Gesammelte Werke 2 - Arkadi Strugatzki - E-Book

Gesammelte Werke 2 E-Book

Arkadi Strugatzki

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Beschreibung

Drei Romane in einem Band!

Arkadi und Boris Strugatzkis Romane sind nicht nur Parabeln über die Stellung des Menschen im Universum, sondern auch schonungslose Abrechnungen mit Ideologiegläubigkeit und Personenkult. In der UdSSR durften zahlreiche ihrer Texte nicht erscheinen. Der zweite Band der Werkausgabe enthält die Romane "Picknick am Wegesrand", verfilmt von Andrej Tarkowski als "Stalker", "Das Experiment" und "Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang".

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Seitenzahl: 1231

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Titel der Originalausgaben Пикник на обочине За миллиард лет до конца света Град обреченный Deutsche Übersetzung von Aljonna Möckel (Picknick am Wegesrand), Welta Ehlert (Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang) und Reinhard Fischer (Das Experiment) Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon Nachdichtungen von Gundula Sell und Erik Simon Deutsche Übersetzung des Kommentars von Boris Strugatzki: Erik Simon Textbearbeitung und Redaktion: Anna Doris Schüller
Copyright © 1972, 1976/77, 1988/89 by Arkadi und Boris Strugatzki
Copyright © 2010 des Kommentars by Boris Strugatzki Copyright © 2010 des Nachworts by Karlheinz Steinmüller Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-05151-8V002 V002
www.heyne.de
Inhaltsverzeichnis
 
PICKNICK AM WEGESRAND
AUSZÜGE AUS EINEM INTERVIEW, DAS DER SONDERKORRESPONDENT VON RADIO HARMONT MIT ...
RODERIC SCHUCHART, 23 JAHRE, UNVERHEIRATET, LABORANT IN DER HARMONTER FILIALE ...
RODERIC SCHUCHART, 28 JAHRE, VERHEIRATET, OHNE FESTE ANSTELLUNG
RICHARD H. NUNNAN, VERTRETER EINER ELEKTRONIKFIRMA AM HARMONTER INSTITUT FÜR ...
RODERIC SCHUCHART, 31 JAHRE
 
EINE MILLIARDE JAHRE VOR DEM WELTUNTERGANG – Eine unter seltsamen Umständen ...
ERSTER TEIL
1
2
ZWEITER TEIL
3
4
DRITTER TEIL
5
6
VIERTER TEIL
7
8
9
FÜNFTER TEIL
10
11
12
SECHSTER TEIL
13
SIEBTER TEIL
14
ACHTER TEIL
15
16
17
NEUNTER TEIL
18
19
ZEHNTER TEIL
20
ELFTER TEIL
21
 
DAS EXPERIMENT
ERSTER TEIL – Müllfahrer
1
2
3
4
ZWEITER TEIL – Ermittler
1
2
3
4
DRITTER TEIL – Redakteur
1
2
3
VIERTER TEIL – Präsidialrat
1
2
3
FÜNFTER TEIL – Bruch der Kontinuität
1
2
3
4
SECHSTER TEIL – Ausgang
 
ANHANG
Anmerkungen
Die wichtigsten Werke der Brüder Strugatzki
Arkadi und Boris Strugatzki
 
Werkausgabe – Zweiter Band
 
Herausgegeben von Sascha Mamczak und Erik Simon
PICKNICK AM WEGESRAND
Das Gute … Man muss es aus dem Schlechten machen. Weil es nichts anderes gibt, aus dem man es machen könnte.
 
Robert Penn Warren
AUSZÜGE AUS EINEM INTERVIEW, DAS DER SONDERKORRESPONDENT VON RADIO HARMONT MIT DR. VALENTIN PILLMAN ANLÄSSLICH DESSEN AUSZEICHNUNG MIT DEM NOBELPREIS FÜR PHYSIK IM JAHRE 19.. FÜHRTE
»Doktor Pillman, als Ihre erste bedeutsame Entdeckung kann sicher der sogenannte Pillman-Radiant gelten, nicht wahr?«
»Nein, das glaube ich nicht. Der Pillman-Radiant ist weder die erste noch eine bedeutsame noch überhaupt eine richtige Entdeckung gewesen. Zudem auch nicht ganz die meine.«
»Das ist gewiss ein Scherz, Herr Doktor. Der Pillman-Radiant ist ein Begriff, der heute jedem Schüler geläufig ist!«
»Das wundert mich nicht. Schließlich war es ein Schüler, der den Radianten entdeckt hat. Leider kann ich mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Aber schlagen Sie in Statsons ›Geschichte des Besuchs‹ nach – dort ist alles ausführlich beschrieben. Entdeckt wurde der Radiant von einem Schüler, veröffentlicht wurden die Koordinaten von einem Studenten, nur benannt wurde er sonderbarerweise nach mir.«
»Nun ja, es ist wahr … Mit Entdeckungen geschehen mitunter die seltsamsten Dinge. Könnten Sie, Doktor Pillman, unseren Hörern vielleicht dennoch erklären …«
»Natürlich. Der Pillman-Radiant ist etwas ganz Simples: Stellen Sie sich vor, Sie brächten einen großen Globus zum Drehen und feuerten aus einem Revolver Schüsse auf ihn ab. Die Löcher auf dem Globus werden dann eine Art fließende Kurve bilden. Der Pillman-Radiant, den Sie als meine erste bedeutende Entdeckung bezeichnen, ist durch diesen einfachen Vergleich erklärbar: Alle sechs Besuchszonen auf unserem Planeten sind nämlich genauso angeordnet, als hätte jemand sechs Pistolenschüsse auf die Erde abgegeben, und zwar von einem beliebigen Standort auf der Linie Erde-Deneb. Der Deneb ist der Hauptstern des Sternbildes Schwan. Und den Punkt am Firmament, von dem aus ›geschossen‹ wurde, bezeichnet man als Pillman-Radianten.«
»Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Liebe Harmonter! Endlich haben wir knapp und verständlich erklärt bekommen, was es mit dem Pillman-Radianten auf sich hat. Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern, dass vorgestern vor dreizehn Jahren der Besuch stattgefunden hat. Dürfte ich Sie bitten, Doktor Pillman, Ihren Landsleuten ein paar Worte zu diesem Ereignis zu sagen?«
»In welcher Hinsicht? Sie müssen bedenken, dass ich damals nicht in Harmont war …«
»Umso interessanter wäre es zu erfahren, welche Gedanken Sie bewegten, als Sie erfuhren, dass sich in Ihrer Heimatstadt eine Invasion einer außerirdischen Superzivilisation ereignet hatte …«
»Ehrlich gesagt, hielt ich die Meldung zunächst für eine Ente. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass in unserem kleinen, alten Harmont etwas Derartiges passieren könnte. Ostsibirien, Uganda, der Südatlantik – das ging noch an, aber Harmont …«
»Schließlich mussten Sie es aber glauben.«
»Ja, das musste ich.«
»Und was geschah weiter?«
»Ich stellte überrascht fest, dass Harmont und die übrigen fünf Besuchszonen – pardon, zu diesem Zeitpunkt waren erst vier bekannt -, dass diese Besuchszonen eine sehr gleichmäßige Kurve bildeten. Ich errechnete die Koordinaten des Radianten und schickte sie an Nature.«
»Und das Schicksal Ihrer Heimatstadt hat Sie nicht beunruhigt?«
»Sehen Sie, obwohl ich inzwischen wusste, dass der Besuch stattgefunden hatte, konnte ich den von Panik erfüllten Berichten einfach nicht glauben – zu sensationell wurde da über brennende Stadtviertel berichtet, über Ungeheuer, die sich Kinder und alte Leute zum Fraß aussuchten, über blutige Kämpfe zwischen den unverwundbaren Gästen aus dem All und den sehr verwundbaren königlichen Panzereinheiten, die sich aber dennoch wacker schlugen …«
»Und Sie haben Recht behalten. Denn unsere Kollegen haben damals eine Menge durcheinandergebracht … Aber zurück zur Wissenschaft. Die Entdeckung des Pillman-Radianten war Ihr erster, doch gewiss nicht Ihr letzter Beitrag zur Erforschung des Besuchs?«
»Mein erster und letzter.«
»Zweifelsohne aber haben Sie seither die internationalen Forschungen in den Besuchszonen aufmerksam verfolgt?«
»Nun ja. Hin und wieder überfliege ich die ›Mitteilungen‹.«
»Sie sprechen von den ›Mitteilungen des Internationalen Instituts für Außerirdische Kulturen‹?«
»So ist es.«
»Und was war Ihrer Meinung nach in diesen dreizehn Jahren die wichtigste Entdeckung?«
»Die Tatsache des Besuchs selbst.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Die Tatsache, dass ein Besuch stattgefunden hat, ist für uns die bedeutendste Entdeckung nicht nur der vergangenen dreizehn Jahre, sondern der Menschheitsgeschichte überhaupt. Es ist gar nicht so wichtig, was das für Wesen waren, woher sie kamen und warum. Vergleichsweise unwichtig ist auch, weshalb sie sich nur so kurze Zeit bei uns aufhielten und wohin sie verschwanden. Wichtig dagegen ist: Die Menschheit weiß jetzt ganz sicher, dass sie nicht allein im Universum ist. Ich fürchte, es wird dem Internationalen Institut für Außerirdische Kulturen nicht vergönnt sein, noch eine bedeutendere Entdeckung zu machen.«
»Das ist ungeheuer interessant, Doktor Pillman, doch zielte meine Frage mehr auf Entdeckungen technischer Natur. Auf Entdeckungen, die unserer irdischen Wissenschaft und Technik zugutekommen. Viele angesehene Gelehrte sind der Meinung, die in den Besuchszonen gemachten Funde könnten den Lauf der gesamten Geschichte verändern.«
»Nun, ich gehöre nicht zu den Anhängern dieser Theorie. In Bezug auf die Funde bin ich allerdings kein Spezialist.«
»Aber Sie sind seit zwei Jahren Berater der UNO-Kommission für Fragen des Besuchs …«
»Das stimmt, aber mit der Erforschung außerirdischer Kulturen habe ich nichts zu tun. In der von Ihnen erwähnten Kommission vertrete ich gemeinsam mit anderen Kollegen die internationale wissenschaftliche Öffentlichkeit, wenn es darum geht, die Umsetzung des UNO-Beschlusses zur Internationalisierung der Besuchszonen zu kontrollieren. Vereinfacht gesagt: Wir wachen darüber, dass außer dem Internationalen Institut niemand über die außerirdischen Wunderdinge verfügt, die in den Zonen zutage gefördert werden.«
»Gibt es denn jemand anderen, der diese Dinge für sich in Anspruch nehmen will?«
»Ja.«
»Sie sprechen von den ›Stalkern‹?«
»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.«
»So nennen wir in Harmont die Abenteurer und Hasardeure, die auf eigenes Risiko in die Zone eindringen und alles herausschleppen, was sie dort finden. Direkt ein neuer Beruf ist das!«
»Aha, verstehe. Nein, das liegt außerhalb unserer Kompetenzen.«
»Natürlich! Mit dieser Angelegenheit befasst sich die Polizei. Aber wir würden gerne erfahren, Doktor Pillman, was genau in Ihren Kompetenzbereich fällt?«
»Aus den Besuchszonen verschwinden immerzu wichtige Materialien, die in die Hände gewissenloser Personen und Organisationen geraten. Wir befassen uns mit den daraus entstehenden Folgen.«
»Könnten Sie das ein wenig genauer erklären, Herr Doktor?«
»Lassen Sie uns lieber über die Kunst sprechen. Oder sollte die Hörer nicht interessieren, wie sehr ich die unnachahmliche Gwady Miller bewundere?«
»Doch, natürlich! Allerdings möchte ich Sie, um den wissenschaftlichen Teil unseres Gesprächs abzuschließen, noch fragen, ob es Sie als Wissenschaftler nicht reizt, sich selbst mit den außerirdischen Wunderdingen zu befassen?«
»Ja, was soll ich da sagen … gewiss.«
»Dann können die Einwohner von Harmont also hoffen, eines schönen Tages auf heimischen Straßen ihrem berühmten Landsmann wiederzubegegnen?«
»Das ist nicht ausgeschlossen.«
RODERIC SCHUCHART, 23 JAHRE, UNVERHEIRATET, LABORANT IN DER HARMONTER FILIALE DES INTERNATIONALEN INSTITUTS FÜR AUSSERIRDISCHE KULTUREN
Am Abend davor … Da standen wir noch zusammen im Depot. Es war kurz vor Dienstschluss. Wir brauchten eigentlich nur noch unsere Schutzanzüge auszuziehen, schon hätten wir losziehen können. Ins »Borsch«. Um zu trinken. Schnaps, egal, irgendetwas Hartes … Ich stand einfach da und tat nichts. Hielt die Wand fest. Mit der Arbeit war ich fertig, die Zigarette hielt ich schon in der Hand. Ich wollte mir endlich eine anzünden, zwei Stunden hatte ich keine geraucht. Aber Kirill konnte sich einfach nicht von seinen Schätzen trennen. Einen Safe hatte er schon vollgestopft, ihn verschlossen und versiegelt. Jetzt war er beim zweiten. Er nahm die »Nullen« vom Förderband, schaute sich jede von ihnen ausgiebig und von allen Seiten an (dabei ist so eine »Null« wahnsinnig schwer, sie wiegt fast sechseinhalb Kilo), bevor er sie ächzend, aber sehr sorgfältig im Regal ablegte.
Großer Gott, wie lange sich Kirill schon mit diesen »Nullen« herumschlug – und das meiner Meinung nach ohne jeden Nutzen für die Menschheit. Ich an seiner Stelle hätte es längst aufgegeben und mich für das viele Geld mit etwas anderem beschäftigt. Obwohl diese »Nullen« wirklich sehr merkwürdig sind. Wie viele hatte ich davon schon auf dem Buckel rausgeschleppt und war trotzdem jedes Mal aufs Neue verblüfft, wenn ich eine zu Gesicht bekam. Eine »Null« besteht im Grunde nur aus zwei Kupferscheiben – so groß wie eine Untertasse und ungefähr fünf Millimeter dick. Der Abstand zwischen den beiden Scheiben beträgt etwa vierzig Zentimeter. Außer diesem Abstand aber gibt es nichts dazwischen, absolut nichts – nur Leere. Man kann die Hand in den Zwischenraum stecken, ja, sogar den Kopf, wenn man unbedingt will, aber da ist nichts als Luft. Und doch muss es etwas zwischen den Scheiben geben, irgendeine geheimnisvolle Kraft. Denn soweit ich weiß, ist es bisher noch niemandem gelungen, sie zusammenzudrücken oder auseinanderzuziehen.
Wirklich, es ist verdammt schwer, jemandem eine »Null« zu beschreiben, wenn er noch nie eine gesehen hat. Sie sieht ja eigentlich nach nichts aus, besonders, wenn man sich an ihren Anblick gewöhnt hat. Es ist genauso, als müsste man einen Becher beschreiben oder, sagen wir, ein Schnapsglas – Gott bewahre, schon bei den ersten Worten würde ich aufgeben und losfluchen … Aber gut, wir nehmen an, ich hätte mich verständlich ausgedrückt. Wenn es jemand trotzdem nicht verstanden hat, braucht er ja nur die »Mitteilungen« aufzuschlagen und wird in jeder x-beliebigen Ausgabe einen Artikel über die »Nullen« finden, mit Fotos …
Doch zurück zu Kirill. Fast ein Jahr lang schlägt er sich schon mit den »Nullen« herum, und ich, der vom ersten Tag an mit ihm zusammengearbeitet hat, habe bis heute nicht verstanden, worauf er eigentlich hinauswill. Ehrlich gesagt, habe ich auch nicht unbedingt versucht, es zu verstehen. Soll er erst einmal selbst begreifen, worum es ihm geht, dann lasse ich’s mir vielleicht erklären. Im Augenblick weiß ich nur eins: Er wird erst dann zur Ruhe kommen, wenn es ihm gelingt, so eine »Null« auseinanderzunehmen, sie mit Säuren zu bearbeiten, unter der Presse breit zu stampfen oder im Ofen zum Schmelzen zu bringen. Hat er das Geheimnis der »Nullen« gelüftet, wird ihm Ruhm und Ehre zuteil, und die internationale Fachwelt bricht in Entzücken aus. Doch wenn ich’s recht verstehe, ist es bis dahin noch ziemlich weit. Bisher hat er so gut wie nichts erreicht, hat sich im Gegenteil bis zur Erschöpfung verausgabt. Augen hat er wie ein kranker Hund, sie tränen sogar. Ist richtig schwermütig geworden. Wäre er jemand anderer – ich würde ihm eine Flasche Schnaps einflößen und ein Mädchen besorgen, das ihn auf andere Gedanken bringt. Und am nächsten Tag dasselbe noch einmal: Schnaps und Mädchen, ein neues. Nach einer Woche wäre er wie ausgewechselt – ein neuer Mensch! Doch leider ist das keine Medizin für Kirill. Das brauche ich ihm gar nicht erst vorzuschlagen. Es passt nicht zu ihm.
Wir standen also im Lagerraum, und als ich ihn so ansah, fiel mir auf, wie sehr er sich verändert hatte, seine Augen waren eingefallen, und er tat mir plötzlich leid. Da entschloss ich mich. Das heißt, genaugenommen war nicht ich es, der sich da entschloss, sondern ein anderer, der mir die Worte in den Mund legte. »Hör mal, Kirill …«, sagte ich.
Er stand da, die letzte der »Nullen« in der Hand, und mit einem Gesichtsausdruck, als würde er am liebsten in das Ding hineinkriechen.
»Hör mal, Kirill«, wiederholte ich. »Was würdest du sagen, wenn du eine ›volle Null‹ bekämst?«
»Eine ›volle Null‹?«, fragte er und runzelte die Stirn, als redete ich Kauderwelsch.
»Ja … Du weißt schon, diese hydromagnetische Falle … Objekt 77b … Nur, dass da innen noch was Blaues ist.«
Langsam schien er zu verstehen. Er schaute mich blinzelnd an.
»Halt mal«, sagte er, »eine volle? Ein Ding wie das hier, nur voll?«
»Ja.«
»Und wo soll ich die herkriegen?«
Kirill war augenblicklich geheilt und trug den Kopf wieder oben.
»Komm«, sagte ich, »rauchen wir erst mal eine.«
Hastig packte er die »Null« in den Safe, schlug die Tür des Panzerschranks zu und verschloss sie mit dreieinhalb Umdrehungen. Dann gingen wir zurück ins Labor. Für eine leere »Null« zahlt mir Ernest vierhundert bar auf die Hand, für eine volle könnte ich ihm das ganze stinkige Blut aus dem Körper saugen. Doch ob man’s mir glaubt oder nicht: In diesem Augenblick dachte ich nicht ans Geld – so munter war Kirill auf einmal, so gespannt und voller Energie. Er nahm vier Stufen auf einmal; ans Rauchen war gar nicht zu denken. Und dann erzählte ich ihm alles ganz genau: wie das Ding beschaffen war, wo es lag und wie man am besten rankam. Er holte sofort die Karte heraus, suchte die Garage, die ich ihm beschrieben hatte, hielt den Finger drauf und sah mich eine Weile aufmerksam an. Er hatte verstanden, aber das war auch kein Kunststück …
»Junge, Junge!«, sagte er, lächelte mich aber an. »Dann lass uns mal hingehen. Gleich morgen früh. Um neun bestelle ich die Passierscheine und eine ›Galosche‹, um zehn schlagen wir das Kreuz und gehen los. Abgemacht?«
»Abgemacht. Aber wer ist der Dritte?«
»Wieso brauchen wir einen Dritten?«
»Komm«, sagte ich, »das ist kein Picknick mit hübschen Mädchen. Was ist, wenn dir etwas zustößt? Ist immerhin die Zone, da muss Ordnung sein.«
Er setzte ein spöttisches Grinsen auf und zuckte mit den Schultern: »Na schön, wie du willst. Du musst es ja wissen.«
Und ob ich’s wusste! Ich begriff natürlich, dass Kirill mir einen Gefallen tun wollte: Ein dritter Mann war eher störend, zu zweit hätten wir’s auf die Schnelle machen können, und niemand hätte davon Wind gekriegt. Aber ich wusste auch, dass die Leute vom Institut nie zu zweit in die Zone gingen. Sie zogen immer zu dritt los: Zwei erledigten die Arbeit, der Dritte hielt Wache und konnte danach, falls Fragen auftauchten, über alles berichten.
»Ich persönlich würde Austin mitnehmen«, sagte Kirill. »Aber mit dem wirst du nicht einverstanden sein, oder?«
»Nein«, antwortete ich. »Jeden – nur nicht Austin. Den kannst du ein andermal mitnehmen.«
Austin ist gar nicht schlecht – Mut und Furcht stehen bei ihm im richtigen Verhältnis, nur ist er meiner Meinung nach bald dran … Kirill werde ich das nicht erklären können, ich aber sehe es ganz klar: Austin bildet sich ein, die Zone durch und durch zu kennen – und genau das bedeutet, dass er sich bald den Hals brechen wird. Bitte, soll er. Aber ohne mich.
»Also gut«, sagte Kirill. »Und wie sieht’s mit Tender aus?«
Tender war sein zweiter Laborant – ziemlich ruhig, aber sonst in Ordnung.
»Ist nicht mehr der Jüngste«, sagte ich. »Außerdem hat er Kinder.«
»Das macht nichts«, erwiderte Kirill. »Er war schon öfters in der Zone.«
»Einverstanden, von mir aus Tender.«
Kirill blieb noch sitzen, weiterhin über seine Karte gebeugt, und ich machte mich auf den Weg zum »Borsch«; ich hatte schrecklichen Hunger, und meine Kehle war schon ganz ausgetrocknet …
Am nächsten Morgen kam ich wie immer gegen neun zur Arbeit und zeigte dem wachhabenden Sergeanten meinen Passierschein. Es war der Schwede – ein langer Kerl, der sich im vorigen Jahr besoffen an Gutta herangemacht hatte. Gutta war mein Mädchen, und ich hatte ihn mir damals ganz schön vorgeknöpft …
»Morgen, Rotfuchs«, sagte er. »Du wirst schon im ganzen Institut gesucht …«
Hier unterbrach ich ihn höflich: »Für dich bin ich noch lange nicht der Rotfuchs, du Bohnenstange. Kriech jemand anderem in den Hintern.«
»Meine Güte, was ist dir denn über die Leber gelaufen? Alle nennen dich doch so!« Er tat bass erstaunt.
Vor dem Gang in die Zone bin ich stets auf das Äußerste angespannt, sehr reizbar und zu allem Überfluss nüchtern – also packte ich ihn am Schulterriemen und setzte ihm in allen Einzelheiten auseinander, was für ein mieser Typ und Hurensohn er sei. Er spie verächtlich aus, gab mir meinen Passierschein zurück und sagte sehr förmlich: »Roderic Schuchart, Sie sollen sich unverzüglich beim Sicherheitsbevollmächtigten Hauptmann Herzog melden.«
»Na siehst du«, erwiderte ich, »das ist schon was ganz anderes. Wenn du dich anstrengst, Sergeant, bringst du’s bald zum Leutnant.«
In Wirklichkeit aber beschäftigte mich die Frage, was das Ganze zu bedeuten hatte. Wieso rief mich der Hauptmann während der Arbeitszeit zu sich? Abwarten, sagte ich mir, abwarten. Erst einmal hingehen. Sein Zimmer befand sich im dritten Stock, kein schlechtes Zimmer, sogar mit Gittern vor dem Fenster, wie bei der Polizei. Willi saß am Tisch vor der Schreibmaschine, zog genüsslich an seiner Pfeife und las dabei irgendeinen Wisch. In der Ecke machte sich ein Bubi von Sergeant am Panzerschrank zu schaffen. Der war sicher neu, ich kannte ihn jedenfalls nicht. Von diesen Jungs gab es im Institut mehr als in einer Division, alle wie Milch und Blut, mit rundem Gesicht und dicken Backen – man merkte gleich, dass sie nie in die Zone mussten und auf die Probleme in der Welt pfiffen.
»Guten Tag«, sagte ich. »Sie haben mich rufen lassen?«
Willi sah mich an, als wäre ich Luft, schob die Schreibmaschine beiseite, legte einen dicken Hefter vor sich und begann darin zu blättern.
»Sie sind Roderic Schuchart?«, fragte er.
»Jawohl«, antwortete ich. Das Ganze kam mir lächerlich vor. Ich hielt es kaum aus und wurde innerlich von einem nervösen Kichern geschüttelt.
»Wie lange arbeiten Sie schon im Institut?«
»Das dritte Jahr.«
»Familienstand?«
»Ich lebe allein«, sagte ich. »Bin Waise.«
Er wandte sich an den Milchbart und befahl barsch: »Sergeant Lummer, gehen Sie ins Archiv, und bringen Sie mir die Akte einhundertfünfzig.«
Der Milchbart salutierte und verschwand. Willi klappte den Hefter zu und fragte mich finster: »Fängst du wieder mit den alten Sachen an?«
»Mit was für alten Sachen?«
»Du weißt sehr gut, wovon ich spreche. Ich habe diesbezügliche Informationen auf dem Tisch.«
Ich überlegte.
»Von wem stammen die Informationen?«, fragte ich.
Er zog die Brauen zusammen und begann, ärgerlich mit seiner Pfeife gegen den Aschenbecher zu klopfen.
»Das geht dich nichts an«, antwortete er. »Aber ich möchte dich aus alter Freundschaft warnen: Lass die Finger davon, und zwar für immer. Wenn sie dich ein zweites Mal schnappen, kommst du nicht mehr mit sechs Monaten davon. Außerdem wird man dich augenblicklich und unwiderruflich entlassen. Ist dir das klar?«
»Natürlich«, sagte ich. »Und ob mir das klar ist. Nur eins verstehe ich nicht: welches Schwein mich verpfiffen hat …«
Doch er sah mich schon wieder mit ausdruckslosen Augen an, lutschte an seiner leeren Pfeife und blätterte gedankenlos in dem Hefter. Das hieß, dass Sergeant Lummer mit Akte einhundertfünfzig zurückgekehrt war.
»Danke, Schuchart«, sagte Hauptmann Willi Herzog mit Spitznamen Eber. »Das war’s, was ich klären wollte. Sie können gehen.«
Ich ging zur Garderobe, streifte den Schutzanzug über und steckte mir eine Zigarette an. Meine Gedanken drehten sich im Kreis: Woher wehte diesmal der Wind? Vom Institut kann das unmöglich kommen, dachte ich, hier weiß niemand auch nur das Geringste von mir – und kann nichts wissen. Wenn aber das Schreiben von der Polizei gekommen ist, bleibt es ebenso unklar – denn auch die Polizei weiß nichts Neues über mich, sie kennt nur die alten Geschichten. Ob sie Aasgeier gefasst haben? Dieser Schweinehund ist imstande, jeden ans Messer zu liefern, nur um heil aus dem Schlamassel rauszukommen. Aber auch Aasgeier weiß zurzeit so gut wie nichts über mich. Ich grübelte und grübelte, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Deshalb beschloss ich, nicht weiter darüber nachzudenken. Es lag bereits drei Monate zurück, dass ich das letzte Mal nachts in der Zone gewesen war; die Beute hatte ich fast abgesetzt, und das Geld war auch verjubelt. Ach was, ich war gerieben genug. Hatten sie mich damals nicht in flagranti erwischt, würden sie mich heute noch viel weniger kriegen.
Aber in dem Moment – ich stieg schon die Treppe hinauf – fiel mir siedend heiß etwas ein. Und der Schreck war so groß, dass ich auf dem Absatz kehrtmachte und zurück in die Garderobe marschierte, mich hinsetzte und mir noch eine Zigarette ansteckte. Ich konnte heute unmöglich in die Zone. Genauso wenig morgen oder übermorgen. Denn diese Schweine hatten mich ja wieder mal im Visier. Sie hatten mich nicht vergessen – und wenn, dann hatte sie jemand auf meine Spur gehetzt. Wer, das war im Augenblick egal. Aber kein Stalker, der nicht total übergeschnappt war, würde sich der Zone auch nur auf Schussweite nähern, wenn er wüsste, dass er überwacht wird. Deshalb musste ich mich jetzt in die dunkelste Ecke verkriechen. Was denn für eine Zone? Ich bin schon seit Monaten nicht mehr dort gewesen, nicht mal mit Passierschein. Was wollt ihr eigentlich immerzu von einem unbescholtenen Laboranten?
Das alles ging mir durch den Kopf, und am Ende war ich sogar erleichtert bei dem Gedanken, heute nicht in die Zone zu müssen. Das Problem war nur, wie ich das Kirill beibringen sollte …
Ich sagte es ihm ohne Umschweife.
»Ich gehe heute nicht in die Zone. Was für Arbeiten fallen sonst an?«
Im ersten Augenblick sah er mich überrascht an, aber dann schien er zu verstehen: Er fasste mich am Ellbogen, schob mich in sein Arbeitszimmer, drückte mich auf einen Stuhl und setzte sich aufs Fensterbrett. Wir rauchten und schwiegen. Dann fragte er vorsichtig: »Ist was passiert, Red?«
Was sollte ich darauf antworten?
»Nein«, sagte ich. »Nichts ist passiert. Ich habe gestern beim Pokern zwanzig Scheine verloren – Nunnan, dieser Gauner, versteht sich aufs Spielen …«
»Moment«, unterbrach mich Kirill, »du hast es dir doch nicht etwa anders überlegt?«
Ich stöhnte fast vor Anspannung. »Ich kann nicht«, presste ich durch die Zähne: »Es geht nicht, verstehst du? Eben hat mich Herzog zu sich rufen lassen.«
Kirill fiel förmlich in sich zusammen. Er wirkte wieder sehr unglücklich, und seine Augen sahen aus wie die eines kranken Pudels. Er rang nach Luft, steckte sich an der alten Zigarette eine neue an und sagte leise: »Du kannst mir glauben, Red, ich habe niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen gesagt.«
»Schon gut«, erwiderte ich. »Von dir ist auch gar nicht die Rede.«
»Nicht einmal Tender gegenüber habe ich bisher eine Andeutung gemacht. Ich habe zwar den Passierschein für ihn beantragt, ihn aber noch nicht gefragt, ob er einverstanden ist.«
Ich rauchte und schwieg. Er begriff es einfach nicht.
»Was wollte Herzog eigentlich von dir?«
»Nichts Besonderes. Jemand hat mich verpfiffen, das ist alles.«
Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu, sprang vom Fensterbrett und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. Ich saß da, rauchte und schwieg. Kirill tat mir leid, und ich war wütend, dass es sich so idiotisch gefügt hatte – das hieß nun, einen Menschen von seiner Schwermut heilen … Dabei war ich selbst schuld. Hatte das Kind mit dem Lebkuchen gelockt, der sich unter Verschluss befand und von bösen Onkeln bewacht wurde … Plötzlich hielt Kirill inne, blieb vor mir stehen und fragte verlegen und mit abgewandtem Blick: »Hör mal, Red, wie viel würde denn so eine ›volle Null‹ kosten?«
Ich begriff nicht gleich, was er meinte. Vielleicht hatte er die Illusion, sie irgendwo kaufen zu können. Doch wo, zum Teufel, hätte er eine »volle Null« herbekommen sollen? Sie war möglicherweise die Einzige ihrer Art. Er hätte auch nie und nimmer das nötige Geld dafür aufgebracht – und dann, wie hätte er den Kauf bewerkstelligen wollen? Er, ein ausländischer Spezialist, noch dazu ein russischer! Doch plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Was fiel dem Schurken ein? Glaubte er vielleicht, es ginge mir ums Geld? So ein Dreckskerl, für wen hielt er mich eigentlich! Ich wollte schon den Mund aufmachen, um ihm die Meinung zu sagen – da stockte ich. In der Tat, für wen sollte er mich halten … Ich bin Stalker, und die sind dafür bekannt, dass es ihnen nur ums Geld geht – je mehr, desto besser. Für die grünen Scheine setzen sie ihr Leben aufs Spiel. Da musste ja der Eindruck entstehen, dass ich gestern gewissermaßen den Köder ausgeworfen hatte und nun feilschte, um den Preis in die Höhe zu treiben.
Es hatte mir die Sprache verschlagen. Kirill aber sah mich unverwandt an, und in seinem Blick lag nicht etwa Verachtung, sondern im Gegenteil so etwas wie Verständnis. Da erklärte ich ihm, wie sich die Sache verhielt.
»Zur Garage«, sagte ich, »ist bisher niemand mit Passierschein vorgedrungen, der Weg dorthin ist noch gar nicht gebahnt, das weißt du selbst. Jetzt stell dir vor, wir kommen zurück, und Tender beginnt damit zu prahlen, dass wir dorthin vorgeprescht sind und geschnappt haben, was wir brauchten, um dann seelenruhig zurückzukehren. Als wäre es ein Gang zum Lager. Da weiß doch jeder, dass wir wegen etwas ganz Bestimmtem unterwegs waren. Das wiederum bedeutet, jemand von uns hat Bescheid gewusst. Und wer ist dieser Jemand? Auf wen fällt der Verdacht? Begreifst du, wie ich dastünde?«
Als ich mit meiner Rede zu Ende war, sahen wir uns schweigend an. Dann schnippte Kirill plötzlich mit den Fingern, rieb sich die Hände und erklärte forsch: »In Ordnung, Red, wenn’s nicht geht, dann geht’s nicht. Ich verstehe dich und nehme es dir nicht übel. Ich werde allein gehen. Es wird schon klappen, schließlich ist es nicht das erste Mal …«
Er breitete die Karte auf dem Fensterbrett aus und stützte sich mit den Armen darauf. Doch je länger er sie studierte, desto mehr verflüchtigte sich seine Forschheit. Ich hörte ihn murmeln: »Hundertzwanzig Meter … hundertzweiundzwanzig sogar … Und wer weiß, was die Garage an Überraschungen bereithält … Nein, ich werde Tender nicht mitnehmen. Was meinst du, Red, sollte ich Tender nicht lieber hierlassen? Immerhin hat er zwei Kinder …«
»Allein werden sie dich nie und nimmer rauslassen«, sagte ich.
»Ach was, das geht schon klar«, murmelte er. »Ich stehe gut mit den Sergeanten, auch mit den Leutnants … Das Einzige, was mir nicht gefällt, sind diese Lastwagen. Dreizehn Jahre stehen sie da schon unter freiem Himmel und sehen aus, als wären sie nagelneu … Der Tankwagen zwanzig Schritt weiter ist völlig verrostet, die Lastwagen aber stehen da, als kämen sie gerade vom Fließband … Ach, diese verdammte Zone!«
Er sah von der Karte auf und warf einen Blick nach draußen. Ich tat es ihm nach. Das Glas in unseren Fenstern war dick, Bleiglas, und gleich dahinter befand sich die Zone – in greifbarer Nähe. Vom dreizehnten Stock aus lag sie wie auf dem Präsentierteller vor uns ausgebreitet.
Wenn man die Zone so anschaute, unterschied sie sich in nichts von anderem Gelände. Die Sonne leuchtete hier genau wie anderswo, und nichts schien sich in den vergangenen dreizehn Jahren verändert zu haben. Mein Vater, würde er noch leben, hätte gewiss nichts Außergewöhnliches bemerkt. Das Einzige, was ihn vielleicht verwundert hätte, wäre die Fabrik gewesen, deren Schlote nicht mehr qualmten. Was ist los, hätte er gefragt, streiken die? … Ringsumher sah man kegelförmig aufgehäuftes gelbes Gestein und die Winderhitzer der Hochöfen, die in der Sonne glitzerten, dann Schienen, so weit das Auge reichte, und auf den Schienen hier und da kleine Güterzüge … Eine typische Industrielandschaft – nur dass die Menschen fehlten, davon gab es weder tote noch lebende. Und dort war auch die Garage: ein langer grauer Schlauch, mit weit geöffnetem Tor, und auf dem asphaltierten Platz davor standen die Lastwagen. Dreizehn Jahre standen sie jetzt schon da, und die Zeit war spurlos an ihnen vorübergegangen. Das mit den Lkw hatte Kirill richtig beobachtet – hatte Grips, der Mann. Die Lastwagen musste man in einem großen Bogen umgehen; wollte man zwischen zweien hindurch, dann … Dort im Asphalt befand sich zudem ein Spalt, hoffentlich war er inzwischen nicht von Gestrüpp überwuchert … Hundertzweiundzwanzig Meter, von wo er die wohl gerechnet hatte? Wahrscheinlich vom äußersten Markierungsstein aus. War auch richtig so, das bedeutete dann die maximale Entfernung. Na, mit der Zeit lernten sie’s ja doch, die Intellektuellen … Und da, sie hatten den Weg bis zu den Steinhügeln ausgekundschaftet, und dazu so geschickt! Da war auch der Graben, in den Schleimer damals gestürzt war, und das nur zwei Meter vom Weg entfernt. Dabei hatte ihm Langnase immerzu eingeschärft: Sieh dich vor diesen Gräben vor, mach einen großen Bogen um sie, sonst finden wir nicht mal mehr einen Knochen von dir, den wir begraben könnten … Mit der Zone war es nämlich so: Kam jemand mit Beute zurück, grenzte das an ein Wunder; kam er einfach heil wieder, war es auch schon viel; hörte er die Kugeln der Patrouille pfeifen, ohne etwas abzukriegen, hatte er Glück gehabt, und alles andere war Schicksal …
Dann blickte ich wieder zu Kirill und sah, dass er mich von der Seite her beobachtete. Er wirkte so niedergeschlagen, dass ich meinen Entschluss sofort wieder zurücknahm. Zum Teufel mit diesen Idioten, dachte ich, was können die mir schon anhaben! Mein Entschluss stand fest. Kirill hätte gar nichts mehr zu sagen brauchen, aber er rief: »Laborant Schuchart, von offizieller Seite – ich wiederhole: von offizieller – bin ich informiert worden, dass eine Untersuchung der Garage von großem Nutzen für die Wissenschaft wäre. Ich biete Ihnen an, die Garage mit mir zu besichtigen, eine Prämie ist Ihnen sicher.« Sagte es und grinste dabei über das ganze Gesicht.
»Was soll denn das für eine offizielle Seite sein?«, fragte ich und grinste genauso breit zurück.
»Das sind vertrauliche Quellen«, erwiderte Kirill, und dann: »Aber Ihnen kann ich’s ja sagen …« Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand, und er schaute auf einmal fast finster drein. »Sagen wir, von Doktor Douglas.«
»Aha«, antwortete ich, »von Doktor Douglas … von was für einem Douglas denn?«
»Von Sam Douglas«, erwiderte Kirill trocken. »Er starb im vorigen Jahr.«
Mir lief es kalt über den Rücken. Junge, Junge, der hatte Nerven! Über solche Dinge zu reden, wenn es gleich darauf in die Zone ging! Die kapierten aber auch gar nichts, diese Intellektuellen. Ich drückte meine Kippe im Aschenbecher aus und sagte: »Also gut. Wo ist jetzt dein Tender, oder müssen wir noch lange auf ihn warten?«
Kein einziges Wort verloren wir mehr über dieses Thema. Während Kirill im Wagenpark eine »fliegende Galosche« bestellte, studierte ich noch einmal die Karte. Sie war gar nicht schlecht; es handelte sich um ein Foto, das aus der Luft aufgenommen und stark vergrößert war. Selbst die Kerben auf dem Garagendach, das neben dem Tor auf dem Boden lag, waren zu erkennen. Wenn wir Stalker so eine Karte zur Orientierung hätten, wären wir fein raus. Obwohl, nachts hilft sie einem auch nicht weiter, wenn man durch den Dreck kriecht und die Hand vor den Augen nicht sieht.
In diesem Augenblick kam, erhitzt vom Laufen, Tender zur Tür herein. Seine kleine Tochter war krank geworden, und er hatte einen Arzt auftreiben müssen; er entschuldigte sich mehrmals wegen der Verspätung. Als wir ihm von dem geplanten Gang in die Zone erzählten, war er entsetzt. »Was heißt in die Zone?«, fragte er. »Und wieso ausgerechnet ich?« Er beruhigte sich jedoch, als er hörte, dass es dafür eine Prämie gab und Red Schuchart mit von der Partie war.
Dann, Kirill hatte inzwischen die Passierscheine beschafft, begaben wir uns in die »Schleuse«. Ein Sergeant überprüfte die Papiere und händigte uns die Spezialanzüge aus. Eine tolle Sache, so ein Anzug. Hätte er statt des auffallenden Rots eine neutralere Farbe, würde ein Stalker ohne mit der Wimper zu zucken fünfhundert dafür zahlen. Schon lange hatte ich mir vorgenommen, bei passender Gelegenheit einen davon mitgehen zu lassen. Auf den ersten Blick war daran nichts Besonderes; er erinnerte an einen Taucheranzug, und auch der Helm, der vorne ein großes Sichtfenster hatte, hätte durchaus für einen Taucher bestimmt sein können. Oder für den Piloten eines Überschallflugzeugs, vielleicht auch für einen Astronauten. Der Anzug war leicht, bequem, drückte nicht und schützte vor der Hitze, die einem den Schweiß aus den Poren trieb. In so einem Ding konnte man sich ins Feuer wagen und war auch gegen die Gase geschützt. Selbst eine Kugel, hieß es, fing der Anzug ab. Freilich waren Feuer, Kugeln und Gase etwas sehr Irdisches – etwas, das dem Menschen bekannt war. In der Zone aber gab es andere Gefahren, da galt es, sich vor dem Unbekannten in Acht zu nehmen. Und wozu sich etwas vormachen? Auch in diesen Spezialanzügen krepierten die Leute. Nur dass es nicht ganz so viele waren. Zum Beispiel schützten die Anzüge hundertprozentig vor dem »sengenden Flaum« oder vor dem Schleim des »Teufelskrauts«. Aber genug davon.
Wir waren in die Anzüge gestiegen. Ich holte ein paar Schraubenmuttern aus einem Säckchen und steckte sie in die Hosentasche, dann trotteten wir über den Hof des Instituts bis zu dem Ausgang, der in die Zone führte. Das war hier Sitte, denn jeder sollte sehen, wie die Helden der Wissenschaft aufbrachen – bereit, sich für die Menschheit, das Wissen und den Heiligen Geist zu opfern. Amen. Und tatsächlich hingen sie alle in den Fenstern, bis hoch zum fünfzehnten Stock, und gaben uns das Geleit. Es fehlte bloß noch ein Orchester und das Winken mit Taschentüchern …
»Schreite wacker aus!«, sagte ich zu Tender. »Bauch rein, Brust raus, die dankbare Menschheit wird dich nicht vergessen!«
Er warf mir einen kurzen Blick zu, und ich sah, dass ihm nicht nach Scherzen zumute war. Recht hatte er – Witze waren hier fehl am Platz … Aber es gibt nur zwei Möglichkeiten, wenn es in die Zone geht: heulen oder Witze machen – und geheult hatte ich schon lange nicht mehr … Ich sah zu Kirill hinüber, er hielt sich tapfer. Nur seine Lippen bewegten sich.
»Du betest wohl?«, fragte ich. »Bete nur, bete. Je tiefer du in die Zone vordringst, desto näher kommst du dem Himmel.«
»Was?«
»Du sollst beten!«, schrie ich. »Stalker lässt man außer der Reihe ins Paradies!«
Kirill lächelte unvermittelt, klopfte mir auf die Schulter. Hab keine Angst, sollte das heißen, mit mir gehst du schon nicht unter, und wenn’s tatsächlich schiefläuft – man stirbt zum Glück ja nur einmal … famoser Typ, dieser Kirill!
Nun händigten wir dem letzten der hier wachhabenden Soldaten unsere Passierscheine aus. Es war ein Leutnant; ich kannte ihn sogar: Sein Vater betrieb ein Geschäft mit Grabsteinen in Rexopol. Und da stand auch schon die »fliegende Galosche«, die die Kollegen vom Wagenpark direkt vor den Ausgang gefahren hatten. Überhaupt war alles an Ort und Stelle: der Sanitätswagen, die Feuerwehr und, nicht zu vergessen, unsere furchtlose Rettungsgarde – ein Haufen Faulenzer in einem Hubschrauber. Die sollten mir lieber nicht über den Weg laufen!
Wir kletterten in die »Galosche«, Kirill setzte sich ans Steuer und sagte: »Also los, Red, übernimm das Kommando!«
Ich öffnete ohne Eile den Reißverschluss meines Spezialanzugs, holte eine Flasche Schnaps aus der Innentasche und trank einen kräftigen Schluck. Dann schraubte ich die Flasche wieder zu und steckte sie zurück. Ohne das Zeug geht’s bei mir nicht. Wie oft ich auch in der Zone war – bei jedem neuen Einsatz brauche ich vorher einen Schluck. Die beiden warteten geduldig.
»Na dann«, sagte ich. »Euch biete ich nichts davon an, schließlich breche ich zum ersten Mal mit euch auf und weiß nicht, wie ihr darauf reagiert. Folgendes vorneweg: Alles, was ich sage, wird augenblicklich und ohne Widerspruch ausgeführt. Macht jemand Zicken oder fängt an, mich mit Fragen zu nerven, kriegt er eins über den Schädel, und zwar mit dem, was ich gerade zur Hand habe, ich bitte schon jetzt um Entschuldigung. Wenn ich dir, Tender, zum Beispiel befehle, auf Händen zu laufen, dann hast du unverzüglich deinen dicken Hintern zu lüpfen und mir zu gehorchen. Machst du es nicht, hast du deine kranke Tochter vielleicht zum letzten Mal gesehen. Haben wir uns verstanden? Ansonsten werde ich mein Bestes tun, damit du sie wiedersiehst.«
»Klar, Red«, schniefte Tender, schon jetzt puterrot im Gesicht, mit Schweißperlen auf der Stirn und zitternden Lippen. »Aber vergiss bloß nicht, uns die Befehle auch zu geben. Ich werde auf Zähnen laufen, wenn’s sein muss. Bin schließlich kein Anfänger.«
»Für mich seid ihr beide Anfänger«, sagte ich. »Was aber die Befehle angeht, kannst du beruhigt sein, Tender. Und noch etwas, kommst du überhaupt mit der ›Galosche‹ zurecht?«
»Kommt er«, antwortete Kirill für ihn. »Er fährt sehr gut.«
»Hoffen wir’s. Also dann mit Gott! Visiere runter, und im ersten Gang Richtung Markierung, Höhe drei Meter! Am Pfahl siebenundzwanzig halt!«
Kirill ging auf die angegebene Höhe und legte den ersten Vorwärtsgang ein, während ich heimlich dreimal über meine linke Schulter spuckte. Dabei sah ich aus den Augenwinkeln, dass die Rettungsgarde Posten im Hubschrauber bezogen und die Feuerwehrleute sich vor lauter Respekt von ihren Plätzen erhoben hatten. Der Leutnant am Ausgang, dieser Schafskopf, salutierte sogar, und über alldem prangte ein gewaltiges, mittlerweile vergilbtes Plakat mit der Aufschrift »Herzlich Willkommen, Herrschaften aus dem All!« Tender war so beeindruckt, dass er winken wollte, aber ich verpasste ihm einen solchen Stoß in die Rippen, dass ihm die Mätzchen gleich vergingen. Das würde ich ihm schon austreiben, dem Fettarsch – sich verabschieden!
Wir flogen los.
Rechts von uns lag das Institut, links das sogenannte Pestviertel. Wir schwebten direkt über der Straßenmitte und tasteten uns von einem Markierungspfahl zum nächsten. Meine Güte, wie lang diese Straße nicht mehr benutzt worden war! Der Asphalt war von Rissen durchzogen, aus denen bereits Gras wucherte. Freilich war es noch unser Gras, irdisches. Schon auf dem Bürgersteig linker Hand spross schwarzes Gestrüpp. Dieses markierte die Grenze der Zone – haarscharf, denn unmittelbar vor der Fahrbahn hörte es wie mit der Sense gemäht auf. Das musste man ihnen lassen, den Gästen aus dem All: Sie waren sehr ordentlich. Sie hatten zwar eine Menge Schweinereien angerichtet, aber nur innerhalb ganz bestimmter Grenzen. Selbst von ihrem »sengenden Flaum« flog kein Stäubchen zu uns herüber, auch wenn es immer wieder mal so aussah, als wehte der Wind das Zeug nach Belieben auf unsere Seite.
Die Häuser im Pestviertel standen da wie nackt, tot. Die Fensterscheiben waren fast überall noch heil, aber blind vor Schmutz. Wenn man nachts hier durchkroch, konnte man das Leuchten und Fluoreszieren im Innern der Häuser sehen, so, als würde Spiritus brennen, mit kleinen blauen Flammenzungen. Das war die »Hexensülze«, deren Dämpfe aus den Kellern nach oben stiegen. Dabei war das Pestviertel, schaute man flüchtig hin, ein Viertel wie jedes andere. Gewiss, die Häuser mussten dringend renoviert werden, doch sonst, vom Fehlen der Bewohner abgesehen, gab es hier nichts Besonderes. In dem Ziegelhaus dort drüben hatte früher unser Mathematiklehrer gewohnt, er trug den Spitznamen Komma. War ein ziemlicher Trottel gewesen und ein ausgemachter Pechvogel: Seine zweite Frau hatte ihn kurz vor der Katastrophe verlassen. Seine Tochter litt auf einem Auge am weißen Star, weshalb wir sie oft ärgerten – so lange, bis sie weinte. Als die Panik ausbrach, rannte er, wie alle anderen Bewohner des Viertels, nur mit Unterwäsche bekleidet bis zur Brücke – sechs Kilometer ohne Pause. Später litt er lange Zeit unter der Pest, die Haut löste sich ihm vom Körper, und die Nägel fielen ab. Fast alle, die hier gewohnt hatten, bekamen die Pest, weshalb man dem Viertel den Namen gab. Einige starben daran, doch waren das meistens alte Leute. Obwohl – ich glaube, dass sie weniger der Pest zum Opfer fielen als ihrer Angst. Es war grauenvoll.
Hatten es die Bewohner dieses Viertels mit der Pest zu tun, so wurden die Bewohner der angrenzenden drei Stadtbezirke blind. Noch heute nannte man sie das erste Blindenviertel, das zweite Blindenviertel … Es handelte sich aber um keine vollständige, sondern um eine Art Hühnerblindheit. Die Betroffenen behaupteten allerdings, nicht von dem gleißend hellen Lichtschein erblindet zu sein, den es zweifelsohne gegeben hatte, sondern von einem furchtbaren Donner. Das Krachen sei so enorm gewesen, dass sie auf der Stelle ihr Augenlicht verloren. Der Einwand der Ärzte, so etwas sei unmöglich, ließ sie unbeirrt. Das Kuriose an der Geschichte aber war: Niemand außer ihnen hatte den Donner gehört.
Hier sah es wirklich aus, als wäre nichts geschehen. Der gläserne Kiosk war völlig unbeschädigt, und der Kinderwagen, der in der Haustür stand, ebenso – nicht ein Stäubchen schien auf den Kissen zu liegen. Nur die Fernsehantennen auf den Dächern machten eine Ausnahme: An ihnen hingen haarige Gewächse wie Lindenbast herunter. Die Intellektuellen hatten längst ein Auge auf die Antennen geworfen – gar zu gern hätten sie erfahren, worum es sich bei den Bastfasern handelte. Nur im Pestviertel waren sie anzutreffen und nur auf den Antennen. Die Hauptsache aber war: Die Fasern hingen einem direkt vor der Nase, man konnte sie vom Fahrzeugfenster aus erkennen. Im vorigen Jahr hatten unsere Schlaumeier dann eine Idee: Vom Hubschrauber aus ließen sie einen Anker, der an einer Stahltrosse befestigt war, hinab und hakten eine der Antennen an. Der Hubschrauber hatte kaum angeruckt, als ein lautes Zischen zu hören war. Ein Blick – und man wusste, warum: Die Antenne qualmte, der Anker qualmte, und auch das Stahlseil fing zu qualmen an. Der Rauch aber stieg nicht einfach auf, sondern war von dem gefährlichen Zischen begleitet, als hätte man es mit einer wütenden Schlange zu tun. Der Pilot – ein Leutnant übrigens – reagierte schnell: Er klinkte das Seil aus und machte sich auf und davon … Die Trosse hing noch immer dort; sie berührte fast den Boden und war völlig von dem Bast umwuchert …
Wir schwebten sachte dahin und hatten inzwischen das Ende der Straße und die Abzweigung erreicht. Kirill warf mir einen fragenden Blick zu – einbiegen? Ich gab ihm Handzeichen – ganz langsam fahren. Dann bog unsere »Galosche« um die Ecke und legte im Schritttempo die letzten Meter irdischen Bodens zurück. Der Bürgersteig kam näher, und schon fiel der Schatten unseres Fahrzeugs auf das schwarze Gestrüpp … Jetzt war Schluss mit der Sicherheit, wir waren in der Zone! Augenblicklich spürte ich, wie es mir kalt den Rücken hinunterlief. Diese Schauer befallen mich jedes Mal, und ich weiß nicht, ob es die Zone ist, die mich auf diese Weise begrüßt, oder ob die Nerven verrücktspielen. Jedes Mal nehme ich mir vor: Wenn du zurück bist, fragst du, ob es den anderen auch so geht, aber ich vergesse es immer wieder.
Wir fuhren langsam an den früheren Gärten entlang, der Motor brummte leise und gleichmäßig – wieso auch nicht, ihm drohte ja keine Gefahr … Tender dagegen hielt es nicht mehr aus. Wir hatten den ersten Markierungspfahl noch nicht erreicht, als er zu quatschen anfing – wie Neulinge in der Zone eben quatschen: mit klappernden Zähnen und sich überschlagendem Atem. Es war ihm peinlich, natürlich, aber er konnte sich nicht beherrschen. Ich glaube, das ist bei den Neuen genauso unwillkürlich wie Durchfall … Was die nicht alles reden! Tender begeisterte sich zuerst für die Landschaft, dann ließ er sich über die fremden Wesen aus und faselte schließlich von Dingen, die ohne jeden Zusammenhang waren. Er redete ohne Unterlass; zuletzt erzählte er von seinem neuen Anzug, wie viel er dafür bezahlt hatte, wie fein die Wolle war, wie ihm der Schneider die Knöpfe ausgewechselt hatte …
»Halt die Klappe«, sagte ich.
Er sah mich einen Moment betrübt an, klappte den Unterkiefer auf und zu – und fuhr fort: wie viel Seide fürs Futter notwendig gewesen war und so weiter.
Mittlerweile hatten wir die Gärten passiert und befanden uns über der lehmigen Freifläche, die früher als städtische Müllhalde gedient hatte. Ich spürte einen kaum wahrnehmbaren Hauch. Sekunden vorher war noch kein Wind gewesen, doch jetzt war er da: Staubwolken wirbelten auf, und mir war, als hörte ich ein leises Geräusch.
»Du sollst die Schnauze halten, du Idiot!«, sagte ich zu Tender.
Aber der Kerl quatschte wie aufgezogen – jetzt waren die Rosshaare dran … Na schön, dann ging es eben nicht anders.
»Halt an«, sagte ich zu Kirill.
Er bremste unverzüglich, hatte Reaktionsvermögen, der Bursche. Ich packte Tender bei den Schultern, drehte ihn zu mir um und gab ihm mit voller Wucht eins vors Visier. Er donnerte mit der Nase gegen das Plexiglas, schloss die Augen und verstummte. Kaum war er still, hörte ich es wieder: ein leises Tr-r-r … Tr-r-r … Tr-r-r … Kirill starrte mich mit zusammengebissenen Zähnen an. Ich gab ihm Zeichen, dass er sich auf keinen Fall von der Stelle rühren sollte. Doch Kirill, der das Geräusch ebenfalls hörte, hatte – wie jeder Neuling in solchen Augenblicken – den unwiderstehlichen Drang, etwas zu unternehmen. »Rückwärtsgang?«, flüsterte er. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf und fuchtelte mit der Faust vor seinem Helm herum, damit er um Himmels willen die Klappe hielt. Heilige Mutter, mit diesen Anfängern wusste man nie, wohin zuerst schauen – auf die Zone oder auf sie … Im nächsten Moment vergaß ich alles um mich her. Über einem Haufen alten Gerümpels, zerbrochenem Glas und Lumpenzeug, stieg ein leichtes Beben auf, ein Flirren wie von erhitzter Luft in der Mittagssonne über einem Wellblechdach. Dieses Flimmern wälzte sich direkt auf uns zu, schwebte bis zum Markierungspfahl, kam an der Grenze zur Straße für den Bruchteil einer Sekunde zum Stehen – oder schien mir das nur so? -, schwenkte dann seitlich zum offenen Feld hin ab und verschwand hinter dem Gestrüpp und den verfaulten Zäunen in Richtung Autofriedhof.
Der Teufel soll sie holen, diese Intellektuellen. Man sollte meinen, sie wüssten, wo die Trasse zu markieren ist! Ich selbst war allerdings auch nicht besser – wohin hatte ich bloß geschaut, als ich mir so begeistert ihre Karte angesehen hatte!
»Leg den ersten Vorwärtsgang ein«, sagte ich.
»Was war das?«
»Weiß der Kuckuck! Gottlob, der Kelch ist noch mal an uns vorübergegangen. Und jetzt halt die Klappe. Bitte. Von nun an bist du kein Mensch mehr, kapiert? Du bist eine Maschine, mein Hebel …«
Ich stockte; mir wurde klar, dass auch mich gerade der Redeschnupfen erfasst hatte.
»Schluss jetzt«, sagte ich. »Kein Wort mehr.«
Was hätte ich in diesem Augenblick für einen ordentlichen Schluck gegeben! Die Flasche aus der Innentasche ziehen, den Verschluss langsam aufdrehen, die Flasche ansetzen und den Schnaps in die Kehle laufen lassen. Dann schütteln und noch einmal ansetzen … Diese Anzüge waren einfach zum Kotzen. So lange war ich ohne sie ausgekommen und würde auch zukünftig nicht ohne sie krepieren, aber ohne einen anständigen Schluck in einem solchen Augenblick … Ach, Schwamm drüber!
Der Windhauch schien abgeflaut zu sein, es gab keine verdächtigen Geräusche mehr, nur das leise, schläfrige Brummen des Motors. Ringsum nichts als Sonne und Hitze. Über der Garage stand ein Flirren, das aber nichts Außergewöhnliches zu bedeuten schien. Einer nach dem andern zogen die Markierungspfähle an uns vorbei. Tender schwieg, ebenso Kirill – die Neulinge lernten dazu. Nur keine Angst, Männer, auch in der Zone lässt sich’s atmen, wenn man sie zu nehmen weiß … Und da kam auch schon die Markierung 27 in Sicht – ein Eisenpfahl mit einem roten Kreis drauf, in der Mitte die Nummer 27. Kirill sah mich an, ich nickte, und unsere »Galosche« kam zum Stehen.
Der Anfang war getan, aber das Schwerste stand uns noch bevor. Das Wichtigste war jetzt, absolute Ruhe zu bewahren. Es gab keinen Grund zur Eile. Die Sicht war ausgezeichnet, es wehte kein Wind, und alles lag bestens vor uns ausgebreitet. Dort drüben verlief der Graben, wo es Schleimer erwischt hatte. Etwas Buntes schimmerte herüber, vielleicht waren es seine Lumpen … Was für ein mieser Typ dieser Schleimer, Gott hab ihn selig, doch gewesen war – geizig, dumm und immer verdreckt. Nur solche machten mit Aasgeier gemeinsame Sache. Und Barbridge, genannt Aasgeier, witterte sie auf Meilen Entfernung, spannte sie vor seinen Karren … Die Zone fragt nicht danach, ob einer gut ist oder böse. Im Grunde musste man Schleimer sogar danken: Er war zwar ein Dummkopf, und man weiß nicht einmal mehr seinen richtigen Namen, aber er hat den Schlauköpfen gezeigt, wohin man seinen Fuß besser nicht setzte … Und jetzt? Das Beste wäre, sich bis zur asphaltierten Straße vorzuarbeiten, die war glatt, übersichtlich, und der Spalt darin nichts Unbekanntes mehr. Nur gefielen mir die kleinen Aufwerfungen nicht, die man passieren musste, wollte man die Straße auf kürzestem Wege erreichen. Die schienen förmlich darauf zu warten, dass man auf sie hereinfiel. Aber nicht mit mir! Der zweite Grundsatz eines Stalkers lautet: Rechts wie links muss bis auf hundert Schritt alles sauber sein. Seitlich vom linken Hügel dagegen konnte man sicher durchbrechen … Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was sich dahinter verbarg – laut Karte gar nichts, aber wer konnte sich schon auf eine Karte verlassen?
»Hör mal, Red«, flüsterte Kirill, »wir springen mit einem Satz rüber, ja? Gehen zwanzig Meter hoch, dann wieder steil hinunter – und landen direkt vor der Garage.«
»Halt die Klappe, du Blödmann, stör mich nicht.«
Hochsteigen wollte er! Und wenn es uns in zwanzig Metern Höhe erwischte, konnten wir unsere Knochen einzeln zusammensuchen. Ganz zu schweigen von der »Fliegenklatsche«. Würden wir an die geraten, ginge es nicht einmal mehr um die Knochen: Ein feuchter Fleck wäre alles, was von uns übrig bliebe. Was fing man bloß mit diesen Draufgängern an? Sie hatten nie Zeit und wollten sogar kurzerhand hinüberspringen … Also gut, der Weg zum linken Hügel war klar, anschließend musste man weitersehen. Ich griff in die Hosentasche und holte eine Handvoll Schraubenmuttern heraus. Ich zeigte sie Kirill und sagte: »Du kennst doch bestimmt die Geschichte vom Däumling? Jetzt schau her, wir machen es genau umgekehrt.« Ich warf die erste Schraube, nicht allzu weit, ungefähr zehn Meter nach vorn. Sie passierte die Strecke ohne Hindernisse. »Hast du gesehen?«, fragte ich.
»Ja, und?«
»Nichts ›und‹. Ich habe dich gefragt, ob du’s gesehen hast.«
»Habe ich.«
»Dann fahr die ›Galosche‹ im Schritttempo in Richtung Schraube und halt einen knappen Meter vor ihr an. Kapiert?«
»Ist klar. Du versuchst also, die Gravikonzentrate ausfindig zu machen?«
»Ich versuche, was nötig ist. Schau her, ich werfe jetzt eine zweite Schraube. Pass genau auf, wo sie runterfällt, und lass sie nicht mehr aus den Augen.«
Wie zu erwarten, flog auch die zweite Schraube die paar Meter, ohne auf ein Hindernis zu stoßen, und fiel neben der ersten zur Erde.
»Also dann«, sagte ich.
Kirill fuhr los. Seine Miene drückte Ruhe und Sicherheit aus; man sah, er hatte begriffen. So waren sie alle, die Intellektuellen – Hauptsache, das Ding hatte einen Namen. Solange es den nicht hatte, machten sie ein dummes Gesicht. Jetzt, wo er wusste, dass es um die Gravikonzentrate ging, war ihm alles klar und das Leben leichter.
Wir passierten die erste Schraube, die zweite, dritte. Tender seufzte, zappelte ungeduldig mit den Beinen und gähnte immerzu nervös. Das Gähnen wurde von krampfhaftem Zähneblecken begleitet, wie bei einem Hund – er quälte sich, der Ärmste. Aber das schadete nichts, es kam ihm eher zugute. Seine fünf Kilo würde er sich heute abstrampeln, die Zone war besser als jede Diät … Ich schleuderte die vierte Schraube, aber sie flog nicht ganz so glatt durch die Luft. Ich konnte es nicht erklären, aber ich spürte genau – diesmal war es anders. Sofort packte ich Kirill beim Arm.
»Halt«, sagte ich. »Keinen Schritt weiter.«
Ich nahm die fünfte Schraube und warf sie höher und weiter als die vorangegangenen. Aha, da hatten wir sie also, die »Fliegenklatsche«! In die Höhe flog die Schraube ganz normal, hinunter zunächst auch – aber dann, auf halbem Weg, schien es, als würde sie von einer unsichtbaren Kraft seitlich gepackt und mit einer solchen Wucht niedergeschleudert, dass sie im nächsten Augenblick im Lehmboden versunken war.
»Hast du das gesehen?«, flüsterte ich.
»Bisher nur im Kino«, erwiderte Kirill und lehnte sich mit dem ganzen Körper vor. Gleich würde er vornüber kippen. »Wirf noch eine, ja?«
Du heilige Einfalt, als wenn es mit einer getan gewesen wäre! Diese Intellektuellen! Acht Schrauben brauchte ich noch, bis ich die Grenzen der »Fliegenklatsche« abgesteckt hatte. Aber wenn ich ehrlich sein soll: Es hätten auch sieben gereicht, die letzte schleuderte ich Kirill zuliebe – direkt in die Mitte seines geliebten Gravikonzentrats. Das Ding sauste in den Boden, als handelte es sich nicht um eine kleine Schraube, sondern um ein Gewicht von zwei Zentnern. Sie donnerte ins Erdreich, und es blieb nichts zurück als ein Loch. Kirill juchzte vor Freude.
»Schluss damit«, sagte ich. »Jetzt hatten wir unseren Spaß, nun an die Arbeit. Schau her, ich werfe eine Schraube, lass sie nicht aus den Augen.«
Wir umgingen also die »Fliegenklatsche« und gelangten zum ersten der kleinen Hügel. Er war klein wie ein Stück Katzendreck, und ich hatte ihn bis zu diesem Tag nie bemerkt. Die asphaltierte Straße befand sich keine zwanzig Schritt mehr von uns entfernt. Die Stelle schien einwandfrei, jeder Grashalm war zu sehen, jeder kleine Riss im Asphalt. Also los, die nächste Schraube geworfen und ihr nach!
Aber ich zögerte. Ich begriff selber nicht, warum.
»Was ist los?«, fragte Kirill. »Warum fahren wir nicht weiter?«
»Warte«, sagte ich. »Sei um Himmels willen still.«
Gleich, dachte ich, würde ich die Schraube werfen; wir würden ihr in aller Ruhe und sanft wie durch weiche Butter folgen, kein Hälmchen würde sich regen. Eine halbe Minute, und wir wären dort … Aber im selben Augenblick brach mir der Schweiß aus den Poren, sogar in die Augen floss er mir! Schlagartig wurde mir klar, dass ich die Schraube auf gar keinen Fall vorschicken durfte, nicht geradeaus! Nach links, ja, von mir aus sogar zwei. Auch wenn der Weg dadurch länger wurde und ein paar sehr unangenehme Steine da herumlagen – in diese Richtung würde ich die Schraube werfen, aber nicht geradeaus! Und ich schleuderte sie nach links. Kirill sagte kein Wort, lenkte die »Galosche« in die angegebene Richtung und blickte mich erst wieder an, als wir bei der Schraube angekommen waren. Ich sah bestimmt nicht gut aus, denn er schaute gleich wieder weg.
»Macht nichts«, sagte ich. »Auf Umwegen kommen wir schneller zum Ziel.« Dann warf ich die letzte Schraube, nun schon auf den Asphalt.
Von da an ging es einfacher. Ich fand den Spalt in der Straße, er war sauber und weder von Mistzeug bewachsen, noch hatte er inzwischen die Farbe gewechselt. Ich folgte ihm, und er führte uns besser als alle Markierungspfähle bis zur Garage.
Ich befahl Kirill, bis auf anderthalb Meter runterzugehen, legte mich auf den Bauch und spähte durch die offen stehende Tür ins Innere der Garage. Wegen des Sonnenlichts konnte ich zunächst jedoch kaum etwas erkennen – alles war schwarz -, allmählich jedoch gewöhnten sich meine Augen daran. Seit meinem letzten Besuch hatte sich hier offenbar nichts verändert. Der Kipper stand noch genauso auf der Grube wie vorher, heil und unversehrt, ohne jeden Kratzer oder Fleck. Auch auf dem Zementfußboden ringsum fiel mir nichts Besonderes auf – wahrscheinlich deshalb, weil sich seitdem nur wenig »Hexensülze« in der Grube angesammelt hatte und sie noch nicht rausgeschwappt war. Nur eins gefiel mir nicht: Weiter hinten in der Garage, wo die Kanister standen, schimmerte etwas Silbernes. Das war früher nicht gewesen. Aber was machte das schon? Sollte es schimmern – wir würden deswegen nicht umkehren! Es war auch kein auffallendes Schimmern, nur ein schwacher, kaum wahrnehmbarer, ja, sogar lieblicher und behaglicher Widerschein … Ich stand auf, klopfte mir den Staub vom Overall und hielt nach allen Seiten Ausschau. Drüben auf der Freifläche standen die Lastwagen; sie wirkten tatsächlich wie neu. Meiner Meinung nach sahen sie sogar noch besser aus als das letzte Mal. Im Gegensatz zu dem Tankwagen, der inzwischen ganz durchgerostet war und über kurz oder lang auseinanderfallen würde … Da lag übrigens auch das Garagendach, das sie auf ihrer Karte vermerkt hatten.
Es gefiel mir nicht, dieses Dach. Der Schatten, den es warf, schien irgendwie unnormal. Die Sonne stand in unserem Rücken, der Schatten aber wies zu uns. Na, sollte er, bis dahin war es noch ein Stück. Und hier konnte man schon arbeiten. Dennoch hätte ich gern gewusst, was da so silbrig glänzte. Oder existierte das Schimmern nur in meiner Fantasie? Am liebsten hätte ich mich jetzt still hingehockt, eine Zigarette geraucht und in aller Ruhe darüber nachgedacht, weshalb dieser silbrige Glanz über den Kanistern lag, aber nirgendwo anders … Und weshalb das Dach einen so eigentümlichen Schatten warf … Halt, über die Schatten hatte Barbridge, der Aasgeier, einmal etwas erzählt, etwas sehr Merkwürdiges, aber Ungefährliches … Die Schatten spielten wohl immer mal verrückt … Dennoch, was leuchtete dort so? Sah aus wie eine Spinnwebe am Baum. Was für ein Vieh von Spinne mochte das wohl fabriziert haben, so etwas hatte ich in der Zone noch nie gesehen. Das Schlimmste aber war, dass sich meine »Null« ausgerechnet dort befand – zwei Schritt von den Kanistern entfernt. Hätte ich sie damals gleich mitgenommen, bräuchte ich jetzt keine Angst zu haben. Aber es war so verdammt schwer, das Miststück, war ja schließlich voll … Anheben hätte ich’s zur Not noch können, aber auf dem Buckel schleppen, dazu nachts und auf allen vieren … Wer noch nie eine »Null« getragen hat, der soll es ruhig versuchen: Es ist, als müsste man einen halben Zentner Wasser ohne Eimer transportieren. Sollten wir wirklich gehen? Ja, es war Zeit. Ach, jetzt einen kräftigen Schluck … Ich drehte mich zu Tender um und sagte: »Ich gehe mit Kirill in die Garage, du bleibst hier. Das Steuer rührst du ohne meinen ausdrücklichen Befehl nicht an, klar? Egal, was passiert, und wenn die Erde unter dir zusammenstürzt! Wenn du die Nerven verlierst – ich finde dich auch im Jenseits wieder.«
Er nickte ernst, was wohl heißen sollte: Ich werde die Nerven schon nicht verlieren. Seine Nase sah aus wie eine Pflaume, ich hatte ihm ganz schön eins draufgegeben. Ich ließ vorsichtig die Havarietrossen hinunter, warf nochmals einen Blick auf den silbrigen Schimmer, gab Kirill ein Zeichen und kletterte aus dem Fahrzeug. Als ich den Asphalt erreicht hatte, wartete ich auf ihn. Kirill ließ sich an der anderen Trosse herunter.
»Lass dir Zeit«, sagte ich. »Mach langsam, das wirbelt weniger Staub auf.«
Wir standen auf der Straße, die »Galosche« neben uns schaukelte mit den herabhängenden Trossen in der Luft. Tender hatte seinen Kopf durch das Fenster gesteckt und sah uns zu; er hatte Angst. Für uns wurde es jetzt Zeit, und ich gab Kirill Anweisung: »Halt dich genau hinter mir, in zwei Schritt Entfernung. Sei aufmerksam, lass mich bloß nicht aus den Augen.«
Ich ging los. Auf der Schwelle zur Garage blieb ich stehen und schaute mich um. Um wie vieles leichter es sich doch am Tag arbeiten ließ! Ich erinnerte mich, wie ich einmal bäuchlings an genau dieser Stelle gelegen hatte. Es war stockfinster gewesen, und aus der Grube waren die Flammen der »Hexensülze« aufgestiegen, bläulich, wie wenn man Spiritus entzündet. Das Gemeine war, dass es von dem Teufelsspuk keinen Deut heller wurde, im Gegenteil, alles versank in noch größerer Finsternis. Jetzt dagegen – die Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt – konnte man jede Einzelheit erkennen, sogar den Staub in den entlegensten Winkeln. Und dort in der Ecke wieder dieser silbrige Glanz; von den Kanistern reichten flimmernde Fäden bis hinauf zur Decke. Es schien sich in der Tat um Spinnweben zu handeln, aber denen kam man besser nicht zu nahe … Hier – ich begriff das schon im nächsten Augenblick – beging ich einen großen Fehler. Ich hätte Kirill rufen sollen, damit er sich neben mich stellte, und hätte abwarten müssen, bis auch seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, um ihm dann diese Silberfäden zu zeigen. Aber ich war es gewohnt, alleine zu arbeiten. So registrierte ich zwar das Zeug, dachte aber nicht an Kirill.