Die schuldigen Hirten - Thomas Großbölting - E-Book

Die schuldigen Hirten E-Book

Thomas Großbölting

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Beschreibung

Eine »Zäsur in der Kirchengeschichte« – so bewertet der Historiker Thomas Großbölting den weltweiten sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. In diesem Buch zeichnet er die Geschichte von Betroffenen, Tätern und Vertuschern des Missbrauchsskandals nach und analysiert die fatalen kirchlichen Strukturen, die die Taten ermöglichten. Das Buch ist damit zweierlei: das Gesamtbild eines der erschütterndsten Kapitel der Kirchengeschichte und ein Anstoß für die Zukunft.

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Thomas Großbölting

Die schuldigen Hirten

Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Shoot 24/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-451-38998-6

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82654-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82657-3

Inhalt

Einleitung: Vom guten zum schuldigen Hirten – der tiefe Fall der katholischen Kirche

Sexueller Missbrauch und die Grenzen des Sagbaren

Was ist sexueller Missbrauch?

Wie über Missbrauch sprechen?

Juristische Definitionen: Sexueller Missbrauch als Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts

Kindeswohl, Kinderschutz und sexueller Missbrauch: Konzepte gestern und heute

International und ausgreifend: Qualität und Chronologie des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche

Das Jahr 2010: Canisius als deutscher Wendepunkt?

Historische Dimensionen: Kinderschutz und Kindesmissbrauch

The best catholics in the world? Irland und die USA

Das Jahr 2010 als Jahr des Missbrauchs: Österreich, Belgien, die Niederlande

Widerstand, Anpassung und Veränderung: Die römischen Reaktionen auf den Missbrauch

Und darüber hinaus? Sexueller Missbrauch weltweit

Formen und Dynamiken des Missbrauchs: Betroffene und Beschuldigte, Vertuscher und Bystanders

Von der Fallgeschichte zur Systemfrage: Der Fall Theo Wehren als Exempel

Wie viel Missbrauch gab und gibt es in der katholischen Kirche?

Ist die katholische Kirche ein »Hotspot« sexuellen Missbrauchs?

Missbraucht, »weil ich katholisch bin«: Betroffene von sexueller Gewalt im kirchlichen Kontext

Wer sind die Täter? Zölibat, Homosexualität, Pädophilie

Der Skandal im Skandal: Verdrängen, Vertuschen und Widerstand gegen die Aufarbeitung

Die Schuld der deutschen Bischöfe

Missbrauch als systemisches Geschehen: Die Verantwortung der Bystanders und der Justiz

Tätersystem Kirche? ­Katholische ­Strukturen als Ermöglichungs­bedingungen des Missbrauchs

Das Agieren der Bistumsleitung: Täterfürsorge in der Personalkonferenz

Der Bischof als Zentralfigur des Bistums – und des Vertuschens

Das Kirchenrecht, das katholische Lehramt und die weltliche Justiz

Täterideologie: Klerikalismus und Pastoralmacht

Katholische Bigotterie: Sexualmoral als hierarchisches Schisma

Resümee und Ausblick: Wie umgehen mit dem Missbrauch? Aufarbeitungsszenarien und Perspektiven in Gesellschaft, Politik und Kirche

Dank

Literatur

Über den Autor

Einleitung: Vom guten zum schuldigen Hirten – der tiefe Fall der katholischen Kirche

Dieses Buch handelt von massivem und vielfachem sexuellen Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Viele hunderte Male wurden in der katholischen Kirche in Deutschland Kinder, Jugendliche und schutzbefohlene Erwachsene von Priestern, Ordensgeistlichen und anderen geweihten Personen missbraucht. Die Bandbreite dieser Taten ist groß und reicht von »schlüpfrigen Bemerkungen« bis hin zur brutalen Vergewaltigung: Die Betroffenen wurden durch Geistliche ausgefragt und in Gespräche über ihre Sexualität verwickelt. Ihnen wurden sexuell konnotierte »Witze« erzählt oder pornographische Bilder gezeigt. Betroffene wurden gegen ihren Willen berührt, umarmt, geküsst. Täter onanierten vor ihnen, rieben sich an ihnen, drangen auf verschiedene Art und Weise in ihre Körper ein. Neben sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen traten nichtsexualisierte körperliche Gewalttaten, aber auch psychische Abhängigkeiten, in die Betroffene gebracht wurden. Täter befriedigten somit nicht ausschließlich ihr sexuelles Verlangen, sondern übten physische, vor allem aber psychische Gewalt über diejenigen aus, die sie drangsalierten. Sexuelle Begierde und Machttrieb waren und sind untrennbar miteinander verbunden. Die vielfachen Verbrechen fanden in Kirchengebäuden, in der Sakristei, im Beichtstuhl, in Privatwohnungen, aber auch in Pfarrhäusern, in Jugendheimen, Zeltlagern und an vielen anderen Orten statt, denen allen eines gemeinsam ist: dass sie der katholischen Kirche zuzuordnen sind.

Es gibt neben dem Skandal der Missbrauchstaten selbst einen zweiten Skandal, der noch viel tiefer in der katholischen Kirche verankert ist. In diesem Zusammenhang stehen nicht mehr allein die klerika­len Täter im Fokus, sondern mit den Bischöfen, Weihbischöfen und anderen personalverantwortlichen Funktionären die katholische Hie­rarchie: Auch wenn wir vor allem seit 2010, seit der Aufdeckung des systematischen Missbrauchs im vom Jesuitenorden getragenen Canisius-Kolleg, verstärkt öffentlich über den Missbrauch sprechen, waren viele dieser Verbrechen und Untaten bereits vorher in den Bischofssitzen und Generalvikariaten der Diözesen bekannt. Die amtskirchliche Reaktion darauf folgte einem Muster: Der sexuelle Missbrauch von Klerikern an ihren Schutzbefohlenen wurde fortgesetzt und systematisch verschleiert und vertuscht.

Was so harmlos klingt – Vertuschen –, ist tatsächlich ein eklatantes Fehlverhalten und zog gravierende Folgen nach sich. Wer als Bischof und Personalverantwortlicher schwieg und die Täter einfach nur versetzte, der traf gleich zwei verhängnisvolle Entscheidungen: Er signalisierte dem Täter, dass diesem keine schweren Konsequenzen drohten. Immerhin musste aus der Erfahrung heraus der überführte Täter weder befürchten, öffentlich bloßgestellt zu werden, noch, seine Stellung als Pfarrer und damit seine Existenzgrundlage zu verlieren. Und – viel schlimmer – die vertuschenden Bischöfe schufen auf diese Weise wiederholt Gelegenheiten für das Verbrechen: Jenen pädosexuell fixierten Priestern, die immer wieder missbrauchten, führten die Vertuscher wiederholt Kinder zu, indem sie diese in neue Gemeinden versetzten und oftmals niemanden über den vorhergehenden Missbrauchsfall informierten.

Der Versuch, den Ruf der Institution Kirche ebenso wie das Sakrament der Priesterweihe zu schützen, rangierte weit vor den berechtigten Interessen der Betroffenen nach Anerkennung ihres Leids, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit. Institutionen- und Täterschutz waren die dominierenden Handlungsmuster der katholischen Hierarchie.

Ein dritter Skandal, Vertrauensbruch und Anlass für zunehmenden Bedeutungsverlust zugleich, entwickelte sich vor allem seit 2010. Erst zögerlich, dann aber vom öffentlichen Druck zunehmend getrieben versuchten sich die Bischöfe und ihre Institutionen an der Aufarbeitung der Missbrauchskrise. Aber heute deutet sich auch nach über zehn Jahren weder an, dass die Institution einen Zugang zu den Betroffenen, noch, dass sie einen entschiedenen Ansatz gefunden hat, die den Missbrauch begünstigenden Faktoren selbst anzugehen. Die Konsequenzen sind drastisch: Wo bereits in den Nachkriegsjahrzehnten der Bundesrepublik die Kirchen massiv an Bedeutung verloren hatten, da beschleunigte das Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs und ihr Umgang mit diesem die Tendenz noch einmal: »Die Menschen glauben uns nicht mehr« – mit diesen schonungslosen Worten fasste Kardinal Marx als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz bei der Eröffnung von deren Vollversammlung im September 2018 seine Sicht auf die Entwicklung zusammen.1 Mit der Veröffentlichung (und dem Zurückhalten) weiterer Gutachten in Köln, Aachen, München und anderen Bistümern wie auch mit der öffentlichen Diskussion über das Fehlverhalten katholischer hoher Geistlicher bis hin zu Papst Benedikt XVI. spitzte sich die Situation noch weiter zu. Die katholische Kirche – einst eine Institution mit hoher Reputation und starker Prägekraft für die gesamte Gesellschaft und ihre politische Kultur – befindet sich im freien Fall.

Dass momentan besonders die katholische Kirche im Fokus steht, ist nicht selbstverständlich, ganz im Gegenteil: Sexueller Missbrauch findet in allen Teilen der Gesellschaft statt. Es gibt sogar gut begründete Expertisen, die besagen, dass nicht der Beichtstuhl und das Messdienerlager die »Hotspots« sexuellen Missbrauchs sind, sondern dass die meisten Fälle in der familiären Umgebung von Betroffenen stattfinden. Zugespitzt gesagt ist es wohl nicht gefährlicher, »seine Kinder zum Kommunionunterricht und auf eine katholische Schule zu schicken als in einen Sportverein oder in die Musikschule.«2 Insofern ist die Diskussion um sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft extrem eingeschränkt – ein Phänomen, über dessen Gründe noch zu sprechen sein wird. Und doch hat der Fokus auf die katholische Kirche seine Berechtigung, die zunächst aus der enormen Fallhöhe resultiert.

Vom guten zum schuldigen Hirten

»Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. / Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.«  Bis heute beten Christinnen und Christen mit dem Psalm 23 eine der schönsten Versdichtungen des Alten Testaments und sprechen damit von Gott als einem guten und fürsorglichen Hirten, der sich um seine Schafe kümmere. Dem Johannesevangelium zufolge sagte Jesus selbst von sich: »Ich bin der gute Hirt« (Joh 10,14), und beschrieb sich als jemanden, der seiner Herde Schutz wie auch »ewiges Leben« gebe. Im Gegensatz zum Tagelöhner, der seiner Herde nicht verbunden sei, sei er der Hirte, der seine Schafe kenne, so wie sie ihn. Daher folgten ihm die Schafe, »denn sie kennen seine Stimme«.

Diese biblischen Verwendungen des Bildes vom »guten Hirten« waren die Grundlage für einen rasanten Siegeszug der Metapher, die in der weiteren Geschichte oft und für immer mehr Akteure genutzt wurde:3 Schon die frühchristlichen Gemeinden stellten nicht nur Jesus bildlich als einen Hirten dar, der auf seinen Schultern ein Lamm trug, sondern bezeichneten auch ihre Gemeindeleiter als Hirten. Laut dem Evangelisten Johannes konnten sie sich dabei auf Jesus selbst berufen, der den Apostel Petrus aufgefordert habe, ihm nachzufolgen und an seiner statt »die Schafe zu weiden« (Joh 21,15–16).

Diese Bildtradition verbreitete sich rasant und prägte insbesondere das Priesterimage in der hierarchischen Konstellation der katholischen Moderne: In der Nachfolge des guten Hirten Jesus waren es der Papst, die Bischöfe und die Priester, die Jesus im Hirtenamt folgten und dabei die Kirche verkörperten. Noch das Zweite Vatikanische Konzil Mitte der 1960er-Jahre verstand die Bischöfe als »eigentliche, ordentliche und unmittelbare Hirten« ihrer Teilkirchen und schrieb den Priestern zu, »entsprechend ihrem Anteil an der Vollmacht das Amt Christi, des Hauptes und Hirten« auszuüben.4 Ihr Beruf und ihre Berufung sei es, sich um ihre Gemeinden zu kümmern und diese notfalls unter Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen – ebenso wie der gute Hirte das für seine Schafe tue.

Zugleich war im Bild des Hirten immer eine zweite Bedeutungsebene angelegt: die Konstruktion eines hierarchischen Abstands zwischen dem Hirten und seinen Schafen. Übertragen auf die Beziehung zwischen Kleriker und Laien war damit der Anspruch auf Autorität, Führung und Gefolgschaft gesetzt. Für den Kontext des Missbrauchs spielt diese Komponente als Machtelement eine besonders entscheidende Rolle.

Sensibler als viele andere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen haben die Mitglieder der britischen Popgruppe Pink Floyd die Ambivalenz dieses Bildes erkannt. Auf ihrem Album »Animals« griff die Band im Jahr 1977 den Psalm in ihrem Song »Sheep« in ganz anderer Weise auf. »The lord is my shepherd«, so zitieren die Musiker den ersten Vers. Das Keyboard präludiert zurückhaltend, fast leise im Zwölfachteltakt, der Ton hell und kräftig – um im Gegenvers die biblische Aussage in ihr krasses Gegenteil zu verkehren, musikalisch intoniert in e-Moll. Plötzlich lösen Schlagzeug und E-Gitarre das Keyboard ab. »You better watch out, / There may be dogs about / I’ve looked over Jordan, and I have seen, / Things are not what they seem.«

Im Songtext wird der gute Hirte des Psalms, der seine Schafe an eine frische Weidestelle führt, zum grausamen Schlächter, der die Schafe mit blankem Messer umbringt, sie an Fleischerhaken aufhängt und dann zu Koteletts verarbeitet, »for lo, he hath great power and great hunger«. Kunstvoll behalten die Bandmitglieder die Form wie auch die religiöse Sprache weitgehend bei: »He converteth me to lamb cutlets« – bewusst imitiert der Texter die religiöse Vokabel »convert«, ebenso wie in der Folgezeile »release«/erlösen. »With bright knives he releases my soul«. Der Song zählt nicht zu den prominentesten Titeln von Pink Floyd, sticht aber deshalb hervor, weil es ihm so kunstvoll gelingt, die Sprache und den Sprachduktus des Psalms einzufangen, musikalisch-lautmalerisch die Dystopie nachzuzeichnen. Mit der Missbrauchskrise der katholischen Kirche im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends hatten Roger Waters und seine Bandkollegen nichts am Hut, deuteten aber bereits in den 1970er-Jahren darauf hin, welch unheilvolle Mesalliance geistliche Macht, ökonomische Gier und sexuelle Gewalt eingehen können. Und sie beschworen (oder deuteten doch zumindest an), was das Ende der Dystopie sein könnte: der Ungehorsam der Schafe nämlich. »Lo, we shall rise up, / and then we’ll make the buggers eyes water […]. March cheerfully out of obscurity into the dream.« – »Siehe, dann werden wir aufstehen und den Mistkerlen die Tränen in die Augen treiben (und) marschieren jubelnd aus der Finsternis in den Traum«, so die freie Übersetzung.5

Warum der Missbrauch die Kirche ins Mark trifft

Von außen, aus der Perspektive der Gesellschaft betrachtet, hat die Aufdeckung dieser Verbrechen die Öffentlichkeit sensibilisiert für den grundlegenden Zusammenhang von religiöser Macht und Missbrauch. Diese neue Wahrnehmung wird die gesellschaftliche Akzeptanz der Kirche noch weiter und drastischer verändern, als es in den letzten Jahrzehnten bereits der Fall war: Die Institution, die in der politischen Kultur der Bundesrepublik mit einem hohen Ansehen und dementsprechend mit Mitwirkungsmöglichkeiten, Macht und Einfluss ausgestattet war, wird in Zukunft mit anderen Augen betrachtet werden.

Von innen, aus der Kirche selbst heraus, hat die Aufdeckung und das offene Gespräch über sexuellen Missbrauch das Potenzial dazu, die Religionsgemeinschaft grundlegend zu verändern, denn sexueller Missbrauch zielt auf den Kern des Christlichen und zieht deswegen enorme und weitreichende Kreise. »Gott weint wegen dieser Taten«, so äußerte sich Papst Franziskus anlässlich seiner Reise in die USA im September 2015 und ließ seinen Pressesprecher ergänzen, dass es sich um ein »universal problem in the universal Church everywhere« handele.6 Dass selbst von dem höchsten Würdenträger der katholischen Kirche die Folgen so dramatisch eingeschätzt werden, zeigt, dass der sexuelle Missbrauch mehr ist als irgendein Skandal in der ohnehin an Verfehlungen reichen Geschichte der Kirche.

Verschiedene Überlegungen zeigen die besondere Sprengkraft. Gesellschaftlich entfaltet sich die Aufdeckung von Missbrauchsfällen in Deutschland vor einem besonderen Hintergrund: In der Bundesrepublik haben sich die Kirchen und dabei speziell die katholische Kirche in der Nachkriegszeit zu Verteidigern von Sitte, Anstand und Moral im Bereich der Sexualität stilisiert. Von der Debatte über die »Mischehe« – so die Bezeichnung für konfessionsverschiedene Paare in den ausgehenden 1940er- und 1950er-Jahren – über die Auseinandersetzungen um Empfängnisverhütung vor allem seit den 1970er-Jahren bis zu den aktuellen Diskussionen um die Gleichstellung von nicht heterosexuellen Partnerschaften – immer waren es die beiden christlichen Religionsgemeinschaften, die im Zentrum dieser Diskussionen standen. Der dabei erworbene Nimbus von den Tugendwächtern in Sachen Sexualität, Liebe und Partnerschaft ist jetzt zerstört.

Wer an dieser Oberfläche kratzt, entdeckt weitere Schichten, die den Zäsurcharakter des Missbrauchsgeschehens auch von innen heraus erklären helfen: Wie kaum eine andere Institution haben sich die christlichen Religionsgemeinschaften und damit auch die katholische Kirche der Nächstenliebe verschrieben. In der Theologie des Christentums ist die Gottesliebe unmittelbar an die Nächstenliebe gebunden. Die Metapher vom guten Hirten greift genau das auf. Wo sich der Papst, die Bischöfe, die Priester in die Nachfolge des biblischen Jesus stellen, da reklamieren sie mit diesem Bild zwei eng miteinander verbundene Ansprüche für sich: Sie pochen auf Folgsamkeit und Gehorsam, da aus dieser Sukzession göttliche Nachfolge abgeleitet wird. Begründet ist dieser Anspruch mit der zweiten Seite des Hirtenamtes: der Fürsorge für die Gläubigen, zu der man sich bis hin zur Aufgabe des eigenen Lebens verpflichtet.

Mit dieser Facette des Hirtenbildes eröffnet sich eine der größten und faszinierendsten Ideen des Christentums: Eine Gottesbeziehung realisiert sich vor allem und – bleibt man bei den Urtexten des Christentums – wohl ausschließlich in der Zuwendung zum Nächsten und zur Nächsten: Jesus gibt sich als Mensch den Menschen bis in den Tod hin, um ihnen auf diese Weise als Christus und Gott nahe zu sein. Es ist die Selbsterniedrigung des Mächtigsten und die Hingabe bis in den Kreuzestod, in der sich das Christentum von den anderen Religionen und Kultformen der Antike unterschied und für viele Menschen hoch attraktiv wurde.

Viele Gläubige, Theologinnen, Künstler, Schriftstellerinnen und andere Kreative haben über viele Jahrhunderte dieses Paradoxon immer wieder beschrieben und zu deuten versucht.

Selbstverständlich hat es über die Jahrhunderte höchst unterschiedliche Vorstellungen gegeben, wie diese Zuwendung zu geschehen habe: Man konnte unter dem Diktum der Nächstenliebe Hexen verbrennen, aber auch jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vor der Gestapo retten, andersgläubige Menschen zwangsbekehren und umbringen oder über breit angelegte Spenden- und Hilfsaktionen Millionen vor dem Hungertod retten. Aber allen Unterschieden zum Trotz und auch entgegen der offenen Frage, wer die oder der Nächste eigentlich war, blieb diese Bezogenheit, ja die Verschmelzung von Gottes- und Nächstenliebe innerkirchlich erhalten. Hier zeigt sich ein Kernpunkt von Transzendenz: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,14). Diese und andere Jesusworte waren die Referenz für einen, vielleicht sogar den wichtigsten Gedanken des Christentums: Gott realisiert sich gerade und vor allem im Verhältnis zum Mitmenschen. »Fratelli tutti« (»Alle sind Brüder«) und – so schob der Vatikan rasch nach – natürlich seien die Schwestern auch gemeint. Die von Papst Franziskus 2020 veröffentlichte Sozialenzyklika ist nur ein und das aktuellste Beispiel dafür, wie grundlegend dieser Gedanke das Christentum bis heute prägt.

Wer die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe als Zentrum des christlichen Glaubens sieht, erkennt rasch, dass der Missbrauchs­skandal die katholische Kirche bis ins Mark trifft. Ein erwachsener Mensch, der ein ihm anbefohlenes Kind zur Befriedigung seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse missbraucht, pervertiert jegliche Idee von Nächstenliebe. Die Kirche verliert das Vertrauen, ja viel mehr noch, sie »verliert in den Augen vieler Menschen sogar ihre Daseinsberechtigung, weil sie das Gegenteil von dem tut, wofür sie da ist. Für das Heil der Menschen zu arbeiten und damit Gottes Liebe sichtbar werden zu lassen.«7

In vielen Verbrechen und Skandalen, die mit der Kirche verbunden sind und von ihr ausgingen, stand immer wieder die Auseinandersetzung mit Menschen, die nicht zur Religionsgemeinschaft gehörten oder sonst wie als »anders« markiert wurden, im Zentrum: Ungläubige, Andersgläubige oder auch Menschen, die man wegen anderer Eigenschaften wie ihrer ethnischen Herkunft, sexuellen Orientierung oder wegen politischer Differenzen als anders und damit als potenziell nicht schützenswert qualifizierte. Aus dieser Konstellation heraus konnte man viele Taten wie Mord, Totschlag und andere Verbrechen rechtfertigen. Selbst der Kriegsfall, in dem katholische Priester auf beiden gegnerischen Seiten Waffen segneten, verblieb in dieser Logik der Differenz.

Bei sexuellem Missbrauch hingegen kehrte und kehrt sich dieses Verhältnis um, wie die Aussage eines Betroffenen belegt: »Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, was den Missbrauch in meinem eigenen Leben möglich gemacht hat, und immer wieder komme ich auf die eine Antwort: Ich war katholisch!«8 Nicht obwohl, sondern weil sie katholisch waren, wurden Menschen zu Betroffenen. Der qualitative Unterschied zu früheren Verbrechen und Skandalen liegt darin, dass in diesem Fall Priester ihre besondere Stellung gegenüber ihnen anvertrauten oder gefügig gemachten Gläubigen ausnutzten: Die Täter traten als Personifikationen und Vermittler der Gottesliebe auf, lenkten die verehrende Haltung der betroffenen Gläubigen auf sich und nutzten diese, um sich selbst sexuelle Befriedigung zu verschaffen und Macht auszuüben.

Ohne Zweifel stand die katholische Kirche auch in vielen anderen Fragen massiv in der Kritik: im Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen, im Verhalten gegenüber homosexuellen Paaren und vielem mehr. In all diesen Fragen aber reklamierte sie wie auch einzelne ihrer Protagonistinnen und Protagonisten für sich, in der Verkündigung des Wortes Gottes und damit in persona Christi zu handeln. Wie schräg oder falsch auch immer die dafür angeführten Argumente waren, gab es den prinzipiellen Versuch, die jeweils spezielle Position in die transzendent begründete Weltsicht zu integrieren – diese Begründungsschleife versagt nun in der aktuellen Debatte: Der Kindesmissbrauch konnte und kann nicht Willen Gottes sein, dafür wird sich kein Argument erdenken lassen. Das gilt insbesondere für die Figur des »guten Hirten«: »Radikaler als durch Kindesmissbrauch kann man also das Versprechen, sein Leben Christus zu weihen, nicht verhöhnen«, so die sozialpädagogisch Forschenden Lotte Rose und Michael Behnisch.9

Priester – Sakramente – Kirchenverständnis

Sexualisierte Gewalt zielt auch deshalb in den Kern des Selbstverständnisses der katholischen Religionsgemeinschaft, da sich in dieser Kirche ein besonderes Setting herausgebildet hat, das bis heute das Selbstverständnis und die pastorale Praxis prägt: Anders als die Kirchen der Reformation, bei denen das Wort und dessen Verkündigung im Mittelpunkt steht, basiert die katholische Kirche auf einer Theologie und einer Pastoral der Sakramente. Sakramente sind im weitesten Sinne Heilszeichen: Nicht allein die Taufe, die Firmung, die Eucharistie, die Beichte, die Krankensalbung und die Ehe, sondern die Kirche selbst wird verstanden als Sakrament, in dem sich Gott den Menschen vermittelt. Es sind diese sakralen Handlungen, die die Einzelne und den Einzelnen hineinnehmen in das Mysterium Gottes.

Im Zentrum dieser Handlung steht der Priester als derjenige, der die Sakramente spendet. Dazu ist er nach katholischer Auffassung selbst durch ein dreistufiges Weihesakrament berufen. Damit ist er nicht nur Repräsentant der Kirche und Vermittler des Wortes Gottes, sondern er personifiziert dieses.

Die Kirche früherer Jahrhunderte unterschied wohlweislich noch zwischen dem Zelebranten und dessen Tun. Einfach gesprochen: Auch ein geweihter Schurke konnte ein gültiges Sakrament spenden, das Werk wirkte unabhängig von der persönlichen Qualität desjenigen, der es vollzog – dieser mit der lateinischen Formel ex opere operato bezeichnete Grundsatz gilt zwar laut katholischer Lehre bis heute, er geriet aber in Auseinandersetzung mit der Moderne immer stärker in den Hintergrund. Insbesondere seit Ende des 18. Jahrhunderts avancierte der Priester parallel zu einer beispiellosen Aufwertung des Papsttums zu einer Zentralrolle im Katholischen: Er stand nicht nur der Gemeinde vor, sondern war wegen seiner Weihe homo dei (Mann Gottes). Er war das Gesicht der Kirche vor Ort und verkörperte aus dieser Autorität Jesus Christus auf Erden. Der Priester verkündete und verkörperte dessen Worte.

Auch wenn »nur« ein kleiner, aber durchaus gewichtiger Teil des Klerus beschuldigt wurde, sexuellen Missbrauch verübt zu haben, ist damit der Nimbus des ganzen Standes zerstört. Aus der Sozialfigur des »Hirten« und »Hochwürden«, wie sie bis in die 1950er-Jahre prägend war, wurde in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur ein tendenziell überforderter Seelsorger, der seinen »Schäfchen« immer öfter vergeblich hinterherlief. Zudem wandelte sich die Rolle des Priesters in der öffentlichen Wahrnehmung vom homo dei zum sexuell verkümmerten Mann, der die Folgen seiner Ehelosigkeit und Sexualabstinenz nicht in den Griff bekam – und die bei einem kleinen Teil der Priesterschaft dazu führten, sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Schutzbefohlene auszuüben. Damit ist nicht nur der Stand der Kleriker infrage gestellt, sondern es steht die Sakralität der Organisation insgesamt in Frage. Wie die »Ursünde« in vielen Jahrhunderten in der Theologie als Ausgangspunkt für ein hoch differenziertes System aus Schuld, Buße, Strafe und Vergebung entwickelt wurde, so hat sexueller Missbrauch das Potenzial, diese Weltdeutung und dieses theologische System von Grund auf zur Disposition zu stellen.

Das Gros der Missbrauchstaten, über die wir heute diskutieren, liegt zeitlich weit zurück und ereignete sich zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren. Erst viele Jahre und zum Teil Jahrzehnte später war es Betroffenen möglich, diese öffentlich und auf diese Weise die Verbrechen als einen Skandal erkennbar zu machen. Dies hängt mit der besonderen Situation der katholischen Kirche insgesamt zusammen: Wo die Macht bröckelt und der Einfluss schwindet, lassen sich Verbrechen leichter öffentlich anprangern. Sexualisierte Gewalt und Missbrauch hängen unmittelbar zusammen mit Machtstrukturen, Rollen- und Ämterverteilung und der spezifischen Sexualmoral in der Religionsgemeinschaft.

Zudem trifft die Diskussion auf eine innerkirchlich hoch konfliktive Situation: Zölibat, Empfängnisverhütung, Frauenordination, Autoritäts- und Machtstrukturen – viele der Punkte, die bislang vor allem als Gegenstände der kirchenpolitischen Fehde zwischen »linken« und »rechten« Katholikinnen und Katholiken diskutiert wurden, gewinnen eine völlig neue Qualität. Sie sind nicht mehr nur Streitpunkte in der innerkirchlichen Auseinandersetzung, sondern zielen auf die Bereiche, in denen die Kirche sich unter öffentlichem Druck um ihrer Glaubwürdigkeit willen und damit ihrer selbst wegen verändern muss, um zukünftig Missbrauch zu verhindern und die Kultur des Vertuschens durch einen transparenten und präventiven Umgang mit diesen Verbrechen abzulösen.

Das Bewusstsein dafür, dass die Hirten schuldig geworden sind, ist auch in der Kirchenhierarchie angekommen. Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz hat der Oberhirte Georg Bätzing im September 2021 laut Medienberichten seine Amtskollegen zum »Mut der Umkehr« aufgefordert: Die Bischöfe selbst hätten erheblich dazu beigetragen, dass die Botschaft des Evangeliums nicht mehr verstanden werde. Das bisherige Auftreten der Bischöfe führe dazu, dass »Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft das Erlösungsangebot der Kirche als anmaßend und übergriffig und angesichts des Missbrauchsskandals als obsolet« zurückweisen.10 Dass seine radikale Selbstkritik im Reigen der Bischöfe auch auf lautstarke Gegner trifft, die sich energisch gegen Reformen aussprechen, unterstreicht, wie verfahren die innerkirchliche Situation momentan ist.

In dieser Situation will das vorliegende Buch einen Beitrag leisten, der die Diskussion dadurch weiterbringt, dass es sie weiter zuspitzt: Um die Dimension und die Folgen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen und Schutzbefohlenen, aber auch sexueller und sexualisierter Gewalt darüber hinaus erfassen zu können, gilt es, den Missbrauch nicht als Tagesgeschehen abzutun, sondern in der longue durée der Geschichte der katholischen Kirche wie auch in ihren aktuellen Strukturen, ihrem Selbstverständnis und in ihrer pastoralen Praxis zu verorten. Wer mit dem Blick in die Vergangenheit herleitet, was seit 2010 öffentlich diskutiert wird, der kann leicht erkennen, dass Missbrauch weder als eine Momentaufnahme noch allein als eine Tat einer kleinen, sich verfehlenden Minderheit abgetan werden kann.

Stattdessen zeigt sich, dass das Potenzial dazu, Missbrauch zu begehen, diese Verbrechen in die religiöse Sphäre einzubinden, die Pastoralmacht als Voraussetzung für den Übergriff zu nutzen wie auch die Taten zu vertuschen, in vielen Entwicklungen der jüngsten und weiter zurückliegenden Vergangenheit angelegt ist. Missbrauch war und ist keine Störung am Rande oder gar von außen, derer man sich leicht entledigen könnte, beispielsweise durch Prävention, Überwachungsmaßnahmen und Strafverschärfung. Missbrauch und das Potenzial dazu sind im Katholischen und seiner jetzigen Sozialgestalt tief verankert – theologisch, politisch und praktisch-pastoral.

Eine Konfrontation mit der eigenen fremden Welt

Dieses Buch ist bei Weitem nicht die erste Publikation zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche, im Gegenteil: In einer Reihe von Veröffentlichungen ist dieses Thema bereits aufgegriffen worden. Neben Betroffenenberichten sind es vor allem wissenschaftliche Studien aus dem Bereich der Medizin, der Psychotherapie, aber auch der Kriminalistik und der Theologie, die dazu wertvolle und wichtige Einsichten liefern. Das vorliegende Buch wertet diese Studien ebenso wie Berichte von Betroffenen und eigene Quellenarbeit aus. Es verdichtet diese zusammen mit eigenen empirischen Forschungen zu einem Gesamtbild, welches das Ausmaß, die Entwicklung und Dynamik wie auch die Folgen sexuellen Missbrauchs ausleuchtet und in ihren Konsequenzen diskutiert.

Obwohl damit zentrale Elemente des kirchlich-katholischen Lebens aufgegriffen werden – die Sakramente, das Priesterbild, die Rolle der Laien, die Sexualmoral –, ist dieses Buch keine kirchenpolitische Streitschrift. Dazu gibt es klügere, tiefergreifende und weitsichtigere Studien von Autorinnen und Autoren, die selbst aktiv in die Strukturen des Katholischen involviert sind und dort Politik machen: Spätestens seit dem Zweiten Vatikanum entwickelte sich ein ganzer Reigen von kirchenreformerischen Ansätzen. Von der linkskatholisch-alternativ getragenen und vom Selbstverständnis her ökumenisch ausgerichteten »Kirche von unten« über rechtskatholische Zusammenschlüsse wie den Opus Dei oder die Legio Mariae bis hin zur Initiative »Maria 2.0« und dem im Jahr 2019 amtskirchlich angestoßenen Synodalen Weg sind es hoch unterschiedliche Gruppen, die mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Methoden daran arbeiten, die Kirche nach ihren jeweils für wichtig erachteten Gesichtspunkten zu verbessern. Die in diesem Buch formulierten Gedanken schließen daran nicht an. Sie argumentieren weder aktuell-kirchenpolitisch noch theologisch-reformerisch.

Stattdessen ist es ein zeithistorisches Buch, welches eine aktuelle Problemlage – den Zustand der katholischen Kirche, den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen wie den Umgang mit diesen Verbrechen in Kirche und Gesellschaft – aus den Dispositionen der Vergangenheit und der Gegenwart herleitet. Diese Studie analysiert die Entwicklungen, indem sie die Religionsgemeinschaft von innen heraus zu verstehen sucht, ihre selbst gesetzten Maßstäbe rekonstruiert und sie an ihren Praktiken misst. Sie fragt nach den jeweils zeitgenössischen Reaktionen von Gesellschaft und Politik – und wie diese aus der bundesrepublikanisch eigentümlichen Verbindung von Kirche und Staat das ihre zur Dynamik beigetragen haben. Das Versagen Einzelner wie auch das Institutionenversagen wird aus den historischen Entwicklungen nicht unmittelbar erklärt (und erst recht nicht entschuldigt), wohl aber plausibel gemacht und auf die Strukturen zurückgeführt, die es ermöglichten und begünstigten. Damit werden zugleich auch die Risikofaktoren herausgearbeitet, aufgrund derer sexueller Missbrauch in kirchlichen Strukturen ebenso möglich wurde wie die jahrzehntelange Vertuschung. Die Vorgänge werden in größere historische Entwicklungen eingeordnet, von verschiedenen Hintergründen aus bewertet und in ihren möglichen Folgen beschrieben. All das geschieht dem Anspruch nach sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer). So entspricht es dem wissenschaftlichen Duktus der Zeitgeschichte, die die wissenschaftliche Heimatdisziplin des Autors ist.

Trotz oder gerade wegen meines eigenen wissenschaftlichen Anspruchs will ich aber als Autor meine eigene Involviertheit nicht verbergen. Für mich waren die Recherche und das Schreiben dieses Buches eine Konfrontation mit der eigenen fremden Welt: Ich bin selbst als christlich getaufter und katholisch sozialisierter Mensch aufgewachsen. Als Historiker habe ich mich auch forschend mit religiöser Zeitgeschichte beschäftigt.

Dennoch ist mir das Thema sexuellen Missbrauchs und dessen Dimensionen erst spät bewusst geworden. Persönlich ist mir das Thema vor meiner wissenschaftlichen Beschäftigung damit nicht begegnet. Umso überraschender hat meine eigene religiöse Welt auf ebenso erschreckende wie schmerzhafte Weise eine Doppelbödigkeit eingezogen bekommen, die mich zutiefst ratlos und in mancher Hinsicht religiös unbeheimatet zurücklässt. In diesem Sinne ist dieses Buch nicht zuletzt in der Hoffnung darauf geschrieben, damit für heute und für morgen Anstöße zu geben. Wie sich der Anspruch, sine ira et studio zu schreiben, damit verträgt – das Urteil darüber muss den Leserinnen und Lesern überlassen bleiben.

1 Marx, Reinhard, Menschen glauben uns nicht mehr.

2 Resing, Volker, Der maßlose Verdacht, S. 4–5.

3 Zur Popularität in den unterschiedlichsten Zusammenhängen vgl. Fischer, Michael/Rothaug, Diana (Hrsg.), Das Motiv des Guten Hirten in Theologie, Literatur und Musik.

4 Dekret Presbyterorum ordinis Nr. 7.

5 Ammon, Frieder von, Schafe auf der Schlachtbank.

6 Cahill, Desmond/Wilkinson, Peter, Abuse in the Catholic Church, S. 16.

7 Resing, Volker, Der maßlose Verdacht, S. 4–5.

8 Schmitz, Martin, Versagen der Kirche, S. 7.

9 Behnisch, Michael/Rose, Lotte, Missbrauchsskandal, S. 333.

10 Glenz, Tobias, Bätzing ruft deutsche Bischöfe auf.

Sexueller Missbrauch und die Grenzen des Sagbaren

»Katholische Nadelstiche gegen Nazis« – unter dieser Überschrift veröffentlichte die in Oldenburg i. O. erscheinende Nordwest-Zeitung am 21. Januar 2021 einen Artikel über den ehemaligen Kaplan Georg Meyer in Markhausen. Darin berichtete der zuständige Lokalredakteur, wie sich der später über viele Jahrzehnte in der Gemeinde tätige, 1970 verstorbene Geistliche in seinen jungen Jahren gegen örtliche Nationalsozialisten gestemmt hatte. Sein mutiges Verhalten brachte ihm posthum sogar eine Straßenwidmung in der nahegelegenen Bauernschaft Sedelsberg ein – die »Kaplan-Meyer-Straße«. So weit, so gewöhnlich: Im oldenburgischen Münsterland als Wirkungskreis des Kardinals Graf von Galen gehören derartige Verweise bis heute zum immer wieder aktualisierten Traditionsbestand des Katholizismus.

Aber diesmal war doch etwas anders. Das Geschriebene traf nämlich nicht nur auf die sonst übliche selbstbestätigende, wohlwollend-desinteressierte Kenntnisnahme. Ein Satz hatte einen Leser so tief bewegt, dass er weder den Bericht noch die Ehrung unkommentiert lassen wollte: Gelobt worden war der Geistliche unter anderem dafür, dass er »durch besondere Methoden die Jugendlichen zu sich herübergezogen hatte«. Genau diese Bemerkung, so der anonym bleibende Leser, »lässt alles in mir hochkommen.« Als Kind habe Meyer ihn mehrmals sexuell missbraucht. Der Geistliche habe ihn in die Sakristei gedrängt, an sich gedrückt und versucht, ihm seine Zunge in den Mund zu schieben. Er selbst habe weitergehende Berührungen vermeiden können, aber »von anderen Jungs wurde mir erzählt, dass es bei den Messdienern in der Sakristei zu schweren sexuellen Übergriffen gekommen ist.«1

Die nach diesem Leserbrief einsetzende Entwicklung zeigt vor allem eines: Im Ort waren diese und andere Vorfälle weithin bekannt. Meyer hatte zwar seinerzeit die Jungen zur Verschwiegenheit verpflichtet; auch deshalb trauten sich die Betroffenen selbst nicht oder nur im kleinsten Kreis, über das ihnen angetane Leid zu sprechen. Trotzdem wussten viele über den Kreis der Betroffenen hinaus, dass Meyer über viele Jahre Jungen aus dem Kreis der Messdiener missbraucht hatte. In der Gemeinde erzählt man sich heute, dass insbesondere die Dorfeliten ihre Söhne zum Schutz vom Ministrantendienst ferngehalten hätten. Abgesehen davon aber schwieg man und ließ den übergriffigen Geistlichen gewähren. Die eng gezogenen Grenzen des Sagbaren und seine Machtstellung im Gemeinde- und Sozialgefüge sollten ihn noch über Jahrzehnte schützen.

Erst die Reaktionen auf die Enthüllungen und Berichte in der Presse am Anfang des Jahres brachen das kollektive Schweigen – und das mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Taten. In der neu entstandenen Öffentlichkeit wurde publik, dass sich bereits 2010 ein anderer Betroffener beim Bistum Münster gemeldet hatte. In einem Verfahren zur Anerkennung seines Leids war ihm ein Geldbetrag zugesprochen worden – ein Hinweis darauf, dass die Verantwortlichen des Bistums Münsters die Aussagen des Mannes als glaubhaft einstuften. Im Fe­bruar und März 2021 meldeten sich dann im Münsteraner Forschungsprojekt zur Aufarbeitung des Missbrauchs im Bistum Münster weitere Betroffene. Die aussagekräftigen und glaubwürdigen Zeugnisse deuten aktuell auf mindestens sieben Personen hin, die eigenen Angaben zufolge oder gemäß Hinweisen von Familienangehörigen durch Kaplan Meyer sexuell missbraucht worden waren. Die Taten erstreckten sich über die Jahre 1954 bis 1968. Im Einzelnen missbrauchte er seine Opfer über Zeiträume zwischen einem und fünf Jahren. Auch wenn all diese Angaben letztlich keinen juristischen Schuldspruch ersetzen, so verdichten sie sich bis hin zur Gewissheit. Die über viele Jahrzehnte massiven Grenzen des Sagbaren waren offenbar innerhalb weniger Wochen gefallen. Die Kirchengemeinde und örtliche Kommune sind fortan alarmiert, stellen sich doch Fragen nach der Verantwortung und der Schuld weit über den Geistlichen hinaus. Wie soll sich das Zusammenleben jetzt und in Zukunft gestalten? Im März 2021 beschlossen Lokalpolitikerinnen und -politiker die Umbenennung des nach dem mutmaßlichen Missbrauchstäter benannten Weges: Die »Kaplan-Meyer-Straße« heißt seitdem »Zur Sporthalle«.2

In seinem spezifischen lokalen Kontext ist der Fall Meyer sicher besonders – und steht dennoch in einer Reihe von vielen, mittlerweile auch dokumentierten und veröffentlichten Beispielen. Exemplarisch soll ein weiteres Vorkommnis kurz skizziert werden, um die erstaunlichen Parallelen zu dokumentieren: Der Geistliche Bernhard Janzen wurde ein halbes Jahr vor seinem Tod 1972 mit einer Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet, als Dank für seine Verdienste um den Schulausbau, die Klinikgründung und den sozialen Wohnungsbau in der ländlichen Gemeinde. Im Herbst 1994 sollte die Haupt- und Realschule im niedersächsischen Neuenkirchen nach dem langjährigen Pfarrer benannt werden.

Genau zu diesem Anlass machte Bernd Theilmann öffentlich, dass er als Kind von Janzen sexuell missbraucht worden war. »Wenn Du einem davon erzählst, dann tritt der Satan zwischen uns!«, so hatte der Pfarrer damals Theilmann gegenüber gedroht. Wer die Auswüchse katholischer Strafpastoral kennt, der wird ermessen können, welche Wucht ein solcher Satz gegenüber einem kleinen Jungen entfalten kann. »Wie er das sagte: ›Der Satan‹ …«3 Theilmann jedenfalls schüttelt es noch heute durch, wenn er daran zurückdenkt. »Theilmann zischt das S, es klingt wie bei einer Schlange«.4

Jahrzehnte später brach er nun sein Schweigen, erzählte seinen Eltern erstmals vom Geschehen im Pfarrbüro und informierte im zweiten Schritt den Bürgermeister. Dieser wiederum sprach den örtlichen Pfarrer an. Es passierte – nichts. Der Gemeinderat, der bei seiner Entscheidung über die Vorwürfe nicht informiert war, stimmte mit großer Mehrheit dafür, die Schule nach dem Ehrenbürger Janzen zu benennen. Theilmann akzeptierte das erneute Schweigen nicht, ging an die Presse. Auch in diesem Fall diskutierte die örtliche Politik – allerdings nicht über den Missbrauch an sich, sondern über das Agieren des Bürgermeisters. Warum hatte er nicht die politischen Gremien informiert? Der Gemeindeobere verteidigte sich mit dem Hinweis, dass es sich um einen »diffusen und vor allem nicht nachvollziehbaren Vorwurf« gehandelt habe.5 Andere, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligten, beschimpften nun die Opfer: »Sind sich die jungen Männer dessen bewußt, was sie ihrer Heimatgemeinde angetan haben?«, fragte in einem Leserbrief ein Ehepaar, welches vorgab, »im Namen vieler« zu sprechen. Erst 2010 stellte eine Kommission von Fachleuten aus Wissenschaft, Justiz und Verwaltung »mit moralischer Gewissheit« fest, dass »Pfr. Bernhard Janzen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sexuell missbraucht hat.«6

Die Grenzen des Sagbaren – das machen diese beiden wie auch viele ähnlich gelagerte Fälle deutlich – waren bis in die 1990er-Jahre und auch darüber hinaus eng gezogen.7 Thematisiert wurde Missbrauch allenfalls in Andeutungen. »Zu dem geh lieber nicht allein«, so hatten sich beispielsweise die Jugendlichen auf dem Spielplatz gegenseitig vor Pfarrer Janzen gewarnt.8 »Jetzt ist der schwule Bock endlich weg«, tönte es auf dem Schulhof nach der Versetzung des Pfarrers Helmut Behrens, der in Neuscharrel zahlreiche Kinder missbraucht hatte.9 »Messdienerwitze« über Geistliche und deren sexuelle »Vorlieben« machten die Runde zusätzlich zu den schon gängigen Zoten über Pfarrer mit ihren Haushälterinnen. Unabhängig von ihrem jeweiligen ästhetischen Wert funktionieren Witze dieser Art laut Sigmund Freud subversiv wie auch entlastend als »ersparter Hemmungsaufwand«: Gerade diese Form des Humors ermöglichte es, das aufzugreifen, was zu sagen eigentlich nicht erlaubt oder zumindest nicht opportun war und ist.

Die große Mehrzahl der heute diskutierten Fälle sexuellen Missbrauchs ereignete sich zwischen den Jahren 1950 und 1990, öffentlich bekannt und angeprangert wurden sie erst viele Jahre später. Oftmals dauerte das Schweigen der Betroffenen mehr als 25 Jahre.10 Allein diese Zahl macht deutlich, wie viel Mutes es vonseiten Betroffener bedurfte, um Missbrauchs- und Gewalttaten öffentlich zu machen und damit zum Skandal werden zu lassen. Sie zeigt auch, wie wichtig es ist, eine klare Vorstellung davon zu gewinnen, was sexueller Missbrauch ist und wie darüber zu sprechen ist: Was sexueller Missbrauch ist, was wir wissen und wo die Grenzen unserer Kenntnisse aktuell verlaufen – diese und andere Fragen dienen dazu, das Phänomen zu beschreiben, zu systematisieren und damit so umfassend wie möglich darüber aufzuklären – und vielleicht auf diese Weise auch einen Beitrag zur Prävention zu leisten.

Was ist sexueller Missbrauch?

Bevor es in die alltagsweltlichen, aber auch juristischen Differenzierungen geht, ist eine Vorbemerkung vonnöten: Wenn im Folgenden genau ausdifferenziert wird, was unter sexuellem Missbrauch zu verstehen ist, dann hat das seinen »Sitz im Leben« in der fachlichen, kriminalistischen und juristischen Diskussion, weniger aber in den konkreten Tatvorgängen und im Umgang damit. In laufenden Forschungsprojekten haben Kolleginnen, Kollegen und ich viele hundert Missbrauchsfälle und die sich daran anschließenden Kommunikationen untersucht, selbst mit Missbrauchsbetroffenen und Verantwortungsträgern im System, gelegentlich auch mit Tätern gesprochen. In den wenigsten Fällen standen Definitionsfragen im Vordergrund, im Gegenteil: Oftmals war allen Beteiligten, den Betroffenen, den beobachtenden Bystanders, selbst den Tätern mindestens intuitiv, meist aber ganz klar und offen bewusst, dass es sich bei den entsprechenden Handlungen um Grenzverletzungen, schwerwiegende Übergriffe wie auch Verbrechen handelte.

Dementsprechend spielten auch Phänomene wie die Falschverdächtigung oder der Straftatbestand der üblen Nachrede oder Verleumdung in der Praxis der Aufdeckung von Missbrauch eine weniger große Rolle, als es die Diskussion darum erwarten ließe. In den jeweils zeitgenössischen Auseinandersetzungen tauchte dieses Argument gelegentlich als Element in der Strategie der Täter auf, um zu verhindern, dass Betroffene oder Dritte über den Missbrauch sprachen. Meist fiel die so errichtete Drohkulisse rasch in sich zusammen. »Eine Anzeige [von sexuellem Missbrauch] bei Strafverfolgungsbehörden ist immer rechtmäßig – außer im Fall von Falschangaben oder der Verdächtigung ›ins Blaue hinein‹«, so konstatierte der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.11 Allgemein gilt: Es gibt einen hohen Grad von geteiltem und anerkanntem Wissen darüber, wo Grenzverletzungen stattfinden und was sexueller Missbrauch ist. Die öffentliche Sensibilität für das Thema ist hoch. In den etablierten Standardwerken gibt es detaillierte Überlegungen und auch praktische Anleitungen dazu, wie mit Verdachtsfällen umzugehen ist. Hinter Unwissen oder Naivität kann sich heute niemand mehr verstecken.12

Wie über Missbrauch sprechen?

Nicht allein für den juristischen Umgang mit dem Missbrauch, sondern auch für die wissenschaftliche Aufarbeitung ist die Frage unabdingbar, was sexueller Missbrauch ist und wie wir darüber sprechen. Ganz basal zunächst: Wie ist zu benennen, um was es geht? In diesem Buch wird die Bezeichnung »sexueller Missbrauch« verwendet, wenn auch nicht ausschließlich. »Sexueller Missbrauch« hat sich im öffentlichen Sprachgebrauch breit eingebürgert, wird in der öffentlichen Debatte ebenso wie in vielen Aufarbeitungszusammenhängen verwendet. So nutzen beispielsweise auch die deutschsprachigen Versionen offizieller Dokumente wie die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen diese Bezeichnung. Auch offizielle Funktionsträger wie die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs schließen sich dem an. Insbesondere mit Blick auf und in den Kirchen selbst ist überall die Rede von »Missbrauch«. Zu dieser Diskussion will das vorliegende Buch beitragen, daher wird der Begriff auch hier verwendet.

Kritisiert wird der Begriff »sexueller Missbrauch« oft deswegen, weil er suggerieren könnte, dass es auch einen »richtigen« sexuellen Gebrauch von Kindern gäbe: Wird hier nur im Einzelfall falsch »gebraucht«, was ansonsten auch richtig sein könnte? Wer auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Missbrauch zurückgeht, unterliegt diesem falschen Verständnis nicht: Die lateinische Ursprungsvokabel disperditio verweist auf Verderbnis, nicht auf die moderne und heute gebräuchliche Bedeutung von »Gebrauch«. Auch im öffentlichen Diskurs ist weitgehend unbestritten, dass es einen »legitimen« sexuellen »Gebrauch« von Kindern nicht gibt, vom »Missbrauchsbegriff [wird das] auch nicht logisch notwendig impliziert.«13

Hinzu kommt, dass der Begriff des »sexuellen Missbrauchs« dabei hilft, spezifisch katholische oder auch in anderen Religionsgemeinschaften zu beobachtende Charakteristika von Verbrechen zu bezeichnen: Missbrauch in kirchlichen Kontexten, die Täter-Opfer-Konstellationen wie auch die Tatverläufe sind in den meisten Fällen nicht von direkter physischer Gewalt geprägt. Die Täter bauen Konsensfassaden auf oder machen Betroffene oft mit spirituellen, finanziellen oder auch strukturellen Machtmitteln gefügig. Das hat zur Folge, dass manche Betroffene selbst in ihrer kindlichen oder jugendlichen Überwältigung von einer »Beziehung auf Augenhöhe« oder einer »besonderen, womöglich gottgefälligen Liebesbeziehung« ausgehen.14 Das Ausbleiben von physischer Gewalt macht die Übergriffe nicht weniger dramatisch, im Gegenteil: Nicht den Verbrecher von außen, sondern den vertrauten Geistlichen müssen die Kinder und Erwachsenen als Täter in die Deutung ihres eigenen Lebens integrieren. »Mitunter hat gerade die ›freundliche‹ Einkleidung der Übergriffe besonders nachhaltige Traumatisierungen zur Folge«,15 schreibt eine Betroffene.

Dennoch ist es sinnvoll, immer wieder auch die Gewaltseite zu betonen, die mit dem Missbrauch verbunden ist. In der Forschung wie auch in der Öffentlichkeit geschieht dies immer häufiger durch die Bezeichnungen »sexuelle Gewalt« oder »sexualisierte Gewalt«. Der Gesetzgeber selbst hat den Sprachgebrauch gewechselt und die Bezeichnung »sexueller Missbrauch« ersetzt durch die Formulierung »sexualisierte Gewalt gegen Kinder«. Auf diese Weise gelinge es, so verkündet es die Website des Bundesjustizministeriums, »das Unrecht der Taten klarer zu beschreiben«.16

Wissenschaftlich sind beide Begriffe – sexuelle Gewalt und sexualisierte Gewalt – noch einmal zu differenzieren: Bei sexueller Gewalt geht es »um sexuelle Interessen, die auf eine (nicht immer offenkundig) gewalttätige Weise durchgesetzt werden«17. Bezeichnet werden also Taten, bei denen sexuelle Interessen gegen den Willen der oder des Betroffenen durchgesetzt werden sollen, das Motiv des Handelns ist sexueller Natur. Bei »sexualisierter Gewalt (handelt es sich) um Gewalt (violence), die sich sexueller Mittel bedient.«18 Hier geht es also um sehr unterschiedliche Intentionen, die über eine sexuelle Gewalthandlung erreicht werden sollen.

Auch in diesem Buch wird der Begriff »sexualisierte Gewalt« verwendet, um den Machtmissbrauch und den damit verbundenen Gewaltfaktor zu bezeichnen. Dennoch ist es wichtig zu berücksichtigen, dass körperliche Gewalt nur einen kleinen Teil der Missbrauchsfälle kennzeichnet. Grundlegend ist es nicht die Ausübung von physischer Gewalt, die sexuellen Missbrauch konstituiert. Stattdessen ist es die Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts, welches die Grenze zwischen akzeptablen und nicht akzeptablen Handlungen markiert.19

Um sprachliche Sensibilität bemüht sich das Buch auch mit Blick auf die Betroffenen von sexualisierter Gewalt: Oft wird von »Opfern« gesprochen – ein Begriff, der auf den Punkt bringt, dass die Leid­tragenden selber keine Verantwortung und keinerlei Schuld tragen, sondern ihnen von körperlich, psychisch, vom Alter und von der Machtstellung her überlegenen Tätern Gewalt angetan wurde. Unangemessen ist der Begriff dann, wenn er aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen und heute meist Erwachsenen gedacht wird: Viele von ihnen sehen sich nicht als Opfer und lehnen die damit verbundene passive Rolle ab. Sie sehen sich nicht als wehrlose, passive und ausgelieferte Menschen. Sie bezeichnen sich selbst als Betroffene, als Erlebende, gelegentlich sogar als Überlebende. Betont wird auf diese Weise die durchaus aktive Rolle, die Betroffene von sexualisierter Gewalt nicht im Tatkontext, wohl aber in ihrer heutigen Position einnehmen. Betroffene wehren sich, fordern aktiv ihre Rechte und Wiedergutmachung ein und sind damit nicht zuletzt die wichtigsten Treiber der Aufarbeitung von Missbrauch wie auch der Verhinderung weiterer Missbrauchstaten.20

Juristische Definitionen: Sexueller Missbrauch als Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts

Sexueller Missbrauch – so lässt sich mit dem Glossar der Aufarbeitungskommission des Bundes sagen – ist »jede Handlung, die an Mädchen und Jungen gegen ihren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können.«21 Das zu schützende Rechtsgut ist das der sexuellen Selbstbestimmung. Mit diesem Grundbegriff wird jedem Menschen eingeräumt, einerseits über seine Sexualität selbst zu bestimmen und dabei beispielsweise auch nach eigenen Wünschen sexuelle Handlungen vorzunehmen und andererseits vor nicht gewünschten Sexualhandlungen geschützt zu sein.