.«
»Na gut«, sagte ich seufzend. »Ich kann dich nicht verstehen, Kaisa. Ist auch nicht wichtig. Ich gehe lieber unter die Dusche.«
Ich zerdrückte den Zigarettenstummel in dem blitzsauberen Aschbecher und ging ins Schlafkabinett Wäsche holen. Dort legte ich einen Stapel Bücher auf dem Nachttischchen ab, dachte flüchtig, dass ich sie wohl vergebens mitgenommen hätte, zog die Schuhe aus und Pantoffeln an, griff mir ein Handtuch und ging zum Duschraum. Kaisa war schon fort, der Aschbecher auf dem Tisch glänzte wieder in jungfräulicher Reinheit. Der Korridor war leer, irgendwoher war das Klacken von Billardkugeln zu hören – anscheinend vergnügte sich da der trübsinnige Spaßvogel mit irgendwas Psychischem. Wie hieß er doch gleich? Simonet, scheint’s.
Die Tür zum Duschraum entdeckte ich auf dem Treppenabsatz, und sie war verschlossen. Eine Zeit lang blieb ich unschlüssig stehen und drehte vorsichtig an der Kunststoffklinke. Jemand kam gemächlich mit schweren Schritten den Korridor entlang. Ich könnte natürlich in den Duschraum im Erdgeschoss gehen, dachte ich. Oder auch nicht. Ich könnte erst einmal Ski laufen. Geistesabwesend betrachtete ich die Holztreppe, die anscheinend zur Veranda hinabführte. Oder ich könnte zum Beispiel zum Dach hinaufgehen und die Aussicht genießen. Sonnenauf- und -untergang sollen hier unbeschreiblich schön sein. Aber es ist doch eine Schweinerei, dass die Dusche verschlossen ist. Oder hat sich da jemand eingenistet? Nein, es ist still … Ich zog noch einmal an der Klinke. Na schön. Dann eben nicht. Das hat Zeit. Ich machte kehrt und ging in mein Zimmer.
Irgendetwas in meinem Zimmer hatte sich verändert, und das war sofort zu spüren. Gleich darauf wurde mir klar: Es roch nach Pfeifentabak, genau wie in dem Museumszimmer. Ich blickte sofort zum Aschbecher. Die gerauchte Pfeife lag nicht da, dafür ein Häufchen Asche mit ein paar Tabakkrümeln dabei. Sind einquartiert, fiel mir ein. Trinken nicht, essen nicht, machen bloß Spuren …
Und da gähnte neben mir jemand ausgiebig und laut. Aus dem Schlafkabinett kam, mit den Krallen klackend, der Bernhardiner, grinste mich an und legte sich hin.
»Ach, du hast also hier geraucht?«, sagte ich.
Lel zwinkerte mir zu und schüttelte den Kopf. Als wolle er eine Fliege verscheuchen.
Zweites Kapitel
Nach den Spuren zu urteilen, hatte schon jemand versucht, Ski zu fahren – war an die fünfzig Meter weit gekommen, bei jedem Schritt hingefallen und dann zurückgekommen, bis zum Knie im Schnee einsinkend, Skier und Stöcke unter den Arm geklemmt, hatte sie verloren, wieder aufgehoben und wieder verloren – über diesen betrüblichen hellblauen Schrammen und Furchen im Schnee schienen immer noch die gefrorenen Flüche zu schweben. Aber sonst war die weite Schneedecke des Tales glatt und unberührt wie ein frisch gestärktes Laken.
Ich machte einen Sprung am Ort, um die Bindungen zu prüfen, jauchzte und lief der Sonne entgegen, das Tempo steigernd, blinzelnd vor Behagen und wegen des grellen Lichts, mit jedem Atemzug die Langeweile verräucherter Arbeitszimmer, muffiger Papiere, weinerlicher Verdächtiger und verdrossener Vorgesetzter von mir stoßend, den Trübsinn trostloser politischer Debatten und uralter Witze, die kleinlichen Sorgen der Frau und die Ausfälle der heranwachsenden Generation – freudlose, schlammige Straßen, nach Siegellack stinkende Korridore, die gähnenden Rachen geknackter Safes, abgeschossenen Panzern ähnlich, die verblichenen hellblauen Tapeten im Esszimmer und die verblichenen rosa Tapeten im Schlafzimmer und die mit Tinte bespritzten gelben Tapeten im Kinderzimmer – mit jedem Atemzuge befreite ich mich von mir selbst, dem Beamten, dem hochmoralischen, furztrocken gesetzestreuen Menschen mit blinkenden Knöpfen, dem aufmerksamen Gatten und vorbildlichen Vater, dem gastlichen Freund und angenehmen Verwandten, voller Freude, dass all dies schwand, und in der Hoffnung, es schwinde unwiederbringlich, von jetzt an werde alles leicht, elastisch, kristallklar, in ausgelassenem, jugendlichem Tempo. Wie gut, dass ich hierhergefahren bin. Ein Prachtkerl, der Sgut, ein Schlaukopf, der Sgut, vielen Dank, Sgut, wenn du auch manchmal, wie es heißt, deinen Schränkern beim Verhör auf die Schnauze haust. Und wie kräftig ich noch bin, wie gewandt, wie stark, ich kann noch eine schnurgerade Spur fahren, hunderttausend Kilometer in einer idealen Geraden, oder scharf nach rechts, scharf nach links, mit den Skiern Tonnen von Schnee aufwirbelnd. Dabei bin ich drei Jahre nicht Ski gefahren, seit wir das verwünschte neue Haus gekauft haben. Ach, zum Teufel damit, mit allem, ich will jetzt nicht daran denken, zum Teufel mit dem Alter, dem Haus, und zum Teufel mit dir, Peter, Peter Glebski, gesetzesfürchtiger Beamter – Gott mit dir.
Als die Woge ersten Entzückens zurückgeflutet war, entdeckte ich, dass ich neben der Straße stand, nass, nach Atem ringend, von Kopf bis Fuß mit Schnee bestäubt. Schon erstaunlich, wie schnell die Wellen der Begeisterung verebben. Sich quälen, sich härmen, nörgeln und quengeln kann man stunden- und tagelang, aber das Hochgefühl – und fort ist es, nichts bleibt davon zurück als Peinlichkeit, ein nasser Rücken und Muskeln, die von der vergangenen Erregung zittern. Und die Ohren waren mir auch vom Wind taub geworden …
Ich zog den Handschuh aus, steckte den kleinen Finger ins Ohr, drehte ihn und hörte plötzlich ein berstendes Knattern, als setze ein Sportflugzeug zur Landung an. Kaum hatte ich die Schneebrille gesäubert, als es an mir vorbeischoss – selbstverständlich kein Flugzeug, sondern ein bulliges Motorrad, eines von den neumodischen, die Mauern durchschlagen und mehr Menschenleben vernichten als alle Banditen, Räuber und Mörder zusammengenommen. Es überschüttete mich mit Schneefladen, die Brille war wieder verkleistert, trotzdem nahm ich eine dürre, zusammengekrümmte Gestalt wahr, wehende schwarze Haare und das wie ein Brett abstehende Ende eines roten Schals. Für Fahren ohne Helm, dachte ich automatisch, fünfzig Kronen Strafe und einen Monat Führerscheinentzug. Freilich konnte keine Rede davon sein, die Nummer zu erkennen – ich sah nicht einmal das Hotel und das halbe Tal dazu, die Schneewolke stiebte himmelhoch. Ach, was kümmerte es mich! Ich stieß mich mit den Stöcken ab und lief die Straße entlang dem Motorrad nach zum Hotel.
Als ich ankam, kühlte das Motorrad vor der Treppe ab. Daneben im Schnee lagen wuchtige Lederhandschuhe mit Stulpen. Ich stieß meine Skier in den Schneehaufen, klopfte mich ab und schaute wieder auf das Motorrad. Ein wahrhaft unheildrohendes Gefährt! Man mochte glauben, nächstes Jahr werde das Hotel »Zum Verunglückten Motorradfahrer« heißen. Der Wirt würde dann jeden neuen Gast bei der Hand fassen, auf eine durchbrochene Wand deuten und sagen: »Hier. Hier ist er mit hundertzwanzig Meilen in der Stunde aufgeprallt und hat das Gebäude durchschlagen. Die Erde bebte, als er in die Küche schoss und vierhundertzweiunddreißig Ziegel mit sich riss.« Reklame hat doch was, dachte ich, während ich die Treppe hinaufging. Gleich komme ich in mein Zimmer, und an meinem Tisch hat sich ein Skelett mit rauchender Pfeife breitgemacht, und vor ihm steht ein zünftiger Sud von Fliegenpilzen, drei Kronen der Liter.
Mitten in der Diele stand ein unvorstellbar langer und sich sehr gebückt haltender Mann im schwarzen Frack mit Schößen bis zu den Hacken. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, redete er streng auf ein mageres, biegsames Wesen unbestimmbaren Geschlechts ein, das elegant in einem tiefen Sessel lümmelte. Das Wesen hatte ein zierliches, blasses Gesicht, halb hinter einer riesigen dunklen Brille verborgen, eine zerzauste schwarze Haarmähne und einen flauschigen roten Schal.
Als ich die Tür hinter mir schloss, verstummte der lange Mann und wandte sich mir zu. Er trug eine Fliege, sein edel geschnittenes Antlitz wurde durch aristokratische Hängewangen und eine nicht minder aristokratische, phänomenal geformte Nase noch mehr geadelt. Eine Sekunde schaute er mich an, dann spitzte er die Lippen und trat mir entgegen, seine schlanke weiße Hand ausstreckend.
»Du Barnstocre«, verkündete er fast singend. »Zu Ihren Diensten.«
»Etwa gar der echte du Barnstocre?«, fragte ich mit aufrichtiger Hochachtung und drückte seine Hand.
»Ebender, mein Herr, ebender«, erklärte er. »Mit wem habe ich die Ehre?«
Ich stellte mich vor und empfand dabei eine alberne Schüchternheit, die uns Polizeibeamten gar nicht eigen ist. Es war doch auf den ersten Blick klar, dass so jemand garantiert Einnahmen verheimlichte und die Steuererklärung verschwommen ausfüllte.
»Wie reizend!«, jubilierte du Barnstocre plötzlich und packte mich am Rockaufschlag. »Wo haben Sie das gefunden? Brun, mein Kind, schauen Sie, wie reizend!«
In der Hand hielt er plötzlich ein blaues Veilchen. Und es duftete nach Veilchen. Ich zollte geflissentlich Beifall, obwohl ich solche Scherze nicht liebe. Das Wesen im Sessel gähnte, den kleinen Mund weit aufreißend, und legte ein Bein über die Armlehne.
»Aus dem Ärmel«, erklärte es mit heiserer Bassstimme. »Sehr mittelmäßig, Onkel.«
»Aus dem Ärmel!«, wiederholte du Barnstocre bekümmert. »Nein, Brun, das wäre zu elementar. Das wäre wirklich mittelmäßig, wie Sie sich auszudrücken beliebten. Mittelmäßig und eines Kenners unwürdig, wie Inspektor Glebski es ist.«
Er legte sich das Veilchen auf die Handfläche, schaute es an, zog die Brauen hoch, und weg war es. Ich machte den Mund zu und schüttelte den Kopf. Mir fehlten die Worte.
»Sie können meisterhaft Ski laufen, Herr Glebski«, fuhr du Barnstocre fort. »Ich habe Sie durchs Fenster beobachtet. Und ich muss sagen, es war mir ein echtes Vergnügen.«
»Ach was!«, murmelte ich. »Ja, früher bin ich mal gut gelaufen.«
»Onkel!«, rief plötzlich das Wesen aus der Tiefe des Sessels. »Zaubern Sie lieber eine Zigarette herbei.«
Du Barnstocre schien sich zu besinnen.
»Ach ja!«, sagte er. »Gestatten Sie, dass ich vorstelle, Herr Glebski: Das ist Brun, einziges Kind meines lieben verstorbenen Bruders. Brun, mein Kind!«
Das Kind rekelte sich unwillig aus dem Sessel und trat näher. Es hatte dichtes, frauliches, aber vielleicht auch nicht frauliches, sondern sozusagen jünglingshaftes Haar. Seine in Silastikhosen steckenden Beine erschienen dünn und jungenhaft, aber vielleicht auch im Gegenteil schlank und mädchenhaft. Die Jacke war drei Nummern zu groß. Mit einem Wort, es wäre mir lieber gewesen, wenn du Barnstocre den Spross seines lieben Toten einfach als Nichte oder Neffen vorgestellt hätte. Das Kind lächelte mir gleichgültig mit rosigem, zartem Mund zu und reichte mit eine wettergegerbte, zerkratzte Hand. »Wir haben Sie wohl ganz schön aufgescheucht?«, erkundigte es sich heiser. »Dort auf der Straße.«
»Wir?«, fragte ich.
»Na ja, nicht wir. Bukephalos. Der kann so was. Hat ihm die ganze Brille zugepappt«, teilte es seinem Onkel mit.
»In diesem Fall«, erläuterte du Barnstocre höflich. »ist Bukephalos nicht das legendäre Ross Alexanders des Großen. In diesem Fall ist Bukephalos das Motorrad, eine unsinnige und gefährliche Maschine, die seit zwei Jahren dabei ist, mich langsam umzubringen, und die mich letzten Endes, wie ich fühle, ins Grab bringen wird.«
»Eine Zigarette wär gut«, mahnte das Kind.
Du Barnstocre schüttelte niedergeschlagen den Kopf und breitete hilflos die Arme aus. Als er sie wieder sinken ließ, glomm zwischen seinen Fingern eine Zigarette, und er reichte sie dem Kind. Das zog daran und brummelte verwöhnt: »Wieder mit Filter.«
»Wahrscheinlich wünschen Sie nach Ihrem Exkurs zu duschen«, sagte du Barnstocre zu mir. »Es gibt bald Essen.«
»Ja«, sagte ich. »Natürlich. Entschuldigen Sie bitte.«
Es war mir eine große Erleichterung, dieser Gesellschaft zu entkommen. Ich fühlte mich nicht auf der Höhe. Man hatte mich überrumpelt. Ein berühmter Zauberkünstler in der Arena ist immerhin, wie sich zeigte, etwas ganz anderes als ein berühmter Zauberkünstler im Privatleben. Ich entschuldigte mich irgendwie und eilte, drei Stufen auf einmal nehmend, auf meine Etage.
Der Korridor war nach wie vor leer, irgendwo entfernt klackten trocken noch immer die Billardbälle. Der verdammte Duschraum war immer noch zugesperrt. Ich wusch mich recht und schlecht in meinem Zimmer, kleidete mich um, steckte mir eine Zigarette an und sank auf das Sofa. Eine angenehme Müdigkeit überfiel mich, und ich nickte für ein paar Minuten ein. Mich weckten ein Kreischen und infernalisches, schluchzendes Gelächter draußen auf dem Gang. Ich sprang auf. Im gleichen Moment klopfte es, und Kaisas Stimme miaute: »Bitte zum Essen kommen!« Ich antwortete, ich würde gleich erscheinen, nahm die Füße vom Sofa und angelte nach meinen Hausschuhen. »Bitte zum Essen kommen!«, klang es weiter weg, dann nochmals: »Bitte zum Essen kommen!« Danach wieder das kurze Kreischen und gespenstische Lachen. Mir schien sogar, als hörte ich rostige Ketten klirren.
Ich kämmte mich vor dem Spiegel und suchte nach dem geeigneten Gesichtsausdruck, zum Beispiel: zerstreute, liebenswürdige Aufmerksamkeit, mannhafte Verschlossenheit des Profis, einfältige Bereitschaft zu entschieden jedweder Bekanntschaft oder ein Grinsen vom Typ »Hi«. Kein Ausdruck erschien mir passend, deshalb mühte ich mich nicht länger, steckte für das Kind Zigaretten ein und trat auf den Korridor. Ich erstarrte.
Die Tür des gegenüberliegenden Zimmers stand offen. Im Türfutter hoch oben unter dem Querbalken, mit den Füßen gegen den einen, mit dem Rücken gegen den anderen Türstock gestemmt, klemmte ein junger Mann. Seine Pose erschien bei aller Unnatürlichkeit völlig ungezwungen. Er schaute mich von oben an, bleckte die langen, gelblichen Zähne und erstattete eine militärische Ehrenbezeigung.
»Guten Tag«, sagte ich nach einigem Schweigen. »Soll ich helfen?«
Er sprang weich wie eine Katze auf den Boden und setzte seine Ehrenbezeigung fort, indem er sich in strammer Haltung vor mir aufbaute.
»Habe die Ehre, Inspektor«, sagte er. »Gestatten Sie: Oberleutnant der Kybernetik Simon Simonet.«
»Rühren«, sagte ich, und wir tauschten einen Händedruck.
»Eigentlich bin ich Physiker«, sagte er. »Doch Oberleutnant der Kybernetik klingt fast genauso flüssig wie Oberleutnant der Infanterie. Wirkt irgendwie komisch.« Völlig unvermittelt brach er in jenes entsetzliche, schluchzende Gelächter aus, das einem feuchte Kellergewölbe, untilgbare Blutflecken und rasselnde Ketten an festgeschmiedeten Skeletten suggerierte.
»Was haben Sie da oben gemacht?«, fragte ich, nachdem ich die Erstarrung überwunden hatte.
»Trainiert«, beschied er mich. »Ich bin ja Bergsteiger …«
»Der verunglückte?«, witzelte ich und bedauerte es sofort, weil er mich wieder mit einer Lawine seines jenseitigen Gelächters überschüttete.
»Nicht schlecht, nicht schlecht für den Anfang«, sagte er wie zu sich selbst und rieb sich dabei die Augen. »Nein, ich lebe noch. Eigentlich wollte ich hier Berge besteigen, aber ich komme einfach nicht an sie heran. Überall Schnee. Also klettere ich an Türen und Wänden.« Plötzlich verstummte er und hakte mich unter. »Eigentlich bin ich hergekommen«, sagte er, »um den Kopf auszulüften. Überarbeitet. Projekt Midas, schon davon gehört? Streng geheim. Vier Jahre ohne Urlaub. Nun haben die Ärzte mir eine Kur emotioneller Vergnügungen verschrieben.« Er lachte wieder auf, doch wir waren schon im Speisesaal angelangt. So ließ er meinen Arm frei und strebte dem Tisch zu, wo die Vorspeisen angerichtet waren. »Halten Sie sich hinter mir, Inspektor!«, rief er mir laut zu. »Schnell, sonst fressen uns die Freunde und Verwandten des Verunglückten den ganzen Kaviar weg.«
Du Barnstocre und das Kind seines verstorbenen Bruders saßen schon am Tisch. Du Barnstocre rührte elegant mit einem silbernen Kaffeelöffel die Bouillon in seiner Tasse und schielte vorwurfsvoll nach dem Kind, das die Ellenbogen breit auf den Tisch gepflanzt hatte und emsig eine Gemüsesuppe verputzte.
An der Stirnseite des Tisches residierte eine mir unbekannte Dame von blendender, seltener Schönheit. Sie konnte ebenso zwanzig wie vierzig Jahre alt sein, hatte zarte, elfenhafte Schultern, einen Schwanenhals, große, halb geschlossene Augen mit langen Wimpern, aschblondes, hoch getürmtes Haar und trug ein wertvolles Diadem. Ohne Zweifel war das Frau Moses, und ohne Zweifel war sie an dieser simplen Gasthoftafel einfach fehl am Platze. Solche Frauen hatte ich früher nur in Illustrierten der großen Welt und vielleicht in Superfilmschinken gesehen.
Der Wirt bog um den Tisch und kam mit einem Tablett in der Hand auf mich zu. In einem geschliffenen Kristallglas auf dem Tablett schimmerte unheimlich blau ein Likör.
»Die Feuertaufe!«, erklärte der Wirt und trat näher. »Nehmen Sie sich eine etwas schärfere Vorspeise.«
Gehorsam lud ich Oliven und Kaviar auf meinen Teller. Dann schaute ich den Wirt an und legte ein Pikul hinzu, eine kleine saure Gurke. Dann schaute ich den Likör an und drückte eine halbe Zitrone über dem Kaviar aus. Alle sahen mir zu. Ich nahm das Glas, stieß die Luft aus (noch ein paar muffige Arbeitszimmer und Korridore) und schüttete mir den Likör in den Mund. Ich fuhr zusammen. Alle schauten auf mich, deshalb fuhr ich nur in Gedanken zusammen und biss die halbe Gurke ab. Der Wirt räusperte sich. Simonet räusperte sich gleichfalls. Frau Moses verkündete mit kristallklarer Stimme: »Oh! Ein richtiger Mann!«
Ich lächelte und schob die andere halbe Gurke in den Mund, schmerzlich bedauernd, dass sie nicht so groß wie eine Melone war. »Klasse!«, bemerkte das Kind laut.
»Frau Moses«, sagte der Wirt, »darf ich Ihnen Inspektor Glebski vorstellen?«
Der aschblonde Turm am Tischende nickte kaum merklich, die wundervollen Wimpern hoben und senkten sich.
»Herr Glebski!«, sagte der Wirt. »Frau Moses.«
Ich verbeugte mich. Am liebsten hätte ich mich zusammengekrümmt, so brannte es in meinem Bauch, doch Frau Moses lächelte, und gleich wurde mir wohler. Ich wandte mich bescheiden ab, verputzte den Imbiss und ging mir Suppe holen. Der Wirt platzierte mich gegenüber von du Barnstocre, sodass sich rechts von mir, leider zu weit entfernt, Frau Moses befand, links von mir, leider zu nahe, der trübsinnige Spaßvogel Simonet, immer drauf und dran, in sein unheimliches Gelächter auszubrechen.
Der Wirt lenkte die Unterhaltung bei Tisch. Man sprach von Rätselhaftem und Unerforschtem, genauer gesagt darüber, dass im Hotel in den letzten Tagen seltsame Dinge vorgefallen waren. Ich als Neuling wurde in die Details eingeweiht. Du Barnstocre bestätigte, dass vor zwei Tagen tatsächlich seine Hausschuhe verschwunden waren, die er erst am Abend im Museumszimmer wiederfand. Simonet erklärte wiehernd, jemand lese seine Bücher, überwiegend Fachliteratur, und mache am Rande Anmerkungen, überwiegend völlig sinnlose. Der Wirt berichtete außer sich vor Vergnügen über den gestrigen Vorfall mit der rauchenden Pfeife und der Zeitung und setzte hinzu, nächtens streiche zweifellos jemand durchs Haus. Er habe das mit eigenen Ohren gehört und einmal sogar eine weiße Gestalt gesehen, die von der Eingangstür durch die Diele zur Treppe huschte. Frau Moses bestätigte diese Mitteilungen ohne die geringsten Vorbehalte und erzählte, erst gestern Nacht habe jemand in ihr Fenster geschaut. Auch du Barnstocre bekräftigte, dass da jemand umhergehe, er persönlich glaube jedoch, das sei die gute Kaisa, jedenfalls habe er diesen Eindruck. Der Wirt erklärte das für ganz ausgeschlossen, und Simon Simonet prahlte, er schlafe nachts wie ein Toter, habe nichts dergleichen gehört, doch habe er schon zweimal bemerkt, dass seine Skistiefel ständig nass blieben, als ob jemand nachts in ihnen durch den Schnee liefe. Ich machte mich insgeheim lustig und erzählte den Fall mit dem Aschenbecher und dem Bernhardiner, das Kind aber gab den Anwesenden heiser zur Kenntnis, im allgemeinen habe es gegen Scherze und Kindereien nichts einzuwenden, es sei an Gaukeleien gewöhnt, könne es jedoch partout nicht ausstehen, wenn sich Fremde auf seinem Bett herumwälzten. Dabei fixierte es mich wütend mit seinen Okularen, und ich war froh, keinen Tag früher angekommen zu sein.
Der Herr Physiker bereitete der Atmosphäre wohliger Unheimlichkeit, die bei Tisch herrschte, ein Ende. »Kommt eines Tages ein Stabskapitän in eine unbekannte Stadt«, erklärte er. »Er steigt in einem Gasthaus ab und befiehlt, den Wirt zu rufen …« Er verstummte plötzlich und schaute um sich. »Pardon«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich in Gegenwart von Damen« – er deutete eine Verbeugung zu Frau Moses hin an – »sowie von Jung… äh, von Jugendlichen« – er schaute auf das Kind – »äh …«
»Ein blöder Witz«, sagte das Kind geringschätzig. »Alles ganz schön und gut, lässt sich nur nicht halbieren. Stimmt’s?«
»Genau!«, rief Simonet und lachte dröhnend.
»Lässt sich halbieren?«, fragte Frau Moses leutselig.
»Nicht halbieren«, berichtigte das Kind unwillig.
»Ach, nicht halbieren?«, fragte Frau Moses erstaunt. »Was lässt sich nicht halbieren?«
Das Kind wollte den Mund öffnen, doch du Barnstocre machte eine kaum sichtbare Bewegung, und der Mund war von einem großen roten Apfel verschlossen, in den es sogleich krachend biss.
»Schließlich geschehen nicht nur in unserem Hotel erstaunliche Dinge«, sagte du Barnstocre. »Ich möchte nur an die berühmten unidentifizierten Flugobjekte erinnern.«
Das Kind schob polternd den Stuhl zurück, stand auf und trollte sich zum Ausgang, immer noch den Apfel malmend. Weiß der Kuckuck! Da sah man auf einmal in dieser stattlichen Figur ein schönes junges Mädchen. Doch kaum war man weich geworden, und das Mädchen verschwand, stattdessen erschien unanständigerweise ein schlampiger, dreister Halbwüchsiger – von der Sorte, die am Strand Flöhe züchtet und sich in öffentlichen Toiletten mit Drogen vollpumpt. Ich überlegte fortwährend, wen ich wohl fragen könnte, ob das, zum Teufel, ein Junge sei oder ein Mädchen, doch du Barnstocre plapperte weiter: »Giordano Bruno wurde nicht umsonst verbrannt, Herrschaften. Ohne Zweifel bewohnen wir den Kosmos nicht allein. Das Problem besteht nur darin, wie dicht die Intelligenz im Weltall verteilt ist. Nach Einschätzung verschiedener Wissenschaftler – Herr Simonet wird mich berichtigen, falls ich mich irre – kann es allein in unserer Galaxis bis zu einer Million bewohnter Sonnensysteme geben. Wäre ich Mathematiker, Herrschaften, so würde ich aufgrund dieser Daten versuchen, wenigstens die Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, dass unsere Erde Gegenstand wissenschaftlichen Interesses von irgendeiner Seite ist.«
Du Barnstocre zu fragen geht nicht, überlegte ich. Außerdem weiß er es wohl selber nicht genau. Woher sollte er? Das Kind, das Kind … Dem freundlichen Wirt ist es vermutlich schnuppe. Kaisa ist dumm. Simonet fragen hieße einen weiteren Orkan jenseitiger Fröhlichkeit heraufbeschwören. Außerdem, was will ich eigentlich? Was geht mich das an? Ob ich mir noch Braten nehme? … Kaisa ist zweifellos dumm, aber vom Kochen versteht sie zweifellos etwas …
»Sie müssen zugeben«, plätscherte du Barnstocre munter fort, »der Gedanke, dass fremde Augen unseren alten Planeten aufmerksam und konzentriert durch die Weiten des Kosmos studieren …«
»Ich hab’s überschlagen«, sagte Simonet. »Wenn sie bewohnte Systeme von unbewohnten unterscheiden können und nur die bewohnten beobachten, so ergibt das eins minus e hoch minus eins.«
»Sollte es wirklich so sein?«, entsetzte sich Frau Moses verhalten, wobei sie Simonet ein begeistertes Lächeln schenkte.
Simonet lachte bellend wie ein Hofhund. Er schaukelte sogar auf seinem Stuhl hin und her, seine Augen wurden feucht.
»Wie viel wäre das, in Zahlen ausgedrückt?«, erkundigte sich du Barnstocre, als die akustische Lawine vorübergedonnert war.
»Annähernd zwei Drittel«, antwortete Simonet und wischte sich die Augen.
»Aber das ist doch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit!«, sagte du Barnstocre leidenschaftlich. »Ich verstehe das so, dass wir fast mit Sicherheit Beobachtungsobjekt sind!«
Da krachte und klirrte die Tür zum Speisesaal hinter mir, als habe jemand mit der Schulter kräftig dagegen gestoßen.
»Nach außen!«, rief der Wirt. »Nach außen bitte!«
Ich schaute mich um, und im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Auf der Schwelle erschien eine erstaunliche Gestalt. Ein massiger, älterer Mann mit einem ausgesprochenen Bulldoggengesicht, in ein albernes lachsfarbenes Gewand gehüllt, das einem mittelalterlichen Wams glich. Eine Hand hielt er auf dem Rücken, die andere umschloss einen hohen Metallbecher.
»Olga!«, brüllte er und starrte mit trübem Blick geradeaus. »Suppe!«