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Arkadi und Boris Strugatzki sind nicht nur Autoren von Weltrang, sondern auch Vordenker einer systemkritischen Literatur. Es ist schwer, ein Gott zu sein, 1964 geschrieben, erzählt die Geschichte von Anton, der auf einem fremden, rückständigen Planeten gottgleiche Macht hat, sie aber nicht nutzen darf und daran zerbricht. Über seine versteckte Stalin-Kritik hinaus ist der Roman eine hochaktuelle Auseinandersetzung mit der politischen Verantwortung des Einzelnen.
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Seitenzahl: 323
Das Buch
Eine Gruppe von Wissenschaftlern wird auf einen fremden Planeten entsandt, der in seiner Entwicklung viele Jahrhunderte hinter der Erde zurückliegt. In der Hoffnung, in dieser mittelalterlichen Zivilisation hautnah eine Renaissance miterleben zu können, mischen sich die Forscher unbemerkt unters Volk, um die Ereignisse aufzuzeichnen und zur Erde zu übertragen. Dabei lautet ihre oberste Direktive: Bleibe immer unerkannt und neutral und greife unter keinen Umständen in das Geschehen ein. Doch als auf dem Planeten plötzlich ein Pogrom gegen Gelehrte veranstaltet wird, nimmt die Geschichte einen völlig anderen Verlauf, und Don Rumata, der vor Ort das Treiben mitansehen muss, fällt es zunehmend schwerer, dem brutalen Gemetzel einfach tatenlos zuzusehen. Aber was kann ein Gott tun, dem die Hände gebunden sind?
»Es ist schwer, ein Gott zu sein« ist einer der bekanntesten und bedeutendsten Romane von Arkadi und Boris Strugatzki – eine eindringliche Parabel über Moral und Politik ebenso wie ein mitreißendes Zukunftsabenteuer.
Die Autoren
Arkadi (geboren 1925, gestorben 1991) und Boris (geboren 1933, gestorben 2012) Strugatzki zählen zu den bedeutendsten und erfolgreichsten russischen Autoren der Nachkriegszeit. Ihre Romane sind nicht nur faszinierende Parabeln über die Stellung des Menschen im Universum, sondern auch schonungslose Abrechnungen mit Ideologiegläubigkeit und Personenkult. Etliche ihrer Texte durften in der Sowjetunion nicht erscheinen. Inzwischen hat die Gesamtauflage ihrer Werke die fünfzig Millionen überschritten, sie wurden in über dreißig Sprachen übersetzt, und viele ihrer Romane wurden verfilmt – darunter Andrej Tarkowskis Stalker nach »Picknick am Wegesrand«.
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ARKADI UND BORIS
STRUGATZKI
ES IST SCHWER,EIN GOTT ZU SEIN
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
Трудно быть богом
Aus dem Russischen von Arno SpechtErgänzung anhand der ungekürzten und unzensierten Originalversion, Übersetzung der Nachbemerkung von Boris Strugatzki sowie Nachdichtungen: Erik Simon
Textbearbeitung und Redaktion: Anna Doris Schüller
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Vollständige Taschenbuchausgabe
Copyright © 1964 by Arkadi und Boris Strugatzki
Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe und Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung von Motiven vonmetka / Shutterstock und Triff / Shutterstock
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-21712-9V001
www.diezukunft.de
Das waren die Tage, in denen ich erfahren habe, was Leiden sind, was Schämen heißt, wohin einen Verzweiflung treiben kann.
Pierre Abélard
Eins muss ich Ihnen sagen: In unserem besonderen Geschäft tragen Sie Ihre Waffen, um Eindruck zu machen, aber Sie dürfen sie nicht gebrauchen, unter keinen Umständen. Unter keinen Umständen. Ist Ihnen das ganz klar?
Ernest Hemingway
Prolog
Die Säule von Ankas Armbrust bestand aus schwarzem Kunststoff, und die Sehne aus Chromstahl ließ sich mit einem einzigen Handgriff am geräuschlos gleitenden Hebel spannen. Anton hielt nicht viel von technischen Neuerungen: Er trug ein altbewährtes Kriegsgerät im Stil von Marschall Toz, dem späteren König Piz I.; es war mit brüniertem Kupfer beschlagen und besaß ein Rädchen, über das sich die Sehne aus Ochsendarm aufwickeln ließ. Paschka hingegen hatte ein Luftgewehr mitgenommen. Er war recht faul, außerdem ungeschickt im Basteln und Schnitzen und tat Armbrüste mit der Bemerkung ab, sie stammten aus der Kinderzeit der Menschheit.
Am Nordufer legten sie an. Aus dem gelben Sand des Abhangs ragten knorrige Wurzeln alter Fichten hervor. Anka ließ das Steuer fahren und blickte sich um. Die Sonne stand bereits über dem Wald, und alles ringsum war blau, grün und gelb: Blau lag der Nebel über dem See, dunkelgrün und gelb leuchteten die Fichten und das Land am anderen Ufer; darüber stand ein klarer, blassblauer Himmel.
»Hier ist nichts«, sagte Paschka.
Über die Bordwand gebeugt, starrten die drei ins Wasser.
»Ein Riesenhecht«, behauptete Anton.
»Mit solchen Flossen, was?«, fragte Paschka.
Doch Anton gab keine Antwort. Auch Anka blickte ins Wasser, sah aber nur ihr Spiegelbild.
»Wir könnten baden«, schlug Paschka vor und tauchte den Arm bis zum Ellbogen ins Wasser. »Ziemlich kalt«, teilte er mit.
Anton kletterte zum Bug hinüber und sprang ans Ufer. Das Boot fing an zu schaukeln; er hielt es an der Bordwand fest und sah Paschka erwartungsvoll an. Paschka stand auf, legte den Riemen wie ein Tragejoch um den Hals, wiegte sich in den Hüften und begann zu singen:
»Vitzliputzli, alter Skipper!
Hältst du etwa Mittagsruh?
Hüte dich, ein Schwarm von Haien
jagt gebraten auf dich zu!«
Anton rüttelte am Boot.
»He, he!«, rief Paschka und klammerte sich an das Bootsbord.
»Weshalb denn gebraten?«, fragte Anka.
»Weiß nicht«, meinte Paschka. Sie kletterten aus dem Boot. »Aber wär das nicht großartig? Ein Schwarm gebratener Haie!«
Sie zogen das Boot an Land und versanken dabei mit den Füßen im feuchten Sand, der übersät war mit dürren Nadeln und Kiefernzapfen. Das Boot war schwer und glitschig, aber sie zogen, bis es ganz im Trockenen lag. Dann blieben sie stehen, völlig außer Atem.
»Ich habe mir den Fuß gequetscht«, meldete Paschka und rückte sein rotes Kopftuch zurecht. Er achtete sorgfältig darauf, dass der Knoten genau wie bei den langnasigen irukanischen Piraten exakt über dem rechten Ohr saß. »Was zählt schon ein Menschenleben, oh, he!«, rief er laut.
Anka lutschte abwesend an ihrem Zeigefinger.
»Splitter?«, fragte Anton.
»Nein, aufgekratzt. Einer von euch hat schreckliche Krallen.«
»Zeig mal.«
»Tatsächlich«, bestätigte Anton. »Eine Wunde. Was machen wir jetzt?«
»Gewehr über, und das Ufer entlang«, schlug Paschka vor.
»Dann hätten wir gar nicht erst auszusteigen brauchen«, knurrte Anton.
»Mit dem Boot kommt auch der Dümmste vorwärts«, erklärte Paschka. »Am Ufer aber gibt es: erstens Schilf, zweitens Steilhänge und drittens tiefe Stellen. Mit Quappen und Welsen.«
»Schwärmen gebratener Welse«, frotzelte Anton.
»Hast du schon mal in einem Wasserloch getaucht?«
»Na klar.«
»Das habe ich aber nicht gesehen.«
»Du hast eine Menge nicht gesehen.«
Anka wandte ihnen den Rücken zu, nahm die Armbrust und schoss auf eine zwanzig Meter entfernte Fichte. Rindenstücke fielen zu Boden.
»Sehr gut«, meinte Paschka. Er zielte mit seinem Luftgewehr auf Ankas Bolzen, verfehlte ihn aber. »Ich habe vergessen, den Atem anzuhalten«, entschuldigte er sich.
»Und wenn du ihn angehalten hättest?«, wollte Anton wissen. Er blickte auf Anka.
Das Mädchen zog mit einer kraftvollen Bewegung den Spannhebel zurück; Anton gefiel der Anblick ihrer kräftigen Muskeln, und er beobachtete, wie sich der feste Bizeps unter der dunklen Haut wölbte.
Anka zielte sehr genau und drückte ab. Der Bolzen fuhr etwas unterhalb des ersten in den Stamm.
»Wir sollten damit aufhören«, sagte sie und ließ die Armbrust sinken.
»Womit?«, wollte Anton wissen.
»Wir ruinieren die Bäume, sonst nichts. Gestern hat ein Knirps mit seinem Bogen auf einen Baum geschossen, und dann habe ich ihn gezwungen, den Pfeil mit den Zähnen wieder aus dem Stamm zu ziehen.«
»Lauf zum Baum, Paschka«, rief Anton. »Du hast doch gute Zähne.«
»Einen hohlen Zahn hab ich.«
»Ich finde, wir sollten jetzt etwas unternehmen«, meinte Anka.
»Ich habe keine Lust, auf Steilhängen herumzukraxeln«, protestierte Anton.
»Ich auch nicht«, sagte Anka. »Gehen wir geradeaus.«
»Wohin?«, erkundigte sich Paschka.
»Der Nase nach.«
»Na, dann los!«, rief Anton.
»Auf in Saiwa!«, sagte Paschka. »Gehen wir zur vergessenen Chaussee, Anton. Weißt du noch?«
»Und ob!«
»Und du, Anetschka …«, begann Paschka.
»Nenn mich nicht Anetschka«, wies ihn das Mädchen schroff zurecht. Sie hasste es, wenn man sie nicht Anka rief, sondern mit dem Kosenamen ansprach.
»Die vergessene Chaussee …«, warf Anton schnell ein, der Ankas Empfindlichkeit kannte. »Sie wird nicht genutzt, sie ist auf keiner Karte verzeichnet, und niemand weiß, wo sie hinführt.«
»Wart ihr schon mal dort?«
»Ja, aber wir hatten keine Zeit, sie uns genauer anzusehen.«
»Sie kommt von nirgendwoher und führt nirgendwohin«, erklärte Paschka, der sich wieder von Ankas Zurechtweisung erholt hatte.
»Das ist genau das Richtige!«, rief Anka begeistert und kniff die Augen zu dunklen Schlitzen zusammen. »Los, gehen wir. Werden wir es bis abends schaffen?«
»Na klar! Um zwölf sind wir dort.«
Sie kletterten den Steilhang hinauf. Oben angekommen, drehte sich Paschka um. Unten lag der See mit gelblich schimmernden Untiefen, auf dem Strand das Boot; in Ufernähe sah man auf dem ruhigen, öligen Wasser auseinanderlaufende Kreise – wahrscheinlich stammten sie von eben jenem Hecht … Paschka fühlte sich großartig, wie immer, wenn er mit Anton aus dem Internat ausgerückt war und ein ganzer Tag voll Ungebundenheit vor ihnen lag: eine fremde Gegend, Erdhütten, besonnte, einsame Wiesen, graue Eidechsen oder das eiskalte Wasser unerwartet entdeckter Quellen. Und wie immer hatte er auch jetzt das Bedürfnis, einen Freudenschrei auszustoßen und hoch in die Luft zu springen – was er sogleich tat. Anton lachte und sah ihn an, und in seinen Augen konnte Paschka lesen, dass es ihm genauso ging. Anka legte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Dann verschwanden sie im Wald.
Es war ein schütterer Fichtenwald, auf dessen nadelbedecktem Boden man kaum Halt fand. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen ließen ihn wie goldgesprenkelt aussehen. Es roch nach Harz, nach See und Walderdbeeren. Hoch über ihnen zwitscherten Vögel.
Anka ging voraus, die Armbrust unter die Achsel geklemmt. Hin und wieder bückte sie sich, um einige der wie blutrot lackierten Erdbeeren zu pflücken. Anton folgte ihr; sein altbewährtes Kriegsgerät à la Marschall Toz trug er auf der Schulter. Bei jedem Schritt schlug ihm der mit Kriegsbolzen gefüllte Köcher gegen den Hintern. Er betrachtete Ankas zierlichen, sonnengebräunten Nacken; er war dunkel, fast schwarz, und einige Wirbel ragten vor. Ab und zu blickte er sich nach Paschka um, von dem allerdings nichts zu sehen war; nur manchmal leuchtete, mal rechts, mal links, sein rotes Kopftuch in der Sonne auf. Anton stellte sich vor, wie Paschka mit dem Gewehr im Anschlag lautlos durch die Fichten schlich: langsam und das kleine, spitze Gesicht mit der schilfernden Nase vorgestreckt. Die Saiwa versteht keinen Spaß, mein Freund, dachte Anton. Sie fordert Antworten – schnelle Antworten. Er wollte sich schon ducken, aber vor ihm ging Anka, und es wäre ihm peinlich gewesen, wenn sie sich umgeblickt hätte.
Anka drehte sich um und fragte: »Konntet ihr leise verschwinden?«
»Wer macht schon Krach, wenn er abhaut«, meinte Anton achselzuckend.
»Ich, scheint mir«, sagte das Mädchen besorgt. »Ich habe die Waschschüssel umgeworfen und hörte plötzlich Schritte im Flur. Wahrscheinlich Jungfer Katja, sie hat heute Dienst. Ich musste raus ins Beet springen. Was meinst du, Anton, was darin für Blumen wachsen?«
»Vor deinem Fenster? Woher soll ich das wissen. Warum fragst du?«
»Das sind ungeheuer zähe Blumen. Sie trotzen jedem Wind und Sturm und haben schon so manchen Fenstersprung erlebt, ohne dass es ihnen etwas ausgemacht hätte!«
»Interessant«, meinte Anton abwesend. Vor seinem Fenster wuchsen ebenfalls Blumen, denen weder Wind noch Sturm etwas ausmachten, aber er hatte nie auf sie geachtet.
Anka blieb stehen und hielt ihm eine Handvoll Walderdbeeren hin. Bescheiden pickte er sich drei heraus.
»Nimm dir mehr«, ermunterte sie ihn.
»Danke, ich nehme sie mir lieber einzeln. Jungfer Katja ist aber eigentlich in Ordnung, oder?«
»Kommt drauf an. Mir erzählt sie Abend für Abend, dass meine Beine entweder dreckig oder staubig sind …«
Anka schwieg. Es war schön, so dicht neben ihr durch den Wald zu gehen, sie mit dem Ellbogen zu streifen und anzuschauen. Wie anmutig, flink und freundlich sie war, und was für große graue Augen und dunkle Wimpern sie hatte!
»Tja«, sagte Anton und streckte die Hand aus, um ein tauglitzerndes Spinngewebe wegzunehmen. »Jungfer Katjas Beine sind natürlich nicht schmutzig. Man trägt sie ja auch auf Händen über die Pfützen.«
»Wer trägt sie über Pfützen?«
»Na, Genrich von der Wetterwarte. So ein kräftiger Hellblonder.«
»Tatsache?«
»Ja, klar. Ist ja auch nichts dabei. Dass sie ineinander verliebt sind, weiß doch jedes Kind.«
Schweigend blickte Anton auf Anka. Ihre Augen waren wieder wie dunkle Schlitze.
»Und wann war das?«
»In einer Mondnacht«, erwiderte Anton unwillig. »Aber behalt es bitte für dich.«
»Es hat dich niemand gezwungen, es mir zu erzählen, Anton.« Anka lächelte. »Möchtest du noch Erdbeeren?«
Anton nahm sich ein paar Beeren aus Ankas klebriger Hand und schob sie sich in den Mund. Ich kann Schwätzer und Klatschmäuler auf den Tod nicht ausstehen, dachte er.
»Dich wird auch einmal einer auf Händen tragen. Wäre es dir dann angenehm, wenn andere darüber schwatzten?«
»Woher willst du wissen, dass ich etwas weitererzähle?«, meinte Anka. »Ich kann Schwätzer überhaupt nicht leiden.«
»Hör mal, was hast du vor?«, fragte Anton.
»Nichts Besonderes.« Anka zuckte mit den Achseln und gestand ihm nach einer Weile: »Ich habe es bloß satt, mir jeden Abend zweimal die Füße zu waschen.«
Arme Jungfer Katja, dachte Anton.
Sie stießen auf einen Pfad, der bergab in immer dichteren Wald führte. Üppige Farne und hohe saftige Gräser wucherten hier. Moos und weißliche Flechten bedeckten die Stämme der Fichten. Aber die Saiwa verstand keinen Spaß …
»Halt! Werft eure Waffen fort – du, edler Don, und du, Donna!«, brüllte plötzlich eine heisere, gar nicht menschenähnliche Stimme.
Wenn die Saiwa fragt, muss man schon die Antwort kennen … Anton schubste Anka nach links in die Farne und sprang nach rechts; hinter einem modrigen Stamm bezog er Stellung.
Das Echo der heiseren Stimme hallte leise nach, und schon war alles wieder still und menschenleer.
Anton rollte sich auf die Seite und drehte am Spannrad seiner Waffe. Plötzlich knallte ein Schuss, und Brocken trockener Rinde fielen auf ihn herab.
»Der Don wurde an der Ferse verwundet!«, rief die heisere Stimme.
Anton zog stöhnend das linke Bein an.
»Doch nicht dieses … das rechte«, belehrte ihn die Stimme.
Man hörte Paschka kichern. Anton hob vorsichtig den Kopf, doch im grünen Dickicht war nichts zu erkennen.
Im selben Augenblick ertönte ein schriller Pfiff, und es krachte, als fiele ein Baum um.
»Aua!«, brüllte Paschka. »Gnade! Gnade! Tötet mich nicht!«
Anton sprang auf. Paschka trat aus den Farnen rücklings auf ihn zu, die Arme über den Kopf gestreckt.
»Siehst du ihn, Anton?«, fragte Anka.
»Wie auf dem Präsentierteller«, meinte Anton zufrieden. An Paschka gewandt, rief er: »Nicht umdrehen! Hände in den Nacken!«
Gehorsam folgte Paschka dem Befehl. »Ich werde nichts sagen«, erklärte er.
»Was machen wir jetzt mit ihm, Anton?«, erkundigte sich Anka.
»Das wirst du gleich sehen.« Er setzte sich bequem auf einen Baumstamm und legte die Armbrust auf den Schoß.
»Name?«, schnauzte er Paschka an; seine Stimme klang wie die von Hexa dem Irukaner.
Paschka stand nach wie vor mit dem Rücken zu ihnen. Er antwortete nicht, und seine Körperhaltung ließ Verachtung und Widerstand erkennen. Da drückte Anton ab. Knirschend bohrte sich der schwere Pfeil in einen Ast über Paschkas Kopf.
»Oho!«, rief Anka.
»Man nennt mich Bon Sarantscha«, erklärte Paschka widerwillig. »›Und hier wird er fallen, wie es scheint, einer von denen, die mit ihm waren.‹«
»Ein berüchtigter Gewalttäter und Mörder«, erläuterte Anton. »Doch er tut nie etwas ohne Grund. Wer hat dich geschickt?«
»Don Satarina der Schonungslose«, log Paschka.
»Vor zwei Jahren schon«, sagte Anton verächtlich, »durchschnitt diese meine Hand Don Satarinas stinkenden Lebensfaden, im Forstort der Schweren Schwerter.«
»Soll ich ihm einen Pfeil verpassen?«, schlug Anka vor.
»Das hatte ich ganz vergessen«, begann Paschka hastig. »Mich schickt in Wirklichkeit Arata der Schöne. Hundert Golddukaten versprach er mir für eure Köpfe.«
»Du Schwätzer!« Anton schlug sich auf den Schenkel. »Willst du uns weismachen, Arata ließe sich mit einem solchen Taugenichts wie dir ein?«
»Soll ich ihm nicht doch einen Bolzen verpassen?«, fragte Anka kampflustig.
Anton lachte dämonisch.
»Übrigens: Deine rechte Ferse ist zerschossen; es wird Zeit, dass du verblutest.«
»Das könnte dir so passen! Doch erstens habe ich die ganze Zeit über die Rinde des weißen Baumes gekaut, und zweitens wurde mir die Wunde längst von zwei schönen Barbarinnen verbunden.«
Nun bewegten sich die Farne auseinander, und Anka trat auf den Pfad. Ihre Knie waren grün verschmiert und voller Dreck, und auf ihrer Wange prangte ein Kratzer.
»Zeit, ihn in den Sumpf zu werfen«, verkündete sie. »Wenn sich der Feind nicht ergibt, wird er vernichtet.«
Paschka ließ die Hände sinken. »Du hältst dich überhaupt nicht an die Spielregeln, Anton«, beschwerte er sich. »Wenn du dran bist, dann ist Hexa immer ein guter Mensch.«
»Was du nicht sagst.« Anton trat ebenfalls auf den Pfad. »Die Saiwa kennt aber keinen Spaß, du dreckiger Söldner.«
Anka gab Paschka das Gewehr zurück.
»Schießt ihr immer so aufeinander?«, fragte sie neidisch.
»Natürlich!« Paschka war erstaunt. »Sollen wir etwa nur ›Ffft, ffft! Piff-paff!‹ rufen? Jedes Spiel muss riskant sein!«
»Darum spielen wir auch oft ›Wilhelm Tell‹«, meinte Anton beiläufig.
»Mit wechselnden Rollen«, ergänzte Paschka. »Einmal stehe ich mit dem Apfel da, einmal er.«
»Soso«, sagte Anka. »Da würde ich gerne mal zusehen.«
»Wir würden es dir ja gern zeigen«, meinte Anton spitz. »Wir haben bloß keinen Apfel.«
Als Paschka lachte, riss ihm Anka das Piratentuch vom Kopf und wickelte es flink zu einer Rolle auf.
»Der Apfel ist unwichtig«, sagte sie. »Das hier ist genauso gut als Zielscheibe. Und jetzt spielen wir ›Wilhelm Tell‹.«
Anton betrachtete aufmerksam das rote Bündel. Dann warf er einen Blick auf Anka und sah, dass sie die Augen fast geschlossen hielt. Paschka hingegen war fröhlich; ihm machte das Ganze anscheinend Spaß.
»›Auf dreißig Schritte Distanz verfehle ich keine Karte‹«, meinte Anton beiläufig und hielt Paschka die Stoffrolle hin. »›Natürlich mit einer Pistole, die ich schon kenne.‹«
»›Wirklich?‹«, fragte Anka. »›Kannst auch du, mein Freund, eine Karte auf dreißig Schritte Distanz treffen?‹«, wandte sie sich an Paschka.
»›Das wollen wir einmal versuchen.‹« Paschka schob sich grinsend das Bündel auf dem Kopf zurecht. »›Zu meiner Zeit schoss ich nicht schlecht.‹«
Anton drehte sich um und schritt leise zählend die Entfernung ab.
Paschka sagte etwas, was Anton nicht verstand, und Anka lachte übertrieben laut auf.
Bei dreißig machte Anton kehrt.
Auf diese Entfernung wirkte Paschka ganz klein. Das dreieckige rote Bündel auf seinem Kopf sah aus wie eine Narrenkappe. Paschka grinste, denn er hielt das Ganze immer noch für ein Spiel. Anton beugte sich vor und spannte ohne Eile die Sehne.
»Ich segne dich, Wilhelm, mein Vater!«, rief Paschka. »Und ich danke dir für alles, was immer auch geschehen mag.«
Anton legte den Pfeil ein und richtete sich auf. Paschka und Anka standen nebeneinander und blickten sich an. Der Pfad wirkte wie ein dunkler, feuchter Korridor zwischen den hoch aufragenden grünen Bäumen. Ungewöhnlich schwer war das Kriegsgerät à la Marschall Toz. Meine Hände zittern, dachte Anton. Das ist schlecht. Das kann ich jetzt nicht gebrauchen. Er erinnerte sich, wie er mit Paschka im Winter eine ganze Stunde lang mit Schneebällen auf die gusseiserne Kugel eines Zaunpfahles gezielt hatte. Obwohl sie es nacheinander aus zwanzig, fünfzehn und schließlich nur noch zehn Schritt Entfernung versucht hatten, verfehlten sie immer das Ziel. Schließlich gaben sie auf und machten sich auf den Weg; da traf Paschka, ohne auch nur hinzusehen, mit dem letzten, nachlässig geworfenen Ball die Kugel … Anton stemmte die Armbrust fest gegen seine Schulter. Anka steht zu nah, dachte er. Er wollte ihr schon zurufen, sie solle mehr Abstand halten, aber da fiel ihm ein, wie dumm das aussähe. Er zielte also höher, immer höher und war trotzdem überzeugt, dass sich der fast ein Pfund schwere Pfeil in Paschkas Nasenwurzel bohren würde, genau zwischen seine beiden fröhlich in die Welt blickenden Augen, selbst wenn er ihm den Rücken zudrehte. Paschka hatte aufgehört zu grinsen. Anka machte eine abwehrende Handbewegung; ihr Gesicht war angespannt und wirkte sehr erwachsen. Anton hob die Armbrust noch höher und drückte ab. Er sah nicht, wohin der Pfeil flog.
»Daneben«, sagte er übertrieben laut. Steifbeinig stelzte er den Pfad entlang auf die beiden zu.
Paschka wischte sich mit dem roten Tuch den Schweiß von der Stirn, schüttelte es aus und wickelte es wieder um den Kopf. Wenn sie mir mit der Armbrust, nach der sie sich gerade bückt, eins über den Schädel gäbe, würde ich mich noch bei ihr bedanken, dachte Anton. Aber Anka würdigte ihn keines Blicks.
»Gehen wir?«, wandte sie sich an Paschka.
»Gleich.« Er zeigte Anton einen Vogel.
»Aber du hattest Schiss«, sagte Anton.
Paschka deutete noch einmal vielsagend auf seine Stirn und schloss sich Anka an. Anton trottete hinterher.
Was habe ich denn getan?, ärgerte er sich. Weshalb sind sie böse auf mich? Natürlich hatte Paschka Angst … Ich weiß bloß nicht, wer mehr hatte – Papa Wilhelm oder Tell junior. Wahrscheinlich hat sich Anka um Paschka geängstigt. Aber was hätte ich denn tun sollen? Und jetzt laufe ich hinter ihnen her wie ein Trottel. Am besten, ich haue ab. Da links ist ein Sumpf; vielleicht gelingt es mir ja, eine Eule zu fangen. Doch er verlangsamte nicht einmal seinen Schritt … Es ist also endgültig aus, dachte er … So etwas kam häufig vor, das wusste er aus Büchern.
Früher als gedacht stießen sie auf die verlassene Chaussee. Die Sonne stand im Zenit, und es war heiß. Die Tannennadeln pikten. Die Straßendecke bestand aus zwei Reihen graubrauner Betonplatten, zwischen denen trockenes Gras wucherte. Am Straßenrand standen staubig aussehende Klettengewächse, und über die Betonplatten schwirrten Goldkäfer; einer flog Anton frech gegen die Stirn.
»Seht mal!«, rief Paschka.
An einem über die Straße gespannten rostigen Draht hing ein rundes Blechschild, auf dem man noch einen weißen Balken auf rotem Grund erkennen konnte.
»Was ist das?«, fragte Anka, nicht sonderlich interessiert.
»Ein Verkehrszeichen, das so viel bedeutet wie ›Einfahrt verboten‹«, antwortete Paschka.
»Ein ›Ziegelstein‹«, erläuterte Anton.
»Und was bedeutet das?«
»Dass man nicht weiterfahren darf.«
»Aber wozu dann die Straße?«
Paschka zuckte mit den Achseln.
»Die Chaussee muss uralt sein«, sagte er.
»Eine anisotrope Chaussee«, erklärte Anton. Anka stand mit dem Rücken zu ihm. »Der Verkehr ging bloß in eine Richtung.«
»Sehr schlau, unsere Vorfahren«, bemerkte Paschka. »Da fahren sie und fahren, wohl an die zweihundert Kilometer, und plötzlich: ein Ziegelstein! Und weit und breit kein Mensch, den man fragen könnte.«
»Wer weiß, was sich hinter dem Zeichen befindet!« Anka schaute sich um. Kilometerweit nichts als einsamer Wald und niemand, der einem sagen konnte, was sich hinter dem Schild verbarg. »Und wenn es gar kein Sperrzeichen ist? Die Farbe ist schon ganz abgeblättert.«
Anton zielte sorgfältig und drückte ab. Jetzt müsste der Pfeil den Draht durchschlagen und das Schild direkt vor Anka zu Boden fallen, dachte er. Doch das Geschoss traf den oberen Teil des Straßenzeichens und durchschlug das rostige Blech, sodass nur die trockene Farbe abfiel.
»Dummkopf.« Anka wandte nicht einmal den Kopf.
Es war das erste Wort, das sie nach dem Wilhelm-Tell-Spiel an ihn gerichtet hatte. Anton lächelte schief und sagte: »And enterprises of great pitch and moment with this regard their currents turn awry and lose the name of action.«
»Kinder, hier ist ein Auto gefahren!«, rief der treue Paschka. »Und zwar nach dem Gewitter. Da, das Gras ist ganz zerdrückt! Und hier …«
Paschka hat Glück, dachte Anton. Als er die Spuren auf der Straße weiter verfolgte, entdeckte er ebenfalls zerdrücktes Gras und dunkle Reifenspuren dort, wo der Wagen vor einem Schlagloch gebremst hatte.
»Er hat also das Sperrschild überfahren«, stellte Paschka fest.
Obwohl dieser Schluss logisch war, widersprach Anton: »Ausgeschlossen. Er kam von der anderen Seite.«
»Bist du blind?« Paschka musterte ihn erstaunt.
»Er kam von dieser Seite«, wiederholte Anton eigensinnig. »Wir können die Spur ja verfolgen.«
»Red keinen Unsinn!« Paschka war empört. »Erstens überfährt kein normaler Fahrer einen ›Ziegelstein‹, und zweitens ist da das Schlagloch und die Bremsspur … Von wo ist er also gekommen?«
»Was kümmern mich deine ›normalen Fahrer‹! Ich bin selber nicht normal und gehe deswegen trotz des Verbotsschilds weiter.«
»Geh, wohin du willst«, sagte Paschka und stotterte sogar ein bisschen vor Ärger. »Du hast wohl bei der Hitze den Verstand verloren!«
Anton wandte sich ab und ging mit gesenktem Blick unter dem Zeichen durch. Nur das eine wünschte er sich: dass er auf eine gesprengte Brücke stieße und sich zur anderen Seite durchschlagen müsste. Zum Teufel mit der Ordnung!, dachte er. Soll sie doch gehen, wohin sie will … mit ihrem Paschka. Als ihm aber einfiel, wie Paschka angeschnauzt worden war, als er sie Anetschka genannt hatte, wurde ihm leichter ums Herz. Er sah sich um.
Paschka – Bon Sarantscha – ging gebückt der geheimnisvollen Autospur nach. Die rostige Scheibe über der Straße klapperte im Wind. Durch das Einschussloch lugte ein Stück blauen Himmels hervor. Anka saß am Straßenrand, hatte die Ellbogen auf die nackten Knie gestützt und das Kinn auf den Fäusten abgelegt.
… Als sie heimfuhren, wurde es schon dunkel. Die Jungs ruderten, und das Mädchen steuerte. Über dem Wald ging der Mond auf, die Frösche quakten laut.
»Wir hatten uns alles so schön ausgedacht«, meinte Anka traurig. »Ach, ihr …«
Die Jungs erwiderten nichts.
»Was war hinter dem Zeichen, Anton?«, fragte sie leise.
»Eine gesprengte Brücke«, sagte Anton. »Und das Skelett eines Faschisten, das an ein Maschinengewehr gekettet war.« Er überlegte und fügte hinzu: »Das MG war schon ganz in die Erde eingesunken …«
»Tja«, meinte Paschka. »Das kommt vor. Und ich habe einem geholfen, sein Auto zu reparieren.«
1
Als Rumata das Grab des heiligen Mika erreichte, das siebte und letzte in der Reihe, war es schon Nacht. Der viel gerühmte Chamacharhengst, den Don Tameo ihm für die Begleichung seiner Spielschulden überlassen hatte, erwies sich als Klepper, der schweißbedeckt und mit sich scheuernden Fesseln dahintrottete. Rumata drückte ihm die Fersen in die Flanken und schlug ihm mit den Handschuhen zwischen die Ohren, aber der Klepper schüttelte, ohne seinen Gang zu beschleunigen, bloß den Kopf. Zu beiden Seiten des Weges standen Büsche, die im Dunkeln aussahen wie erstarrte Rauchwolken. Mückenschwärme surrten. Am trüben Himmel flimmerten matt vereinzelte Sterne. Hin und wieder wehte ein leichter Wind heran, kühl und warm zugleich – wie immer, wenn es Herbst wurde, in diesem Küstenland mit seinen staubigen Tagen und frostigen Nächten.
Rumata ließ die Zügel fahren und hüllte sich fester in seinen Umhang. Eile war sinnlos: Es blieb noch eine Stunde bis Mitternacht, und am Horizont zeichnete sich schon der Schluckaufwald als dunkler, gezackter Streif ab. Zu beiden Seiten des Weges lagen umgepflügte Felder und modrige Tümpel, die im Sternenlicht glitzerten; dunkel ragten Hügel und verrottete Palisaden aus der Zeit der Invasion auf. Weiter links flackerte unheilvoll ein Feuerschein: Offenbar brannte dort ein kleines Dorf – eins der unzähligen, laut allerhöchstem Erlass in »Freundlich«, »Gesegnet« oder »Engelgleich« umbenannten Dörfer, die früher »Totenfraß«, »Galgendorf« oder »Brandschatz« geheißen hatten. Hunderte Meilen weit erstreckte sich das Land von der Meerenge bis zur wilden Saiwa des Schluckaufwaldes, von Mückenschwärmen bevölkert; zerklüftet, versumpft und von Fieber, Seuchen und übelsten Gerüchen heimgesucht.
Als sich an einer Wegbiegung eine dunkle Gestalt aus dem Gebüsch löste, scheute der Hengst. Rumata straffte die Zügel, schob den spitzenbesetzten Ärmel hoch, umfasste den Griff des Schwertes und heftete seinen Blick auf den Unbekannten.
Der Mann lüftete den Hut. »Entschuldigt, edler Don«, sprach er ihn leise an.
»Was wollt Ihr?«, fragte Rumata.
Es gibt keine lautlosen Hinterhalte: Den Räuber verrät das Knirschen beim Spannen der Armbrustsehne, die grauen Sturmmannen das Rülpsen von schlechtem Bier; die Baronsgefolgsleute schnauften beutegierig und klirrten mit Eisen, und die Mönche, diese Sklavenjäger, erkannte man am geräuschvollen Kratzen. Da aber im Gebüsch alles still blieb, schien der Mann niemanden in die Falle locken zu wollen. Und er sah auch nicht so aus, dieser kleine untersetzte Städter mit seinem ärmlichen Umhang.
Der Fremde verbeugte sich. »Gestattet Ihr, dass ich neben Euch herlaufe?«
»Meinetwegen«, sagte Rumata und zog die Zügel an. »Du kannst dich am Steigbügel festhalten.«
Den Hut in der Hand, trabte der glatzköpfige Mann schweigend neben dem Reiter her. Ein Kaufmannsgehilfe, dachte Rumata. Kauft Flachs und Hanf bei Baronen und Viehhändlern auf. Mut hat er, der Handelsmann! … Wenn es aber nun gar kein Handelsmann ist, sondern ein »Bücherfreund«, ein Ausbrecher oder Ausgestoßener? Heutzutage gibt es davon mehr auf nächtlichen Straßen als Händler. Oder gar ein Spitzel?
»Wer bist du, und woher kommst du?«, fragte Rumata.
»Ich heiße Kiun und komme aus Arkanar«, antwortete der Fremde bedrückt.
»Du f-l-i-e-h-s-t aus Arkanar«, verbesserte Rumata.
»Ja, ich bin auf der Flucht«, gestand der Fremde traurig.
Merkwürdiger Kerl, dachte Rumata. Vielleicht doch ein Spitzel? Ich muss ihn auf die Probe stellen … Aber wozu eigentlich? Wer hat etwas davon? Und wer bin ich, dass ich das Recht habe, ihn auf die Probe zu stellen? Nein, ich habe auch gar keine Lust dazu. Warum glaube ich es nicht einfach? Er ist ein Städter, offenkundig ein Bücherfreund und auf der Flucht, um sein Leben zu retten … Er ist einsam, fürchtet sich, ist schwach und schutzbedürftig … Es begegnet ihm ein Aristokrat. Aristokraten sind allzu dumm und hochnäsig, um sich mit Politik auszukennen, aber ihre Schwerter sind lang, und sie verachten die Grauen. Weshalb also sollte der Städter Kiun nicht Schutz bei einem dummen und hochnäsigen Aristokraten suchen? So ist es, und damit Schluss. Ich werde ihn nicht auf die Probe stellen, denn es besteht keine Veranlassung dazu. Wir werden uns unterhalten, uns die Zeit vertreiben und als Freunde scheiden.
»Kiun …«, begann Rumata. »Ich kannte einmal einen Mann namens Kiun. Er war Gewürzhändler und Alchimist in der Blechstraße. Bist du mit ihm verwandt?«
»Leider ja«, erwiderte Kiun. »Zwar nur entfernt. Aber die machen da keinen Unterschied … bis ins zwölfte Glied.«
»Und wohin flüchtest du, Kiun?«
»Irgendwohin … möglichst weit. Wie schon viele andere werde auch ich versuchen, nach Irukan zu entkommen.«
»Verstehe«, sagte Rumata. »Und du glaubst, dass dich der edle Don durch die Grenzsperre bringt?«
Kiun schwieg.
»Oder meinst du, der edle Don weiß nicht, was es mit dem Alchimisten Kiun aus der Blechstraße auf sich hat?«
Anscheinend finde ich nicht die richtigen Worte, überlegte Rumata, als Kiun weiter schwieg. Er richtete sich in den Steigbügeln auf und rief wie ein Herold auf dem Königsplatz: »Angeklagt und für schuldig befunden wegen furchtbarer, unverzeihlicher Verbrechen gegen Gott, Krone und Ruhe!«
Kiun schwieg immer noch.
»Aber wenn der edle Don nun Don Reba verehrt? Wenn er dem grauen Wort, der grauen Sache von Herzen ergeben ist? Oder hältst du das für unmöglich?«
Kiun schwieg beharrlich. Auf der rechten Straßenseite tauchte aus dem Dunkel ein Galgen auf, unter dessen Querbalken ein nackter weißer Körper hing – mit den Füßen nach oben. Hm, dachte Rumata, immer noch keine Antwort. Dann zog er die Zügel an, fasste Kiun an der Schulter und drehte ihn zu sich. »Zum Teufel!«, sagte er und blickte in das bleiche Antlitz mit den dunklen Augenhöhlen. »Was, wenn dich der edle Don jetzt neben diesen Landstreicher hängte? Eigenhändig. Auf der Stelle. An einem festen arkanarischen Strick. Im Namen der Ideale. Nun, sagst du noch immer nichts, Bücherfreund Kiun?«
Kiun schwieg, klapperte mit den Zähnen und krümmte sich unter Rumatas Griff wie eine gequetschte Eidechse. Klatschend fiel etwas in den Straßengraben. Als wollte er das Geräusch übertönen, rief Kiun verzweifelt: »So häng mich doch! Häng mich doch, Verräter!«
Aufatmend gab Rumata den Mann frei.
»Es war ein Scherz«, sagte er. »Fürchte dich nicht.«
»Lüge, nichts als Lüge«, schluchzte Kiun. »Lüge auf Schritt und Tritt!«
Rumata beruhigte ihn. »Du tätest besser daran aufzuheben, was du weggeworfen hast. Es könnte nass werden!«
Kiun klopfte sich wie geistesabwesend gegen den Umhang und verschwand taumelnd und schluchzend im Straßengraben. Im Sattel vornübergebeugt, wartete Rumata. So muss man es also machen, dachte er, anders geht es nicht.
Kiun kletterte aus dem Graben heraus und schob eine Rolle unter seinen Umhang.
»Natürlich Bücher …«, forschte Rumata.
Kiun schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er heiser. »Nur ein Buch. Mein Buch.«
»Worüber schreibst du denn?«
»Das wird Euch nicht interessieren, edler Don.«
Rumata seufzte. »Fass den Steigbügel und lass uns weiterziehen.«
Längere Zeit schwiegen beide.
»Höre, Kiun«, begann Rumata. »Ich habe gescherzt. Du brauchst mich nicht zu fürchten.«
»Eine schöne Welt«, stieß Kiun hervor. »Eine fröhliche Welt. Alles scherzt, und immer auf dieselbe Weise. Selbst der edle Rumata.«
»Du kennst meinen Namen?«
»Gewiss. Ich erkannte Euch am Stirnreif. Ich war froh, Euch zu begegnen.«
Das also meinte er, als er mich einen Verräter nannte, dachte Rumata.
»Ich hielt dich für einen Spitzel«, sagte er. »Und Spitzel töte ich.«
»Für einen Spitzel …«, wiederholte Kiun. »Aber ja, natürlich. Heute ist es leicht und einträglich, ein Spitzel zu sein. Unser Adler, der edle Don Reba, ist äußerst bemüht zu erfahren, was des Königs Untertanen sagen und denken. Ich wollte, ich wäre ein Spitzel! Ein gewöhnlicher Informant in der Taverne ›Zur grauen Freude‹, zum Beispiel. Wie gut und ehrenhaft das wäre! Wenn ich mich abends um sieben im Ausschank an meinen Tisch setzte, brächte mir der Wirt diensteifrig den ersten Krug. Trinken könnte ich, so viel in mich hineinpasste, denn das Bier bezahlte Don Reba oder, besser gesagt, niemand. Ich säße da, tränke mein Bier und horchte. Zuweilen täte ich, als schriebe ich etwas auf. Erschreckt kämen dann die kleinen Leute angelaufen, um mir Freundschaft und Geldbörse anzubieten. In ihren Augen sähe ich das, was zu sehen ich wünschte: hündische Untertänigkeit, Ehrerbietung, Furcht und wunderbaren, ohnmächtigen Hass. Ungestraft dürfte ich die Mädchen anfassen und die Frauen vor den Augen ihrer Männer drücken. Obwohl es stramme Kerle sind, kichern sie bloß unterwürfig dazu … Eine angenehme Vorstellung, nicht wahr, edler Don? Die gleiche fand ich auch bei einem fünfzehnjährigen Burschen, einem Studenten der Patriotischen Schule.«
»Und was sagtest du ihm?«, wollte Rumata neugierig wissen.
»Was konnte ich schon sagen? Er hätte mich doch nicht verstanden. Ich erzählte ihm, dass die Leute von Waga dem Rad jedem Spitzel, den sie fangen, den Bauch aufschlitzen und Pfeffer in die Eingeweide schütten, dass betrunkene Soldaten Spitzel in einen Sack stecken und im Abort ertränken. Und obwohl es die lautere Wahrheit ist, glaubte er mir nicht, weil sie das in der Schule nicht durchgenommen hätten, wie er sagte. Als ich mir unser Gespräch auf einem Blatt Papier notierte, um es in meinem Buch zu verwenden, glaubte der Ärmste, ich wollte ihn denunzieren, und nässte vor lauter Angst ein.«
Durch das Gebüsch vor ihnen sahen sie die Lichter von Skelett Bakos Schenke aufleuchten. Kiun strauchelte und schwieg.
»Was ist?«, fragte Rumata.
»Eine Patrouille der Grauen«, murmelte Kiun.
»Nun und? Du solltest folgende Sichtweise in Betracht ziehen, ehrenwerter Kiun: Wir lieben und schätzen diese einfachen, groben Jungs, unser graues Schlachtvieh. Wir brauchen sie. Von jetzt an muss das gemeine Volk seine Zunge hüten, wenn sie ihm nicht am Galgen heraushängen soll!« Don Rumata lachte. Das hatte er ausgezeichnet gesagt, ganz im Geiste der grauen Kasernentradition.
Kiun duckte sich und zog den Kopf ein. Rumata fuhr fort:
»Die Zunge des gemeinen Mannes muss wissen, was sie tut. Gott hat sie ihm nicht gegeben, damit er schwatze, sondern die Stiefel seines Herrn lecke, jenes Herrn, der von Anbeginn über ihn gesetzt ist …«
Am Pikettpfahl vor der Schenke standen die gesattelten Pferde der grauen Patrouille. Aus dem geöffneten Fenster drang wüstes, heiseres Schimpfen. Würfel klapperten. Mit abgewetzter Lederjacke und aufgekrempelten Ärmeln stand Skelett Bako persönlich vor der Tür und versperrte mit seinem ungeheuren Wanst den Eingang. In der behaarten Rechten hielt er einen Stutzsäbel. Wie es schien, hatte er gerade Hundefleisch für die Brühe zerkleinert, war ins Schwitzen geraten und schöpfte nun frische Luft. Auf den Treppenstufen hockte zusammengekauert ein grauer Sturmmann, dem vom unmäßigen Trinken sichtlich übel war. Er hatte das Gesicht an die Streitaxt gelehnt, die eingeklemmt zwischen seinen Knien stand. Beim Anblick des Reiters zog er den Speichel zusammen und krächzte heiser: »Ha-alt! Du da … He, E-edelmann!«
Ohne den Mann eines Blickes zu würdigen, ritt Rumata weiter.
»… Und wenn die Zunge des gemeinen Mannes den falschen Stiefel leckt«, sagte er laut, »muss man sie ihm ausreißen, heißt es doch: ›Meine Zunge ist mein Feind.‹«
Kiun versteckte sich hinter der Kruppe des Pferdes und folgte ihm mit großen Schritten. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Rumata sehen, wie Kiuns Glatze von Schweiß glänzte.
»Halt!«, grölte der Sturmmann noch einmal.
Dann war zu hören, wie er mit scheppernder Axt und lauthals fluchend die Treppenstufen hinunterrollte.
Fünf Mann werden es wohl sein, dachte Rumata und streifte die Manschetten hoch. Lauter betrunkene Schlächter.
An der Schenke vorbei schlugen sie den Weg zum Wald ein.
»Ich kann schneller laufen, wenn es sein muss«, meinte Kiun mit sehr fester Stimme.
»Unsinn!«, entgegnete Rumata und zügelte den Hengst. »Es wäre langweilig, so viele Meilen zu reiten ohne einen einzigen Streit. Hast du etwa nie Lust, dich zu schlagen? Immer nur reden, reden …«
»Nein. Ich habe nie Lust, mich zu prügeln.«
»Das ist ja das Unglück«, murmelte Rumata, wendete den Hengst und streifte seine Handschuhe über.
Hinter der Wegbiegung tauchten zwei Reiter auf, die sofort anhielten, als sie Rumata erblickten.
»He, edler Don!«, rief der eine. »Zeig uns mal deinen Reiseschein!«
»Knechtsgesindel!«, zischte Rumata kühl. »Ihr könnt ja doch nicht lesen. Was wollt ihr dann also mit dem Reiseschein?«
Er drückte dem Hengst die Knie in die Seiten und ritt auf die beiden Sturmmannen zu. Sie werden kneifen, dachte Rumata … Wenn ich sie doch wenigstens ohrfeigen könnte! Wie gern würde ich den Zorn, der sich heute in mir angesammelt hat, an ihnen auslassen, aber mir scheint, daraus wird nichts. Also gut. Verhalten wir uns human. Vergeben wir allen; seien wir still und unbeteiligt wie Götter. Sollen sie morden und schänden, wir werden es ruhig mit ansehen – wie Götter. Götter können sich Zeit lassen, sie haben die Ewigkeit vor sich …
Als Rumata dicht an die Sturmmannen heranritt, hoben sie zögernd die Streitäxte und wichen zurück.
»Nun?«, sagte Rumata.
»Ist das nicht …?«, stotterte der erste Sturmmann. »Das ist doch der edle Don Rumata?«
Der zweite Sturmmann wendete seinen Gaul und preschte im Galopp davon. Sein Kamerad ließ die Axt sinken und wich noch ein Stück weiter zurück.
»Wir bitten um Vergebung, edler Don«, sagte er hastig. »Es war ein Irrtum. Wir hatten staatliche Order, aber irren ist menschlich. Die Jungs haben ein bisschen getrunken. Sie glühen vor Eifer …« Der Sturmmann wich zur Seite aus. »Sie wissen selbst, die Zeiten sind schwer. Wir sind auf der Jagd nach flüchtigen Schriftkundigen. Wir wollen Euch keinen Anlass geben, Klage wider uns zu führen, edler Don.«
Rumata wendete wortlos sein Pferd.
»Gute Reise dem edlen Don!«, rief ihm der Sturmmann erleichtert nach.
»Kiun!« Auf Rumatas halblauten Ruf hin antwortete niemand.
»He, Kiun!«