Die schottische Bäckerei zum Glück - Emma Bishop - E-Book

Die schottische Bäckerei zum Glück E-Book

Emma Bishop

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Beschreibung

Smalltown-Romance in Tobermory Eines Tages findet Hailey bei ihrer  Bäckerei einen Mann in zerrissener Kleidung vor. Hailey geht davon aus, dass er ein Obdachloser ist und gibt ihm etwas zu essen. Er ist am Strand von Tobermory zu sich gekommen und kann sich an gar nichts mehr erinnern. Verwirrt sitzt er vor Haileys Laden und überlegt, was passiert sein könnte. Als sie ihn nach seinem Namen fragt, nennt er ihr den erstbesten Namen, der ihm einfällt: Arran Hamilton. Hailey nimmt ihn bei sich auf, ohne zu ahnen, wer bei ihr eingezogen ist …

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Seitenzahl: 542

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Emma Bishop

Die schottische Bäckerei zum Glück

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Smalltown-Romance in Tobermory

Eines Tages findet Hailey bei ihrer  Bäckerei einen Mann in zerrissener Kleidung vor. Hailey geht davon aus, dass er ein Obdachloser ist und gibt ihm etwas zu essen. Er ist am Strand von Tobermory zu sich gekommen und kann sich an gar nichts mehr erinnern. Verwirrt sitzt er vor Haileys Laden und überlegt, was passiert sein könnte. Als sie ihn nach seinem Namen fragt, nennt er ihr den erstbesten Namen, der ihm einfällt: Arran Hamilton. Hailey nimmt ihn bei sich auf, ohne zu ahnen, wer bei ihr eingezogen ist …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Emma Bishop ist das Pseudonym der erfolgreichen Autorin Tanja Neise. Schon früh entdeckte sie ihre Liebe zum Schreiben und erreichte mit ihren Romanen Top-Platzierungen in den E-book-Charts. Ihre zweite große Leidenschaft gilt Schottland und seiner einzigartigen Schönheit und Natur.  In ihrer Isle-of-Mull-Reihe entführt sie uns aus dem Alltag und erzählt mit viel Gefühl von zwischenmenschlichen Beziehungen, Freundschaft und Hilfsbereitschaft. Dabei darf die Liebe nie zu kurz kommen, und ein Happy End ist garantiert. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem Dorf in Brandenburg.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

[Leseprobe]

1. Kapitel

Danksagung

Rezept für Pasta Sarda

1.

Gum biodh ràth le do thurus.

– Möge deine Suche erfolgreich sein. –

Freitag, 4. August

Es war einer dieser schönen, warmen Sommertage auf der Isle of Mull, die ich besonders liebte. Die Hauptstadt Tobermory schien heute vor Energie zu pulsieren. Während nur wenige Menschen dauerhaft auf der Insel wohnten, fanden sich in der Hauptsaison umso mehr Saisonkräfte ein, die hier in den Sommermonaten vom Tourismus lebten. Zudem hatte ich das Gefühl, als wären heute noch mehr Touristen auf unser kleines Eiland geströmt als an anderen Tagen.

Schon auf dem Weg zur Arbeit hatte ich bemerkt, dass etliche Yachten vor Anker lagen und einige Beiboote an der Kaimauer im Hafen vertäut waren. Das war an sich nichts Außergewöhnliches, doch die Größe der Schiffe fiel mir auf. So was fand man wahrscheinlich eher in Monaco, Miami und in den Arabischen Emiraten als auf den unspektakulären Hebriden.

Wobei sich unspektakulär mehr auf das Angebot an sozialen Attraktionen und gesellschaftlichen Events bezog als auf die landschaftlichen Gegebenheiten und mitunter äußerst turbulenten Kapriolen des Wetters. Und natürlich waren auch diese für die üblichen Touristen vermutlich deutlich interessanter als für uns Einheimische, die den Anblick von klein auf vor Augen hatten.

Die Isle of Mull war ein ruhiger Urlaubsort. Teil einer Inselgruppe, die in Schottland liegt. Dieser Fleck Großbritanniens war mittlerweile ein Magnet für Touristen geworden, was nicht zuletzt an den vielen Filmen lag, die hier gedreht worden waren. Besucher kamen hierher, um wandern zu gehen, sich zu entspannen und die wilde schottische Natur und die Stille der Inseln zu genießen. Hier gab es keine teuren Restaurants oder Designerläden. Nur kleine Orte und idyllische Buchten. Deshalb irritierte mich der Anblick der Schickimicki-Yachten umso mehr.

Wie an jedem Tag der Woche, außer sonntags, hatte ich auch heute meine Bäckerei – das Lizzy’s – mit dem dazugehörigen Café geöffnet und mich die nächsten Stunden um meine Gäste gekümmert.

Ich war gerade im Begriff, mich mal für ein paar Minuten setzen zu wollen, als eine Frau im Businesskostüm hereinkam und mich mit einem lang gezogenen Akzent begrüßte.

Augenblicklich war mir klar, dass sie keine normale Touristin sein konnte. Der Akzent hatte mir sofort verraten, dass sie weder aus England noch aus Schottland und erst recht nicht von der Isle of Mull kam, sondern aus den USA. Ihre ganze Erscheinung passte nicht hierher. Sie war auch definitiv keine der wandernden Naturtouristen. Dafür war sie viel zu schick zurechtgemacht.

»Ich brauche zehn von denen und zehn von den Scones. Und noch zehn von den Zimtschnecken«, bestellte sie. Mit aufmerksamem Blick schaute sie sich die Auslage genauer an und deutete auf die Törtchen. »Ach, die sehen auch hübsch aus. Davon auch noch mal zehn und einen Caramel-Macchiato. Alles zum Mitnehmen. Sie haben doch To-go-Becher?«

Was glaubte sie, wo sie sich befand? Auf dem Mond? Statt eine schnippische Antwort zu geben, biss ich mir auf die Zunge und schluckte die Worte, die am liebsten aus meinem Mund gepurzelt wären, herunter.

»Selbstverständlich. Sogar mit Deckel, allerdings nehmen wir Pfand für den Becher, das Sie wiederbekommen, sobald Sie ihn zurückbringen. Oder Sie behalten ihn als Andenken.«

Irritiert blinzelte sie mich angesichts meines zuckersüßen Tons an. Ich schenkte ihr mein gekonnt oberflächliches Lächeln, das ich mir für schwierige Gäste aufhob und widmete mich dann, als sie nichts auf meine Worte erwiderte, ihrem Kaffee.

Während ich anschließend die Backwaren in mehrere Kartons packte, fragte ich mich, für wen die zierliche Blondine diese Massen an Süßkram bestellt hatte. Die Kostümträgerin, die ich auf Mitte bis Ende dreißig schätzte, sah so aus, als kenne sie das Wort Freizeit nicht und hätte aufgrund von Stress nicht viel Zeit zum Essen. Auch jetzt wirkte sie eher gehetzt.

Ich stapelte die sechs Kisten aufeinander und überlegte, wie sie in Gottes Namen das alles von hier wegschaffen wollte. Doch sie überraschte mich erneut.

Hektisch tippte die Frau auf ihrem Smartphone herum und hob es an ihr Ohr. »Justin? Ja, bin im Café am Hafen. Komm her und bring Tim mit. Ihr müsst mir tragen helfen.« Dann schnappte sie sich den Kaffee und trank einen großen Schluck.

Gut, dass ich die Milch des Getränks nicht zu heiß gemacht hatte, ansonsten hätte Mrs. Business sich ihre rotgeschminkten Lippen verbrannt und mich vermutlich vor irgendein Gericht geschleppt und Schadensersatz von mir gefordert, weil ich sie nicht gewarnt hatte. Sie wirkte auf mich, als wäre sie direkt aus einem Büro in New York hierhergebeamt worden.

»Das macht neunundachtzig Pfund und vierzig Pence«, erklärte ich ihr, nachdem ich ihre Bestellung fertig eingepackt und in die Kasse getippt hatte.

Mit einem Hauch von Großspurigkeit legte sie mir zwei Fünzigpfundbanknoten auf den Tresen. »Stimmt so.«

Erstaunt hob ich die Augenbrauen, doch sie bemerkte es nicht, weil sie ihre Aufmerksamkeit bereits wieder auf ihr Handy gerichtet hatte.

Ich wollte nicht undankbar sein, aber das war eindeutig zu viel Trinkgeld, zumal ich sie nicht mal am Tisch bedient und ihr die Backwaren nur verkauft hatte. Doch als mich ihr abschätziger Blick traf, zuckte ich nur mit den Schultern und bedankte mich. Wenn sie ihr Geld aus dem Fenster schmeißen wollte, sollte mir das doch egal sein.

Gerade als ich die Scheine in der Kasse verstaut hatte, stürmten zwei junge Kerle ins Café. Sonnengebräunt und geschätzt Anfang zwanzig. Auch sie sahen nicht wie die typischen Touristen aus. Weder waren sie Surferboys, deren Haare vom Salzwasser ausgeblichen waren, noch liefen sie barfuß, in Badelatschen oder gar in Wanderschuhen herum. Sie trugen stattdessen Bermudashorts, Segelschuhe und Polohemden. Über den Schultern hatte jeder von ihnen einen Pulli gelegt und das Haar zurückgegelt. Hätte ich nur die Kleidung gesehen, wäre ich vermutlich davon ausgegangen, dass es sich bei den beiden um Zwillinge handelte.

Zielstrebig steuerten sie den Tresen an und Mrs. Wichtig wedelte mit der Hand in Richtung der Kartons. Einer lächelte mich an und dann verschwanden die beiden schon mitsamt den Backwaren, ohne dass einer in dieser merkwürdigen Truppe miteinander geredet hätte. Ohne sich zu verabschieden, stöckelte die Frau ebenfalls aus meiner Bäckerei und nippte dabei an ihrer Kaffeespezialität.

Kopfschüttelnd blickte ich den dreien hinterher.

»Mach den Mund zu, Hailey«, wies mich Phil zurecht, nachdem er aus der Küche in den Gastraum getreten war, um frische Gebäckteilchen in die Auslage zu packen. Offensichtlich hatte er meinen Gesichtsausdruck bemerkt.

Phil war erst seit ein paar Wochen meine neue Aushilfe, doch der gelernte Bäcker hatte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem festen Bestandteil meines Teams entwickelt. Er konnte sogar kochen und nahm mir viel Arbeit ab. Deshalb spielte ich tatsächlich mit dem Gedanken, dem geborenen Iren eine Festanstellung anzubieten.

Normalerweise arbeitete ich in den Wintermonaten allein im Lizzy’s. Nur in den Sommermonaten stellte ich Aushilfen ein. Das waren größtenteils Studenten oder andere junge Leute, die sich ihren Aufenthalt in Schottland finanzierten. Doch er war ein erwachsener Mann von dreißig Jahren, den es nach Tobermory verschlagen hatte. Bei seinem ersten Aufenthalt, als er im vergangenen Jahr für einige Tage hier Urlaub gemacht hatte, hatte er sich in die Insel verliebt und entschieden, hier leben zu wollen. Neben Phil arbeitete momentan noch Moira bei mir, die meistens die Nachmittagsschicht übernahm und entweder ihn oder mich ablöste.

Meine Geschäfte liefen hervorragend und ich hätte es mir sogar leisten können, im Winter für ein paar Wochen komplett zu schließen, doch das konnte ich den Anwohnern von Tobermory nicht antun. Viele von ihnen kamen zum Mittagessen her oder kauften sich bei mir ihre Backwaren fürs Frühstück oder den Afternoon-Tea. Das Lizzy’s und ich waren schon lange nicht mehr nur eine Touristenattraktion, sondern ein fester Bestandteil des Insellebens.

»Wer war das?«, fragte Phil und deutete mit dem Kinn zur Straße, wo man die drei merkwürdigen Kunden von dannen eilen sah.

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendwelche Leute mit zu viel Geld und so wie es aussieht Hunger.«

Phil lachte laut los. Sein ganzer Körper erzitterte, was angesichts seiner hageren Gestalt ein wenig so aussah, als hätte er Zuckungen. »Das habe ich schon gesehen, als die Frau hier auf ihren High Heels rein marschiert ist.« Seine braunen Augen, die beinah dieselbe Farbe wie sein Haar hatten, sahen mich amüsiert an, ehe er mir zuzwinkerte und sich dann eins der leeren Bleche schnappte. »Machst du heute früher Schluss oder ich?«

»Ich würde lieber morgen früher Feierabend machen, du kannst heute schon nach dem Mittagessen gehen, wenn das für dich passt. Ich muss morgen früher gehen, weil Ally und Lin zu unserem …«

»… Buchclub kommen, ich weiß«, vollendete Phil den Satz für mich. »Passt für mich so. Viel Spaß dabei.« Mit einem sanften Lächeln und dem Blech in der Hand verließ er den Gastraum.

Erstaunt blickte ich ihm hinterher. Er hatte es sich gemerkt. Phil war ein aufmerksamer Mann, was mich berührte. Er wäre der perfekte Kerl für eine feste Beziehung und ich müsste mich schon sehr irren, wenn er kein Interesse an mir hatte. Es waren die Blicke, die er mir zuwarf, und dieses sanfte Lächeln, wie das, was er mir gerade eben geschenkt hatte, die mich zu diesem Schluss kommen ließen. Noch hatte er mich nicht angesprochen, vermutlich hatte er längst erkannt, dass ich keinerlei solcher Gedanken hegte. Zum einen wollte ich auf keinen Fall auf ihn als Mitarbeiter verzichten und das müsste ich zwangsläufig irgendwann, wenn das zwischen uns zu Ende ginge, zum anderen war ich der Meinung, dass Beziehungen das Leben nur unnötig verkomplizierten. Dementsprechend ging ich auf keinen der sehr vorsichtigen Annäherungsversuche von Phil ein.

Mittlerweile wurden die Aufmerksamkeitsbekundungen weniger und er verhielt sich meistens wie ein guter Freund, wofür ich sehr dankbar war. Irgendwann würde keiner von uns beiden mehr daran denken, dass er sich Hoffnungen gemacht hatte, die ich nicht hatte erfüllen wollen.

Bis jetzt war ich noch nicht dazu gekommen, das Buch, für das meine Freundinnen und ich uns beim letzten Treffen entschieden hatten, zu lesen. Bestimmt würde Ally enttäuscht sein, wenn ich ihr das beichtete. Sie war Buchhändlerin und hatte ebenfalls einen Laden in der Main Street. Ihre Buchauswahl war immer toll, aber durch die Bäckerei und den Sommeransturm kam ich zurzeit kaum zum Lesen.

Doch in diesem Moment war es relativ ruhig, deshalb griff ich nach meiner Handtasche, holte das Taschenbuch heraus und las ein bisschen weiter. Der nächste Gast würde mich sicherlich bald unterbrechen, doch bis dahin konnte ich die Zeit ja sinnvoll nutzen und versuchen, meine besten Freundinnen nicht unnötig zu enttäuschen.

***

Im Radio lief ein Song von Adele und ich sang aus vollem Halse mit, während ich die Tische abwischte und anschließend noch einmal in der Küche nach dem Rechten sah. Alles war für den morgigen Tag hergerichtet. Zufrieden nickte ich, nachdem ich den Lappen ausgewrungen hatte, und griff nach meiner Jacke. Heute war am Nachmittag nach Phils Feierabend so viel im Lizzy’s losgewesen, dass ich bereits um zwei Uhr kaum noch etwas im Angebot gehabt hatte, was ich verkaufen konnte – von den Getränken mal abgesehen.

Die zunehmende Zahl an Touristen stellte mich vor das Problem, hin und wieder räumlich und in Bezug auf mein Angebot an Backwaren an meine Grenzen zu stoßen. Das Café zu vergrößern, war sozusagen unmöglich. Zudem mochte ich es so, wie es war. Klein und gemütlich, wie so vieles hier auf der Insel.

Auf der einen Seite war es super, dass ich mir keine Gedanken mehr um das Finanzielle machen musste, aber auf der anderen Seite sorgte der stetige Ansturm auf meine Backwaren dafür, dass ich mehr Personal einstellen musste und allein nicht mehr alles schaffte.

Ich liebte meine Arbeit in der Bäckerei, die ich von Granny Lizzy übernommen hatte, der Großmutter meiner besten Freundin Ally. Das Geschäft trug noch immer deren Namen. Schon früh hatte sie mir alle Kniffe und Tricks beim Backen beigebracht und mich so an das laufende Geschäft herangeführt.

Granny Lizzy war für mich der Mensch, der – von meinen beiden besten Freundinnen mal abgesehen – einer Familie am nächsten gekommen war. Ihr Tod vor mehr als einem Jahr war mir sehr nahegegangen. Meine Freundinnen Lin und Ally kannte ich praktisch schon immer, und wir waren unzertrennlich und bereits zusammen durch dick und dünn gegangen. Man begegnete vielen Menschen im Leben, aber nur wenige schafften es, einen so festen Platz im Herzen einzunehmen, wie es diese zwei wundervollen Frauen bei mir getan hatten.

Nachdem ich den Laden abgeschlossen hatte, holte ich mein Rad aus der Seitenstraße, die zwischen Allys Buchladen und der Bäckerei lag und legte meine Tasche in den Korb am Lenker. Während ich nach Hause fuhr, blies mir der warme Wind, der über das Meer nach Tobermory wehte, ins Gesicht.

Mein Cottage lag ein wenig außerhalb der Stadt, und der Weg nach Hause mit dem Rad dauerte etwa fünfzehn Minuten. Fünfzehn Minuten, die ich genoss, auch wenn es teilweise steil bergauf ging. Den ganzen Tag hatte ich Leute um mich gehabt und war nun froh, endlich die Ruhe und die Stille nur mit mir selbst und meinen Gedanken zu verbringen. Und ich freute mich schon auf mein Zuhause.

Das Cottage, das ich mir vor ein paar Monaten gekauft hatte, lag auf einem der vielen Hügel, die die Isle of Mull so besonders machten, und bot einen grandiosen Blick über das Wasser bis zur Insel Coll. Am Besichtigungstag hatte ich vom ersten Moment an gewusst, dass ich hier wohnen wollte, und war überglücklich gewesen, als ich den Zuschlag bekommen hatte.

Das Haus hatte ich ganz nach meinem Geschmack eingerichtet. Neues und Altes, Erinnerungen und viel Gemütlichkeit empfingen mich, als ich die Tür aufschloss. Ich atmete tief ein und legte den Stapel mit Briefen, den ich zuvor aus dem Briefkasten geholt hatte, auf der Kommode im Flur ab. Doch als mein Blick auf einen der Umschläge fiel, der zwischen zwei anderen hervorschaute, hielt ich mitten in der Bewegung inne und schluckte.

Der Absender war der Name eines Anwalts und ohne, dass ich den Brief geöffnet hatte, wusste ich, was das zu bedeuten hatte.

***
Samstag, 5. August

»Übermorgen fährst du schon, oder? Wann ist die Hochzeit noch mal?«, fragte ich Ally, während ich Zucker in den Tee gab. Neben meinem Stuhl lag mein Kater Warrior. Er war wirklich ein Kämpfer. Ich hatte ihn vor ein paar Wochen in einer der Seitenstraßen der Main Street gefunden. Er war verletzt gewesen und dem Tod näher als dem Leben. Ich hatte versucht, seinen Besitzer ausfindig zu machen, doch da ihn niemand vermisst hatte, hatte ich ihn mitgenommen. Er hatte den Kampf gewonnen und seitdem verließ er mein Grundstück nicht mehr. Hier führte er sich wie ein Kaiser auf, aber sobald ich ihn aus dem Garten locken wollte, versteckte er sich.

Da ich als Jugendliche außerdem gern die Warrior Cats-Bücher gelesen hatte, hatte es nahegelegen, eine vom Kampf verletzte Katze, die sich zurück ins Leben gekämpft hatte, Warrior, also Kämpfer, zu nennen.

Ally lehnte sich in der Liege zurück, die ich auf meiner Terrasse aufgestellt hatte, und strahlte mich an. Ihr dunkelbraunes Haar glänzte in der Abendsonne, und sie sah zufrieden aus. »Nächsten Samstag, aber wir fahren nun doch schon am Montag los, damit wir ein paar Tage haben, um London zu besichtigen, ehe am Wochenende die große Feier ist. Dad und Anna kommen am Freitag nach der Schule nach. Bis dahin kümmert er sich um den Buchladen, und Samstag übernimmt Matts Freundin Tally das.« Seit sie mit Jamie zusammen war, blühte sie regelrecht auf. Und Anna, Jamies Tochter, war ein solcher Sonnenschein, der viel Freude in das Leben von Ally brachte, genau wie in Lins und meins. Auch Allys Vater verstand sich wunderbar mit der Kleinen und war für sie innerhalb kürzester Zeit zu Grandpa Frank geworden.

»Oh, da habt ihr dann ein paar Tage nur für euch! Wie romantisch.« Lin – sie hatte den Hängesessel in Beschlag genommen – seufzte. »Ich war schon so lange nicht mehr auf einer Hochzeit. Dabei liebe ich es so sehr zu sehen, wie sich zwei Liebende das Jawort geben.« Verträumt strich sie sich eine Strähne ihres roten, leicht gelockten Haares hinter das Ohr. »Apropos«, sagte sie mit diesem Unterton in der Stimme, der mich aufhorchen ließ, und fixierte dabei unsere Freundin. »Wann heiratet ihr eigentlich?«

Ally verschluckte sich an ihrem Tee und stellte hustend die Tasse auf dem kleinen Tisch ab, der neben ihrer Liege stand.

Grinsend erhob ich mich von meinem Platz und ging zu ihr, um ihr auf den Rücken zu klopfen. Nachdem sie noch ein paarmal gehustet hatte, beruhigte sie sich langsam und holte tief Luft.

»Lin! Wir sind doch gerade erst drei Monate zusammen.« Ally schüttelte den Kopf, aber mir entging nicht, dass ihr die Vorstellung von einer Hochzeit im Grunde genommen gefiel. Da war so ein Leuchten in ihren Augen zu sehen, das deutlich machte, dass sie nicht abgeneigt wäre.

Kopfschüttelnd setzte ich mich wieder auf das Loungesofa und legte die Beine auf die Liegefläche. Ich hatte auf der Terrasse, genau wie im Innern des Hauses, verschiedene Möbel in Naturtönen aufgestellt. Der Boden war mit hellem Holz ausgelegt und ein Outdoorteppich rundete das Ganze ab. Ich liebte den Bohostyle sehr und kleidete mich auch oft in dieser Art. Lockere Kleider in natürlichen Materialien, Jeans und Blusen mit Blumenmuster – aber ich legte mich ungern auf einen Stil fest, probierte lieber immer mal wieder etwas Neues aus und experimentierte mit neuen Kombinationen.

»Ihr zwei Romantikerinnen!«, stieß ich mit gespieltem Entsetzen hervor und erntete prompt einen bösen Blick von Lin. Ergeben hob ich die Hände und lächelte. »Schon gut!« Sollten die beiden doch ihr großes Liebesglück haben. Ich für meinen Teil war allein viel besser dran. »Ich habe es übrigens geschafft, das Buch zu Ende zu lesen.« Nachdem ich gestern den Brief entdeckt hatte, hatte ich mir das Buch geschnappt und mich in der Geschichte vergraben, anstatt mich der Realität zu widmen. Im Verdrängen war ich Weltklasse.

»Hey, das ist super!«, lobte Lin mich und hielt den Daumen hoch. »Es war grandios, hab sogar geweint. Und als ich es weggelegt hab, hatte ich Abschiedsschmerz. Wenn das kein gutes Buch ist, dann weiß ich auch nicht.«

»Geweint?«, fragte ich verwirrt. Ich weinte nie und konnte oft nicht nachvollziehen, weshalb Menschen das ständig und in den blödsinnigsten Situationen taten. Ich war nicht gefühlskalt, ganz im Gegenteil, aber das Leben hatte mich, was Verletzungen betraf, abgehärtet. Das letzte Mal, dass mir Tränen die Wangen herabgeflossen waren, schien mir eine Ewigkeit her zu sein. Vermutlich war ich da noch ein Kind gewesen, das an Wunder geglaubt hatte und mal wieder bitter enttäuscht worden war. Wie so oft zu der damaligen Zeit.

Um die unnötigen Erinnerungen abzuschütteln, blinzelte ich ein paarmal und griff nach meiner Tasse. Lecker. Süß und stark, so liebte ich meinen schwarzen Tee. Zudem half er, meine trüben Gedanken zu vertreiben. Warrior, der sehr sensibel auf meine Stimmungen reagierte, schmiegte sich an meinen Unterschenkel und schnurrte. Ich fuhr sanft durch sein weiches Fell, was mir sofort mehr Ruhe bescherte.

Lin und Ally plapperten über das Buch, während ich mich auf dem Gartensofa ausstreckte und meinen Blick über das satte Grün schweifen ließ.

»Na ja, deshalb bin ich die kommenden zwei Wochen auch nicht da«, hörte ich Lin sagen, was sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Moment, du bist die nächsten vierzehn Tage weg? Was ist mit deinem Blumenladen und den Kursen?« Ich richtete mich auf und sah meine Freundin genauer an. Mist. Ich hatte das Wichtigste verpasst.

Lin kicherte. »Erwischt.«

Ich riss die Augen auf und zeigte mit dem Finger auf sie. »Du!«

»Ja, ich. Es sind nur drei Tage, die ich weg bin, vielleicht verlängere ich auf fünf, aber ich wollte wissen, ob du zuhörst.« Als sie mir die Zunge herausstreckte, griff ich mir eins der Kissen vom Sofa und warf es nach ihr.

Lin war nicht schnell genug, und der Stoff traf sie mitten im Gesicht. Echauffiert schnaubte sie.

»Oh man, wie alt seid ihr eigentlich?«, fragte Ally amüsiert und verdrehte die Augen.

Das ließ ich nicht auf mir sitzen, griff mir ein weiteres Kissen und warf es nach meiner anderen Freundin. Doch Ally hatte eine bessere Reaktionszeit und fing es auf, danach verfolgte sie mich mit dem Teil durch den ganzen Garten, bis wir auf der Wiese kichernd, erschöpft und glücklich zusammenbrachen.

Lin schlenderte zu uns und setze sich mit einem breiten Grinsen im Schneidersitz neben mich. »Seid ihr fertig?«

»Fix und fertig. Und nun erzähl mir, warum du drei Tage von der Insel verschwindest!«, wies ich sie an.

»Ich habe mich zu einer Fortbildung eingeschrieben, die von einer Youtuberin organisiert wird. Ich bin ganz begeistert von ihrem DIY-Kanal und hatte mich schon vor Wochen eingeschrieben. Aber ich bin zu spät gewesen und der Kurs war schon zu voll. Und dann kam gestern eine Mail, dass ein Platz frei geworden ist. Habe ganz spontan alles umgeplant und mich dazu entschieden, nach Inverness zu fahren. Ist keine große Sache, aber ich will da so gerne hin und ich fahre mit dem Auto.« Lin zuckte lapidar mit den Schultern, als wäre das keine große Sache. Doch das war es.

»Du veränderst dich von Tag zu Tag, seitdem du die Sache mit den Bastelkursen angefangen hast.« Ally setzte sich auf und sah sie an, als hätte sie eine Fremde vor sich.

Die Unsicherheit war Lin anzumerken. »Ich weiß, aber irgendwann muss ich nach vorne schauen und mein Leben in den Griff bekommen. Und es ist nur eine vierstündige Fahrt, in Inverness bin ich ja nicht allein. Ich kenne die Leute zwar nicht, aber durch die vielen Videos, die ich mir von der Frau angesehen habe, kommt es mir so vor, als wären wir alte Bekannte.« Langsam, in Gedanken versunken, schlenderte sie zu der Sitzgruppe zurück.

»Das ist toll, Linnymaus.« Ich grinste sie an und hoffte, dass sie nicht kurzfristig einen Rückzieher machen würde. Auch ich rappelte mich vom Boden auf und ging zurück zu dem Gartensofa, wo ich mich in die Kissen lümmelte. »Ich finde es großartig, dass du langsam auftaust und wieder aufgeschlossener bist.« Durch eine in die Brüche gegangene Beziehung und finanzielle Sorgen in den letzten Monaten hatte sie sich sehr aus dem Leben zurückgezogen. Es wäre schön, wenn sie das alles hinter sich lassen und wieder mehr Spaß haben könnte. Wieder mehr sie selbst zu sein – das sollte ihr großes Ziel sein. Und darin würde ich sie jederzeit unterstützen.

Lin wohnte wie Ally und ich schon ihr ganzes Leben auf der Insel, doch im Gegensatz zu uns war sie, was das Kennenlernen von neuen Menschen betraf, eher zurückhaltend. In Allys Gesicht konnte ich, als sie zu uns kam, sehen, dass sie sich so wie ich über Lins Veränderung freute.

»Das bedeutet also, dass ich mindestens drei Tage lang sturmfreie Bude habe? Ohne meine Freundinnen?« Kichernd riss ich die Augen auf. »Die eine fährt auf eine Hochzeit, die andere zu einem megacoolen Youtube-Event. Das schreit nach einer Party«, scherzte ich.

»Ach, du Quatschkopf!« Lin schüttelte ihre rote Mähne. »So, wie ich dich kenne, genießt du die Ruhe vor uns.«

Da lag sie vollkommen richtig. Ich liebte die Stille in meinem Cottage, den weiten Blick bis zum Meer und den Frieden, den mir meine eigenen vier Wände schenkten. Gerade nach einem anstrengenden Arbeitstag, an dem ich ununterbrochen mit fremden Kunden und alten Bekannten gequatscht hatte und auf den Beinen gewesen war, stellte mein Zuhause einen sicheren Hafen für mich dar. Was aber nicht bedeutete, dass ich die Nähe zu meinen Freundinnen als störend empfand.

»Exakt. Ohne euch wird es hier endlich mal ruhiger zugehen.« Ich zwinkerte den beiden zu. »Aber vielleicht nutze ich die Zeit und lese mal wieder ein bisschen mehr in den Mittagspausen. Der Bücherstapel neben meinem Bett hätte es verdient, abgebaut zu werden.« Meistens trafen wir uns zum Mittagessen bei mir im Café und redeten über alles, was uns am Tag passiert war. Fiel unsere gemeinsame Pause aber weg, wäre das für mich Zeit, die ich zum Lesen verwenden konnte.

»Oder du findest wie so oft ein neues Charity-Projekt interessant und kümmerst dich darum.« Ally hatte vermutlich damit ebenso recht wie Lin mit der Behauptung, dass ich die Ruhe genießen würde.

Mir ging die Ungerechtigkeit auf der Welt sehr nahe, was wahrscheinlich daran lag, dass ich selbst nicht gerade eine angenehme Kindheit gehabt hatte. Deshalb hatte ich meistens mehrere Projekte, für die ich mich einsetzte. Oft ging es nur darum, Hilfsgüter zu sammeln oder Aufmerksamkeit zu schaffen, aber ich war auch schon hin und wieder bei Obdachlosenheimen zu finden, wo ich mich um die Suppenküche kümmerte. Da ich jedoch auf der Insel lebte und es hier so etwas nicht gab, beschränkte sich der Großteil meiner karitativen Arbeit auf Sammlungen, die ich organisierte und überwachte.

»Okay, wenn wir dann schon bei großen Ankündigungen sind«, begann Ally und schaute auf die Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Sie sah aus, als wäre es ihr ein bisschen unangenehm, was sie uns zu erzählen hatte. »Jamie und ich wollen am Montag zuerst nach Manchester, um meine Mum und seinen Dad zu besuchen.«

Diese Ankündigung war so bedeutend, dass wir alle einen Moment innehielten. Mir stockte der Atem und ich wusste zuerst nicht, was ich dazu sagen sollte, doch ich hatte mich schneller im Griff als Lin. »Ich finde das ist eine großartige Idee. Es wäre schön, wenn ihr eure Vergangenheit abschließen und dadurch mehr auf die Zukunft schauen könnt.«

Allisons Mutter hatte die Insel und auch ihre Tochter und ihren Mann, Frank Forbes, verlassen, als Ally acht Jahre alt gewesen war. Alle waren davon ausgegangen, dass sie niemals zurückgeblickt hatte, doch vor drei Monaten, kurz nachdem Ally Jamie kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, hatte Mr. Forbes alte Briefe gefunden, die seine Ex-Frau an Granny Lizzy – seine Mutter – geschrieben hatte. Allein schon die Tatsache, dass die beiden sich über die Jahre etliche Briefe geschickt hatten, wäre schockierend gewesen, doch deren Inhalt übertraf das bei weitem. Offenbar war Mrs. Forbes tablettenabhängig gewesen, als sie noch auf der Insel gewohnt hatte, und hatte zudem eine Affäre gehabt. Es stellte sich heraus, dass sie mittlerweile mit diesem Mann zusammenlebte und mit ihm zwei Kinder hatte. Und der Mann war kein Geringerer als der Vater von Jamie, mit dem Ally gerade erst angefangen hatte, über eine Beziehung nachzudenken.

Für die beiden war das ein Schock gewesen, immerhin hatten sie ihre Elternteile, schon seitdem diese vor so vielen Jahren zusammen abgehauen waren, nicht mehr gesehen. Einen kurzen Moment hatte alles auf der Kippe gestanden. Lin und ich hatten befürchtet, dass diese Entdeckung, diese Last, zu viel für die junge Liebe sein würde, doch es war schnell klar geworden, dass diese Liebe deutlich stärker war als jedes Hindernis.

Dennoch war die Ankündigung, dass Ally und Jamie nach Manchester fahren wollten, um ihren verlorenen Elternteilen und ihren Halbgeschwistern einen Besuch abzustatten, sich der Situation zu stellen, eine Sensation.

»Ich hoffe, dass es uns hilft, die beiden besser zu verstehen und ihnen irgendwann vergeben zu können.« Für einen Moment hielt sie inne und hatte dabei einen ganz leeren Blick. »Aber irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen Dad gegenüber.«

Da ich wusste, welch inniges Verhältnis die beiden hatten, konnte ich nachvollziehen, warum es ihr so ging. »Hast du ihm erzählt, dass ihr hinfahrt?«, fragte ich nach.

Ally nickte. »Ja, schon. Er hat gemeint, dass er mich verstehen kann und es gut findet, wenn ich das mit meiner Mutter kläre. Aber es fühlt sich ein bisschen wie Verrat an. Immerhin ist Dad von ihr verlassen und betrogen worden. Er und Granny waren es, die mich großgezogen und sich um mich gekümmert haben. Und nun fahre ich zu meiner Mutter, anstatt sie zu meiden, so wie sie uns all die Jahre gemieden hat.«

»Ich kann nachvollziehen, dass du so empfindest, aber dein Dad versteht das.« Lin stand auf und ging zu Ally, nahm sie in den Arm und strich ihr liebevoll über den Rücken.

»Das kann ich auch«, sagte ich nachdenklich, »aber lass dich von deinem schlechten Gewissen nicht abbringen. Ich denke, es ist wichtig, dass du das machst. Entweder, um Frieden mit ihr zu schließen oder aber, wenn ihr das nicht schafft, um einen endgültigen Schlussstrich ziehen zu können, dich mit ihr auszusprechen, ihr endlich sagen zu können, wie du dich all die Zeit gefühlt hast. Was sie durch ihren Weggang in dir zerstört hat. Auch wenn es weh tun wird, ist es ein guter und richtiger Schritt.«

Unruhig stand ich auf. Dieses Gespräch führte leider dazu, dass ich mir Gedanken über meine eigene verkorkste Kindheit machte. Obwohl das bisher niemand vermutet hatte, wies mein Leben, als ich noch klein war, seit neuestem Parallelen zu Allys auf. Zudem fiel mir wieder der Brief ein, der gestern im Briefkasten gelegen hatte.

Lin setzte sich zurück auf die Liege und faltete die Hände im Schoß. »Wissen deine Mum und Jamies Dad denn überhaupt, dass ihr kommt?«

Ally schüttelte den Kopf. »Nein, wir wollen spontan hinfahren. Vielleicht entscheiden wir uns genauso spontan dazu, nicht zu klingeln und mit ihnen zu sprechen.«

»Feiglinge!«, gab ich lachend von mir.

Ally grinste ertappt. »Ja, so kann ich einen Rückzieher machen. Jamie ist eh nicht so begeistert von der Idee, seinem Vater ins Gesicht blicken zu müssen. Er hat ihm nicht vergeben und wird das wahrscheinlich auch nicht tun. Im Grunde genommen kommt er nur meinetwegen mit. Das rechne ich ihm hoch an.«

»Das ist wirklich eine große Geste von ihm«, stimmte ich ihr zu.

»Und welche Ankündigung hast du zu machen, Hailey?« Ally, die offenbar die Lust verloren hatte, über ihr eigenes großes Thema zu sprechen, versuchte abzulenken.

»Ich?«, fragte ich und riss die Augen auf. Der Brief! Wusste Ally davon?

Meine Freundin kicherte jedoch. »Na, weil wir alle eine große Ankündigung gemacht haben. Jetzt fehlst noch du.«

Lin hüpfte auf der Liege auf und ab. »Ich weiß es. Hal lässt sich ihre hübschen blonden langen Haare abschneiden und grün färben. Grün, wie ihre Augenfarbe.«

Erleichtert atmete ich aus. »Ganz genau, du hast es erfasst. Am Montag hab ich einen Termin bei Chrissy.« Chrissy war unsere Haarkünstlerin auf der Insel. Sie beherrschte ihr Handwerk so gut, dass sie auch in Hollywood einen Laden eröffnen könnte, der dazu noch gut laufen würde. Sie war die Beste.

Die anderen beiden beließen es dabei und ich war erleichtert, weil ich mir nicht sicher sein konnte, dass sie mich bei einem weiteren Ablenkungsmanöver nicht doch durchschaut hätten.

Den restlichen Abend verbrachten wir damit, über den neuesten Thriller zu sprechen, den Ally für uns mitgebracht hatte und den wir in den nächsten vier Wochen lesen wollten. Ich war froh, dass wir uns dieses Mal für etwas mit Spannung entschieden hatten, noch mehr Liebesromane hätte ich beim besten Willen nicht ertragen. Immerhin spielte sich die schönste Liebesgeschichte schon direkt vor meinen Augen ab. Ally und Jamie waren ein wundervolles Paar und ihre gemeinsame Geschichte war besser, als jeder Liebesroman es sein konnte.

***
Montag, 7. August

Ich hielt das schnurlose Telefon in der Hand und sah dabei aus dem Fenster. »Wenn du magst, brauchst du heute nicht zu kommen«, bot ich Moira an. Ich hatte sie kurz entschlossen angerufen, weil es Blödsinn gewesen wäre, sich an einem solchen Tag zu zweit im Café zu langweilen.

Moira stimmte sofort begeistert zu. »Ich hab schon mehrmals aus dem Fenster geguckt und gehofft, dass du anrufst! Ich bin echt froh, dass ich heute meine Schicht nicht antreten muss.« Ihre Freude, bei dem Wetter nicht vor die Tür zu müssen, war deutlich aus ihren Worten herauszuhören. Vermutlich wäre sie klitschnass hier angekommen und das für eine Kundschaft, die, wenn es gut liefe, an einer Hand abzuzählen war.

Phil hatte schon mittags Feierabend gemacht und den Bus genommen, um zu seiner Wohnung zu kommen. Das Rad hatte er stehen gelassen, was vermutlich eine gute Entscheidung gewesen war. Dank des Wetterberichts am Morgen war ich mit dem Auto hergefahren und würde somit auch trocken nach Hause kommen.

Das Wetter war heute extrem unfreundlich, selbst für schottische Verhältnisse. Dunkle Wolken zogen über den Himmel und sorgten dafür, dass es unaufhörlich regnete. Besorgt hatte ich im Chat nachgefragt, ob Ally und Lin gut auf dem Festland angekommen waren. Immerhin war die Überfahrt mit der Fähre bei diesem Wetter nicht ungefährlich. Aber die beiden hatten am Morgen zusammen mit Jamie das erste Fährschiff genommen und waren noch vor dem Sturm in Oban angekommen. Das hatte mich erleichtert, so konnten die zwei ihre für sie so wichtigen Termine wahrnehmen.

Nun wartete ich gespannt auf Nachricht von beiden, wie der Tag abgelaufen war. Vor allem Allys erstes Aufeinandertreffen mit ihrer Mutter nach fast zwanzig Jahren sorgte dafür, dass meine Neugier Überstunden schob. Doch bis die beiden von sich hören ließen, würde bestimmt noch einige Zeit vergehen.

Seit einer Stunde war jetzt schon kein Kunde mehr in den Laden spaziert. Ich hatte mittlerweile alle Tische abgewischt und auch auf den Regalen für Ordnung gesorgt. Kurzfristig hatte ich mit dem Gedanken gespielt, die Bäckerei früher zu schließen, immerhin war es schon halb drei Uhr nachmittags, und regulär hätte ich eh um vier Uhr Feierabend gemacht. Doch zu Hause würde ich vermutlich auch nichts anderes tun, als zu lesen oder einen Film zu streamen. Warum also nicht eine dieser Beschäftigungen einfach hierher verlegen? Um etwas zu tun zu haben, war ich deshalb auf die Idee gekommen, mich mit dem Thriller auseinanderzusetzen, den Ally mir vor zwei Tagen am Samstag überreicht hatte. Ich holte das Buch aus meiner Tasche, setzte mich damit in einen der gemütlichen Sessel, die an den Zweiertischen standen, und schlug die erste Seite auf. Das stetige Tröpfeln des Regens gegen die Scheibe und die Duftkerze, die ich angezündet hatte, sorgten dafür, dass ich innerhalb kürzester Zeit tief in der Geschichte versunken war.

Gerade war ich mitten in einer spannenden Szene, als das Glöckchen über der Tür bimmelte und einen neuen Gast ankündigte. Blinzelnd kam ich im Hier und Jetzt an. Doch zuerst hob ich nicht den Kopf, weil ich mich kaum von dem Text losreißen konnte, aber als das Glöckchen kein zweites Mal bimmelte und stattdessen eiskalter Wind in den Laden wehte, schaute ich hoch.

In der Tür stand ein Mann, dessen Gesicht ich nicht richtig erkennen konnte. Er hatte dunkle Haare, die ein bisschen länger waren, gebräunte Haut, als hätte er viel Zeit in der Sonne verbracht und er war vollkommen durchnässt. Seine Kleidung sah irgendwie nicht nur durchnässt, sondern zudem noch mitgenommen aus. Orientierungslos stand er im Eingang, sah hinaus und dann wieder zu einem der Tische. Das wiederholte er einige Male, so als wäre er sich nicht sicher, ob er in den Regen zurück oder lieber einen Platz im Warmen und Trockenen haben wollte.

Einen Moment lang beobachtete ich ihn, doch dann wurde es mir einfach zu kalt im Raum. Bereits jetzt bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen, weshalb ich nach der Strickjacke griff, die über der Lehne des Sessels lag, sie anzog und mich dann meinem Gast widmete.

»Willkommen im Lizzy’s. Kommen Sie doch rein, sonst kühlt der Laden viel zu sehr aus.« Lächelnd sah ich ihn an und hoffte, dass er meiner Aufforderung schnell folgen würde.

Der Mann erwiderte meinen Blick aus Augen, so blau wie der Himmel über Schottland an einem sonnigen Tag. Doch darin war ein gehetzter Ausdruck zu erkennen. Seine Gesichtszüge waren klassisch schön. Lippen, die nicht zu voll und nicht zu dünn waren, ein maskulines Kinn, das den Eindruck vermittelte, dass ich es mit einem durchsetzungsstarken Mann zu tun hatte. Und sein Körper sah aus, als trainiere er regelmäßig.

Blinzelnd löste er unsere Verbindung und schloss die Tür, ehe er sich an den Tisch setzte, der dem Eingang am nächsten war.

Ich ließ ihm ein bisschen Zeit, sich zu akklimatisieren und anzukommen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er noch nicht mit mir reden und etwas bestellen wollte. Dennoch ließ ich ihn nicht vollkommen aus den Augen und legte den Roman unter den Tresen.

Etwas an dem Mann passte nicht. Der Bartschatten ließ darauf schließen, dass er sich schon eine Weile nicht rasiert hatte, aber sein Gesicht wirkte ansonsten gepflegt, der Bart gewollt. Nur seine Kleidung wies Löcher auf, und als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass er lediglich einen Schuh trug.

War er ein Obdachloser? Auf der Insel gab es solch gescheiterte Existenzen eigentlich nicht. Wie hatte er sich hierher verirrt? War er vielleicht als blinder Passagier auf die Isle of Mull gekommen?

Durch meine bisherigen Erfahrungen in den Suppenküchen von Oban oder Glasgow hatte ich schon oft mit Obdachlosen zu tun gehabt und dementsprechend keine Berührungsängste. Doch dieser Mann wirkte nicht so, als hätte er kein Zuhause, eher, als hätte er sich verirrt. Deshalb verwarf ich den Gedanken vorerst.

Nachdem er schon fünf Minuten an dem Tisch gesessen und keine Anstalten gemacht hatte, in die Karte zu schauen oder mich zu rufen, ging ich langsam auf ihn zu. Er sah aus dem Fenster, vor sich die gefalteten Hände, während es aus dem Saum seines Langarmshirts stetig auf den Boden unter dem Stuhl tropfte. Ich spürte das Bedürfnis, ihn nicht zu verschrecken, so als wäre er ein verwundetes Tier.

Gleichzeitig war ich mir sicher, dass er mir nicht gefährlich werden würde. Woher ich diese Gewissheit nahm, ohne ihn zu kennen, wusste ich nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich durch meinen Job und das, was ich bisher in meinem Leben erlebt hatte, Menschen recht gut einschätzen konnte. Dennoch näherte ich mich ihm nur vorsichtig.

Als ich neben dem Tisch zum Stehen kam, hob der Mann den Kopf und wieder traf mich der Blick aus diesen blauen, unergründlichen Augen. Eine leichte Furche bildete sich auf seiner Stirn, so als fragte er sich, was er hier mache.

»Kann ich Ihnen helfen?«, versuchte ich das Eis zwischen mir und dem im Grunde genommen gut aussehenden Mann zu brechen.

Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, dann öffnete er sie wieder und sah mich eindringlich an. »Kennen wir uns?«

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte ich mit leicht hochgezogenen Augenbrauen.

»Sie wissen nicht, wer ich bin?« Sein angespannter Gesichtsausdruck machte mich stutzig. Diese tiefe, kultivierte Stimme, die so gar nicht zu seiner Optik passte, irritierte mich fast mehr als die Wörter, die er von sich gab.

»Sollte ich Sie denn kennen?«

Unbeholfen zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß gerade gar nichts mehr.«

»Wie wäre es, wenn Sie erst mal einen Kaffee oder Tee trinken? Bestimmt sieht die Welt dann schon besser aus.« Mit leicht schräg gelegtem Kopf musterte ich ihn. Vielleicht war er unglücklich, weil ihn seine Freundin oder Frau verlassen hatte? So etwas warf den stärksten Kerl aus der Bahn. Doch dann entdeckte ich eine Wunde an seinem Kopf, die zwar nicht mehr blutete, aber aussah, als hätte er sich böse den Hinterkopf angeschlagen oder einen heftigen Schlag verpasst bekommen. Und wenn ich mich nicht täuschte, war der dunkle Fleck am Kragen seines Longsleeves angetrocknetes Blut.

Was war ihm zugestoßen, dass er so aussah und so verloren wirkte? Tausend Möglichkeiten spannen sich in meinem Hirn zu einer Geschichte zusammen, aber ich schob meine phantasievollen Erklärungen in die hinterste Ecke und konzentrierte mich stattdessen auf den Mann vor mir. Sofort sprang dieses besondere Gen an, das mir in die Wiege gelegt worden war. Das Gen, das für mein ständiges Bedürfnis, Menschen helfen zu wollen, verantwortlich war.

»Ich glaube, ich habe kein Geld«, erwiderte der Mann und sprang auf, so als wolle er sogleich aus dem Café stürmen.

Ich legte ihm eine Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. »Draußen geht gerade die Welt unter.« Ich deutete mit dem Kinn zum Fenster, wo in diesem Moment ein Blitz über den Himmel zuckte. »Bleiben Sie ruhig hier. Ich hab schon eine Kanne Tee fertig, da können Sie gern eine Tasse oder auch zwei oder drei von abhaben. Und das mit dem Bezahlen schieben wir auf einen anderen Tag. Einverstanden?« Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob ich mir die Wunde einmal genauer anschauen und verarzten könnte, aber er wirkte so abwesend, dass ich das Gefühl hatte, er würde flüchten, wenn ich ihn in die Enge triebe.

Sein Blick schweifte unstet umher, auch er hatte den Blitz bemerkt. Mittlerweile schlug der Regen waagerecht gegen die großen Scheiben des Lizzy’s und viel weiter als bis zu den Booten, die im Hafen vertäut lagen und wild herumgeschaukelt wurden, konnte man nicht schauen.

Zaghaft nickte er, als ihm klarwurde, dass es Blödsinn war, jetzt hinaus in das Unwetter zu gehen. Ich atmete leise aus, als er sich erneut auf dem Stuhl niederließ. »Danke.«

»Keine Ursache. Schön, dass ich bei dem Wetter nicht allein hier bin. Wir können zusammen warten, bis es draußen etwas freundlicher ist. Vorher kann ich eh nicht nach Hause und muss hierbleiben.« Wieder lächelte ich und stellte mich ihm dann vor. »Ich bin übrigens Hailey, mir gehört die Bäckerei.«

Er strich befangen seine dunklen Haare nach hinten, und auf seiner Stirn erschienen wieder die Denkfalten. Er schluckte und sah mich dann an. »Mein Name ist … Arran … Hamilton.«

Warum zögerte er so, mir seinen Namen mitzuteilen? Hatte er etwas zu verbergen? Doch ich entschied mich, nicht skeptisch zu sein. Granny Lizzy hatte immer gesagt, dass man mit offenem Herzen durchs Leben gehen und sich nicht von Vorurteilen leiten lassen solle. Diesen Grundsatz hatte ich stets versucht zu beherzigen, auch wenn es mir nicht immer leichtgefallen und bestimmt auch nicht immer gelungen war. Leicht beschämt musste ich daran denken, wie skeptisch ich Jamie bei seiner Rückkehr auf die Insel gegenübergestanden hatte.

»Schön, dich kennenzulernen, Arran Hamilton. Ich hole mal den Tee.« Entschlossen, mich nicht länger von dem Blick aus diesen blauen Augen nervös machen zu lassen, drehte ich mich um und ging zurück zum Tresen, wo ich ihm eine große Tasse Kräutertee eingoss und einen Schuss Honig hineingab. Dann griff ich nach einem Teller, legte drei verschiedene Cookies darauf und trug beides zu dem Tisch.

Kaum, dass ich bei ihm ankam, stand Arran wieder auf. Er war ungefähr einen halben Kopf größer als ich mit meinen ein Meter fünfundsechzig und das, obwohl ich heute Sandalen mit Plateau-Absatz zu den knöchellangen Jeans trug. »Sie kennen mich wirklich nicht? Haben mich noch nie gesehen?«, fragte er wieder mit diesem gehetzten Ton in der Stimme, so als hinge sein Leben von meiner Antwort ab.

Nachdem ich den Tee und den Teller mit den Cookies nach Granny Lizzys Rezept auf dem Tisch abgestellt hatte, blickte ich ihn ruhig an und schüttelte nur leicht den Kopf. »Nein, noch nie. Warum fragen Sie mich das?«

Arran raufte sich verzweifelt die Haare, leckte sich über die spröden Lippen und ließ dann seine Arme in einer hilflosen Geste fallen. »Weil ich nicht weiß, wer ich bin und wie ich hierhergekommen bin.«

2.

Cha d’dhùin doras nach d’fhosgail Doras.

– Keine Tür ist für immer verschlossen, aber andere sind geöffnet. –

Montag, 7. August

»Noch mal vorn vorne, vielleicht fällt dir doch noch etwas Wichtiges ein«, forderte ich Arran auf und stütze mich mit den Armen auf dem Tisch ab. »Das Erste, an was du dich erinnern kannst, ist der Calgory Beach? Da bist du aufgewacht. Und davor ist nichts in deinen Erinnerungen zu finden? Rein gar nichts?«

Wir saßen nun schon über eine halbe Stunde hier zusammen am Tisch und versuchten, die Puzzleteile zusammenzubekommen, um Arran die existenzielle Frage zu beantworten, wer er war. Aber so richtig kamen wir nicht weiter. Mittlerweile waren die Cookies aufgegessen und ich vermutete, dass er noch mehr Hunger hatte, ahnte allerdings, dass er mit Sicherheit nichts weiter annehmen würde.

»Nein, mein Kopf ist wie leer gefegt.« Arran hatte nicht nur ein hübsches Gesicht, von dem man gut seine Emotionen ablesen konnte, er hatte auch gepflegte strahlend weiße Zähne, die im Licht der Lampen glänzten. Weil es draußen durch das Unwetter so dunkel geworden war, hatte ich mittlerweile die Beleuchtung angeschaltet. Im Normalfall hätte ich den Laden schon längst geschlossen und wäre nach Hause gefahren. Aber mich interessierte, was sich hinter Arrans Geschichte verbarg.

Wann kam denn mal ein Kerl in deine Bäckerei, der sämtliche Erinnerungen verloren hatte?

Meine Neugier war definitiv geweckt worden. Auf keinen Fall handelte es sich bei dem Mann, der mir gegenübersaß, um einen Obdachlosen. Das stand für mich zu hundert Prozent fest. So sah niemand aus, der schon eine Weile auf der Straße lebte. Zumindest das konnten wir ausschließen. Er sprach ohne jeglichen Akzent, so gestochen scharf, dass ich nicht heraushören konnte, wo er herkam. Möglicherweise hatte er irgendeine Art von Sprachtherapie hinter sich und konnte deshalb akzentfrei sprechen. Schotten waren meistens nicht in der Lage, ihren Akzent komplett abzulegen.

»Was ist dann genau passiert?«, hakte ich nach.

»Ich bin am Strand aufgewacht und habe eine Weile dort im Sand gesessen und versucht, mich zu erinnern.«

Ich beobachtete jede kleine Reaktion seinerseits, doch er blieb völlig in seinem Vergessen gefangen, schaute die meiste Zeit aus dem Fenster und schien zu überlegen, wer er war. »Fällt dir noch etwas ein? Jede noch so mikroskopische Kleinigkeit kann wichtig sein.«

Arran überlegte. Auch das konnte man anhand seiner Mimik sehr gut nachvollziehen. Sein Gesicht war so ausdrucksstark – fast wie ein aufgeschlagenes Buch. Dann sah er mich doch an. »Klitschnass war ich, aber es hatte zu dem Zeitpunkt noch nicht geregnet.«

Ich horchte auf. »Es hat heute Mittag angefangen zu regnen, das erste Mal seit einer Woche. Zumindest auf der Insel hier war es seit Tagen trocken. Vielleicht bist du im Meer geschwommen?«

»Mit meinen Kleidern?«, fragte er sofort ungläubig.

»Was, wenn du nicht freiwillig im Wasser warst? Was, wenn du von einem der Boote gefallen bist oder dich jemand hineingeschubst hat?« Ein kalter Schauer lief meine Wirbelsäule hinab. In dem Thriller, den ich von Ally bekommen hatte, war auf diese Weise der erste Mord verübt worden.

Tiefe Furchen bildeten sich auf Arrans Stirn. »Ich weiß nicht. Wenn ich so in mich hineinhöre, kann ich mir das nicht vorstellen. Aber was weiß ich schon. Bestimmt kann ich meinen Gefühlen ebenso wenig trauen wie meinen nicht vorhandenen Erinnerungen.« Resigniert zuckte er mit den Schultern und stützte sich dann auf der Tischplatte ab.

Er tat mir schrecklich leid. Es musste ein ganz furchtbares Gefühl sein, nicht zu wissen, wer man war. Ich griff über den Tisch, legte meine Hand auf seine, um ihm ein wenig Trost zu schenken.

»Deine Erinnerungen kommen wieder. Eine Amnesie dauert normalerweise nur eine gewisse Zeit an. Zumindest stand das so oder so ähnlich in einem Buch, das ich vor kurzem gelesen habe.« Ich verschwieg ihm, dass es sich dabei nicht um ein medizinisches Fachbuch gehandelt hatte, sondern um einen der Liebesromane, die wir in unserem Buchclub gelesen hatten. »Weißt du, wann du aufgewacht bist?«

»Keine Ahnung, wie spät es war, vielleicht zwölf oder ein Uhr mittags. Am Strand war schon viel los, als ich aus dem rechten äußeren Bereich dorthin gelaufen bin.«

»Dann muss das heute früh gewesen sein. Ab zehn oder elf Uhr fing das Unwetter an. Bei mir im Café bist du erst Stunden später gelandet.«

»Nein, ich meinte nicht heute. Das war gestern.«

»Gestern?«, hakte ich nach und runzelte dabei die Stirn. Eine doofe Angewohnheit, mit der meine Freundinnen mich des Öfteren schon aufgezogen hatten.

»Ja, ich bin eine ganze Weile dortgeblieben und habe mich gegen Abend von einem Kerl mitnehmen lassen, der dort Fotos geschossen hat.« Müde fuhr Arran sich über das Gesicht.

»Und du hast bis jetzt mit niemandem über deine Amnesie gesprochen?« Wie hatte er die letzten sechsundzwanzig Stunden überstanden, ohne mit jemandem über seinen Zustand zu reden?

Arran schüttelte den Kopf. »Nein, ich wusste nicht, ob das gleich aufhören würde, ob ich nur etwas verwirrt war. Ich habe dummerweise gehofft, dass ich mich bald wieder erinnern kann, wenn ich nur richtig wach bin, aber das war nicht so. Bis jetzt nicht. Leider.«

Er irrte seit gestern auf der Insel herum, ohne zu wissen, wer er war und hatte sich tatsächlich bis jetzt niemandem anvertraut? Das musste schrecklich sein. Bestimmt fühlte er sich allein und hilflos und hatte nicht gewusst, mit wem er sprechen sollte. »Und wo hast du die Nacht verbracht?«

Mit verkniffenem Mund sah er mich an. Nach kurzem Zögern erbarmte er sich und verriet es mir: »In einem der Ruderboote. Hab mich da einfach reingelegt. Ich war so müde und hätte keinen Schritt mehr weitergehen können. Es war niemand da, den ich hätte fragen können, und auch ansonsten war alles wie ausgestorben, bis auf die Leute im Pub. Aber ohne Geld konnte ich da auch nicht rein.«

»Ja, da ist immer was los. Das Joe’s ist bei uns Einheimischen total beliebt. Aber auch die Touristen wollen immer gern einen schottischen Pub besuchen, wenn sie hier im Urlaub sind.« Dabei fiel mir ein, dass ich an diesem Wochenende mit Lin und ein paar anderen dort verabredet war. »Und dann?«

»Keine Ahnung, ich bin wach geworden, da war ich schon völlig durchweicht und die Welt schien unterzugehen.« Arran streckte sich, wobei sein Shirt hochrutschte und den Blick auf gut definierte Bauchmuskeln freigab.

Irritiert blinzelte ich und schaute dann rasch woandershin. Der Kerl trainierte regelmäßig, ansonsten hätte er nicht einen solchen Körper. Ich setzte diese Tatsache mit auf die Liste, die ich in meinem Geist über ihn führte. Vielleicht wurde sie bei der Suche nach Arrans Identität noch hilfreich.

»Dann hast du aber echt lange geschlafen«, überlegte ich laut. »Der Regen hat ja erst heute Vormittag eingesetzt.«

»Kann sein. Wenigstens geht es mir heute körperlich besser. Gestern hatte ich tierische Kopfschmerzen und mir war übel.« Er schenkte mir ein angestrengtes Lächeln. Man merkte ihm an, dass die ganze Situation ihm sehr unangenehm war.

»Und du bist dir sicher, dass dein Name Arran Hamilton ist?«, hakte ich nach und trank einen Schluck von meinem Tee, der mittlerweile nur noch lauwarm war.

»Nein, sicher bin ich mir nicht. Der Name ist mir nur als Erstes eingefallen, als du mich vorhin danach gefragt hast. Aber er fühlt sich irgendwie falsch an. Warum, kann ich dir nicht sagen.« Wieder begegneten seine blauen Augen meinen, die von einem dichten dunklen Wimpernkranz umrahmt waren. Etwas in seinem Blick war mir vertraut, doch ich konnte nicht greifen, was es war.

»Dann hast du mit Sicherheit nicht nur eine Amnesie, sondern bestimmt noch eine Gehirnerschütterung dazu. Soll ich den Arzt anrufen? Du solltest dich auf jeden Fall untersuchen und die Verletzung verarzten lassen.« Ich deutete auf die Wunde an seinem Kopf.

»Nein!«, stieß er heftig hervor, so als hätte ich etwas Illegales von ihm gefordert. Dann räusperte er sich und hob die Hände in einer versöhnlichen Geste. »Entschuldige bitte. Aber es geht mir ansonsten gut. Ich möchte nicht, dass jemand weiß, dass ich hier bin.«

Verdutzt setzte ich meine Tasse ab. Er wollte nicht, dass jemand wusste, dass er hier auf der Insel war? Was hatte er zu verbergen, wenn er doch nicht einmal wusste, wer er war? Ohne es zu wollen, flammte ein Funken Misstrauen in mir auf.

»Warum?«

Arran zuckte mit den Schultern, die Stirn in Falten gelegt. »Keine Ahnung. Bauchgefühl?«

»Vielleicht bist du ein Krimineller, der vor der Polizei geflüchtet ist?« Es war scherzhaft dahingesagt, aber was, wenn ich recht hatte?

»Nein, ich denke nicht, dass ich so jemand bin.« Als er meinen skeptischen Blick bemerkte, verzog sich sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Auch das sagt mir mein Bauchgefühl.«

»Dann sollten wir zumindest der Polizei Bescheid geben und nachfragen, ob jemand vermisst wird«, schlug ich vor.

Ich bekam keine Antwort, stattdessen sah Arran aus dem Fenster, tief in Gedanken versunken. Diese Chance ließ ich mir nicht entgehen und nutzte die Zeit, um mir sein Profil genauer anzuschauen.

Bisher hatte ich selten die Gelegenheit gehabt, einen Mann in meinem Laden sitzen zu haben, der selbst in ramponiertem Zustand eine solche Ausstrahlung hatte. Ich hätte sagen können, dass er gut aussah, doch das wäre die Untertreibung des Jahrzehnts gewesen. Jetzt, da sein Haar getrocknet war, erkannte ich, wie voll es wirkte und dass es tatsächlich fast schwarz war im Licht der Lampe, die über dem Tisch baumelte. Das, gepaart mit den hellblauen Augen und der gebräunten Haut verlieh ihm ein außergewöhnliches Aussehen, das mit Sicherheit nicht nur meine Blicke auf sich zog.

»Darf ich zumindest deine Wunde desinfizieren?«

Zögernd nickte er. »Aber keine Polizei und auch kein Arzt. Ich hoffe immer noch, dass ich spätestens morgen oder übermorgen wieder der Alte bin.«

Erleichtert stand ich auf und eilte in die Küche, wo ich einen Erste-Hilfe-Koffer griffbereit hatte. Doch als ich zurück in den Gastraum kam, war niemand mehr da. Arran war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Resigniert stellte ich den kleinen Koffer auf den Tresen und blickte nach draußen, doch es war mittlerweile zu dunkel, als dass ich den Mann dort irgendwo hätte entdecken können.

Der Gedanke, dass er mit nur einem Schuh durch die Straßen irrte, versetzte mir einen Stich. Dabei hatte ich zu Hause so viele Säcke mit Kleidung herumliegen. Mal wieder hatte ich für die Obdachlosen gesammelt, es aber noch nicht geschafft, meine Ausbeute aufs Festland zu bringen.

***

Als ich fünfzehn Minuten später den Laden abschloss, geisterte mir Arrans Geschichte noch immer im Kopf herum. Wo war er hingegangen? Wo würde er die Nacht verbringen? Wieder in einem der Boote? Vermutlich eher nicht. So, wie es geschüttet hatte, waren die sicherlich voll mit Wasser.

Unbewusst hielt ich Ausschau nach dem Mann und verdrehte meinen Hals, um alles in meiner näheren Umgebung genau sehen zu können. Doch sehr weit konnte man nicht blicken, weil die Dunkelheit, gepaart mit dem leichten Nebel, der nun von den nass-warmen Straßen aufstieg, es unmöglich machte, viel zu erkennen. Lediglich die Umrisse von ein paar Booten konnte ich von hier ausmachen. Sie hüpften auf dem Wasser auf und ab, das noch immer nicht wirklich zur Ruhe gekommen war.

»Du kannst nicht jeden retten. Wer nicht gerettet werden möchte, den musst du ziehen lassen!«, sagte ich zu mir selbst. Zwei Sätze, die ich zu beherzigen gelernt hatte. So oft schon hatte ich Menschen helfen wollen und war abgewiesen worden. Es war nicht einfach für mich gewesen, zu akzeptieren, dass nicht jeder der Hilfe benötigte, sie auch annahm.

Während ich zu meinem Auto ging, nahm ich mir fest vor, zu Hause im Internet nach Arran Hamilton zu suchen. Die meisten Menschen waren mittlerweile auf irgendeiner Social-Media-Plattform aktiv. Und er war ungefähr in meinem Alter oder vielleicht maximal dreißig. Von daher standen die Chancen ganz gut, dass er irgendwo zu finden war.

Der Asphalt glänzte nass im Schein der Straßenlaternen, doch es fing nicht wieder an zu regnen. Vielleicht war der Sturm weitergezogen. Ich hoffte es. Sollte es morgen so weitergehen mit dem Wetter, würde ich mir überlegen, die Bäckerei ausnahmsweise mal geschlossen zu lassen. Bei einem solchen Sturm lohnte es sich einfach nicht zu backen, wenn anschließend nichts verkauft wurde. Auch die Wetteraussichten für den morgigen Tag würde ich nachher in Erfahrung bringen und dann Moira und Phil Bescheid geben, ob ich sie brauchen würde. Wozu sonst hatte man Internet?

Ich bog in die kleine Gasse ein, in der ich geparkt hatte, und suchte in meiner Tasche nach dem Autoschlüssel. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. Es regnete zwar nicht mehr, aber der Wind, der mir ins Gesicht blies, war unangenehm und ich fröstelte bereits.

Mein eierschalenfarbener Mini sprang sofort an. Ich wendete und fuhr auf die Main Street. Als ich im Begriff war, in die Black Rae Street abzubiegen, entdeckte ich gerade noch rechtzeitig die rot-weiße Straßensperre und trat abrupt auf die Bremse. Beinah wäre ich hineingefahren.

»Mist!«

Offenbar war die Straße aufgrund des Sturms und irgendeines Wasserschadens nicht passierbar. Wohl oder übel musste ich einen Umweg über die A 848 in Kauf nehmen.

Das war eindeutig nicht mein Tag!

Erst der Sturm, die fernbleibenden Gäste und dann der Kerl mit der Amnesie. Zu allem Überfluss hatten sich bis jetzt weder Ally noch Lin gemeldet. Ich wusste, dass ich mir mit Sicherheit keine Sorgen um sie machen musste und dass sie spätestens nach dem Abendessen schreiben würden, dennoch nagte das alles an mir und machte mich ungeduldiger, als ich es normalerweise war.

Ich fuhr gerade an der Abzweigung vorbei, die zur Destillerie führte, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, die meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Automatisch nahm ich den Fuß vom Gas.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, stieß ich wütend hervor, trat auf die Bremse und legte den Rückwärtsgang ein. Nach wenigen Metern hielt ich an und ließ das Seitenfenster herunter.

Rechts von mir stand eine kleine Bank an einem Metallzaun, der die Fußgänger davor schützte, den Abhang hinunterzupurzeln. Und auf ebendieser Bank saß ein Mann. Der Mann, der bis vor kurzem noch bei mir im Laden gewesen war und der sein Gedächtnis verloren hatte.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er mich an, so als wollte er sagen: Ist noch was?

Wütend biss ich die Zähne aufeinander und lehnte mich leicht aus dem Fenster. »Normalerweise verabschiedet man sich, nachdem man auf einen Tee und Cookies eingeladen worden ist.«

»Tut man das?«, fragte er provozierend und hob dabei eine Augenbraue an.

Irritiert blinzelte ich. Drehte der jetzt völlig durch? »Ja, wenn man dankbar ist, schon.«

»Danke.« Immer noch sah er mich an, als hätte ich ihn bei einem wichtigen Meeting gestört. Wie konnte jemand angezogen sein, als wäre er irgendwo unter die Räder gekommen und zeitgleich wirken, als wäre er der Prinz von Was-weiß-ich-Was, der erhaben auf seine Untergebene herabblickte?

Warum war er auf einmal so abweisend? »Gern geschehen.« Ich wollte nicht schnippisch klingen, aber nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, war mir klar, dass ich versagt hatte. Einen Moment überlegte ich, weiterzufahren und ihn seinem Schicksal zu überlassen. Aber dann fiel mein Blick auf seine Füße. Der einsame Schuh und auf der anderen Seite der nackte Fuß sorgten dafür, dass ich nicht einfach davonfahren konnte. Das widersprach dermaßen meinem Charakter, dass ich resigniert aufhörte, es überhaupt zu versuchen und stattdessen in die Parkbucht fuhr und ausstieg.

»Was willst du, Hailey?« Die Frustration war aus Arrans Stimme herauszuhören, aber etwas anderes fiel mir viel mehr auf. Es war das erste Mal, dass er meinen Namen aussprach. Aus seinem Mund klang er irgendwie schön, was mich berührte und innehalten ließ.

Normalerweise mochte ich meinen Namen nicht unbedingt, weshalb meine Freundinnen auch meistens Hal zu mir sagten, was sich ein bisschen wie Hell anhörte – die Hölle – der Ort, aus dem ich entkommen war. Ich fand es passend. Doch Arrans warme und tiefe Stimme ließ in mir den Wunsch aufkeimen, ihn darum zu bitten, meinen Namen ein weiteres Mal auszusprechen.

Fest ballte ich meine Finger zu einer Faust, unterdrückte dieses idiotische Bedürfnis und sagte stattdessen: »Ich würde dir gern helfen.«

Einen Moment schwieg er und sah mich verständnislos an, ehe er fragte: »Warum? Du kennst mich doch überhaupt nicht. Was, wenn ich tatsächlich ein Krimineller bin?« Aufmerksam beobachtete er meine Reaktion.