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Was treibt die Menschheit voran? Entwickelt sie sich von Niederem zu Höherem? Orientiert sich Fortschritt an Lehren aus der Geschichte? Ist Geschichte als Progression der und in der Freiheit zu begreifen? Solche überkommenen Fragen und die korrespondierenden unpassenden Antworten blenden den Übergang von einer Generation zur nächsten aus, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr gefährdet ist. Mit dem Gelingen oder Scheitern dieses Übergangsstadiums, in welchem teilweise kriegerische und mörderische, teilweise die Population ganzer Kontinente auslöschende Szenarien dominieren, steht der Fortbestand der uns bekannten Zivilisation auf dem Spiel. Deshalb ist das neue Buch von Peter Sloterdijk eines von der äußerst pessimistischen Sorte: ein Schwarzbuch über kommende Generationen. Denn da in der Moderne die Traditionsfäden chronisch reißen und immerfort neue Vektoren den Zug ins Kommende bestimmen, wandeln sich die Individuen zu »Kindern ihrer Zeit«, Nachkommen »schlagen aus der Art«. Da moderne Elterngenerationen selbst meist schon zivilisatorisch labil antreten, gerät die Formung ihres Nachwuchses zu einem unbeendbaren Match zwischen potenziell schrecklichen Eltern und potenziell schrecklichen Kindern.
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Seitenzahl: 619
Hat aber die aktuelle Gesellschaftswissenschaft je das Défilé bemerkt, in dem »die schrecklichen Kinder der Neuzeit« von spätmittelalterlichen Tagen an den kommenden Jahrhunderten entgegenzogen? Hat einer der Autoren, die sich in den letzten Jahrzehnten zu meistens methodisch verdrehten Phänomenen wie Globalisierung, Mundialisierung, Modernisierung, Hybridisierung, Dekolonisierung, Kreolisierung äußerten, darauf geachtet, daß der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts tonangebende Kontinent der Moderne, das westliche Europa der nach-kolumbianischen Jahrhunderte, den Globus nicht nur in Aufruhr versetzte mit seinen paradigmatischen Exportgütern? Hat man darüber hinaus die Tatsache berücksichtigt, wonach Europa – in der Folge überflügelt von seiner amerikanischen Filial-Kultur – an so gut wie alle anderen ethnischen Ensembles bzw. »Kulturen« seine paradoxeste und am wenigsten analysierte Erbschaft weitergab – die irrlichternde Botschaft von der Überflüssigkeit eines Erbes? Hat man in Rechnung gestellt, wie Europa, gemeinsam mit seinem amerikanischen Partner, im Namen der jungen, wandelbaren und angriffslustigen Göttin »Freiheit« sein riskantestes Experiment in die fernsten Regionen hinaustrug: seine Wette, Herkunftsunsicherheit – nenne sie Enterbung, Bastardentum oder Hybrid-Identität – sei bei der Suche nach Zukunftskompetenz nicht länger ein Makel, vielmehr eine nahezu unentbehrliche Qualifikation?
Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist Professor für Ästhetik und Philosophie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und deren Rektor.
Peter Sloterdijk
Die schrecklichen Kinder der Neuzeit
Über das anti-genealogische Experiment der Moderne
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-73709-5
www.suhrkamp.de
VorbemerkungVon Erbe, Sünde und Moderne
Kapitel 1Die permanente Flut. Über ein Bonmot der Madame de Pompadour
Kapitel 2Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen-Dreieck De Maistre –Tschernyschewski – Nietzsche
Kapitel 3Dieser beunruhigende Überschuß an Wirklichkeit Vorausgreifende Bemerkungen zum Zivilisationsprozeß nach dem Bruch
Kapitel 4Leçons d’histoire. Sieben Episoden aus der Geschichte der Drift ins Bodenlose: 1793 bis 1944/1971
Paris, den 22. Januar 1793, gegen acht Uhr abends
Paris, den 2. Dezember 1804
Zürich, den 5. Februar 1916
Jekaterinburg, die Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918
Moskau, den 13. März 1938
Posen, den 4. Oktober 1943
Bretton Woods, 22. Juli 1944 / Washington 15. August 1971
6Kapitel 5Das Über-Es: Vom Stoff, aus dem die Sukzessionen sind
1 Im Copy-Shop der Evolution
2 Der Patriarchengeist und die Transmissionskette
3 Monstren-Zeugungen im Hiatus: Schimären und Philosophenschüler
4 Der Bastard Gottes: Die Jesus-Zäsur
Kapitel 6Die große Freisetzung
1 Ecce homo novus
2 Irreguläre Geburten
3 Die Kinder des Abgrunds Von Mystik als antigenealogische Revolte
4 Die glorreichen Bastarde marschieren auf
5 Kreative Diskriminierung: Legale und Illegale Ein Triptychon
6 Von Abstammung kein Wort mehr Voiture – de Sade – Jefferson – Emerson – Stirner – Marx – Deleuze/Guattari
Ausblick Im Delta
7I grow, I prosper.
Now, gods, stand up for bastards!
William Shakespeare, King Lear, I, 2.
Der Mensch ist das Tier, dem man die Lage erklären muß. Hebt es den Kopf und blickt über den Rand des Offensichtlichen, wird es von Unbehagen am Offenen bedrängt. Unbehagen ist die angemessene Antwort auf den Überschuß des Unerklärlichen vor dem Erschlossenen.
Früh manifestiert sich solches Unbehagen in Erkundigungen nach Anfang, Ziel und Bedeutung der menschlichen Situation. Griechische Philosophen haben es als »Staunen« (thaumazein) mystifiziert, seit sie vorgaben, diese Empfindung sei intellektuell stets anregend und existentiell erhaben. Die Romantiker sind den Philosophen gefolgt. Sie erhoben das Phänomen in den Geheimniszustand. Sie wollten die Quelle der Poesie in ihm erkennen, als sei das Staunen die Reaktion der Alltäglichkeit auf das Mysterium. Erst Descartes hat das Staunen entzaubert, als er das estonnement als die erste und unangenehmste unter den »Leidenschaften der Seele« anführte. Sie könne immer nur von Übel sein.[1]
Dem alltäglichen Empfinden war der mißliche Charakter des Zustands ohnedies nie auszureden. Du kennst die Anfänge nicht, die Enden sind dunkel, irgendwo dazwischen hat man dich ausgesetzt. In der Welt sein heißt im unklaren sein. Am besten ist es, man hält sich an den Schein des Sich-Auskennens in der näheren Umgebung, die man seit einer 10Weile die »Lebenswelt« nennt. Verzichtest du auf weitere Fragen, bist du vorläufig in Sicherheit.
Nicht das Wort war am Anfang, sondern das Unbehagen, das nach Worten sucht. Dem Mythos fiel die Aufgabe zu, Wege aus der ersten Unklarheit anzuzeigen. Wovon man nicht schweigen konnte, davon mußte man erzählen. Erzählen heißt, so zu tun, als wäre man am Anfang dabeigewesen. Erzähler spiegeln gerne vor, sie könnten mit dichten Gefäßen an langen Seilen aus dem Brunnen der Vergangenheit schöpfen. Öfters wurde die Behauptung, höhere Erzählmacht zu besitzen, von der Suggestion begleitet, man habe aus gewöhnlich gut unterrichteten Jenseitskreisen bevorzugte Einsichten in die näheren Umstände des Endes erhalten.
Durch den Erfolg des Christentums hat sich in der westlichen Zivilisationssphäre die biblische Auslegung des Unbehagens am In-der-Welt-Sein durchgesetzt. Die übermittelt mittels einer kurzen Erzählung eine einleuchtende, obgleich düstere Lektion: Fühlen wir uns vom Befund unseres Daseins nicht selten befremdet, so aus einem begreiflichen Grund. Wir sind Vertriebene, fast von Anfang an. Wir alle haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht. Sind wir hier in der Welt, so weil wir nicht würdig waren, an einem besseren Ort zu bleiben.
Im Licht des mächtigsten Mythos des Westens sind die Post-Adamiten Wesen, an denen eine Bestrafung ihre Spuren hinterlassen hat, unverbüßlich, irreversibel, in jeder Generation von neuem. Er handelt von der fortbestehenden Vertreibung, die uns aus der paradiesischen Situation in die jetzige Verlegenheit versetzt hat. Die Lage des Menschen ist Sündenfolge.
Der Mythos hebt das Unbehagen nicht auf, er macht es erträglich, indem er es erläutert. Die Grundregel der My11thodynamik besagt: Jede Geschichte ist besser als keine Geschichte. Auch ein dunkler Mythos erhellt die Lage, indem er dem Unbehagen eine Fassung gibt. Oft unterdrückt er sogar das Aufsteigen des Unbehagens, indem die Erklärung der Empfindung zuvorkommt.
Jedoch kann aufgrund paradoxer Nebeneffekte bei der Auslegung des Unbehagens am In-der-Welt-Sein der Effekt auftreten, daß das schwer Erträgliche in gesteigerter Form wiederkehrt: dann nämlich, wenn die unklare Lage infolge der Auslegungen des Mythos noch um vieles schlimmer erscheint als die anfängliche Irritation, zu deren Behebung die Erzählung in Gang gesetzt wurde.
Für eine solche Übersteigerung des Unbehagens durch seine Erklärung bietet die Ideengeschichte Alteuropas kein stärkeres Beispiel als die Auslegung der biblischen Erzählung von der Vertreibung der menschlichen Ureltern aus dem Paradies bei Aurelius Augustinus (354-430).[2] Aufgrund seiner Intervention wurde aus dem Unbehagen Bestürzung. Anfängliche Konfusion wandelte sich in Perplexität. Der Bischof von Hippo hatte den Weg vom Mythos zum Logos mit jener Folgerichtigkeit zurückgelegt, die die Wesensverwandtschaft von Theologie und Extremismus ahnen läßt. Sie macht bis heute schaudern, sollte man sich noch einmal der Mühe unterziehen, den Vorgang aus den Akten aufzurollen. Es war der Übergang von einem Ursprungsmärchen voll symbolischer Bezüge und archetypischer Obertöne in eine Katastrophendoktrin von primärmasochistischer Eindringlichkeit.
12Die Steigerung des vagen Unbehagens zum metaphysischen Debakel bewirkte die Lehre vom peccatum originale – einem theologischen terminus technicus, den man im Deutschen seit dem 13. Jahrhundert mit dem sachlich völlig angemessenen Begriff »Erbsünde« wiedergibt. Sie resultierte aus der unnachgiebigen Rationalisierung der biblischen Erzählung von der Vertreibung der Menscheneltern durch den – mit Origines und dem Pseudo-Areopagiten – ambitioniertesten Gottes-Logiker des ersten nach-christlichen Jahrtausends. Das Judentum, dem die Urheberrechte an dem Vertreibungsmärchen gehörten, hatte sich in der Regel damit begnügt, den Aufenthalt der Menschen in einer suboptimalen Welt recht und schlecht zu motivieren, indem es die in nach-babylonischer Zeit kolportierte Geschichte zusammen mit dem übrigen Hausvorrat erbauender und ermahnender Überlieferungen von Generation zu Generation weitertrug. Die jüdischen Rezipienten konnten den psychischen Gewinn aus der mythischen Erklärung verbuchen, da sie nun immerhin wissen durften, woran sie waren. In ihre so erklärte Lage fanden sie sich mit dem mutigen Realismus, der ihrer Weisheitstradition von alters her eigen war.
Augustinus hingegen löste mit seiner verschärften Sünden-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er wollte sich nicht damit zufriedengeben, den außerparadiesischen status quo der Menschen demütig zur Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf, den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama zwischen Mensch und Gott überhöhte, bei dem die Rolle des böse lachenden Dritten dem Satan zufiel, dem selbstverliebten Anführer der aufrührerischen Engel. Der nordafrikanische Bischof, Ex-Manichäer und Platoniker, der der weltlichen Weisheit abgeschworen hatte, erwies sich einmal mehr als die Diva der 13Theologie: Eine Arie vorzutragen, ohne ihre eigene Note in sie zu legen, kam für sie nicht in Frage. Dem Hysteriker von Hippo, aufgrund seiner Begabung für Schuldgefühle zu höheren kirchlichen Aufgaben prädestiniert, schien es geboten, den kritischen Vorgang aus der mythischen Vergangenheit herauszulösen, um ihn im Leben jedes einzelnen zu reaktualisieren.
Man könnte das Manöver zunächst für eine Sache der nachzureichenden Plausibilität halten: Die Idee der Gerechtigkeit Gottes gerät ja leicht in ein bedenkliches Licht, wenn die Nachkommen Adams ausnahmslos für eine einzige, in ferner Vorzeit begangene Sünde eines ansonsten profilschwachen Vorfahren büßen müssen, ohne in eigener Sache Schuld auf sich geladen zu haben. Hatte schon der Mythos in seiner schlichten Gestalt das Risiko mit sich gebracht, daß die gewöhnliche Vernunft nach der Verhältnismäßigkeit zwischen Fehltritt und Strafe fragen könnte – denn Tod, Not und Krankheit, eines wie das andere im Paradies unbekannte Übel, sollen nach der Aussage des Apostels Paulus als die gerechten Folgen der Urelternsünde gelten –, stellt sich hinsichtlich der ferneren Nachkommen um so mehr das Problem, warum auch sie, Jahrtausende post eventum, noch immer für die Verfehlung der Vorfahren büßen sollten.
Es lohnt sich, auf die augustinischen Antworten und ihre Ausarbeitungen durch die Theologie des folgenden Jahrtausends einen Blick zu werfen, wäre es auch nur, weil man auf diese Weise Einsicht in die Fabrikation der alteuropäischen Psyche und einige ihrer bestimmenden Komplexe gewinnt.
Die klassische Erbsünden-Lehre läßt sich in einen logischen und einen moralisch-sexualpathologischen Teil aufgliedern. Welcher von beiden für modernes Empfinden und Argumentieren befremdlicher ist, wäre nicht leicht zu sagen. Der logische Aspekt der Lehre vom peccatum origi14nale mutet dem zeitgenössischen Interessenten die Aufgabe zu, sich auf den Standpunkt antiker Ursprungsphilosophie und ihrer mittelalterlichen Überarbeitungen zurückzuversetzen. Ihr zufolge wäre alles Entsprungene »auf gewisse Weise« im »Ursprung« (arché, principium) enthalten und verkörpere nur dessen zeitlich und phänomenal versetzte »Entfaltung«. Alle später lebenden Menschen wären also »im Samen Adams« mit-präsent gewesen, da gemäß dieser inzwischen außer Dienst gestellten Logik noch die fernste Folge im ersten Beginn angelegt ist. Es gibt nichts Neues in der Welt, nur die Entfaltung präformierter Substanzen. Hat Adam, der Ursprungs-Mann, seine bei der Schöpfung intakte Substanz durch erste Sünde korrumpiert, geht die Korruption auf die Nachkommen über, da diese »in ihm« mitenthalten sind. Nicht bloß die ursprünglich heile Substanz soll teilbar und dennoch in jedem ihrer Teile in Gänze anwesend sein. Für die Korruption der Substanz gilt das Gesetz der Anwesenheit des Ursprungs im nachgeordneten Glied wie das der Anfangsmacht in der Folgeerscheinung in gleicher Weise. Jeder Nachkomme Adams ist darum »in Adam« mitkorrupt.
Hat die zeitgenössische Vernunft schon einige Mühe mit der bizarren Mengenlehre des Ursprungs-Denkens, so wird sie durch den moralischen und sexualpathologischen Teil des Erbsündendogmas erst recht heftig vor den Kopf gestoßen. Mit ihm wird die Doktrin psychologisch invasiv und moralisch zudringlich. Sie gibt vor, eine Phänomenologie der Sünde zu liefern, die zu zeigen vermöge, wie das erste Fehlverhalten sich in jedem einzelnen der Adamskinder spontan reaktualisiert. Der Tatbestand des peccatum originale gilt als erfüllt, wenn sich die Erbverfehlung des Vorfahren in der eigenen Verfehlung des Nachgeborenen wiederholt. Der Erbsündenprozeß darf sich nicht nur als passive Übernahme einer alten Last vollziehen, obschon das Gewicht der 15Passivität in der außerparadiesischen Verfassung des Menschen schwer genug wiegt. Zusätzlich ist zu erweisen, wie das Wiederaufflammen der Sünde im einzelnen zustande kommt, damit sie ihm auch als persönliche Tat zugerechnet werden kann. Nicht bloß als Erbe des adamitischen Makels ist der Nachkomme zur Sünde disponiert; er wird zum Sünder aus eigener Intensität.
Allein dieses moralisch-theologische Arrangement schützt die Gerechtigkeit Gottes gegen den Vorwurf, sie antworte auf Adams Fehltritt mit einer Überreaktion. Die Nachkommen haben das peccatum originale auf eigene Rechnung erneut zu begehen, um ihre Verdammnis – genauer ihre Verdammnis zur Verdammnis – zu verdienen. Und sie begehen es unfehlbar, weil sie mit dem Makel des Sündigenmüssens ins Leben treten. Das ist es, was Augustinus’ listige und zudringliche Wendung vom non posse non peccare als letzte Wahrheit der natürlichen conditio humana nach den Fall besagt. Die Korruption ist dem Menschen zuvorgekommen. Der Mensch ist das Lebewesen, das nicht nicht sündigen kann, solange nicht die Gnade einigen Wenigen einen Weg der Rückkehr in die Integrität aufzeigt. Daß es wenige sind, die zu den Erwählten rechnen werden, steht für Augustinus außer Zweifel. Am Hof Gottes sind ja nur die beim Aufruhr der Engel freigewordenen Plätze nachzubesetzen. An einem darüber hinausgehenden Kontingent an Kandidaten der Erlösung besteht im Jenseits weder Bedarf noch Interesse. Für sentimentalen Universalismus gibt es in der vera religio von der ersten Minute an keinen Raum, was auch immer spätere, universalistisch überventilierte Apostel und deren philosophischer Nachtrab hierzu sagen werden. Das authentische Christentum, wie es von Paulus bis Augustinus kodifiziert wurde, bleibt als strikte Erwählungs- und Gnaden-Religion eine Sache der Wenigsten, einiger erratischer verbaler Gesten »an alle« und pro multis ungeachtet.[3] Seine heilige Schrift, recht verstanden, ist eher ein Buch für keinen als für alle.
Den Hebelpunkt für seine Lehre von der anhaftenden Erblichkeit der Sünde findet Augustinus im Generationsprozeß: Wie das zweigeschlechtliche Leben als solches ist die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit. Mehr noch: Der Modus der Übertragung, der Geschlechtsakt, beinhaltet die Wiederholung der ersten Sünde, weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche Selbstbevorzugung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande kommt. Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hochmuts, in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwendet, um sich selber an die erste Stelle zu rücken.[4] Wären die Menschen fähig geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren sinnlichen Aufruhr zu genießen, wären sie dem Heil näher geblieben. Doch im postlapsarischen Zustand haben sie den Stachel des Strebens nach selbstbezüglicher Lust im Fleisch. Die sinnliche Wollust, sofern sie die Wendung zum Vorrang des Ich vollzieht, verwirkt die Ewigkeit.
In modernen Kontexten würde man das augustinische Argument in die These kleiden, wonach sich in der Lust an der Lust die »narzißtische« Disposition der Psyche geltend macht: Diese freilich ist, um zur religiösen und metaphysischen Diktion zurückzukehren, mit der Einordnung des Geschöpfs in die kosmischen Hierarchien nicht verträglich. Die Verkehrungstendenz haftet den Sterblichen aufgrund ihrer primären Libido-Orientierung unauslöschlich an. Im Stand der Korruption ist der Mensch zur Selbstbevor17zugung verdammt. Der Wille der Eigenmacht wohnt dem Nachkommen Adams allzu tief inne, als daß er ihn aus eigenem Entschluß abstreifen könnte. Die Liebes-Ordnung ist bei ihm von Grund auf verdreht. Er instrumentalisiert das Absolute und vergöttlicht die Instrumente. Obendrein ist er dazu verurteilt, seine Verfassung vor sich selbst zu verbergen – die Verkehrung hat die Unaufrichtigkeit zur ständigen Begleiterin. Die Geschichte der Selbstbevorzugung, die zugleich die halbbewußte mauvaise foi ist, führt in »Gottferne«, Aufstand, Abfall, Irre, Sünde, Perversion und wie die großen Titel der Verfehlung sonst heißen. An ein Ende gelangte sie nur, wenn dem Menschen gezeigt wird, wie er sich anzustellen hätte, wollte er dem Schöpfer wieder den Vortritt lassen. Dies könne ausschließlich das Hören auf das Evangelium leisten. Es allein solle zum posse non peccare der wirklichen Gläubigen und zum non posse peccare der Verklärten zurückführen.[5]
Damit wird der Sturz in die Erbsünde immerhin für einige Erwählte reversibel. Die augustinische Rekonstruktion der menschlichen Geschichte nach dem Fall läßt deutlich werden, wie sehr das Christentum der Bemühung entsprang, die ursprüngliche Überreaktion Gottes gegen Adams Verfehlung durch ein Erlösungswerk zu kompensieren, das dem Menschen eine geringe Heilschance zurückgab, ohne daß der im Zorn zu weit gegangene Gott das Gesicht verlieren mußte. Die Schriften Augustinus’ sind von der Einstimmung in das Klima der Überbestrafung durchzogen: Es kann für den strengen Bischof von Hippo kein irdisches Elend geben, an dem der Mensch nicht letztlich selber schuld wäre.
Es gehört zu Augustinus’ problematischen Verdiensten, wenn die westliche Zivilisation durch seine Anregungen ei18nen Gedanken der Erblichkeit von Schuld, Sünde und Korruption zu entwickeln vermochte, der es mit dem indischen Konzept des Karma von ferne aufnehmen konnte. Indem Augustinus alle spontanen Intuitionen der moralischen Alltagsvernunft auf den Kopf stellte, konzipierte er eine Form von Sündigkeit, die durch die Tatsachen der Fortpflanzung unmittelbar auf sämtliche Nachkommen Adams überging – einzig den jungfräulich empfangenen Erlöser ausgenommen. Mit Hilfe seines Erbsünde-Konzepts gelang dem melancholischen Bischof die Konstruktion eines Kontinuums irdischer Geschichte, das ganz im Zeichen der zugleich angeborenen und immer spontan erneuerten Auflehnung der Einzelnen gegen Gott stünde. Die civitas terrena ist nichts als ein langes Défilé von Aufständen, Anmaßungen und Verbrechen, das von den Bemühungen einiger redlicher Herrscher und Richter um die irdische iustitia nur unzulänglich eskortiert wird. Aufstand ist das Wesen des Menschen: Der Mensch wird wie Gott, indem er dessen Privileg, nein sagen zu können, auf Gott selbst anwendet. Als Albert Camus im Jahr 1951 seinen Großessay Der Mensch in der Revolte publizierte, hatte er noch immer kaum mehr anzubieten als eine um aktuelle Beispiele bereicherte Paraphrase der Lehren seines Landsmanns Augustinus.
Man darf von der tiefsinnig-heimtückischen Konstruktion der ersten menschlichen Verfehlung und ihrer unvermeidlichen Weitergabe durch den Akt der Fortpflanzung ohne Zorn und Eifer behaupten, sie habe aus psychohistorischer Sicht über die Entwicklung des Westens einen Schatten geworfen, dessen Aufhellung durch philosophische, theologische, psychologische, soziologische und literarische Aufklärung bis heute nicht als abgeschlossen gelten kann. Nach wie vor sind die Einprägungen des metaphysischen Masochismus augustinischer Herkunft mitsamt seiner Fracht an politischer Phobokratie und existentieller Körperfeind19schaft in den Archipelen des Christentums spürbar[6] – zwei Grundübel, zu denen sich Inquietismus, Erwählungspanik, Kulpabilismus, sexualneurotische Befangenheit und Kult des Elends gesellen. Kein harmloser Befund, bedenkt man, daß das Christentum mit über zwei Milliarden nominellen Gläubigen bis auf weiteres die numerisch größte, zudem theologisch intensivste Religionsmacht der Welt darstellt, mögen auch die düsteren Erbsachen heute fast überall in die unauffälligen Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Solidarität umcodiert worden sein.
Auch für die Nachdunkelung des Berichts von der Vertreibung aus dem Paradies durch die augustinische Erfindung der Erbsünde gilt das mythodynamische Grundgesetz, das im Feld des primären Unbehagens regiert: Jede Erzählung ist besser als keine Erzählung. Keine dunkle Erzählung kann sich jedoch den Wirkungen von Aufklärung entziehen, die alte Geschichten unter neue Beleuchtungen stellt. Je düsterer die Redaktion einer alten Geschichte ausfiel, desto heftiger manifestiert sich später das Bedürfnis, die Erzählung durch Umerzählung aufzuhellen.
Diese Beobachtung läßt sich an den Schicksalen der Erbsündenlehre in moderner Zeit erläutern. Schon Rousseau lieferte eine weltliche Umschreibung der Doktrin, indem er die Vertreibung aus dem Paradies der Eigentumslosigkeit als den Gründungsakt der bürgerlichen Gesellschaft auslegte: An die Stelle der Erbsünde tritt die erste Regung des Sinns für Privatbesitz: Mit dem Satz: Ceci est à moi! – »dies gehört mir« beginnt die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, die nach Rousseau eine einzige Sequenz von Entfremdungen und Verkünstlichungen darstellt. Betrachtet Rousseau 20das Eigentum auch als den Ursprung zahlreicher zivilisatorischer Übel, streitet er die Unvermeidlichkeit dieser Erfindung nicht ab. Er hatte – wie nach ihm Bismarck[7] – begriffen, daß alle Legitimität letztlich auf einer verjährten Illegitimität beruht. Mit seiner Neudeutung der Urkatastrophe vollzieht er den Schritt, der die künftigen Stellungnahmen der Modernen zur Frage nach dem ersten Übel vorzeichnet: Er enttheologisiert das Böse und verlagert die Quelle der Korruption auf das Feld des Sozialen.
Immanuel Kant, der Bewunderer Rousseaus, löst die Geschichte des Sündenfalls vollends aus dem religiösen Kontext und versetzt sie in eine zivilisationsgeschichtliche Perspektive: Es begründet in seinen Augen die Ehre des Menschengeschlechts, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein, da es nur so auf den Weg der Vernunft und des Fortschritts gebracht werden konnte.[8] Indem die Ureltern ihre Bequemlichkeit verloren, wurden ihre Nachkommen zu Agenten der Sittlichkeit und der immer strebenden Bemühung. Das bürgerliche Dasein beginnt, wo die paradiesische Faulheit endet.
Bei Friedrich Schiller findet man schließlich die vollständige Umwertung der Vertreibungsgeschichte: Er läßt den Prozeß der menschlichen Freiheit geradewegs mit dem Sündenfall beginnen, ja, er zelebriert diesen als »die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte«. Sie eröffnete die Bahn der Selbsttätigkeit. Weit davon entfernt, eine Erbschuld zu begründen, gibt der ursprüngliche Ungehorsam gegen Gott unter dem Baum der Erkenntnis die erste Probe der erwachenden Vernunftkräfte. Mit einem ihrer unwürdigen, trägen Paradies im Rücken blickt die Mensch21heit von alten Tagen an voraus auf ein besseres, ein aktives, ein reflektiertes Paradies: Den Zugang zu diesem erarbeitet sie sich durch den Gebrauch ihres Erkenntnisvermögens und ihrer Freiheit aus eigenen Stücken.[9]
Auch Johann Gottlieb Fichte hat die Säkularisation der Erbsünde durch seine Lehre von der Selbst-Setzung des Ich in der »That-Handlung« paradox vorangetrieben: Sie brachte das mehrdeutige Resultat hervor, wonach die endliche Ichheit, indem sie sich selbst aktuell generiert, gleichsam unter philosophischer Anleitung den »transzendentalen Sündenfall« begeht,[10] aber durch die folgende Besinnung auf das absolute Leben den notwendig angerichteten Schaden wiedergutmacht: Das besonnene endliche Ich streicht sich selbst durch und stellt sich ins Unbedingte zurück.
Wenn schließlich Friedrich Nietzsche gegen Ende des 19. Jahrhunderts die These vorbringt, zum Atheismus der Zukunft werde notwendig auch eine Art von »zweiter Unschuld« gehören, redet er nicht nur der Loslösung der Menschheit von dem bislang vorherrschenden Gefühl das Wort, »Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben«.[11] Er rückt auch, für diesmal unpolemisch und ohne Nennung des Urhebernamens, die augustinischen Konstruktionen beiseite, über die er in ruhigem diagnostischem Ton bemerkt, sie mußten mittels der Emportreibung eines maximalen Gottes zugleich ein Maximum an menschlicher Schuld erzeugen.
22An die Stelle der Erbsünde tritt bei den Menschen der Neuzeit die janusköpfige Entdeckung des realen Erbes als Last und Chance. Wo die moderne Welt wirklich modern wird, nimmt sie die Form eines Experiments über die Zulassung von Ambivalenzen an. Wo große Lasten zu tragen sind, dürfen entsprechende Vorteile nicht fehlen. Der größte unter den neuen Vorteilen wird darin bestehen, daß der Akzent vom Leben nach dem Tod auf das Dasein davor versetzt werden kann. Zu bedauern ist, wie sehr dieser Akzentwechsel, in seinen Anfängen nicht weniger strittig als der platonische Titanenkampf zwischen der Ideenpartei und der Materiepartei, heute in der postmetaphysischen Trivialität verblaßt. Oft genug hat man, zumeist auf den Spuren Nietzsches, konstatiert, daß die Moderne in hohem Maß auf dem antiplatonischen Affekt beruhe: Wer modern empfindet, stimmt ohne langes Nachdenken der Forderung zu, das Leben in der Immanenz sollte reich genug aufgefaßt werden, um alles, was vormals in der Transzendenz unterzubringen war, in seinen eigenen noch längst nicht ausgemessenen Umfang aufzunehmen. Die Mahnung, der Erde treu zu bleiben, steht über dem Eingang zu den tausendundeinen Nächten moderner Lebenskunst und den tausend Plateaus erfinderischer Tagesarbeit.
Seltener hat man bemerkt, wie die Moderne dem anti-augustinischen Affekt eine ebenso günstige Bühne bot. Mochte der alte Adam so viele Mängel mitbringen, wie ihm beliebte; sollte er so schlimme Verbrechen begehen, wie nicht zu verhindern waren: Mängel und Verbrechen wären doch keinesfalls Ausflüsse einer erbsündigen Vorbelastung, sondern entweder Resultate des Daseins in unterprivilegierten Milieus oder Initiativen eines nicht weiter rückführbaren bösen Einzelwillens, der von Gelegenheiten und Ausreden Gebrauch macht. Wenn es etwas gibt, was die Modernen spontan belächeln, ist es, neben der Idee, die Sonne kreise 23um die Erde, vor allem die Doktrin, alles menschliche Leben sei durch Erbsünde gezeichnet.
Doch zu eben der Zeit, als die Idee der Erbsünde zunächst der Lächerlichkeit, dann der Gleichgültigkeit verfällt, wendet sich das anthropologische und politische Denken der Modernen auf breitester Front den Phänomenen des Erbe-Seins und Erbe-Habens als solchen zu. Das 19. Jahrhundert entdeckt die Erblichkeit aus allen Perspektiven, zumeist in belastender Tendenz und nur selten mit aufsteigendem Elan. Von der Erbsünde emanzipiert, begreift sich der Mensch als das in Erbgeschichten verstrickte Wesen: Er ist das Tier, das aufgrund sexueller Selektion Anlagen geerbt hat, die es bis auf weiteres unkorrigierbar physisch definieren – darunter zuweilen schwere Erbkrankheiten, die sich nicht mehr, wie im Altertum, zu heiligen Zeichen umdeuten lassen. Er ist das Tier, das eine Klassenlage erbt, aus der es sich nicht leicht befreien kann, es sei denn durch politische Revolte oder kulturelle Subversion. Er ist das Tier, das symbolische Abrichtungen erbt – später mit listigem Zungenschlag »Sozialisation« genannt –, die seine kulturelle Zugehörigkeit und sein zentralnervöses Repertoire fast irreversibel festlegen, es sei denn, es korrigiert sich selbst früh genug durch autodidaktische Ausbrüche aus den erworbenen Beengungen. Obendrein ist er das Tier, das nolens volens in einen Familienroman von mehr oder weniger neurotischer Färbung eingesponnen wird: Dem könnte es nur dank einer therapeutischen Kehre ein emanzipiertes Kapitel anfügen. Wenn Mephistopheles sagt: »Weh dir, daß du ein Enkel bist!« und Konsul Jean Buddenbrook doziert: »wir sind … wie die Glieder einer Kette«, so bewegen beide sich in derselben Matrix. Sie reden über die Pflicht zur Übernahme erblicher Lasten, ohne daß es zu deren Motivierung nötig oder auch nur erlaubt wäre, die Erbsünde zu bemühen.
Eher möchte man glauben, die Erblichkeit als solche er24scheine jetzt als ein Makel, gegen den die Modernen sich auflehnen, wo immer es ihnen gelingt, einen Widerstandspunkt zu entdecken. Sie weisen immer öfter zurück, was sie an alten Mitgiften bedrückt – ob es die Versklavung durch biologische Determinierungen ist oder die Prägungen durch Klasse, Schule, Kultur und Familie. Daß solche »Versklavungen« durch das Herkommen zugleich positive Bedingungen konkreten, geglückten, bestimmten Lebens sein könnten, mögen die Agenten der Losreißung nicht gerne wahrhaben. Im übrigen gesellen sich zu diesem Ensemble von Fatalitäten in der neuzeitlichen Kreditwirtschaft die Gläubiger, die auf der Rückzahlung von Darlehen so hartnäckig bestehen wie vormals die Rachegöttinnen auf der Exekution eines Fluchs.
Wo immer das Interesse an Enterbung und Neubeginn aufflammt, stehen wir auf dem Boden der authentischen Moderne. Dynamit, Utopie, Arbeitsniederlegung, Familienrecht, genetische Manipulation, Drogen und Pop sollen die Sprengstoffe liefern, um die Erbmasse des sogenannten Bestehenden in die Luft zu jagen.
Die Säkularisation der Erbsünde hat zwar das metaphysische Gift neutralisiert, das, destilliert in der Hexenküche des Augustinismus, im »Abendland« über anderthalb Jahrtausende weitergereicht wurde. Doch hat die Ausschaltung der Erb-Belastung a priori zugleich den Blick auf zahlreiche Formen ambivalenter Erblichkeiten im säkularen Bereich freigegeben. Um vorsichtiger zu reden: Sie hat das Bewußtsein von den Schwierigkeiten des Erbe-, Nachkomme- und Schuldner-Seins auf neue Bahnen gelenkt. Ein Massenansturm auf Positionen des »voraussetzungslosen Lebens« garantiert den Modernisierungen ihren Zulauf. In diesem Punkt ist die entente cordiale zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus mit Händen zu greifen. Die scheinbar unversöhnlichen Gegenspieler sind die besten Freunde, 25wenn es darum geht, die familialen, genealogischen und in erfolgreichen Filiationen gegründeten Prämissen des »sozialen Lebens« zu verdunkeln.
Zögernd machen sich die aktuellen Kulturwissenschaften bewußt, daß scheinbar zu Ende gedachte Grundbegriffe wie Generation, Filiation und Erbe von ihr noch nie mit dem Ernst durchdrungen wurden, den die Abgründigkeit der Sache verlangt. Um zur Behebung dieses Mangels beizutragen, wird mit den nachstehenden Überlegungen eine nicht-theologische Neubeschreibung menschlicher Erbverlegenheiten unternommen, bei welcher Begriffe wie Filiation, Transmission, Bastardentum, Hiatus, genealogisches Intervall, Bodenlosigkeit, Asymmetrie, Freisetzung, Enterbung, kreative Diskriminierung und genealogische Modernisierung eine erhellende Rolle spielen.
Zu einer Restauration der »Erbsünde« geben die folgenden Beobachtungen keinen Anlaß. Sie möchten jedoch zu einer erneuten Sichtung der Korruptionseffekte beitragen, die von alters her sich in den Generationsprozessen einnisten, und dies nachhaltiger, als das alltägliche Bewußtsein je zur Kenntnis nehmen wollte: sporadisch seit der klassischen Antike, verstärkt mit dem Anbruch der Neuzeit und inflationär in den Verhältnissen, die auf die technischen, politischen und juristischen »Revolutionen« des 18. und 19. Jahrhunderts folgten.
Die Kulturtheorie unserer Tage nimmt somit die Herausforderung an, die religiös codierten Sachgehalte der augustinischen Beobachtungen in weltlichen Ausdrücken zu reformulieren, sei es juristisch, klinisch, kulturwissenschaftlich oder in medientheoretischen Begriffen. Sie erlaubt die Frage, wie sich die von Augustinus notierten Lasten, die auf der conditio humana ruhen, so rekonstruieren ließen, daß ältere und neuere Intuitionen sich begegnen.
26Durchwegs geht die Kulturtheorie dabei von der Grundregel der empathischen Übersetzung aus. An die Stelle des peccatum originale treten aus zivilisationsdynamischer Sicht die Kopierfehler bei der Überspielung von kulturellen Programmen auf die nachfolgenden Träger. Statt von den »Sünden der Väter« sprechen wir von den imagined communities des Traumas und von der neurotischen Fesselung der Nachkommen durch die Komplexe der Vorfahren. Statt von der Auflehnung gegen den Schöpfer handeln wir vom schädlichen Intervall zwischen den Generationen. Für das generationelle Intervall und seine moralisch-kulturellen Implikationen steht in diesem Buch die emblematische Figur der »schrecklichen Kinder«. Daß Kinder solcher Art implicite auf entsprechende Eltern verweisen, ist weder eine billige Riposte noch eine esoterische Unterstellung.
Hat aber die aktuelle Gesellschaftswissenschaft je das Défilé bemerkt, in dem »die schrecklichen Kinder der Neuzeit« von spätmittelalterlichen Tagen an den kommenden Jahrhunderten entgegenzogen? Hat einer der Autoren, die sich in den letzten Jahrzehnten zu meistens methodisch verdrehten Phänomenen wie Globalisierung, Mundialisierung, Modernisierung, Hybridisierung, Dekolonisierung, Kreolisierung, métissage etc. äußerten, darauf geachtet, daß der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts tonangebende Kontinent der Moderne, das protuberante westliche Europa der nach-kolumbianischen Jahrhunderte, den Globus nicht nur in Unruhe versetzte mit seinen paradigmatischen Exportgütern: dem Geldwesen, der Hochsee-Schiffahrt, den Naturwissenschaften, dem Ingenieurswesen, der zeitgenössischen Kunst, dem Nationalstaat, den Massenmedien und der Unisex-Ideologie? Hat man die Tatsache berücksichtigt, wonach Europa – in der Folge überflügelt von seiner amerikanischen Filial-Kultur – an so gut wie alle anderen ethnischen Ensembles bzw. »Kulturen« der Erde seine para27doxeste und am wenigsten analysierte Erbschaft weitergab – die irrlichternde Botschaft von der Überflüssigkeit eines Erbes? Hat man in Rechnung gestellt, wie Europa, gemeinsam mit seinem amerikanischen Partner, im Namen der jungen, wandelbaren und angriffslustigen Göttin »Freiheit« sein riskantestes Experiment in die fernsten Regionen des Planeten hinaustrug: seine Wette, Herkunftsunsicherheit – nenne sie Enterbung, Bastardentum oder Hybrid-Identität – sei bei der Suche nach Zukunftskompetenz nicht länger ein Makel, vielmehr eine sinnvolle Option, ein fruchtbarer Mangel, ein chancenträchtiger Stimulus, ja eine nahezu unentbehrliche Qualifikation?
Weil dem zeitgenössischen Denken der Zugang zum Konzept der Erbsünde nicht mehr offensteht, weder litteral noch in zeitgeistverträglichen Exegesen, müssen die Vorgänge zwischen Generationen, die zum Einbruch korrumpierender Elemente in die Übermittlung von genetischen und symbolischen Erbgütern beitragen, aufmerksamer wahrgenommen werden, als es bisher geboten und üblich schien.
Zum Verständnis der modernen Welt gehört, wie wir jetzt verstehen, eine säkulare Hermeneutik der Korruption. Der Augenblick ist gekommen, den Begriff »Korruption« für die historische Anthropologie zu reklamieren und seine Monopolisierung durch Politologen, Juristen, Steuerfahnder und Entwicklungstheoretiker zu bestreiten. Korruption ist nicht nur das, was Staatsdienern widerfährt, wenn sie dem Charme eines zweiten Einkommens nicht widerstehen, oder was Machthabern den Gedanken einflößt, Recht und Gesetz seien nur andere Namen für ihre Launen. Man muß demonstrieren, warum der Mensch, heute wie seit alter Zeit, als das korrumpierbare Tier existiert – ohne daß man die Korruption essentialistisch überhöhen dürfte. Ebenso ist darzustellen, wodurch es sich von Korruption befreit. Eine 28zeitgenössische Ethik soll erläutern können, wie Korruptionen durch Wandlungen und Erholungen korrigierbar sind.
Einer der neben Kierkegaard und vor Nietzsche anregendsten Moraldenker des 19. Jahrhunderts – der zu Unrecht vergessene französische Geschichtsphilosoph Pierre-Simon Ballanche (1776-1847) – hat in seinem Werk über die »soziale Palingenesie«, das heißt die Wiedergeburt des lernenden und reuefähigen Geistes bei seinem Gang durch die Generationen, die Grundlagen für eine realistische historische Ethik geschaffen. Es handelt von der permanenten Revolution der schuldhaften Exzesse und ihrer Korrektur durch den Lauf der Dinge: Fortschritt durch Prüfungen (épreuves) ist die einzig glaubhafte Devise in Zeiten evolutionärer Turbulenz.[12] In seinem Gang formiert sich »die Menschheit« als ko-immune Gemeinschaft[13] von geschichtlichen Wesen, die sich an ihre Fehler, Irrtümer und Verbrechen erinnern und diese Erinnerungen in kritischen Selbstdefinitionen aufbewahren.
Aufhebung der Korruption wäre das weltliche Gegenstück der Reue, mit der in christlicher Tradition die Wiederaufrichtung des Menschen nach dem Fall beginnt. Die Aufhebung der Korruption ist der Ernstfall des Lernens. Wer ein Lernender ist, häuft nicht bloß Informationen an. Er versteht, daß wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung an sich hat.
Gäbe es in der Kulturtheorie ein Pendant zu dem, was im katholischen Altaraufbau das Allerheiligste verkörpert, es könnte nichts anderes sein als dieser am weitesten heruntergekommene Begriff der Gegenwart: »Lernen«. Im kommenden Jahrhundert sollte man ihn wie eine numinose Präsenz in einem Offenbarungszelt hüten. An seltenen Tagen 29dürfte man ihn für einige Momente enthüllen. Ist nicht der Verdacht begründet, das Lernen sei der unbekannte Gott, von dem es seinerzeit in einer Anmerkung von seherischer Dunkelheit hieß, nur noch ein solcher könne uns retten?
Über ein Bonmot der Madame de Pompadour
Wäre die Menschheit unserer Tage in den »höher entwickelten Ländern« – lassen wir den Ausdruck für einen Augenblick unkommentiert – imstande, sich auf einen einzigen Satz zu einigen, der ihre Gesinnung ausspricht, sie würde vermutlich das Bonmot: après nous le déluge wiederholen, das der Marquise de Pompadour zugeschrieben wird.
Die geistvolle Dame, während einiger Jahre die offizielle Geliebte Ludwigs XV., später seine wichtigste Ratgeberin und die heimliche Regentin Frankreichs, soll es im November 1757 bei einem abendlichen Fest formuliert haben, als die Nachricht von der Niederlage der französischen Truppen in der Schlacht bei Roßbach gegen die zahlenmäßig unterlegene Streitmacht Friedrichs II. von Preußen eintraf. Man kann sich noch heute recht gut vorstellen, wie die Gastgeberin, vermutlich bei einer Veranstaltung am Hof von Fontainebleau, entschlossen, die Laune ihrer Besucher nicht in Gefahr zu bringen, von einer Sekunde zur nächsten Zuflucht nahm zu der hysterisch-galanten Heiterkeit, die von alters her zu den Requisiten der höfischen Konversation gehört. Von dieser Regung, scheint es, ließ sie sich die Wendung diktieren, deren strahlende Skrupellosigkeit sich ins Gedächtnis der Nachwelt einprägte.[1]
32Nach uns die Sintflut! Einmal mehr bewies die später von Goethe gepriesene »Gelegenheit« ihre dichterische Begabung, sollte sich für diesmal auch eine nicht ungefährliche Enthüllung aus ihr ergeben. Die volatile Dame hatte in ihrem Jahrzehnt an der Seite des Königs gelernt, das Protokoll zu befolgen, indem sie unmerklich mit ihm spielte. Von der höfischen Etikette zur Improvisation am Abgrund war es für sie in diesem Augenblick nicht mehr als ein Schritt.
Spätere Generationen wollten in dem Ausspruch das Testament des französischen Adels lesen, wenn nicht sogar das Schlußwort des aristokratischen Weltalters. Die leichtsinnigen Klassen folgender Zeiten haben sich das rasch dahingesprochene Diktum zu eigen gemacht. Sehr wohl wissen die Reichen und Übermütigen seither, daß Sorglosigkeit eine Fiktion ist, die Kosten verursacht. Wer nicht zur Flucht von vorn bereit ist, neigt zu Melancholie und Übergewicht. Die Miene muß heiterer sein als die Lage – das versteht jeder, der von Berufs wegen lächelt. Die Unbesorgten, die Bedenkenlosen, die Enthemmten von heute feiern zwischen Sankt Moritz, Dubai und Moskau kein Fest, bei dem das geflügelte Wort der Marquise nicht in der Luft läge. Man kann es ruhigen Tons konstatieren: Mit ihm hat die fröhliche Wissenschaft vom Leben in bodenloser Zeit begonnen.
So gut wie nie hat man bedacht, daß Madame de Pompadour, vormals Frau Le Norment d’Etiolles, geborene Poisson, sich mit ihrer frivolen Bemerkung als eine treue Tochter des aufgeklärten Jahrhunderts erwies. Die Pointe ihres Ausspruchs begreift erst, wer in ihm den neuen Zeitgeist wahrnimmt, der unter der Herrschaft Ludwigs XV. an Kontur gewann, um sich nach 1789 zur Führungsmacht im Reich der Ideen aufzuschwingen. Dieser Geist übte sich ein in die noch ungewohnten Wendungen der Geschichtsphilosophie – jener ungelenk optimistischen Schule des Denkens, die aus dem zerfaserten Werden der Menschheit ein 33zusammenhängendes Curriculum machen wollte. Ja, sie ging unverhohlen darauf aus, einen Lehrgang zu etablieren, der aus der rohen Vergangenheit durch eine immer strebend bemühte Gegenwart in eine aufgehellte Zukunft weisen mußte. Mit der Einübung in Begriffe von aufsteigender Entwicklung begann die futuristische Wende, die den Modernen – nach passéistischen Jahrtausenden – den Vorrang der Zukunft auferlegte.
In den Tagen von Madame ist der Futurismus vage und unentschieden. Noch bezeichnet das Wort »Geschichte« wie seit jeher die Kunde davon, wie es vorzeiten eigentlich gewesen ist. Man schreibt sie wie in alter Zeit, um zu erfahren, was früher war und warum man im Gewesenen die Richtlinien für das Heutige findet. Historia magistra vitae. Zunächst sind es wenige, die Zweifel am Primat des Geschehenen vor dem Kommenden anmelden. Noch weniger zahlreich sind die Abgeklärten, die schon verstanden haben, daß aus gewesener Geschichte zu keiner Zeit etwas gelernt wurde, allen Sammlungen exemplarischer Erzählungen zum Trotz. Gleichwohl, auf diese kleine Zahl von Zweiflern und ihre Werbung für die Blickwende ins Noch-nicht werden die ungeborenen Generationen hören. Es sind die Literaten der lumières, die aus jedem Zeitgenossen einen Bürger der Zukunft machen möchten und aus jedem Ungeborenen einen Studenten, eingeschrieben im Studiengang Evolution.
Niemand weiß besser als Madame de Pompadour, daß sie, ginge es um Prinzipien, das Gegenteil dessen hätte sagen müssen, was sie effektiv vorbrachte. »Nach uns« – was könnte anderes folgen als eine aufgehellte, eine strahlende Zukunft? Gelegenheit und Grundsatz-Ansprache divergieren jedoch. Madame folgt dem Impuls der Laune, und die Laune hat meistens recht. Die Zukunft ist mitten unter uns. Doch für die Laune wird der Unterschied zwischen Fortschritt und Untergang eine Sekunde lang zur Bagatelle. 34Nach uns – was nun? Zum Teufel, die Sintflut! Madame ahnt nicht, daß sie das politisch inkorrekte Reden erfunden hat.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht sich in den mentalen Ökosystemen Europas die Umdeutung des Verhältnisses von Vergangenheit und Zukunft, die den Modernen den kühnsten, den unfaßbarsten, den unausdenkbarsten Gedanken eingibt, der seit der Vertreibung der Ureltern aus dem Paradies in Menschengehirnen keimte: Mit einem Mal scheint vorstellbar, es könnten die wichtigsten Ereignisse, im Bösen wie im Guten, jene sein, die noch nicht stattgefunden haben. Unbemerkt »entwickeln« sich solche Ereignisse im Schoß der Gegenwart, um eines nicht ganz fernen Tages ins Manifeste, Handgreifliche durchzubrechen. Folglich würden von da an die Enden, nicht mehr die Anfänge, über den Sinn der Vorgänge in der Mitte entscheiden. Es wären die Zukünfte, die wirklich zählten, und nicht die Herkünfte. Nun fiele das Schwergewicht des Seins nicht länger auf die Vergangenheit; die mythische Gegend, wo die alten Rechte, die Ursprungsmächte, die Stiftungen heimisch sind, verliert zunehmend an Bedeutung. Auch ist die Gegenwart nicht mehr die Fortsetzung eines immergültigen Damals im Medium aktuellen Lebens. Hegel hatte es als erster begriffen: In einer epochalen Formulierung nennt er die Wirklichkeit die »Möglichkeit des Folgenden«.[2] Seit Zeit und Zukunft ins Denken drängen, bilden Vergangenheit und Gegenwart die Inkubationszeit eines Ungeheuers, das unter einem trügerisch harmlosen Namen am Horizont auftaucht: das Neue.
Wie wäre es, wenn wirklich erst das unerwartet Neu-Gekommene, das nie zuvor Geschehene und völlig Unerwiesene uns dereinst entschlüsselten, was das Heutige, das Gestrige und das Alte davor bedeutet haben werden? Muß 35nicht tatsächlich die Sintflut über uns hinweggerollt sein, bevor wir imstande sein werden zu begreifen, auf welchen Festen wir uns in jüngeren, blinderen Jahren zerstreuten? Soll nicht die alte Welt zugrunde gehen, damit die Nachgeborenen zu erkennen vermögen, auf wie unhaltbaren Voraussetzungen das Versunkene errichtet war? Madame de Pompadour brauchte den Vorwurf unangebrachter Harmlosigkeit nicht zu fürchten. Die Leserin Montesquieus, Voltaires und Diderots ahnte, wie sehr es schon in ihren Tagen galt, mit dem Ungeheuren zu rechnen, das in der verhüllten Zukunft schlummerte.
Nachgeborenen blieb vorbehalten zu erkennen, daß, wer damals »Sintflut« sagte, die Revolution gemeint haben mußte. Nie war es leichter, nachträglich klüger zu sein. Zugleich war es nie beschämender, zugeben zu müssen, man habe vom Ausmaß des Kommenden nichts geahnt. Der Geschichtsdeuter Alexis de Tocqueville besaß bereits genügend Abstand zu den tumultuarischen Jahren, die auf das Endspiel der bourbonischen Monarchie folgten, um am Beginn des ersten Kapitels von Deralte Staat und die Revolution von 1856 zu notieren:
»Nichts ist geeigneter, Philosophen und Staatsmänner zur Bescheidenheit zu mahnen, als die Geschichte unserer Revolution, denn es gab niemals ein größeres, ein länger und besser vorbereitetes und trotzdem weniger vorhergesehenes Ereignis.«[3]
»Nach uns die Sintflut«: Blickt man nach gut zweihundertfünfzig Jahren auf die bezeichnete Szene im November 1757 36zurück, drängt sich der Eindruck auf, Madame de Pompadour habe weit mehr prophezeit, als ein einzelner ihrer Zeit zu sehen und zu fassen fähig war. Wer die Sintflut willkommen hieß, damit ein galantes Fest keine Unterbrechung erleide, legte ein Nicht-sehen-Wollen an den Tag, in dessen Kern sich zugleich eine beunruhigende Hellsicht verbarg – um von dem Aufflackern eines defaitistischen Zynismus und einem Hauch korrupter Verspieltheit nicht zu reden. Nur sechsunddreißig Jahre liegen zwischen dem hysterisch-heiteren Kommentar der Marquise zur Niederlage der französischen Truppen bei Roßbach und jenem schicksalhaften Januartag des Jahres 1793, an dem das von Doktor Guillotin wortreich empfohlene Fallbeil das Haupt vom Rumpf Ludwigs XVI. trennte. Rechtzeitig hatten die »Königsmörder« dafür Sorge getragen, daß kein unsterblicher Träger der Monarchie mehr existierte, der in seinem Nachfolger auferstehen könnte: Am 21. September 1792 hatten sie das radikal politisch Neue, die Republik, verkündet. Ein neuer Kalender war am folgenden Tag in Kraft getreten, um die Tiefe des Bruchs mit der Vergangenheit zu bezeugen; mit dem nie zuvor gehörten Ruf la royauté est abolie en France war der unsterbliche Körper des Königs noch vor dem sterblichen der Vernichtung anheimgefallen.
Bis in die stillsten Winkel Europas drang bald die Wahrnehmung der veränderten Umstände vor: Wie von einer Stunde auf die andere hatte sich die Welt in einen Kriegsschauplatz verwandelt, auf dem französische Armeen unter der Führung eines schlafunbedürftigen jungen Generals die Mächte Alteuropas das Fürchten lehrten. Solange Napoleons imperiale Nervosität den Rhythmus vorgab, waren die Werke und Tage der Alten Welt ein einziges Epos von Truppenbewegungen und Ambitionen, die sich nur mittels täglich neugezeichneter Landkarten und häufig umgeschriebener Verfassungspräambeln erläutern ließen.
37Zugleich begann sich über den Schlachtfeldern der Titanenkrieg der Moderne zu entrollen: Das Monstrum, das nahezu unsichtbar, scheinbar schläfrig, inmitten der alten Ordnung der Dinge auf seine Stunde gewartet hatte, erhob sich schnell zu schreckenerregender Größe und trieb die Hüter des Bestehenden vor sich her. Tocqueville gehörte zu den Denkern, die der Tiefe des Einschnitts rückblickend gerecht zu werden versuchten:
»Als man das Haupt des Ungeheuers erscheinen sieht und seine seltsame und schreckliche Physiognomie sich enthüllt; als es nach Zerstörung der politischen auch die bürgerlichen Institutionen abschafft, nach den Gesetzen auch die Sitten, die Gebräuche und selbst die Sprache umgestaltet; als es nach der Zertrümmerung der Staatsmaschinerie auch die Grundlagen der Gesellschaft erschüttert und endlich Gott selbst angreifen zu wollen scheint; als eben diese Revolution sich bald darauf auch mit einem bis dahin unbekannten Verfahren nach dem Auslande wendet, mit einer neuen Taktik, mit mörderischen Maximen, mit bewaffneten Ansichten, wie Pitt sagte, mit einer unerhörten Macht, welche die Tore der Königreiche durchbricht, die Kronen zerschlägt, die Völker niederwirft und sie – seltsam genug! – zugleich für ihre Sache gewinnt; als all das geschieht, verändert sich nach und nach die Anschauungsweise völlig.«[4]
Die Europäer erwachten eines Morgens und dachten historisch. Die Zeit war ins Denken eingebrochen. Der revolutionäre Hiatus riß das konventionelle Band der Epochen entzwei. Wo Filiationen geherrscht hatten – getreue Übergaben des väterlichen Erbes auf Nachkommen und Nach38kommen von Nachkommen, wie fiktiv auch immer –, hoben die Unterbrechungen des Herkommens tiefe Gräben aus. Alles Leben wird neu datiert: Was später lebt, lebt nach dem Einschnitt.
Über Nacht hatten die Haupt- und Staatsaktionen der großen Welt sich in ein Improvisationstheater gewandelt: Die Träger der Hauptrollen hießen Aktion und Reaktion[5] – sie wurden im späteren 20. Jahrhundert in Wachstum und Rezession umbenannt. Unversehens aufeinander losgelassen, lieferten die Kontrahenten sich erbitterte Kämpfe. Es war, als hätten die scheinbar ewigen Naturprinzipien sich unerlaubt aus den Lehrbüchern der Physik entfernt, um sich ins Freiland der Geschichte auszupflanzen. Die metaphysische Revolte setzte eine physikalische voraus: Die Grundgleichung der klassischen Mechanik – actio est reactio – sollte in der geschichtlich-moralischen Welt außer Kraft gesetzt werden.
Gewiß, auch die historische Sphäre würde dem Prinzip des paarweisen Auftretens von Kräften Tribut zollen, dem dritten Newtonschen Gesetz gemäß. Dennoch sollte das Reich der handelnden Wesen künftig dem unbedingten Vorrang der Aktion gehorchen. Weniger als dies durfte die siegesgewisse Moderne nicht verlangen. Die Reaktion mußte – der neuen jakobinischen Physik gehorchend – künftig als verkommener Widerstand des Alten gegen das tätig voranschreitende Gute verschrien werden, ihrer ontologischen und anthropologischen Unvermeidlichkeit ungeachtet.
Was besteht und beharrt, wird im Unrecht sein; was vorwärts geht und für Freiheiten trommelt, hat alles Recht auf seiner Seite. Das erwachende Ungeheuer erweist sich als ein moralisierendes Geschöpf. Von Anfang an verfügt es über 39Wege und Mittel, das Gewesene ins Unrecht zu setzen. Die Welt der Väter erscheint entrechtet, die Könige werden der Despotie bezichtigt, in den Adern der Aristokratie fließt das »unreine Blut« fremder Eroberer, das die Äcker Frankreichs tränken soll, ginge es nach der Marseillaise. Die republikanischen Brüder drängen an die Macht.
Was zu bestehen vorgibt, ist plötzlich ins Bodenlose versetzt. Das Gewesene und noch Vorhandene wird ins Nichts der mangelnden Berechtigung zu sein gestürzt. Was Madame de Pompadour die Sintflut nannte, war in der Sache nichts anderes als das plötzliche Versinken der Welt, wie man sie gekannt hatte, im Abgrund einer umfassenden Delegitimierung. Auch die neueste Gegenwart nimmt an der Entmündigung der Vergangenheit teil, insofern sie selber schon morgen die Vergangenheit einer zukünftigen Gegenwart sein wird. Das Unrecht, bestehen zu wollen, ist das neue Gesicht der Erbsünde. Nichtsdestoweniger will alles, was nun kommt, nach der Verdampfung des Ständischen und Stehenden auf einen neuen »Staat«, eine neue zuständlich greifbare Ordnung hinaus. Das Wagnersche Gesetz erlangt Geltung, das die unaufhaltsame Ausdehnung der Staatstätigkeit aussagt.[6]
Die Zurückstufung des Gegenwärtigen, das weiß, wie bald es selbst eine Vergangenheit sein wird, wird von dem ominösen Artikel 28 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen vom Juni 1793 auf den Begriff gebracht:
»Eine (gegenwärtige) Generation hat nicht das Recht, zukünftige Generationen ihren Gesetzen zu unterwerfen.«
40Hieraus wird das ewige Grundrecht auf Verfassungsänderung abgeleitet, mit dem das souveräne Volk sich seiner Zukunft immer von neuem bemächtigen darf.
Wir wissen heute, die Marquise hatte die permanente Sintflut prophezeit. In einer leichtsinnigen Sekunde sah sie den Schatten von Ereignissen vorüberziehen, die die Sehkraft ihres Jahrhunderts überstiegen, und nicht nur die des ihren, sondern auch die des folgenden und des übernächsten. Die Wissenschaft von der Sintflut kam zögernd in Gang. Wer hätte es gewagt, dem Wort Ludwigs XIV.: »Der Staat bin ich« die These entgegenzusetzen: »Der Unstaat bin ich«? Napoleon hatte im März 1804 immerhin den Satz gesprochen: »Ich bin die Französische Revolution!« Er redete in defensiver Absicht, um seine Position zu sichern, die, wie die seines Landes, nur in der ständigen Flucht nach vorn zu halten war. Nietzsche erst wagte hinzuschreiben: »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.«
Spätere Diagnostiker und Propheten schlugen für das erwachte Ungeheuer, die permanente Sintflut, andere, sinnverwandte Namen vor, die einem ernüchterten Zeitgeist Rechnung trugen: Leo Trotzki sprach 1929 von der »permanenten Revolution«, um Stalins Politik des »Sozialismus in einem Land«[7] zurückzuweisen und einen anderen Modus internationalisierter Umwälzung zu fordern. Zeitgenossen der Großen Depression in den USA von 1929 bis 1933 – unter ihnen der Romancier John Cheever – wollten bei ihren Landsleuten die Neigung zu einer gewissen permanenten Improvisation bemerkt haben, die sich von den Krisenjahren an dem american way of life aufprägte, um ihn bis heute zu bestimmen. Zur selben Zeit beugte sich der alte Sigmund 41Freud über das Dossier von homo sapiens und kam zu dem Schluß, der Mensch sei alles in allem ein Prothesengott, auf die permanente Kompensation seiner Schwäche im schützenden Gehäuse kultureller Institutionen angewiesen; bei seinen Vorträgen in Yennan Ende Mai 1938 über Strategien im langen Kriege dozierte der junge Feldherr Mao Tse-tung über die Unentbehrlichkeit der »permanenten Mobilisation«, da sie allein den erbitterten Massen den Sieg über Invasoren und Klassenfeinde verspricht; in seinen Vorstudien zu einem Buch über Ethik, niedergeschrieben um 1947, ging Jean-Paul Sartre soweit, die wirkliche Sittlichkeit unserer Zeit als »permanente Konversion« zu postulieren – in offener Anspielung auf Trotzkis Devise und in Distanzierung von allen bekannten Formen normenstabiler Ethik;[8] Albert Camus verfolgte in seinem Essay L’homme révolté, 1951, die Spuren eines seit den Tagen Kains nicht mehr erloschenen aufständischen Feuers und meinte die Gesetze einer permanenten Insurrektion entdeckt zu haben, die heute mehr denn je die Tagesordnung bestimmten; von den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts an machte in den Sprachspielen neo-liberaler Unternehmensberater der Slogan von der »permanenten Innovation« die Runde, mit dem die Ideen Trotzkis und Schumpeters auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wurden; die ästhetische Kritik des 20. Jahrhunderts schließlich beklagt oder feiert die permanente Usurpation, die den Karneval der zeitgenössischen Kunst vorantreibt.
Was diese Figuren gemeinsam haben, wird beim Lesen in der ontologischen Partitur der Moderne offenbar: Sie spiegeln die Reflexe des großen Gleitens wider, das den Zeitgenossen der nach-revolutionären Jahrhunderte die Emp42findung zunehmender Haltlosigkeit bei steigender Haltbedürftigkeit einflößt – und dies um so heftiger, je länger das Experiment der Moderne dauert.
Après nous le déluge? Die Wahrheit ist: Die Sintflut hatte in jenen Tagen längst begonnen. Madame de Pompadours geistreiche Rakete stieg in den Abendhimmel des ancien régime. Die sensibleren Menschen spürten, wie die Zeiten zu Ende gingen, in denen das Glück der Privilegierten darin bestanden hatte, daß trotz des Auf und Ab der Verhältnisse letztlich immer alles beim alten blieb.
Gleichwohl: Große Umwälzungen sind in ihren Vorzeichen präsent – auch wenn man diese erst im Rückblick als »Geschichtszeichen« zu deuten versteht. Daß Kräfte in der Welt sind, die dem scheinbar ungefährdet Herrschenden und Bestehenden das Recht auf Herrschaft und Bestand absprechen: Man hätte es seit dem fatalen 5. Januar 1757 wissen können, als ein in Arras gebürtiger Mann von 42 Jahren, ein gewisser Robert-François Damiens, vormaliger Diener in geistlichen und adligen Häusern, der wegen ungehörigen Betragens überall rasch entlassen worden war, Ludwig XV. abends beim Besteigen seiner Kutsche in Versailles mit einem Messer angegriffen und leicht verwundet hatte. Der Mann wurde verhaftet und in die Conciergerie von Paris verbracht. Nach einem mißlungenen Selbstmordversuch schnallte man ihn durchgehend auf seinem Lager fest. Man wollte seiner Desertion in einen leichten Tod zuvorkommen, um ihm nach allen Regeln der Kunst den Prozeß zu machen.
Einer seiner Richter am Parlement von Paris notierte über den Angeklagten: »ich bin noch nie einem unverschämteren Menschen begegnet …« Der Täter gab vor, er habe den Herrscher nicht töten, sondern »ihn nur dazu bringen wollen, über das Elend seines Volkes nachzudenken«.[9] Es gelang den Folterern nicht, dem Täter Namen möglicher Komplizen abzupressen. Die Anwendung der spanischen Stiefel blieb erfolglos, und nicht ohne Erleichterung nahm die Gesellschaft von Versailles und Paris den Befund zur Kenntnis, es handle sich bei Damiens um ein verworrenes, einsames »Ungeheuer« – einen Mann, den man in der kriminalistischen Sprache des 20. Jahrhunderts einen Einzeltäter genannt hätte.
Die Symbolik des Verbrechens war zu mächtig, als daß sich alle Beobachter mit der Verurteilung des »Monstrums« hätten zufriedengeben können. Das Gericht sah in den harmlosen Folgen des Attentatsversuchs keinen mildernden Umstand. Nach der spektakulären Hinrichtung Damiens’ – der letzten Aufführung im alteuropäischen barocken Theater des Schreckens – tauchten Flugschriften auf, in denen der erfolglose Königsattentäter als hilfloses Sprachrohr der unglücklichen kleinen Leute geschildert wurde, die unter der Last der Steuern und unter dem Hochmut der Wohlgeborenen seufzten. Ludwig XV. selbst schrieb den Anschlag einer kritischen Stimmung in politischen Kreisen der Hauptstadt zu: Er glaubte in ihm die Wirkung aufwieglerischer Reden gewisser Pariser Magistrate zu erkennen.
Die Erosion des monarchischen Legitimitätsglaubens ging nach dem Attentat auf den König unaufhaltsam weiter. Seit längerem war Madame de Pompadour zur Zielscheibe obszöner Satiren geworden, und je stärker sich ihre Stellung als Ratgeberin an der Seite des Königs konsolidierte – sie übte de facto zeitweilig die Funktion einer Kabinettschefin aus –, desto hemmungsloser griffen die Anfeindungen bei Hof und in der Stadt um sich. Besonders schmerzlich waren für die Angegriffene die weitverbreiteten poissonnades – ein 44ad hoc erfundenes Genre von Verhöhnungsgedichten, die auf ihre bürgerliche Herkunft und auf den Familiennamen ihres Vaters, François Poisson, anspielten, eines Heereslieferanten von hohen Ambitionen und problematischer Geschäftsmoral. Mit vorgetäuschter Empörung nahmen die Verfasser dieser Verse Anstoß daran, daß in Versailles jetzt die Canaille herrsche, das Hundepack oder das fischige Gesindel?
Mit der Zeit griff die bürgerliche Aversion gegen das kostspielige Maitressensystem auf die Person des Königs über: Man warf dem vormals Vielgeliebten vor, sich unter das Regiment einer Hure gebeugt zu haben und den Staatshaushalt für die Launen der Gespielin zu ruinieren. In Paris zirkulierten Flugblätter, deren anonyme Verfasser die »Manen Ravaillacs« beschworen – jenes Mannes, der 1610 Henri Quatre ermordet hatte und dessen Tat ohne Zweifel in Damiens’ Anschlag zitiert wurde. Hatte nicht auch Ravaillac einen Dolch benutzt, und war nicht auch damals das Unheil in einer Kutsche geschehen?
In Wahrheit rührte der Haß, den Madame de Pompadours galante Diktatur bei Hof hervorrief, von tieferen Gründen her, als den Verfassern mediokrer Schmähgedichte bewußt sein mochte. Er reflektierte ein Unbehagen in der monarchischen Kultur, von dem zu jener Zeit niemand ahnte, daß es binnen weniger Jahre zu einem Sturm königsmörderischer Affekte heranwachsen könnte – erneut angeführt durch einen Mann aus Arras, einen Advokaten namens Robespierre, der den König mit einer anderen Klinge angreifen sollte. Wenn die Figur der Königsmaitresse den aufkeimenden dissidenten Regungen Nahrung bot, so weil die Umstände ihres Aufstiegs und der hohe Bogen ihres Erfolgs den mürrischen Zeugen in Stadt und Hof eine sehr unwillkommene Lektion erteilten.
Jeanne-Antoinette Poisson führte in eigener Person den neuen Lehrsatz vor: Es gibt auch für Weibspersonen im all45gemeinen wie für Maitressen großer Herren im besonderen globale Horizonte. Sie irritierte ihre Zeitgenossen, indem sie bewies, daß für die Beischläferin des Herrschers eine Welt jenseits des königlichen Bettes existierte. Auf diese Form der Machtergreifung war damals keiner vorbereitet. Neuere Staatsrechtler würden wohl sagen: In der Person der Königsgespielin kamen die indirekten Gewalten obenauf. Durch das Pompadour-Phänomen erhob sich die Informalität zur regierenden Größe. Von allen unerwartet und von vielen beargwöhnt, schwang sich das Inoffizielle, Unberufene, Unerwiesene zur Mitsprache, ja zur Entscheidungsgewalt in höchsten Angelegenheiten des Staats empor.
Dabei mochte es noch angehen, daß die junge Frau, die durch das entzückbare Auge des Königs in die Korridore der Macht eingetreten war, ihre nicht-ebenbürtige Herkunft durch Charme, Beweglichkeit, Schönheit, Bildung und Bühnentalente kompensierte. Sie beunruhigte ihre Mitwelt allerdings durch ein ungestehbares Geheimnis, das von ihrer Art und Weise des In-der-Welt-Seins nicht zu trennen war. Sie gehörte zu dem bis dahin seltenen Menschenschlag, dessen Exemplare nicht verrückt werden müssen, weil die Wirklichkeit ihrem Wahn zuvorkommt. Wie von Geburt zum Erfolg verdammt, trug sie in sich den Glauben, die französische Nation sei ihr ein Wunder schuldig. Wozu hat Gott die Könige geschaffen, wenn nicht dazu, gelegentlich einem Mädchen aus dem Volk ein Reich zu Füßen zu legen?
Auf welche Weise das Delirium die Psyche der kleinen Jeanne-Antoinette okkupiert hatte, bleibt unbekannt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie in sehr jungen Jahren für kurze Zeit das Stigma peinlich empfunden hatte, das an den unklaren Umständen ihrer Zeugung haftete. Es ging das Gerücht, ihr nomineller Vater könne unmöglich der leibliche Vater gewesen sein, weil er zur kritischen Zeit auf ausgedehnten 46Reisen im Süden außer Hauses war. Die kleine Jeanne, wäre sie des Englischen mächtig und mit den Gesetzen poetischer Metaphorisierung vertraut gewesen, hätte den Posthumus aus Shakespeares spätem Stück Cymbeline (1610) zitieren dürfen, der so verwundert wie verbittert konstatierte:
»… We are all bastards;
And that most venerable man which I
Did call my father, was I know not where
When I was stampd’d; some coiner with tools
Made me a counterfeit …«[10]
Als Poisson senior vorzeitig verstarb, übernahm Monsieur de Tournehem die Fürsorge für die verwaiste Familie – wobei der plausible Verdacht aufkam, er sei seit längerem der Liebhaber der Mutter und der tatsächliche Erzeuger der Tochter gewesen. Selbstverständlich hatte die Familie das Nötige getan, um den Schein zu wahren. Wäre das Kind auch im falschen Bett geboren, so unternahm die Umwelt Jeanne-Antoinettes alles, um ihr die Verlegenheit eines Daseins in der Position der deklarierten Bastardin zu ersparen.
Sollte das Mädchen tatsächlich früh einen Blick in den Abgrund ihrer irregulären Herkunft geworfen haben, so hatte sich dieser gewiß wieder rasch verschlossen. Versiegelt wurde er durch hochfliegende Träume, ihrem Alter gemäß, und durch kindliche Sorglosigkeit. In dem jungen Mädchen sprossen Königreichsphantasien heran, die sich zu einer privaten Religion verfestigten. Als Jeanne-Antoinette neun Jahre alt war, wurde sie, so wollte es später die Legende, von ihrer Mutter zu einer Wahrsagerin geführt: Die prophezeite dem Kind, es werde eines Tages das Herz des Königs er47obern – woraufhin die Mutter sie Reinette, kleine Königin, nannte.
Seit diesem Moment wuchs neben dem Königtum von Reims, Paris und Versailles ein zweites Reich heran, eine Monarchie des Kindertraums. Dessen Herrscher hatte keine vornehmere Aufgabe als jene, zu gegebener Zeit die vom Schicksal vorbestimmte Herrscherin zu erkennen und an seine Seite zu holen. Die Französische Revolution des Mädchens folgte ihrem eigenen Gesetz. Bei den Ursulinerinnen erhielt Reinette die beste Ausbildung, die ihre Zeit einer jungen Frau zu bieten hatte. Was zum Glanz fehlte, sollten die von der mitverschworenen Mutter bestellten Hauslehrer hinzubringen. So lernte sie lesen, tanzen, singen, rezitieren und gefallen. Bei den Vorbereitungen für ihren Aufstieg ins Unmögliche wurde nichts versäumt.
Die äußeren Umstände taten das Ihre, der Zufall erfüllte seine Pflicht. Eines Tages griff das Mädchen-Delirium auf die Realwelt über, und was bis dahin als offizielle Politik gegolten hatte, konnte nicht bleiben, was es gewesen war. Das Zeitalter der permanenten Subversion hatte begonnen. Jeanne-Antoinette würde darauf bestehen, daß die beiden Reiche zu einem einzigen zusammenwuchsen, Wunschwelt und Wirklichkeit zu einem unauflöslichen Komplex verbindend.
So kam es, daß eine Revolution die andere verbarg. Gilt Frankreich bis heute als die Sphinx unter den Nationen – obschon seit längerem eine ruinierte Sphinx, ein Fabeltier ohne Rätsel und ein Orakel ohne Gravität –, so weil hier, mitten im ancien régime, ein gefährliches, konvulsivisches und subversives Wünschen heimisch geworden war, das anderswo in dieser Weise nicht zur Blüte kam, sofern man die vielsagenden Karrieren italienischer Abenteurer vom Schlage Giacomo Casanovas und des Grafen Cagliostro außer Betracht läßt.
48Was nach 1789 vor dem Rest der Welt als Mutterland politischer Revolutionen auftreten wird, ist schon seit 1745, seit sich der König und das Mädchen beim Ball gegenüberstanden, das Theater von Traumkräften, die einen bloß politischen Umsturz weit hinter sich lassen. Es ist das Land, in dem bastardische Phantasmen wahr werden, indem sie sich mit den bestehenden Verhältnissen vermischen. Nicht allzu lange wird es dauern, bis das französische Privileg, die Phantasie an die Macht zu bringen, aus der Alten Welt emigriert, um sich an neuen Brennpunkten des Globus anzusiedeln, vor allem an den amerikanischen Küsten des Atlantiks, wo man seit dem 19. Jahrhundert die self-made men und seit dem 20. die material girls feiert.
Der Haß, den Madame de Pompadour auf sich zog, galt also nicht bloß ihrer unebenbürtigen Herkunft. Ob ihre Detraktoren von der bastardischen Komplikation ihrer Geburt Kenntnis besaßen, ist nicht mit Gewißheit zu sagen – Belege besaßen sie offenkundig nicht. Sie hätten sich einen solchen Makel kaum entgehen lassen.
Das Motiv der Eifersucht auf die glänzende junge Frau entsprang der Wahrnehmung, wonach es im Dasein dieser unerwarteten Person einen magischen roten Faden gab, der in den zusammengestückten Existenzen der anderen fehlte. Sie führte ein Leben in prophetischer Kohärenz: Wie es in der Seele geschrieben stand, so mußte es bei ihr im äußeren Leben kommen. Mit somnambulischer Sicherheit ging Jeanne-Antoinette auf ihre Berufung zu. Hellsichtig blind folgte sie dem Stern, der ihr den Weg nach Versailles bezeichnete. Wie einen Wink von höchster Stelle nahm sie es zur Kenntnis, als Madame de Châteauroux, die amtierende Maitresse Ludwigs XV., den Weg für sie, die um vier Jahre Jüngere, frei machte, indem sie im Herbst 1744, 27jährig, verstarb, unerwartet für alle, nur für ihre vom Schicksal designierte Nachfolgerin nicht. Die dachte keinen Augenblick 49daran, die dämonische Symmetrie zwischen ihrem Wunsch und seiner Erfüllung könne aufgrund bloßer äußerer Umstände eine Trübung erfahren. Scheinbar mühelos gelang es ihr, auf der Erfüllung ihres Vertrags mit dem Schicksal zu bestehen. Sie hielt es für eine natürliche Geste der Erkenntlichkeit, als sie der Wahrsagerin von damals eine Leibrente aussetzte, nachdem ihr Spruch buchstäblich wahr geworden war.