Die Schule neu erfinden - Peter Sutter - E-Book

Die Schule neu erfinden E-Book

Peter Sutter

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Beschreibung

Obwohl sich alle Kinder auf den ersten Schultag freuen, verlieren die allermeisten diese anfängliche Freude im Verlaufe ihrer Schulzeit immer mehr. Dass dies nicht an den Kindern liegt, sondern an einer Schule, die sich viel zu wenig an den tatsächlichen Lern- und Lebensbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientiert, davon ist Peter Sutter, pensionierter Oberstufenlehrer und Grossvater von sechs Enkelkindern zwischen einem und zehn Jahren, zutiefst überzeugt. Er gelangt deshalb zu einer radikalen Kritik des bestehenden Schulsystems. Doch er beschränkt sich nicht auf die Kritik, sondern zeigt auch Wege auf, wie die Schule umgestaltet oder gar von Grund auf neu erfunden werden könnte, damit das Lernen wieder Freude macht und die Kinder und die Jugendlichen wieder so lustvoll, selbstbestimmt und erfolgreich lernen könnten, wie sie alle dies in ihren ersten Lebensjahren getan hatten.

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Peter Sutter wurde 1950 geboren. Er ist verwitwet, Vater von drei erwachsenen Kindern und Grossvater von sechs Enkelkindern im Alter zwischen einem und zehn Jahren. Nach der Ausbildung zum Sekundarlehrer an der Universität Zürich war er während 38 Jahren als Oberstufenlehrer in Buchs SG tätig, war Mitbegründer des Werdenberger Kleintheaters fabriggli und der Freien Volksschule Buchs, heute «La Nave». Während acht Jahren war er Mitglied des Buchser Gemeinderates, wo er sich unter anderem für den Aufbau der offenen Jugendarbeit engagierte. Zudem wirkte er als Initiant und Regisseur von zahlreichen Kinder- und Jugendtheaterprojekten. Im Jahre 2000 erschien sein Buch «Schafft die Schule ab – Vision einer neuen Lern- und Bildungskultur.» Seinen Traum von einer Schule, die nicht vor allem auf Lehrpläne, Schullektionen, Prüfungen und Selektion ausgerichtet ist, sondern sich an den tatsächlichen Lern- und Lebensbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientiert, hat er bis heute nicht aufgegeben. Denn er ist davon überzeugt, dass die Kinder in freieren, offeneren und selbstbestimmteren Formen des Lernens nicht weniger, sondern viel besser und viel mehr lernen würden als in der traditionellen Jahrgangsklassen- und Lehrplanschule.

Für Hedy

«Die Schule ist künftig vielleicht nicht mehr das, was wir darunter verstehen, mit Fussböden, Bänken, Stühlen; sie wird vielleicht ein Theater, eine Bibliothek, ein Museum, eine Unterhaltung sein.»

Leo Tolstoi, Pädagogische Schriften, 1911

VORSPANN

Dieses Buch ist meiner im Alter von 59 Jahren leider viel zu früh verstorbenen Frau Hedy gewidmet. Wir lernten uns kennen, als wir im Schuljahr 1982/83 gemeinsam eine «Sonderklasse» auf der 3. Oberstufe unterrichteten. Hedy war für Handarbeit und Hauswirtschaft zuständig, ich für die Fächer Deutsch, Mathematik und Realien. Immer wieder staunten wir über das immense Intelligenzpotenzial unserer Schülerinnen und Schüler und fragten uns, wie es dazu gekommen war, dass sie eines Tages in dieser «Sonderklasse» gelandet waren. Wir trafen auf tragische Einzelschicksale, oft äusserst fragwürdige und willkürliche Entscheide, momentane Entwicklungsverzögerungen oder persönliche Lebenskrisen, die ein Mithalten in der «Regelklasse» offensichtlich verunmöglicht hatten. Allen unserer damaligen Schülerinnen und Schüler war gemeinsam, dass sie unter dem Stigma, «anders» zu sein als die sogenannt «Normalen», mehr oder weniger erheblich litten, was vor allem zu einem verheerenden Verlust ihres Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls führte. Hedy und ich träumten schon damals von einer Schule, in der alle Kinder und Jugendlichen ohne Ausgrenzung gleichberechtigt Platz haben und miteinander und voneinander lernen können.

Meine Enkelkinder, die in diesem Buch eine wichtige, ja eigentlich die Hauptrolle spielen, heissen in Wirklichkeit anders. Die Namen, die sie im Buch haben, wurden von ihnen selber gewählt.

Für die Titelseite habe ich ein Bild ausgewählt, das mein älterer Sohn Andri im Alter von 6 Jahren gemalt hat. Erst ein paar Tage später ist mir aufgefallen: Der schwarze Handabdruck könnte das traditionelle Schulsystem sein. Der bunte Handabdruck: Der Sprung nach vorne, die Auflösung der traditionellen Jahrgangsklassen- und Lehrplanschule, die Öffnung zur unbegrenzten weiten Welt des Lernens ...

INHALT

PROLOG

DAS WUNDER DES LERNENS

Die grösste Abenteuerreise des Lebens

Werkzeuge des Lernens

«Lernen ohne Freude ist keinen Heller wert»

Zwischen Anpassung und Widerstand

Jedes Kind ist ein kleiner Kolumbus

Neue Umgebungen wecken neues Lernen

Kein Lernweg gleicht dem andern

Zettel im Kopf und Zettel im Bauch

Learning by Doing

Die Welt der Kinder

DIE SCHULE UND DAS LERNEN

Was die Sache des Kindes war, wird zur Sache der Erwachsenen

Masslose Überschätzung schulischen Lernens

Lehrplan 21 : 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen

Emil plaudert aus der Schule und was daraus geworden ist

Von der Wunderwelt der Zahlen bis zum Horrorfach Nummer eins

Zwei Geschichten, die nie zueinander gefunden haben

Der Trugschluss, mehr Zwang, mehr Druck und mehr Üben führten zu mehr Lernen

«Leseförderung»: Allzu gut Gemeintes verkehrt sich in sein Gegenteil

Die Kinder der Schule anpassen oder die Schule den Kindern?

Der heimliche Lehrplan der Schule

Starre Schullaufbahnen und ihre Folgen

Die verheerenden Auswirkungen des Prüfungs- und Notensystems auf das Lernen der Kinder

«Was für eine Verschwendung von Jugendjahren»

Überlange Schultage auf der Oberstufe

Schule als Machtinstrument von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen

Wettbewerb ist immer zerstörerisch

Intelligenz, was ist das eigentlich?

Nur nicht zu wild tanzen und nicht zu oft auf Bäume klettern

Lernstörungen als Folge einer lernstörenden Schule

Sprunghafte Zunahme sogenannter «Verhaltensstörungen»

Schulausschluss als letzte und bitterste Konsequenz

Fremdbestimmung, steigender Leistungsdruck und ihre Folgen

In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich?

«Was soll der ganze Druck, wenn wir sowieso keine Zukunft haben?»

Auch die Lehrkräfte und die Eltern leiden

Und es hatte doch alles so hoffnungsvoll begonnen

EINE NEUE WELT DES LERNENS

Die Kinder aus Bullerbü

Das Kind, das nie zur Schule ging

Vielfältigste Orte des Lernens in meiner Stadt

Damit sich Kinder und Jugendliche stets überall willkommen fühlen

Quartiertreffpunkte, Schreibstuben, ein Stadtfest und ein Familientausch

Man kann gar nicht

nicht

lernen

Man sollte immer das tun, wofür man gerade am meisten brennt

Miguel und die sich gegenseitig öffnenden Türen

Die Eltern als erste und wichtigste Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter ihrer Kinder

Gesellschaftspolitische Veränderungen sind unerlässlich

Bedingungslos den Kindern und Jugendlichen zur Seite stehen

Wie kleine Vögel, bis sie genug stark sind, um auch ohne fremde Hilfe in die weite Welt hinausfliegen zu können

Kinderclub und Jugendclub

Wie Blumen, die sich zu ihrer ganzen Schönheit entfalten

«Gewinne den Mut, dich selber zu leben»

Der Übergang in die Berufswelt

Neue Aufgaben für die bisherigen Lehrkräfte

Ich mache mir die Welt, so wie sie mir gefällt

Nichts ist unmöglich, alles ist möglich

Mit Pestalozzi noch einmal von vorne anfangen

Vom Lernhaus «Sole» bis zur Walliser Dorfschule in Bratsch

Innovative Lehrkräfte, die an die Grenzen des Systems stossen

Ein positives Menschenbild als Voraussetzung für gutes Lernen

Gemeinschaftsdenken statt Einzelkämpfertum

Jedem Kind seine eigene Schule

Neue Wege entstehen, indem man sie geht

DIE TREPPE UND DER GARTEN

Wehe, wenn sie aus der Reihe tanzen

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

Sportliche Früherziehung bis zur Selbstzerstörung

Allein 17 neue Nachrichten während einer einzigen Nacht

In der ständigen Angst etwas falsch zu machen

Die soziale Frage

Ganze Familien monatelang im Wahnsinn

Zu schwach für diese Welt?

Eigentlich ist das Gymnasium doch schon längst überflüssig geworden

Was wir uns alles an Belastungen und schlaflosen Nächten ersparen könnten

Duales Bildungssystem: ein Welterfolg

Ebenso gut könnte man Erbsen miteinander vergleichen

Kota, die «Stadt der Lerntoten»

Bildung, was ist das eigentlich?

«Bildung» als Ware auf dem kapitalistischen Markt von Angebot und Nachfrage

Erst dann werden wir erkennen, dass man von Bildung allein nicht leben kann

Lernforschung auf Abwegen

Von Albert Einstein bis Olivia Rodrigo

Schlecht in der Schule, erfolgreich im Leben

Das Zepter den Kindern übergeben

DANKSAGUNG

PROLOG

Als ich vor rund 50 Jahren an der Universität Zürich die Ausbildung zum Oberstufenlehrer absolvierte, waren es vor allem die Schriften von Johann Heinrich Pestalozzi, die mich begeisterten, insbesondere seine Kernaussagen, es sei «unermesslich», was ein Kind aus eigener Kraft zu lernen vermöge, Lernen ohne Freude sei «keinen Heller wert» und dass man beim Lernen nie ein Kind mit dem andern vergleichen dürfe, sondern stets nur «jedes mit sich selber». Diese Grundsätze wurden sozusagen zu meinem pädagogischen Credo. Ich wusste: Bei allem, was ich zukünftig als Lehrer tun würde, stets würden mich diese Worte Pestalozzis begleiten und mich auch in möglicherweise schwierigeren Zeiten den Glauben daran, was für ein unermessliches Geschenk der Natur das Lernen eines jeden einzelnen Kindes ist, nicht verlieren lassen.

So stieg ich mit viel Idealismus in den Lehrerberuf ein. Eine wunderbare Zeit begann. Jeder und jede Jugendliche, die mir anvertraut wurden, bedeuteten so etwas wie eine immer wieder neu beginnende Entdeckungsreise durch die Welt des Lernens. Oft ging es leichter, manchmal war es schwieriger und mühsamer. Aber es kam immer zu einem guten Ende. Und als die Reise dann nach 38 Jahren endgültig zu Ende war, wusste ich: Ich hatte während dieser Zeit unvergleichlich viel mehr von meinen Schülerinnen und Schülern gelernt als sie von mir.

Und doch gab es auch die andere Seite. Die manchmal kaum aushaltbare Schwierigkeit, den Spagat zwischen meinen ursprünglichen Idealvorstellungen und den durch das bestehende Schulsystem vorgegebenen Leitplanken zu bewältigen. Am meisten machte mir zu schaffen, dass ich – im totalen Widerspruch zur vielleicht wichtigsten Forderung Pestalozzis – gezwungen war, mittels Prüfungen die Lernfortschritte der Jugendlichen zu messen und in Form von Noten miteinander zu vergleichen. Ich musste mitansehen, wie manch ein Schüler, manch eine Schülerin durch wiederholte Misserfolgserlebnisse die ursprüngliche Freude am Lernen nach und nach verlor, und ich fühlte mich dafür mitverantwortlich, obwohl dies nie meine Absicht gewesen war. So gab es nicht wenige Tage, an denen ich, trotz der vielen schönen Erfahrungen und Erlebnisse, am liebsten aus dem Lehrerberuf wieder ausgestiegen wäre, nicht weil mich Jugendliche oder Eltern genervt hätten, sondern nur, weil ich gezwungen war, Dinge zu tun, die ich mit meinem pädagogischen «Gewissen» schlicht und einfach nicht in Einklang zu bringen vermochte.

Doch zum Glück gab es dann auch immer wieder diese wunderbaren Momente, in denen die ursprüngliche Lernfreude der Jugendlichen aufblitzte wie die Sonne, wenn sie am Morgen aufgeht. In Projekten, in denen eigene Ideen verwirklicht werden konnten und die nicht einer vergleichenden Notengebung unterworfen waren. In Klassenlagern, auf Schulreisen und Exkursionen, wo sich vielfältigstes zwischenmenschliches und lebensbezogenes Lernen entfaltete, das nichts mit dem mühsamen Auswendiglernen von Wissensstoff zu tun hatte, der nur wenig Nutzen für das tägliche Leben hat. Vor allem aber in den alljährlichen Theaterprojekten, die ich gemeinsam mit den Jugendlichen entwickelte und in denen alle Schülerinnen und Schüler ihre individuellen Begabungen verwirklichen konnten, von der Schauspielkunst über das Tanzen und Singen, das Bauen von Kulissen und Requisiten, das Schminken, Frisieren und Schneidern von Kostümen, das Installieren und Bedienen von Scheinwerfern und Musikanlagen bis zum Verfassen der Dialoge und zum Entwerfen von Zeitungsartikeln, Flyern und Plakaten. Am Ende war es jedes Mal ein Gesamtwerk, alle hatten mit ihren so unterschiedlichen Fähigkeiten zum Gelingen des Ganzen Unentbehrliches beigetragen, alle waren erfolgreich, niemand wurde mit jemand anderem verglichen, es gab keine Noten, keine Bewertungen, keine Ranglisten. Und doch, oder gerade deshalb, erzielten die Jugendlichen bei alledem fast beiläufig ungeahnte Fortschritte ihres Lernens, lernten seitenweise Dialoge auswendig, entwickelten Sicherheit und Selbstvertrauen bei ihren Auftritten vor grossem Publikum, feilten an ihrem sprachlichen Ausdruck, eigneten sich beim Zimmern der Kulissen, beim Spielen von Musikinstrumenten, beim Erlernen und Einüben von Tanzschritten, beim Herstellen der Kostüme und beim Entwickeln von Storys als Textgrundlagen sozusagen spielerisch und voller Freude und Begeisterung zahlreiche neue Fertigkeiten an. Das war die Schule, von der ich immer geträumt hatte.

Und dies war auch der Grund, dass ich diesen Traum einer von Grund auf anderen Schule, die nichts mit Langeweile, Prüfungsängsten, Misserfolgen, Enttäuschungen und dem Verlust von Selbstvertrauen, Lern- und Lebensfreude zu tun hat, sondern sich vollumfänglich an den Lern- und Lebensbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientiert, bis heute nicht verloren habe. Im Gegenteil, er ist im Laufe der Zeit immer noch stärker geworden. Jetzt, wo ich sechs Enkelkinder im Alter zwischen einem und zehn Jahren habe, holt mich alles wieder ein, das unermessliche Wunder des Lernens ebenso wie die Überzeugung, dass Schule auch ganz anders sein könnte, als sie heute ist, und dass wir das eigentlich schon längst wissen müssten und dass es wahrscheinlich nur die Macht der Gewohnheit ist, dass diese neue Schule nicht schon längst Wirklichkeit geworden ist ...

DAS WUNDER DES LERNENS

DIE GRÖSSTE ABENTEUERREISE DES LEBENS

«Es ist unermesslich, was die Natur für unsere Kraftentwicklung selbst tut», stellte der Schweizer Pädagoge und Schriftsteller Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren fest, «es übersteigt allen Glauben, was das Kind weiss, was es fühlt, wozu es Kraft hat und was es will.» 1

In der Tat. Kaum ist das Kind geboren, beginnt die wohl grösste Abenteuerreise seines Lebens. Man muss sich das einmal vorstellen: Innerhalb eines klitzekleinen Augenblicks wird das Kind in eine Welt geworfen, die ihm noch viel fremder und unbegreiflicher erscheinen muss, als wenn wir Erwachsene über Nacht auf einem fremden Planeten landen würden, auf dem alles ganz anders ist als auf der Erde. Jeder noch so kleinen Einzelheit seiner Umgebung muss das Kind nach und nach erst einen Sinn abgewinnen und all die in seinem Körper und seinem Geist schlummernden Kräfte kennenlernen, dank denen es mit dieser vorerst so unbegreiflichen Welt schrittweise in Berührung treten kann. Allein die Sprache: Es ist etwa so, wie wenn wir als Erwachsene einen Wald betreten und rundherum von Vogelgezwitscher umgeben sind. So wenig, wie wir verstehen, was die Vögel sagen wollen, so wenig versteht das Kind die unerklärlichen Laute, die an sein Ohr dringen. Und dennoch wird es ihm gelingen, all diesem Wirrwarr nach und nach einen Sinn abzugewinnen und ihn mit Handlungen, Menschen und Gegenständen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, bis zu dem Tag, an dem es sein erstes «richtiges» Wort sagen wird.

Und das ist bloss ein kleiner Teil all dessen, was das Kind in seinem ersten Lebensjahr erlernen wird. Das Greifen nach Dingen in seiner Umgebung, Finger und Hände als Werkzeuge, um mit der Welt nach und nach in Beziehung zu gelangen, dreidimensionales Sehen und die Wahrnehmung von Farben, Gerüchen und dem Unterschied zwischen Hell und Dunkel, Gefühle von Zuneigung, Wärme und Geborgenheit – all dies ist alles andere als selbstverständlich und muss in winzig kleinen Schritten durch grösste Anstrengung angeeignet werden. Liegt das Kind vorerst hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken, wird es irgendwann herausfinden, wie es sich auf die Seite drehen kann, seine Muskeln, seine Beweglichkeit, die Koordination zwischen seinen Willenskräften und seinem Körper nach und nach entwickelnd. Eines Tages wird es zu krabbeln beginnen, unter Aufbietung aller Kräfte, ohne je aufzugeben, auch wenn die Widerstände und die Hindernisse noch so gross sein mögen. Und später wird es sich, wieder unter Aufbietung aller seiner Kräfte, an einem Stuhl- oder Tischbein hochzuziehen versuchen, um dann, in einer späteren Phase, sein Gleichgewicht zu finden und, ohne sich noch irgendwo festzuhalten, frei stehen zu können und früher oder später seinen allerersten Schritt zu wagen wie ein Akrobat, der zum allerersten Mal das Seil betritt, auf dem er in schwindelerregender Höhe seine Kunst zum Besten geben wird. Als gäbe es so etwas wie einen «Plan», eine «Gebrauchsanleitung», die das Kind schon bei seiner Geburt mitbekommen hat und wo jeder einzelne Schritt zur Vervollkommnung seiner selbst in aller Ausführlichkeit beschrieben ist. «Je mehr ich der Spur der Kinder zu folgen versuchte», schreibt Pestalozzi, «umso mehr erkannte ich, dass ich nicht zu führen brauchte, sondern nur aufzuladen auf einen Wagen, der von selbst geht.» 2

Lernen, das sind die Fäden, die zwischen einem Kind und seiner neuen Welt wachsen, fast unsichtbar fein, einer um den andern, in unendlicher Anstrengung, in unendlichem Wissen um die letzten Geheimnisse, bis zuletzt alle diese Fäden miteinander ein genug starkes Netz bilden, in welchem sich das Kind, geborgen in seiner neuen Welt, zum ersten Mal wieder zur Ruhe legen kann. Bald schon wird es durch den Garten springen, aus Legosteinen einen Turm bauen, der Mama und dem Papa beim Kochen helfen und schon im Alter von fünf Jahren Abertausende von Wörtern kennen, jedes von ihnen in jeder beliebigen Situation sinngemäss verwenden und alle möglichen Endungen, Mehrzahlformen, Zeitformen, Frageformen, Möglichkeitsformen und Nebensätze mit der richtigen Wortstellung fehlerfrei beherrschen. Und so hat das Kind aus eigener Kraft, ohne je zur Schule gegangen zu sein, in seinen ersten wenigen Lebensjahren die grösste Lernleistung seines Lebens vollbracht, hinter der alle weiteren Lernleistungen der späteren Lebensjahre ganz und gar verblassen werden ...

WERKZEUGE DES LERNENS

So also kommt das Kind sozusagen mit einem reichlich ausgestatteten Werkzeugkasten zur Welt, in dem bereits alle Instrumente vorhanden sind, welche es dem Kind möglich machen werden, sich die Welt und all ihre Geheimnisse nach und nach zu erschliessen.

Eines der wichtigsten Werkzeuge ist die Beobachtungsgabe. Als ich mit meiner Enkelin Leonie, sie war gerade zwei Jahre alt, spazieren ging, blieb sie immer wieder stehen und blickte wie gebannt auf den Boden. Ich konnte mir das zunächst nicht erklären. Was erregte ihre Aufmerksamkeit so sehr, dass sie immer wieder wie angewurzelt stehen blieb? Da war doch nichts als ein grauer Teerbelag, öde und langweilig wie nur irgendetwas. Bis ich herausfand, was es war: Winzige weisse Punkte auf der grauen Fläche, vielleicht Rückstände von Kaugummis oder etwas Ähnliches. Bis heute weiss ich nicht, was Leonie an diesen weissen Punkten dermassen fasziniert hat. Auch mein Enkel Nic, er war noch nicht ein Jahr alt, reagierte ganz aufgeregt, wenn er beim Blick durchs Wohnzimmerfenster draussen irgendetwas erblickte, was sich bewegte, feiner Rauch aus einem Schornstein, ein Vogel, der von einem Dach abhob, ein Blatt im Wind. Kinder nehmen Dinge wahr, die wir Erwachsene schon längst nicht mehr wahrnehmen, wandern wie kleine Seismographen durch die Welt, saugen kleinste Kleinigkeiten in sich auf wie Schwämme jeden Tropfen Wasser.

Ein weiteres wichtiges Werkzeug besteht darin, dass das Kind alles, was es selber bewältigen kann, tatsächlich auch ohne fremde Hilfe leisten will. Jede unnötige Einmischung seitens der Erwachsenen wäre dabei nur hinderlich. Den Teller, das Besteck und die Gläser auftischen. Den Geschirrspüler ausräumen. Die Treppe hoch- und niedersteigen. Sich anziehen. Den Reissverschluss schliessen: Alles, was meine Enkelin Mila – sie war bald zwei Jahre alt – selber tun konnte, tat sie selber. Auch das, was sie eigentlich noch nicht konnte: sich die Schuhe zubinden, sich den Po putzen. Und wollten ihr die Eltern mit einer Handreichung behilflich sein, so wehrte sie das energisch ab. «Iiiii!», schrie sie dann immer, was so viel heissen sollte wie «Ich will es selber machen!». Auch meine Tochter hatte diese Phase etwa im gleichen Alter, ich erinnere mich gut. Sie wurde sogar richtig wütend, wenn man ihr helfen wollte, und rief dann immer «Sel!», ihr eigentliches Lieblingswort zu jener Zeit, was ebenfalls so viel bedeutete wie «Ich will es selber machen!».

Ein anderes unentbehrliches Werkzeug ist die Imitation. Deshalb lernen Kinder so viel von anderen Kindern. Als Leonie sechs Jahre alt war und ihre jüngere Schwester Mila zweieinhalb, gab es eine Zeit, in der Mila regelmässig das letzte Wort jedes Satzes wiederholte, den Leonie soeben gesagt hatte, meist ohne zu wissen, was dieses Wort bedeutete. So lernen Kinder eigentlich alles: Indem sie schauen, was die älteren Menschen alles können und machen, und es ihnen dann nachzumachen versuchen, vom ersten Wort über das aufrechte Gehen bis zur Art und Weise, wie man mit Löffel und Gabel hantiert.

Ist die Sprachentwicklung weiter vorangeschritten, nimmt das Kind weitere Werkzeuge aus seinem Kasten. Eines der wichtigsten ist das Fragen. Warum läuten die Kirchenglocken? Entstehen aus weissen Samen weisse Menschen und aus schwarzen schwarze? Hat mich meine Schwester wohl lieb? Haben Schafe auch ein Herz? Und die Bäume? Fliegen unsere Seifenblasen bis Amerika? Kann sich der Doktor auch ein Bein brechen? Und kann der Pfarrer auch sterben? Papa, gab es noch Ritter, als du klein warst? Mama, wie hast du gemerkt, dass du Papa liebhast? Wachsen die Pantoffeln auch? Wenn die Käferlein fliegen, sind sie dann Vögel? Warum gibt es eigentlich Menschen? Ist es schön, erwachsen zu sein? Ist das Nilpferd der Gott der Fische? Ist die Welt überall? Dies einige wenige der abertausenden Fragen, mit denen unsere Kinder im Alter zwischen zwei und zehn Jahren uns Eltern Tag um Tag Löcher in den Bauch gebohrt haben. Ganz in der Art und Weise, wie ein Baugerüst errichtet wird: Hält eine Plattform mein Gewicht, hole ich mir die nächste Stange, setze sie oben auf, errichte eine neue Plattform, steige höher hinauf, und so immer weiter. Jedes schon vorhandene Wissen ist Ausgangspunkt für neues Wissen, die Welt wird grösser und grösser.

Und spätestens an dieser Stelle, doch freilich schon viel früher, kommen auch die Eltern ins Spiel. Je nachdem, wie aufmerksam sie ihren Kindern zuhören und wie ernsthaft sie sich bemühen, auch die schwierigsten Fragen kindgerecht zu beantworten, oder ob sie das Kind damit abfertigen, nicht so «dummes Zeug» zu fragen, üben sie einen riesigen Einfluss auf das Lernen ihrer Kinder aus, aber nicht in der Weise, dass sie die Kinder zu etwas drängen oder zwingen müssten, sondern nur in der Weise, dass sie den «Wagen, der von selbst geht», mit aller Liebe und Aufmerksamkeit begleiten und unterstützen.

«LERNEN OHNE FREUDE IST KEINEN HELLER WERT»

Oft wird behauptet, «richtiges» Lernen müsste etwas besonders Mühsames sein, etwas, was Menschen nur tun, wenn man sie auf die eine oder andere Weise dazu zwingt. Die Kinder beweisen in ihren ersten Lebensjahren Tag für Tag genau das Gegenteil: Sie lernen ohne jeglichen äusseren Zwang, allein aus eigenem Feuer, eigener Leidenschaft, ganz «freiwillig» die allerschwierigsten Dinge und erst noch so gründlich und nachhaltig, dass sie nichts von dem, was sie auf diese Weise lernen, jemals wieder vergessen werden.

Der Grund ist einfach: Richtiges Lernen macht einfach Spass, ist etwas vom Lustvollsten, was man sich nur vorstellen kann. Gerade deshalb tun es die Kinder ja auch so gern. Wäre das nicht der Fall, würde nichts funktionieren. Niemals könnten wir das Kind auffordern oder es gar dazu drängen, frei auf seinen beiden Beinen zu stehen, ein erstes Wort zu sagen oder sich seine Schuhe selber anzuziehen – es tut dies alles ganz von selber, sobald es Lust darauf hat und die Zeit dafür reif ist. Und wenn dann der richtige Augenblick gekommen ist, wird sich das Kind dermassen tief in sein Lernen versenken, dass die ganze Welt rundherum still zu stehen scheint. Auch die Konzentration, eine der wichtigsten Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen, muss dem Kind nicht aufgezwungen werden, sondern stellt sich immer dann ganz von selber ein, wenn sich die Lernbedürfnisse des Kindes und die äusseren Umstände seines Lernens miteinander in Einklang befinden.

Lernen ist nicht zuletzt deshalb so lustvoll und macht so viel Spass, weil das Kind dabei immer wieder erlebt, wie es dazu führt, etwas zu können oder zu wissen, was es soeben noch nicht konnte oder wusste. Gutes Lernen ist Lernen von Erfolg zu Erfolg. Seine Kräfte wachsen zu spüren, Hindernisse überwinden zu können, erfolgreich zu lernen, all das gibt Kraft und Energie, auf dem eingeschlagenen Weg unbeirrt weiterzugehen, um stets wieder neue, zusätzliche Kraft und Energie zu schöpfen für neues Lernen. Ich erinnere mich noch gut, als mein älterer Sohn seine allerersten Schritte machte. Es war ein so unglaubliches Gefühl von Triumph, der Abschluss und zugleich der Höhepunkt eines Prozesses, für den er ein ganzes Jahr lang geübt und gearbeitet hatte, mit allen damit verbundenen Rückschlägen. Beim natürlichen, kindgemässen Lernen geht es stets aufwärts, sämtliche vorübergehende «Unzulänglichkeiten», «Schwächen», «Defizite» und «Fehler» verwandeln sich früher oder später in Fähigkeiten und Stärken. Ohne Fehler gibt es kein Lernen. Lernen ist stets ein Weg von Versuch und Irrtum, nur so kann das Kind lernen: Um ein Wort richtig zu sagen, muss es dieses Wort zuvor ein paar hundert Male falsch gesagt haben. Ein halbes Jahr lang gibt das Neugeborene Laute und Wörter von sich, die kein Mensch versteht und die doch Voraussetzung dafür sind, dass sich das Richtige nach und nach herauszubilden vermag. So gibt es nicht wenige Kinder, welche noch über längere Zeit, wenn sie alle anderen Laute schon beherrschen, immer noch anstelle eines «r» ein «l» bilden, also «Lad» statt «Rad» sagen. Doch wie durch ein Wunder kommt bei allen von ihnen früher oder später der Tag, an dem die korrekte Lautbildung gelingt – ohne dass hierfür so etwas nötig wäre wie eine gezielte Therapie oder Sprachschulung.

Wie Erfolgsgefühle Menschen zu verwandeln vermögen, erleben wir auch immer wieder als Zuschauerinnen oder Zuschauer sportlicher Wettkämpfe. Eben noch hat die Fussballmannschaft A unglaublich träge, langsam, umständlich und fehlerhaft gespielt. Doch plötzlich, ein Zufallstreffer, 1:0, Riesenjubel, alle fallen dem glücklichen Torschützen um den Hals. Und schon beginnt sein Team in einer Leichtigkeit über den Platz zu fliegen und sich die Bälle so schnell und geschickt zuzuspielen, als wären alle Spieler ausgewechselt und sähen wir eine komplett andere Mannschaft als die, welche uns eben noch so enttäuscht hatte.

Immer wieder erleben wir diese Verwandlung durch Erfolg, Anerkennung und Wertschätzung auch im ganz gewöhnlichen Alltag. Um wie viel besser fühlen wir uns, wenn das mit viel Aufwand gekochte Essen bei unseren Gästen gut ankommt. Wie grossen Spass macht es, einen Text, an dem man tagelang herumgebastelt hat, endlich in eine gute Form und zum Abschluss gebracht zu haben. Und wie gut tut es, wenn dir jemand sagt, wie sehr er deine ruhige, liebenswerte Art, deine Hilfsbereitschaft oder deinen Humor schätze.

Wie viel Erfolgserlebnisse zu bewirken vermögen, konnte ich auch als Lehrer auf der Oberstufe immer wieder feststellen. Den Schülerinnen und Schülern einfach am Ende des Semesters ein Zeugnis mit ein paar nackten Zahlen in die Hand zu drücken und dann «Tschüss!» zu sagen, das fiel mir je länger je schwerer. Und so begann ich eines Tages, jedem Zeugnis einen individuell verfassten Brief beizulegen, in dem ich all jene Stärken zu beschreiben versuchte, die im Zeugnis nicht zum Ausdruck kamen. Mit der Zeit perfektionierte ich das, indem ich mir im Verlaufe des Schuljahrs immer wieder etwas besonders Positives, das mir bei der betreffenden Schülerin oder dem betreffenden Schüler aufgefallen war, notierte. Und siehe da: Je aufmerksamer ich hinschaute, umso mehr fiel mir auf. Oft waren es nur kleine Begebenheiten, über die man auch achtlos hätte hinwegsehen können, die besonders originelle Einleitung eines Vortrags, ein Wort der Anteilnahme gegenüber einer Mitschülerin, die gerade eine schlechte Note bekommen hatte, eine total unkonventionelle Frage zu einem geschichtlichen Ereignis, ein wunderschön verziertes Blatt Papier, die Empörung oder gar Wut darüber, wenn einem Mitschüler Unrecht widerfahren war. Meistens lasen die Jugendlichen zuerst den Brief, dann erst das Zeugnis. Zahlreich waren auch die Rückmeldungen von Eltern, welche nun endlich auf ihren Sohn oder ihre Tochter so richtig stolz sein konnten. Und selbst zehn oder zwanzig Jahre später erzählten mir ehemalige Schülerinnen und Schüler immer wieder, sie hätten diese Briefe bis heute aufbehalten und würden sie sogar gelegentlich immer wieder mal lesen, während die Zeugnisse schon längst im Abfall oder in einer verstaubten Schachtel auf dem Dachboden verschwunden sind.

So wie Erfolg Freude schafft, so beflügelt Freude wiederum zu weiterem erfolgreichem Lernen – tatsächlich so etwas wie ein «Engelskreis», der in totalem Gegensatz steht zu jenem vielbeschworenen «Teufelskreis», der einen immer weiter in die Tiefe zieht. Und deshalb wissen die Kinder auch ganz genau, weshalb sie den Erwachsenen nicht glauben, wenn diese stets postulieren, zuerst müsse jeweils die Arbeit erledigt sein, erst dann komme das Vergnügen. Die Kinder wissen nämlich ganz genau, weshalb sie viel lieber zuerst all das tun, was sie am liebsten tun, denn genau das gibt die nötige Kraft und das nötige Selbstwertgefühl, mit dem dann auch schwierigere oder mühsamere Schritte besser bewältigt werden können.

ZWISCHEN ANPASSUNG UND WIDER− STAND

Doch wie alles, haben auch die Imitation und die Anpassung ihre Kehrseite. Kinder wollen nicht nur möglichst gleich sein wie die Welt, in die sie hineinwachsen. Gleichzeitig möchten sie auch möglichst anders sein.

Es beginnt schon mitten in der Nacht, wenn Fatima, meine dreidreiviertel Jahre alte Enkelin, ihren Teddybären aus dem Bett wirft und nach einem anderen Stofftier verlangt. Am Morgen weigert sie sich, die Kleider anzuziehen, die Mama am Vorabend für sie ausgesucht hat, und holt sich andere, die ihr besser gefallen. Wenn sie mit Papa durch die Stadt zieht, kommt es an jeder Strassenecke zu einem kleinen Machtkampf. Will Papa in diese Richtung, dann will Fatima ganz bestimmt genau in die entgegengesetzte Richtung. Die quadratische Einbuchtung einer Drahtumzäunung ist für Fatima eine «Dusche», in der sie sich abwechslungsweise mit kaltem und heissem Wasser besprühen lässt und sich genauso lange dort aufhält, wie sie es für richtig hält, da kann ihr Papa sie noch so lange auffordern, weiterzugehen. Im Supermarkt entdeckt Fatima Dinge, die sie unbedingt kaufen möchte, obwohl sie nicht auf der Einkaufsliste stehen, Papa braucht eine Engelsgeduld, um sie davon abzubringen. Wieder zuhause angekommen, beim Brettspiel mit Opa, stellt Fatima alle Regeln auf den Kopf und erfindet laufend neue Variationen, was man mit den Spielfiguren, den Würfeln und den Bilderkarten alles noch anfangen könnte. Beim Abendessen ist sie ganz und gar nicht einverstanden mit dem Teller, aus dem sie essen soll, der andere mit dem aufgemalten Elefanten ist doch so viel schöner. Den Brotaufstrich schmiert sie auf die Karotte. Und auch das Buch mit der Seejungfrau, aus dem Opa ihr vorlesen möchte, ist das falsche, viel lieber möchte sie wieder einmal eine so richtig grausliche Räubergeschichte hören.

Mit jedem Kind, das geboren wird, wird die Welt ein klein wenig anders, als sie zuvor gewesen war. Die Werkzeuge des Lernens dienen nicht nur dazu, sich möglichst viele Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, sondern auch dazu, eine eigene, selbstbestimmte Persönlichkeit heranzubilden, die in ihrer Einzigartigkeit noch nie auf dieser Erde gewesen ist und auch unwiederbringlich nie mehr zurückkehren wird. Lange bevor das Kind «Ja» sagt, sagt es «Nein». Das hat nicht das Geringste mit Lebensverweigerung zu tun, sondern einzig und allein damit, dass das Kind gar keine andere Wahl hat, als seine eigenen Wege zu suchen, wenn es zu einer eigenständigen, selbstbestimmten Persönlichkeit heranwachsen will.

Menschen zeichnen sich nicht vor allem durch das aus, worin sie sich gleichen – sie wären dann ja, in letzter Konsequenz, bloss nur noch so etwas wie ferngesteuerte Roboter, die alle nach den genau gleichen Regeln funktionieren. Nein, Menschen zeichnen sich vor allem durch das aus, was sie voneinander unterscheidet und jedes Kind unvergleichlich und unersetzlich macht. Die oft gehörte, an Kinder gerichtete Erwartung seitens Erwachsener, sie sollten sich nun doch endlich mal so «anständig» benehmen wie alle anderen Kinder in ihrem Alter, verkennt die innerste Bestimmung eines jeden einzelnen Kindes, eben gerade nicht so zu sein wie alle anderen, sondern seinen ureigenen Weg zu gehen, auch wenn die Widerstände noch so gross sein mögen. Nicht der direkte, in der Regel von Erwachsenen vorgegebene Weg von A nach B ist zumeist der beste, sondern möglichst weite Umwege, auf denen das Kind in Gebiete einzudringen vermag und Erfahrungen sammeln kann, die noch nie zuvor ein anderes Kind sammeln konnte. Nur wenn man die Kinder ihre eigenen Wege gehen lässt, wird dies alles möglich.

Von Fatima können wir aber nicht nur lernen, dass Kinder einen untrüglichen Instinkt in sich tragen, ihre eigenen Wege zu gehen und nicht jene, die ihnen von aussen aufgezwungen werden. Von ihr können wir auch lernen, dass das Tempo, mit dem sich Kinder durch die Welt bewegen, und das Tempo, mit dem sich Erwachsene durch die Welt bewegen, meilenweit voneinander verschieden sind. Seit ihr Papa herausgefunden hat, wie schön es ist und wie viel Neues er dabei jedes Mal entdecken kann, wenn er seine eigenen Schritte denen von Fatima anpasst, ist alles viel langsamer und zugleich viel reicher geworden. Es ist ihm bewusst geworden, an wie vielen Dingen des Alltags er in seiner Hast, stets pünktlich zu sein und nie auch nur eine Sekunde Zeit zu «verlieren», bisher achtlos vorbeigegangen war. Fatima hat ihm in ihrer manchmal fast nicht aushaltbaren Langsamkeit die Augen dafür geöffnet, dass man Zeit nicht wirklich «verlieren», sondern eigentlich nur gewinnen kann. Und seither wundert sich auch ihr Papa jedes Mal, wenn in den Verkehrsmeldungen am Radio gesagt wird, in diesem oder jenem Stau würden die Autofahrerinnen oder Autofahrer 40 Minuten oder zwei Stunden Zeit «verlieren». Er stellt sich dann Fatima vor, wie sie in einem dieser Autos sitzt und jetzt, wenn das Auto endlich zum Stillstand gekommen ist, eine ihrer wunderbaren Phantasiegeschichten zu erzählen oder ihre Eltern mit einigen ihrer typischen «Warum»-Fragen zu löchern beginnt – augenblicklich würde sich der «Zeitverlust» in einen Zeitgewinn verwandeln ...

JEDES KIND IST EIN KLEINER KOLUMBUS

Für gewöhnlich, wenn man mit Kindern spazieren geht, nimmt man sie bei der Hand und sagt, wir gehen nun hierhin oder dorthin. Als ich unlängst bei den dreieinhalbjährigen Zwillingen Star und Bosni zu Besuch war, wollte ich einmal als kleines Experiment das Umgekehrte ausprobieren: Ihnen alle diese Entscheide zu überlassen, sie nicht führen zu wollen, sondern einfach ihnen zu folgen ...

Nach einer kurzen Spielzeit im Garten geht Bosni auf einmal ganz von sich aus zum Gartentörchen und öffnet es. Selbstbewusst betritt er das Strässchen, welches dem Grundstück entlang läuft, sein Schwesterchen folgt ihm. Und ich folge wiederum den beiden Kindern und bin höchst gespannt, wohin die Reise gehen wird. Das Strässchen entlang, wo Bosni mir zeigt, wo die Kübel stehen, in die Papa jeweils die Grünabfälle hineinwirft, dann weiter, die beiden Zwillinge nebeneinander tippelnd, quer hinüber zum Schulhaus, wo Bosni einen Wasserschlauch entdeckt, der sich quer durch die Wiese schlängelt. Er möchte unbedingt wissen, wohin das Wasser fliesst. Immer schön dem Schlauch entlang, eine Treppe zu einer höher gelegenen Wiese, vorne Bosni, dann Star, am Schluss ich. Oben lüftet sich das Geheimnis: Das Wasser aus dem Schlauch wird über ein kleines Fussballfeld gesprüht. Weiter am Wegrand hat ein stachliges Gewächs Bosnis Aufmerksamkeit erregt und er sagt, dass er diese Pflanze ganz und gar nicht schön fände. Star fragt mich, ob dies eine Brennnessel sei, was ich verneine. Einen kleinen Hügel hüpfen die beiden ein paarmal hoch und nieder, dann geht die Reise weiter, an einem kleinen, verschlossenen Holzschopf vorbei. Bosni rüttelt an der Tür, möchte wissen, was in dem Schopf verborgen ist und hätte noch so gerne einen Schlüssel, um die Tür zu öffnen. Auf einer nahegelegenen Wiese pflücken Bosni und Star ein paar Blumen, «für Mama», wie Star mir erklärt. Kurz darauf, auf einem Teersträsschen, fallen Bosni kleine Risse im Boden auf und er möchte wissen, wie diese entstanden sind. Ihn fasziniert, dass manche dieser Risse mit schlangenförmigen Teerstreifen geflickt wurden, andere nicht, und er möchte wissen, weshalb. An jeder Weggabelung bin ich gespannt, für welche Seite sich die Kinder entscheiden. Es kann auch vorkommen, dass sie sich nicht einig sind, dann wird geschwisterlich debattiert, welcher Weg der bessere sein könnte, kein einziges Mal zerstreiten sich die beiden, stets gibt es eine Lösung. Nie fragt mich eines der Kinder, welchen Weg wir gehen sollen, sie wissen es immer selber. Ich brauche ihnen nur zu folgen. Bosni fällt auf, dass in einer Reihe von Randsteinen in der Nähe einer Baustelle ein einzelner Stein fehlt und ein anderer verschoben wurde, und er möchte wissen, ob die Baumaschine, die danebensteht, diesen Schaden angerichtet haben könnte. Erst als es gegen Mittag geht, sage ich, dass es Zeit ist um nach Hause zu gehen. Und sogleich suchen sich die beiden Kinder unseren Heimweg.

Am nächsten Tag wiederhole ich das Experiment. Nun verlassen die beiden den Garten auf der anderen Seite des Hauses und begeben sich auf einen ganz anderen Weg als am Vortag. Wiederum haben wir alle Zeit der Welt. Da es über Nacht geregnet hat, sind überall Schnecken zu sehen. Bosni erklärt mir, dass ihm die kleinen Schnecken besser gefallen als die grossen und dass es bei den Hunden genau gleich sei. Als ein kleiner Quartierweg schliesslich in die Hauptstrasse mündet, wo reger Verkehr herrscht, meint Bosni, das sei kein guter Weg, hier sei es viel zu laut und wir könnten da ja gar nicht mehr miteinander reden. Also zurück auf einen anderen Weg. Eine gefühlte Ewigkeit geht es, bis wir auf der anderen Seite der Häuserzeile angelangt sind. Als Star eine Sitzbank erblickt, meint sie, sie brauche dringend eine Pause. Wir setzen uns auf die Bank und Star zeigt mit drei Fingern, wie viele Hunde wir auf dem bisherigen Weg schon gesehen haben und wie viele Schnecken – jetzt streckt sie alle zehn Finger in die Höhe. In einen Zeichenblock, den sie auf die heutige Entdeckungsreise mitgenommen hat, zeichnet sie verschiedene Figuren und ich soll erraten, was sie darstellen. Auf dem weiteren Weg erregt ein Elektrokasten die volle Aufmerksamkeit der beiden. Unermüdlich klettern sie den danebenstehenden Zaun hoch, stemmen sich auf das Dach des Kastens und springen von dort mit meiner Hilfe unzählige Male auf den darunterliegenden Gehsteig. Plötzlich erweckt ein danebenstehendes Buswartehäuschen Bosnis Interesse. Es scheint ihn zu stören, dass das Dach des Häuschens nur den Wartebereich überdeckt, nicht aber den angrenzenden Gehsteig. Er findet, man müsste das Dach «strecken», damit es auch den Gehsteig überdecken würde. Und ich frage mich, wie um Himmels Willen er auf solche Ideen kommt, woher er nun wohl wieder dieses Wort herhat und weshalb er es erst noch in dieser Situation so treffend anwendet. Dann geht die Reise weiter, Blumen pflückend, auf Gartenmäuerchen balancierend, auf jedem Bänklein eine kleine Pause machend. Beim grossen Parkplatz vor dem Spital fragt Bosni nach den Namen der Automarken – «Mitsubishi» findet er so lustig, dass er laut lachen muss. Und schon ist es wieder Mittagszeit – auch heute genügt mein Hinweis auf das baldige Mittagessen, worauf die beiden wieder ohne Schwierigkeit den Heimweg finden, und ich stets einen Schritt hintennach.

Am dritten Tag wollen die beiden nicht zu Fuss losziehen, sondern mit ihren Rollern, denn so, meinen sie, kämen wir noch viel weiter als an den vorangegangen Tagen. Und wieder beginnt eine neue, spannende Entdeckungsreise ...

Steckt nicht in jedem Kind ein kleiner Kolumbus, der die ganze Welt entdecken möchte? Je mehr die Kräfte wachsen, umso weiter die Kreise, in denen es seine Umgebung erkundet. Liegt es noch in seinem Bettchen, so erkundet es das Kopfkissen und die kleine Spielrassel. Kann es krabbeln, so weitet sich das Gebiet seiner Entdeckungen schon auf einen oder zwei Quadratmeter aus. Kann es erst einmal gehen, durchforscht es schon die ganze Wohnung und bald auch das ganze Haus. Und so immer weiter und weiter, in Kreisen, die immer grösser und grösser werden.

Eigentlich ist es einfach. Für erfolgreiches Lernen sind nur drei Grundvoraussetzungen unabdingbar. Erstens braucht es reichlich immer wieder neue, aufregende Nahrung auf den Entdeckungsreisen in immer grösseren Kreisen. Zweitens buchstäblich grenzenlose Freiheit. Und drittens eine liebevolle Unterstützung durch erwachsene Bezugspersonen. Alles andere ergibt sich daraus, wie mir Star und Bosni an diesen drei Tagen so eindrücklich gezeigt haben, ganz von selber ...

NEUE UMGEBUNGEN WECKEN NEUES LERNEN

Die gleiche Erfahrung, die ich mit Star und Bosni anlässlich unserer Quartiererkundungen gemacht hatte, machte ich ein halbes Jahr später noch einmal in einer etwas anderen Form.

Es war im Dezember 2023, ich lag nach einer Hüftoperation für ein paar Tage im Spital und erhielt Besuch von meinen Enkelkindern. Schon beim Eintreten ins Spitalzimmer schweiften ihre Blicke hellwach und voller Neugierde durch den Raum, als wären sie auf geheimnisvolle Weise elektrisiert. Alles wollten sie wissen, nicht das kleinste Detail in der Ausstattung des Zimmers entging ihren Blicken. Warum auf dem Klingelknopf, mit dem das Pflegepersonal gerufen werden kann, ein rotes Kreuz abgebildet sei, wollte Star wissen. Wozu die Urinflasche oben auf dem Nachttisch gebraucht werde, fragte Mila. Bosni interessierte sich vor allem für den über dem Bett schwebenden Bildschirm mit seinen zahlreichen Funktionen, mit denen die Patientinnen und Patienten zwischen Fernsehen, Radio, Telefon, Fragen an das Pflegepersonal und sogar Gesellschaftsspielen wählen können. Blitzschnell hatte er einen kleinen metallenen Ring an der Griffleiste des Bildschirms entdeckt, mit dem durch entsprechende Drehungen der Winkel des Bildschirms verstellt werden kann, was er natürlich sogleich ausgiebig auszuprobieren begann – während ich mir gleichzeitig eingestehen musste, dass mir diese Funktion, obwohl ich nun schon seit drei Tagen mit diesem Gerät herumhantiert hatte, voll und ganz entgangen war. Weitere Fragen waren, weshalb sich unter dem Bett zwei verschiedene Paar Hausschuhe befänden und nicht nur eines, wozu der grüne und der rote Knopf unterhalb des Bettgestells gut sei, ob ich jeweils im Bett oder am Tisch essen würde, ob man bei den Krücken mit den Händen oder mit den Füssen in die blaue Kunststoffhalterung einfahren müsse, wo meine Utensilien versorgt seien, weshalb über dem Bett dieser komische Greifbügel hänge und wozu der aus der Wand ragende Stutzen – vermutlich die Zuleitung für Sauerstoff – nützlich sei. Selbst die zehnjährige Leonie war voller Fragen und wollte unbedingt wissen, wie weit nach oben sich das Bett verstellen liesse. Ich lachte und sagte: Bis zur Decke. Was sie natürlich nicht glaubte und so probierten wir es aus. Als ich in der höchsten Position angelangt war, wollte sie nun natürlich wissen, welches die tiefste Position wäre. Also gings wieder runter, doch – oh Schreck – an der untersten Stelle ertönte plötzlich ein heftiges Knacken und das Bett war plötzlich in der Mitte tief eingeknickt – selten hatte Leonie sich so sehr den Buckel vollgelacht wie in diesem Augenblick. Es blieb uns nichts anderes übrig, als den Pfleger zu rufen, der die Sache dann wieder in Ordnung brachte.

In diesem Moment erinnerte ich mich an eine Erfahrung, die ich während meiner Zeit als Lehrer oft gemacht hatte: Wenn meine Schülerinnen und Schüler nach den fünfwöchigen Sommerferien wieder zur Schule kamen, fiel mir immer wieder auf, wie stark sie sich in dieser kurzen Zeit verändert hatten. Nicht nur, dass viele von ihnen braungebrannt waren oder eine neue Frisur zur Schau stellten. Es war viel mehr als das. Sie waren irgendwie viel stärker, reifer, in ihrer Entwicklung einen Riesensprung nach vorne gekommen, viele von ihnen schienen ein stärkeres Selbstbewusstsein und mehr Lebensfreude auszustrahlen als in den letzten Wochen des vergangenen Schuljahrs. Mir wurde rasch klar: Lernen tut man nicht nur in der Schule, sondern vor allem im Leben, in der Begegnung mit immer wieder neuen Eindrücken, Erlebnissen und neuen Menschen. Lernen ist wie Atmen, man tut es Tag und Nacht, ohne sich dessen bewusst zu sein und gerade dann erst recht. Es gibt kein Lernen ohne Leben, ebenso wenig, wie es Fische gäbe ohne Wasser, Menschen ohne Luft, Pflanzen ohne Erde. «Das Leben», sagte Pestalozzi so kurz und treffend, «bildet.»

Wir ahnen an dieser Stelle bereits, dass die Schule in ihrer heutigen Form, bei der die Kinder während dem grössten Teil der Zeit im Verlaufe von zwei oder drei Jahren immer im gleichen Schulzimmer mit den immergleichen Türen, Fenstern, Lampen und Lichtschaltern sitzen und fast ausschliesslich mit einer einzigen erwachsenen Bezugsperson zu tun haben, möglicherweise nicht die allerbesten Voraussetzungen für jenes Lernen bietet, das durch immer wieder neue und unbekannte Impulse aus der Lebensumgebung geweckt wird. Doch davon später ...

KEIN LERNWEG GLEICHT DEM ANDERN

Meine Enkelin Mila im Alter von einem Jahr und neun Monaten: Mit ihrem Körper, der sich in allen möglichen Lagen auf alle möglichen Arten bewegte, mit ihren Armen, die sie manchmal wie Engelsflügel, manchmal wie eine Discotänzerin bewegte, mit ihren Händen, mit denen sie fein säuberlich Rosinen aus ihrem Teller pickte oder dem Opa zum Abschied nachwinkte wie eine kleine Königin, mit ihrem Gesicht, das jeden Schabernack, den sie anstellte, mit leuchtenden Augen quittierte, und mit ihren meist unverständlichen Wörtern, mit denen sie um sich warf, erzählte Mila stundenlange Geschichten, deren Inhalt wir Erwachsene nur erahnen, aber kaum richtig verstehen konnten: Die vorsprachliche Entwicklungsphase, die, man spürte es förmlich, gleich einem Dammbruch schon bald explodieren würde, um sodann all die Wörter und Sätze, die auch wir Erwachsene verstehen können, wie einen lange verborgenen Schatz freizugeben. Alles baut auf allem auf, kein Schritt der Entwicklung kann ausgelassen werden, das Leuchten in Milas Augen, ihre Gestik und Mimik, ihre tausendfachen Verrenkungen am Boden und auf dem Sofa – all das sind notwendige Entwicklungsstufen, auf denen alles Geistig-Rational-Intellektuelle erst nach und nach aufzubauen vermag.