Die Schwester des Ketzers: Propheten der Apokalypse - Uschi Pfaffeneder - E-Book

Die Schwester des Ketzers: Propheten der Apokalypse E-Book

Uschi Pfaffeneder

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Beschreibung

Im Jahr 1527 hallen Luthers Thesen immer noch wie Donnergrollen durchs Land, und der Bauernkrieg hat weite Teile Süddeutschlands verwüstet. Inmitten dieses Chaos’ kämpfen Anna Schuster und Lenz Kirchperger ums Überleben, gejagt von den Häschern des bairischen Herzogs und als Ketzer gebrandmarkt. Ihre Flucht führt sie in die Reichsstadt Memmingen, wo sie auf ein neues Leben hoffen. Doch die dunklen Schatten ihrer Vergangenheit holen sie ein und zwingen Anna, nach Augsburg zurückzukehren, wo sie erneut in den Bann der Täuferbewegung gerät. Da die Stadt einem Pulverfass gleicht, ist der Stadtrat fest entschlossen, die Täufer ein für alle Mal zu vernichten. Anna schwebt in höchster Gefahr, und Lenz sieht nur einen Ausweg: Er muss alles aufs Spiel setzen, um die Frau zu retten, die er liebt. „Die Schwester des Ketzers“ entführt Sie in eine Welt voller Intrigen, Liebe und verhängnisvoller Geheimnisse. Finden Anna und Lenz ihre Freiheit oder verlieren sie sich in den Wirren der Geschichte? Eine packende Reise in eine Zeit des fundamentalen Umbruchs erwartet Sie!

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Das Buch

 

Im Jahr 1527 hallen Luthers Thesen immer noch wie Donnergrollen durchs Land, und der Bauernkrieg hat weite Teile Süddeutschlands verwüstet. Inmitten dieses Chaos’ kämpfen Anna Schuster und Lenz Kirchperger ums Überleben, gejagt von den Häschern des bairischen Herzogs und als Ketzer gebrandmarkt.

Ihre Flucht führt sie in die Reichsstadt Memmingen, wo sie auf ein neues Leben hoffen. Doch die dunklen Schatten ihrer Vergangenheit holen sie ein und zwingen Anna, nach Augsburg zurückzukehren, wo sie erneut in den Bann der Täuferbewegung gerät. Da die Stadt einem Pulverfass gleicht, ist der Stadtrat fest entschlossen, die Täufer ein für alle Mal zu vernichten. Anna schwebt in höchster Gefahr, und Lenz sieht nur einen Ausweg: Er muss alles aufs Spiel setzen, um die Frau zu retten, die er liebt.

 

„Die Schwester des Ketzers“ entführt Sie in eine Welt voller Intrigen, Liebe und verhängnisvoller Geheimnisse. Finden Anna und Lenz ihre Freiheit oder verlieren sie sich in den Wirren der Geschichte? Eine packende Reise in eine Zeit des fundamentalen Umbruchs erwartet Sie!

 

Die Autoren

 

Uschi Pfaffeneder, Jahrgang 1962, arbeitete als Sozialversicherungsfachangestellte, bevor sie sich neben der Familie dem Studium der katholischen Theologie widmete. Außerdem liegt ihr das Menschenbild der Logotherapie nach Viktor Frankl sehr am Herzen. Aktuell ist sie in der Kinderbetreuung tätig, wo sie auch eine Lesewerkstatt an einer Grundschule leitet. In einer Kurzgeschichte in der Anthologie »Die Spur führt an den Lech« hat sie 2013 den Kommissar Viertaler aus der Taufe gehoben.

Klaus Pfaffeneder, Jahrgang 1962, ist Maschinenbauingenieur und arbeitet seit vielen Jahren als leitender Angestellter. Mit fünfzehn begann er, erste Sportberichte für das Landsberger Tagblatt zu schreiben. Er hat neben einigen Kurzgeschichten den historischen Roman »Der Baumeister von Landsberg« veröffentlicht.

Die beiden haben die Kriminalromane um den Kommissar Viertaler – »Entwurzelte Schatten« und »Täter-Opfer-Schuld« – sowie den ersten Band der »Schwester des Ketzers« gemeinsam geschrieben, leiten die Schreibwerkstatt der VHS Landsberg und haben drei erwachsene Söhne.

 

USCHI UND KLAUS PFAFFENEDER

 

 

 

 

 

Die Schwester des

Ketzers

 

 

 

Propheten der

Apokalypse

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Historischer Roman

 

 

 

 

 

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.liccaratur-verlag.de

 

 

 

 

Erschienen im Liccaratur-Verlag

 

Illustration und Umschlaggestaltung: Braun - Gestaltung & Produktion, Fürstenfeldbruck

Fotografie: Jakob Braun, München

Lektorat: Karin Schweiger, Prittriching, www.rossquelle.de

Copyright: © Liccaratur-Verlag

Friedensstraße 5 – 86899 Landsberg am Lech

 

 

 

Erstausgabe 2024

 

 

ISBN 978-3-944810-14-0

 

 

 

 

 

 

Wer im 1523sten Jahr nicht stirbt,

1524 nicht im Wasser verdirbt

und 1525 wird nicht erschlagen,

der mag wohl von Wundern sagen.

 

Sprichwort aus dem Jahr 1525

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen alleine der Fantasie der Autoren. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden dagegen sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze in Landsberg am Lech, Augsburg, München, Memmingen und im Landkreis Fürstenfeldbruck. Wir haben uns für die alten Schreibweisen entschieden, also für Hürben, statt Hörbach. Ebenso wie Hennaberg, statt Althegnenberg und Fürchelmoos statt Haspelmoor.

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Landkarten Memmingen, Lechrain, Augsburg und Landsberg

 

Dramatis Personae

 

Die Schwester des Ketzers, Kapitel 1

Kapitel 10

Kapitel 20

Kapitel 30

Kapitel 40

Kapitel 50

Kapitel 60

 

Nachwort

 

Glossar - historische Begriffe

 

Danksagung der Autoren

 

Literaturempfehlungen

Touren auf den Spuren der Täufer

 

Weitere Titel des Liccaratur-Verlages

 

 

Karte Memmingen

 

 

Karte unterer Lechrain

 

 

Karte Lechviertel Augsburg

 

 

Karte Landsberg

 

Dramatis Personae

Historische Persönlichkeiten sind mit (*) gekennzeichnet.

 

Die Hürbener (Hörbacher)

*Schuster, Anna Tochter eines 16tel-Bauern, Schwester von Gebhart

*Schuster, Gebhart Sohn eines 16tel-Bauern und

Schuster († 23.10.1527)

Schuster, Agnes Frau von Gebhart († 1527)

Schuster, Ignaz Sohn von Agnes und Gebhart

 

Die Augsburger

*Thoma, Josef Färbermeister, genannt der Färber-Jos, Täufer

*Kießling, Hans Maurermeister und Täufer († 1529)

Kießling, Barbara Frau von Hans

*Riexner, Ulrich Webermeister, Spitzname Utz

*Daucher, Susanna genannt Adolfin (* 1495),

Bildhauergattin und Täuferin

*Rehlinger, Ulrich Bürgermeister in Augsburg

und Großkaufmann († 1547)

*Peutinger, Konrad Stadtschreiber und Jurist

(1465-1547)

*Dachser, Jakob Theologe, Vorsteher der Augs- burger Gartenbrüder († 1567)

*Leupold, Hans Täuferprediger († 25.04.1528)

*Lang, Lukas Spitzname Laux, Müllermeister und Täufer († 15.12.1535)

*Schleifer, Barbara Frau des Claus Schleifer, Täuferin

*Schleifer, Claus Augsburger Täuferführer

Naz und Laux Fuhrleute

 

Die Günzlhofer

*Perwanger, Herr der Hofmark Günzlhofen und

Augustin Vogach, Täufer († 07.01.1528)

*Perwanger, Bruder von Augustin, Täufer

Christoph († 07.01.1528)

*Perwanger, Eustach Sohn von Augustin († 1563), später Pfleger Landgericht Mering

*Rätzl, Michael Herzoglicher Holzhey (Förster)

Josef Tagelöhner, Täufer

*Kittl, Georg Pfarrer der Hofmark Günzlhofen

 

Die Hochdorfer

*Sedlmaier, Jörg Bauer auf dem Sedlhof in

Hochdorf und Täuferprediger

Margarete genannt Gretl, seine alte Magd

 

Die Ingolstädter

*von Eck, Johannes Professor der Theologie

(1486-1543), Gegenspieler Luthers

Pfettner, Christof Magister der Theologie und

Lutherischer, Freund von Lenz

Kirchperger

Culinula, Hubertus Kiechle Hubert, Freund von

Christof, Doctor der Mathematik

*Apianus, Petrus Apian Peter (1495-1552), Professor

der Mathematik und berühmter

Kartograph

 

 

 

Die Landsberger

Kirchperger, Lenz Zimmerergeselle auf Wanderschaft

Kirchperger, Lienhart Vater von Lenz

Kirchperger, Julia Großmutter von Lenz, Tochter des

Baumeisters Veit Maurer

*von Egloffstein, Pfleger in Landsberg, Herr der

Gregor Hofmark Grunertshofen im

Lechrain

*Haidenbucher, Kastner in Landsberg und

Hanns Landrichter in Vertretung

*Vogt, Konrad Landrichter in Landsberg seit

18.11.1527

*Haldenberger, (1480-1541) Stadtpfarrer seit 1524, Magnus ehemaliger Pfarrer der Heilig-

Geist-Spitalkirche

*Moritz Stadtphysikus (Arzt)

*Schaller, Hanns Amtmann des Landrichters

Mitterhuber, Alfons Landsberger Maurermeister

Mitterhuber, Frau von Alfons, Spitzname Kreszentia Zenzi

Mitterhuber, Tochter von Alfons und Zenzi

Magdalena erste Verlobte von Lenz

Kistler, Landsberger Schreiner, zweiter

Bartholomäus Verlobter von Magdalena

Hauner, Caspar Weinhändler aus Landsberg

*Bucherle, Ulrich Spitzname Utzen,

Scherge der Hofmark Eresing

*Wagner, Johann Wagner in Oberwindach, Täufer

*Wagner, Jakob Bruder von Johann, Täufer

*Greilen, Frau Bäuerin aus Eresing, Täuferin

 

 

Bekannte Täuferführer

*Hut, Hans (1490-1527) fahrender Buch-

drucker und -händler,

charismatischer Prediger

*Denck, Hans (1500-1527) Baccalaureus der

Theologie, spiritueller Führer der

Gartenbrüder-Bewegung

*Groß, Jakob (1500-1531) Schweizer Theologe

*Spörle, Leonhard Missionar und Prediger († 1527)

aus Prittriching bei Landsberg

*Prenner, Jörg Missionar und Prediger († 1528)

aus Schmiechen bei Landsberg

*Waldhauser, Theologe aus Memmingen, der

Thomas häufig in Augsburg war,

Anhänger Hans Huts

 

Die »Offiziellen«

*Wilhelm IV Herzog von Baiern (1493-1550)

*von Ecken, Kanzler von Baiern (1480-1550)

Leonhard eigentlich von Eck

Pater Melchior Zisterzienser-Mönch des Klosters

Fürstenfeld in Jesenwang

*Pasenseer, Martin Großinquisitor in Jesenwang

ab 17.11.1527

 

 

Die Memminger

*Lodweber, Hans Zunftmeister der Zimmerleute,

Ratsherr bis 09.07.1525

Lodweber, Ursula Frau von Hans († 1527)

Genoveva Spitzname Vev, Täuferin

Leander Lehrling von Meister Lodweber

Utz ehemaliger Geselle von Meister

Lodweber

Weber Pfeifer verarmter Memminger Weber

Pfeiferin Frau des Webers, Schwester der

Mitterhuber Kreszentia

*Hewel, Georg Zunftmeister der Zimmerleute

seit Juli 1525, Ratsherr

*Keller, Hans Bürgermeister und Angehöriger

der Großzunft

*Simprecht Schenck reformatorischer Prediger,

Anhänger Zwinglis (1485-1532)

*Georg Gugy reformatorischer Prediger,

Anhänger Luthers und Zwinglis

(1490-1561)

*Lotzer, Sebastian Kürschnergeselle (* 1490), Autor

und Mit-Verfasser der Zwölf

Artikel der Bauernschaft

 

 

Kapitel 1

 

24. Oktober Anno Domini 1527,

auf dem Weg nach Mindelheim

 

Die Fingernägel gruben sich in die Handfläche. So, als könne sie durch den äußeren Schmerz die Qual übertönen, die in ihrem Inneren tobte. Anna blieb stehen und sah sich nach dem Überqueren der Lechbrücke ein letztes Mal um. Wie ein mahnend erhobener Zeigefinger ragte der Turm der Pfarrkirche gen Himmel. Dunkle Wolken kündigten die nächsten Graupelschauer an. Als der Kopf ihres Bruders Gebhart auf dem Landsberger Marktplatz zu Boden gepoltert war, hatte es auch gegraupelt.

„Anna, wir müssen weiter.“ Lenz’ eindringliche Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Wenn wir heute Mindelheim erreichen wollen, dürfen wir nicht säumen.“

Es war früh am Morgen und trotzdem waren schon Fuhrwerke unterwegs. Mit eiskalten Händen zog Anna die löchrige Decke über den Kopf ihres Neffen, der auf der Ladefläche des zweirädrigen Karrens schlief. „Der gestrige Tag war zu viel für ihn. Vergangene Nacht ist er immer wieder aufgeschreckt und hat nach seinem Vater geschrien.“ Ihre Stimme brach. Tränen schossen ihr in die Augen. „Mit seinen zwei Jahren ist er bereits Vollwaise. Er hat nur noch mich.“

„Er hat uns.“ Lenz sah sie durchdringend an. „Vergiss das nicht. Ich werde für ihn sorgen, als wäre er mein eigener Sohn.“

Anna wich seinem Blick aus. Wollte sie das wirklich? Nach allem, was in den letzten Wochen geschehen war? Aber wohin sonst sollte sie gehen? In ihrem armseligen Lechraindorf Hürben gab es niemanden, der sie und Ignaz aufnehmen würde. Dort würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als irgendeinen Kleinhäusler zu heiraten, der selbst zum Sterben zu wenig hatte. Nach Augsburg zurückzukehren war unmöglich. Dort hatte sie mit Lenz Glück gefunden, bis das Unheil über sie hereingebrochen war. Hier in Landsberg wurde Lenz als narbengesichtiger Ketzer gesucht. So sehr sie auch hin und her überlegte, es blieb ihr nur das unbekannte Memmingen, wollte sie nicht in der Gosse enden. In der freiheitlichen Reichsstadt wären sie sicher.

Erneut hob Lenz an: „Dass ich deinen Bruder und seine Freunde nicht aus dem Gefängnis befreien konnte, tut mir leid. Aber  …“

Sie winkte ab. „Das mit meinem Bruder werfe ich dir nicht vor. Auch, dass du bereits in Augsburg nicht immer ehrlich zu mir warst. Aber dass du es mit Magdalena im Holzschuppen deines Vaters getrieben hast, trotz deiner Liebesschwüre.“ Der Gedanke an die rothaarige Schönheit löste noch immer eine Welle von Zorn in ihr aus.

Lenz holte tief Luft und schien nach Worten zu suchen, zog dann aber mit gesenktem Kopf den Karren auf dem matschigen Weg weiter.

Ihr Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war, denn schließlich war sie selbst nicht unschuldig an ihrer momentanen Lage. Hätte sie auf Lenz gehört, gleich nach ihrer Flucht aus Augsburg nach Memmingen zu gehen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Versöhnlicher fuhr sie fort: „Wohin müssen wir jetzt?“

„Da vorne an der Leprosenkapelle verlassen wir die Salzstraße und biegen nach rechts ab in Richtung der Papiermühle.“

„Ist das der direkte Weg?“

„Ja. Die Salzstraße ist zwar in einem besseren Zustand, aber das wäre ein Umweg, weil sie über Unteregg im Süden verläuft. Außerdem ist sie viel stärker befahren und wir laufen Gefahr, entdeckt zu werden.“

„Wie weit ist es nach Mindelheim?“

„Es sind fünf Meilen bis Holzhausen, wo wir das Gebiet des Hochstifts Augsburg erreichen. Sechs Meilen später überschreiten wir die Wertach und betreten das Frundsberger Hoheitsgebiet.“

„Die Namen der Gebiete sagen mir nichts. Aber allein bis zur Wertach sind es bereits elf Meilen.“

„Bis zum oberen Tor in Mindelheim sind es nochmal gute acht Meilen.“

Ihre anfängliche Zuversicht, am Abend ein Dach über dem Kopf zu haben, schwand. „Ob wir das bis Sonnenuntergang schaffen?“

Lenz zuckte mit den Schultern. Schweigend gingen sie weiter. Mittlerweile waren nur noch vereinzelte Fuhrwerke zu sehen. Die meisten hatten die Salzstraße genommen. Nach einiger Zeit kam ein bewaldeter Hügel in Sicht. Kaum hatten sie die ersten Bäume erreicht, peitschte ein heftiger Graupelschauer herab und eine starke Bö zerrte an den Decken, die Ignaz einhüllten. Erschrocken fuhr er zusammen und sein Gesicht verzog sich zu einem Weinen.

Schnell nahm ihn Anna hoch. Er zitterte vor Kälte. „Lenz, warte! Ignaz ist wach!“

Als Lenz sich umdrehte, stahl sich ein Lächeln in die Augen ihres Neffen. Ein unverständliches Murmeln entwich seinen Lippen. Lenz legte die Zugstangen auf den Boden und setzte Ignaz zu sich nach vorne. Aus einem Sack holte er ein Stück Brot, das er dem Buben gab. Freudestrahlend griff dieser danach. Behutsam schlang Lenz die Decken erneut um das Kind.

Seine Fürsorge rührte Anna.

Mittlerweile stieg der Weg steil an, sodass Anna von hinten schieben musste. Immer wieder rutschte sie mit ihren dünnen Bundschuhen im angefrorenen Matsch weg und nach kurzer Zeit war sie schweißgebadet. Der Wald war ihr unheimlich. Zwischen den Bäumen sah sie verlassene Feuerstellen und zusammengeschobene Laubhaufen. Zeichen dafür, dass sich Vogelfreie hier breitgemacht hatten. Einmal meinte sie, ein schmutziges Gesicht mit zerzausten grauen Haaren zu sehen. Oder war es doch nur ein verwitterter Busch mit herunterhängenden Flechten?

Hinter ihnen erklang Hufgetrappel, das rasch näherkam. Als fünf Soldaten um die Kurve trabten, schob sich Ignaz die Decke über den Kopf. Erschrocken sah Anna Lenz an, der sofort seine Kapuze tiefer ins Gesicht zog.

„Zur Seite!“, zischte er. Doch es war zu spät.

„Aus dem Weg, Gesindel!“ Der Anführer der Bewaffneten preschte so nah an Anna vorbei, dass sie strauchelte und mit dem Knie hart auf einer Wurzel aufschlug. Ein Schmerzensschrei entfuhr ihr. Unbeirrt ritten die Soldaten weiter.

Lenz half ihr auf. Auch ihm stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. „Das war Amtmann Schaller!“

Anna sah ihn fragend an. Der Name sagte ihr nichts.

„Er hat mich und die anderen auf dem Hof deines Bruders in Hürben verhaftet. Auf dem Weg zur Fronveste in Landsberg bin ich ihm ja in Egling entkommen.“

„Und jetzt?“

Resigniert schüttelte Lenz den Kopf. „Wir können nur hoffen, dass er keinen Haftbefehl für ein Narbengesicht an die Zollstation ausgibt. Sonst bin ich verloren.“

Unter der Decke erklang ein leises Wimmern. Anna zog sie weg und strich Ignaz beruhigend über das Haar.

Fortan führte der Weg steil bergab und Annas Knie fing an zu pochen. Im Talgrund wich der Wald zurück und gab den Blick auf abgeerntete Felder frei. Hoch am Himmel zog ein Raubvogel auf der Suche nach Beute seine Bahnen. Anna hoffte, dass dies kein schlechtes Omen war.

Unerwartet begann Ignaz zu summen. Anna lauschte aufmerksam und erkannte die Melodie eines Schlafliedes, das ihm Lenz’ Großmutter beigebracht hatte.

Auch Lenz hatte es bemerkt und lächelte ihr aufmunternd zu. „Vielleicht kann er irgendwann wieder sprechen.“

Das hoffte Anna inständig. Der Tod seiner Mutter, den er mitansehen musste, hatte ihn verstummen lassen. Seitdem trug er ständig einen Rosenholzlöffel mit silbernen Einlegearbeiten mit sich herum. Ein wertvolles Stück, das Anna vorher nie gesehen hatte.

„Momentan ist es gut, wenn er nicht redet“, merkte Lenz düster an. „Dann kann er uns nicht verraten, wenn wir uns an der ersten Zollstation als reisende Familie auf dem Weg nach Mindelheim ausgeben.“

„Wie viel wird man dort von uns verlangen? Ich habe noch zwei Silberpfennige gespart, die mir der Färber-Jos als Magd bezahlt hat.“

Lenz wehrte ab. „Bewahr sie dir gut auf. Mein Vater hat mir vor unserer Abreise genügend Silber zugesteckt. Das brauchen wir auch, um anfangs in Memmingen über die Runden zu kommen. Ich hoffe, dass mir mein alter Meister wieder Arbeit gibt. Ich will ihn nicht bereits zu Beginn um Lohn anbetteln.“

„Dein Vater hat dir Geld gegeben? Nach allem, was war?“

„Ja, vermutlich hat ihm meine Großmutter den Kopf zurechtgerückt.“ Seine Miene verschloss sich und Anna drang nicht weiter in ihn.

Beim alten Kirchperger war Anna anfangs schlecht gelitten. Rückblickend konnte sie es ihm nicht verdenken. Dass Lenz heimlich im Holzlager hauste und sie unter einem Vorwand als Magd von Lenz’ Großmutter angestellt wurde, hatte er erst durch die falsche Schlange Magdalena erfahren. Gott sei Dank kannte die den wahren Grund nicht, warum sich Lenz im Schuppen versteckt hielt.

Mit jeder Meile fiel Anna das Gehen schwerer, aber sie versuchte, sich ihren Schmerz nicht anmerken zu lassen. Sie passierten verstreute Gehöfte, die sie in ihrer Armseligkeit an Hürben erinnerten. Mittlerweile waren mehrere Gespanne und zu Fuß Reisende unterwegs. Meistens Männer, die schwere Säcke trugen. Nur eine Frau war unter ihnen, die einen Säugling mit einem Tuch um sich gewickelt hatte. Anna empfand Mitleid mit der ausgemergelten Gestalt, traute sich aber nicht, sie anzusprechen. Sie wusste nicht, wer Freund oder wer Feind war.

Die Zollstation kam in Sicht. Bewaffnete Reiter waren nicht zu sehen. Anna raunte Lenz zu: „Lass mich reden.“ Sie trat vor den Zöllner und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben: „Griaß enkch.“

Der Wachmann hob eine Braue. „Aus Landsberg seid ihr nicht. Was machen zwei Lechroaner hier?“

„Wir sind auf dem Weg nach Mindelheim, Euer Gnaden. Mein Mann hat einen schlimmen Ausschlag im Gesicht und bei den frommen Jungfrauen in Mindelheim erhoffen wir uns Heilung.“

Der Wachmann wich zurück und winkte sie schnell durch. Keine hundert Schritt entfernt stand eine Wache in den Augsburger Farben. Er war nur an den zwei Silberpfennigen interessiert und ließ sie unbehelligt passieren.

Lenz war die Erleichterung anzusehen. Anerkennend sah er sie an. „Dass du so gut lügen kannst, hätte ich nicht gedacht. Vielleicht war unsere Sorge wegen Schaller unbegründet. Warum sollten sie mich ausgerechnet hier suchen? Sie kennen mich nur als Lenz von Augsburg.“ Anna hoffte, dass er recht hatte.

Kurz darauf erreichten sie die Stadt Buchloe, die zum Fürstbistum Augsburg gehörte. Entsetzt deutete Anna auf die vielen Brandruinen zwischen neuen Gebäuden. „Wer hat hier gewütet?“

„Das ist das Werk das Landsberger Pflegers Gregor von Egloffstein. Vor gut zwei Jahren hat er den Ort niederbrennen lassen als Warnung an die aufständischen Bauern.“ Seine Stimme klang rau. „Hätte Buchloe eine Mauer gehabt, stünde noch alles.“

Anna ahnte, dass die Ruinen dunkle Erinnerungen in Lenz weckten. „Lass uns schnell weitergehen. Dieser Anblick betrübt mich noch mehr.“ Der beißende Geruch der Zerstörung in der Luft beunruhigte auch Ignaz. Seine Hand stahl sich in die von Anna.

Die folgende Wegstrecke verlief größtenteils flach. Anna deutete auf den grauverhangenen Himmel, der nicht erkennen ließ, wie spät es war. „Ich weiß, dass wir uns eilen müssen. Aber wir sind jetzt schon so lange unterwegs. Ich brauche eine Pause.“ Ungeachtet der feuchten Kälte, die durch ihren dünnen Mantel kroch, ließ sie sich auf einem gefällten Baumstamm am Wegesrand nieder.

Lenz hielt an. „Ich verstehe dich, aber wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft.“ Seine Stimme klang flehend. „Wir müssen vor Sonnenuntergang das Obere Tor in Mindelheim erreichen, sonst lassen sie uns nicht mehr in die Stadt. Gerade im altgläubigen Mindelheim sollten wir kein Aufsehen erregen.“ Er holte eine Birne aus dem Sack und reichte sie ihr. „Iss, damit du bei Kräften bleibst.“

Anna verlor die Beherrschung: „Du hast immer beteuert, dass wir westlich des Lechs sicher wären. Und nun das! Wie stellst du dir dann unsere Zukunft vor? Müssen wir uns ständig verstecken? Ja, schlimmer noch: Führen wir ein Leben auf der Flucht?“

„Ich habe nie gesagt, dass wir nicht aufpassen müssen. Hier in Schwaben sind nur die Reichsstädte nicht mehr altgläubig. In den kleinen Dörfern hat sich der alte Glaube erhalten. Doch in Memmingen hat sich die Reformation nach Zwingli durchgesetzt und anders als in Baiern werden Andersgläubige nicht verfolgt.“

„Ist es dann für uns dort sicherer als in Augsburg?“

„Auch in Augsburg war es sicher, bis der lutherische Christof die Täufer verraten hat. Nachdem dein Meister Jos und mein Meister Hans Anhänger dieser Lehre waren, brachte dies auch uns in Gefahr. Außerdem hat dir Christof ständig nachgestellt.“

„Jetzt bin ich auch noch schuld?“, fauchte sie. Das wurde ja immer besser. „Gut, Christof hat mir nachgestellt. Aber dass er dabei die Flugblätter der Täufer bei mir entdeckt hat, dafür kann ich nichts.“

Lenz unterbrach sie: „Das habe ich auch nicht gesagt. Das allein hat sicher nicht ausgereicht, um Meister Kießling ins Gefängnis zu bringen. Da muss noch mehr geschehen sein.“

„Vielleicht wollte sich dein ehemaliger Jugendfreund aus Landsberg einfach nur an dir rächen?“ An seinem mahlenden Kiefer sah sie, dass ihn ihre Worte getroffen hatten.

„Lass uns ein anderes Mal darüber reden“, antwortete er gepresst. Er deutete auf den wieder steiler werdenden Weg. „Schiebst du von hinten? Alleine schaffe ich das nicht.“

Sie zog sich ihren dünnen Mantel über die von der Kälte rissigen Hände. Wenigstens hatte es zu graupeln aufgehört. Zwischen den von Windböen gepeitschten Wolkenfetzen blitzte ein blauer Himmel durch.

Kurz darauf kam die nächste Zollstation in Sicht. Der Andrang dort war größer, weshalb sie langsamer vorwärtskamen. Anna gewahrte, dass die Menschen zu einem mit einer Plane bedeckten Wagen Abstand hielten. In ihrer Ungeduld sprach sie Lenz an: „Warum schließen sie nicht auf?“

„Das Gespann transportiert ungelöschten Kalk. Deshalb auch die gewachste Plane, um ihn vor Feuchtigkeit zu schützen. Da genügt ein wenig Wasser und alles fliegt in die Luft.“

„Das wusste ich nicht.“

„Wir sollten ihm nicht nur deshalb nicht zu nah kommen. Es kann gut sein, dass der Händler von einer der Landsberger Kalkbrennereien kommt. Ich will nicht riskieren, dass er mich erkennt.“

Nach der schnellen Abfertigung des gefährlichen Gespanns kam wieder Bewegung in die Schlange. Je näher sie der Zollstation kamen, desto unruhiger wurde Lenz. Immer wieder zupfte er sich die Kapuze tief ins Gesicht. Beruhigend legte Anna ihre Hand auf seinen Arm. „Ich erzähle wieder die Geschichte mit den Laienschwestern.“

Endlich waren sie an der Reihe. Bevor sie etwas sagen konnte, war der Wachsoldat bereits zum Karren getreten und durchwühlte den Sack mit dem Essen. Anschließend zog er Ignaz die Decken weg, der daraufhin zu weinen anfing. Er herrschte Lenz an: „Ihr seid keine Händler. Was treibt euch Gesindel nach Mindelheim?“ Dabei machte er Anstalten, Lenz die Kapuze vom Kopf zu ziehen.

Anna ging dazwischen. „Bitte nicht! Mein Mann hat die Krätze.“ Sie wusste, dass das weniger gefährlich klang als Ausschlag. Am Ende wurden sie gar der Pocken verdächtigt und aus Angst vor Ansteckung nicht durchgelassen. „Wir suchen Hilfe bei den Barmherzigen Jungfrauen.“

Der Wachsoldat lachte schallend. „Das mache ich euch billiger. Mein Hund schleckt deinem Alten das Gesicht ab und die Sache ist ausgestanden.“

Anna hatte Mühe, seine Mundart zu verstehen, die sich so sehr von der in Landsberg und in Augsburg gesprochenen unterschied. „Ich bitte Euch inständig, lasst uns weiterziehen. Wir sind schon so lange unterwegs und dem Buben zuliebe wollen wir vor Sonnenuntergang ankommen.“

Ein Raunen lief durch die Umstehenden, die den Wortwechsel bisher eher belustigt verfolgt hatten. Das Kind weckte Mitleid in ihnen. Eine weitere Wache trat hinzu, der Kleidung nach ranghöher. „Zahlt euren Zoll und fahrt zu.“

Erleichtert hielt ihm Anna die Silberpfennige hin, die ihr Lenz vorher zugesteckt hatte. Mit zittrigen Knien fasste sie mit der freien Hand die Zugstange, um Lenz zu helfen. Immer wieder warf sie einen bangen Blick zurück. Erst als das Zollhaus hinter einem Hügel verschwand, blieben sie stehen. Anna war am Ende ihrer Kraft.

 

 

Kapitel 2

 

24. Oktober Anno Domini 1527, Mindelheim

 

Als nach weiteren acht kräftezehrenden Meilen die Mindelburg links auf einem Hügel auftauchte, war Lenz erleichtert. Durch seine Wanderungen war er das Laufen gewöhnt. Aber da musste er keine Rücksicht auf eine Frau und ein Kind nehmen. Er blieb stehen, zog eine Dose aus seiner Tasche und hielt sie Anna hin. „Kannst du mir bitte die Paste von Meister Moritz auf meine Narbe schmieren? Hier übernachten manchmal Landsberger Händler. Ich will nicht riskieren, dass mich jemand erkennt und in Landsberg darüber tratscht.“

Als sie mit sanftem Druck die Paste auftrug, stockte ihm der Atem. So nah waren sie sich zum letzten Mal im Haus seines Vaters gekommen. Auch dort hatte sie ihm geholfen sich zu tarnen, bevor er aufgebrochen war, um ihren Bruder Gebhart aus der Fronveste zu befreien. Am liebsten hätte er sie jetzt in seine Arme geschlossen, aber ihr abweisender Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab.

Beim letzten Licht des Tages erreichten sie das Stadttor mit den drei Spitzen. Die Wache schickte sich an, das Tor zu schließen. „Haltet ein!“, rief Lenz.

Der Hauptmann sah ihn mit zusammen gekniffenen Augen an. „Was wollt ihr in Mindelheim?“

„Wir sind unterwegs nach Memmingen und brauchen heute Nacht ein Dach über dem Kopf.“

Herausfordernd stellte sich der Mann ihnen in den Weg. „Es gibt genug Gesindel in der Stadt! Wer sagt mir, dass ihr morgen weiterreist?“

„Ich war schon einmal hier. Der Wirt im Gasthof Hecht kennt mich.“

Der Hauptmann zögerte. Sein Blick ging von Lenz zu Anna und Ignaz. „Also gut. Alleine hätte ich dich nicht mehr reingelassen. Aber deine Familie kann ja schlecht im Wald übernachten. Ich begleite euch zum Gasthof Hecht und versichere mich, dass ihr die Wahrheit sprecht.“ Mit einem lauten Knall schloss er das Tor und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.

Nach einigen hundert Schritten auf der Hauptstraße erreichten sie die prächtige Gastwirtschaft.

Als der Wachsoldat die Tür zur Gaststube öffnete, schlug ihnen der Geruch von Holzfeuer, gesottenem Fleisch und gebratenen Zwiebeln entgegen. Der Wirt kam ihnen entgegen. Wie vor zwei Jahren auch, war alles an ihm speckig. Seine Haare, sein feistes Gesicht und seine Schürze, die er sich um den dicken Bauch gebunden hatte. Freundschaftlich legte er Lenz die Hand auf die Schulter. „Gott zum Gruße, Wandersmann. Beim letzten Mal warst du noch alleine hier, wenn ich mich recht erinnere. Schön, dass du heute deine Frau und dein Kind mitbringst.“

Lenz war erleichtert und sah den Hauptmann an.

Der nickte nur kurz und machte auf dem Absatz kehrt.

Der Wirt wies ihnen seinen letzten freien Tisch neben der Tür an. Er deutete auf Ignaz, der ihn neugierig anstarrte. „Ein netter Kerl.“

Lenz tischte ihm die vorher sorgsam zurechtgelegten Worte auf: „Meine Frau und mein Sohn wohnten bei ihren Eltern im Lechrain, während ich auf Wanderschaft war. Jetzt fahren wir nach Memmingen zu ihrem Onkel. Wir brauchen jetzt erst einmal etwas Warmes zu essen und für die Nacht eine Kammer.“

„Ich habe nichts mehr frei.“ Er deutete über die Schulter: „Der Weinhändler dort drüben hat gerade meine letzte bekommen.“

„Kannst du uns nicht irgendwo reinquetschen? Wir haben nichts dagegen, die Kammer zu teilen.“

Der Wirt kratzte sich am stoppeligen Doppelkinn: „Wir machen das ganz anders. Der Hauner Caspar kann heute Nacht bei zwei Wandergesellen schlafen.“

Lenz zuckte bei diesem Namen zusammen.

„Der will zwar immer eine Einzelkammer, aber in eurem Fall wird er das sicher verstehen.“

Das bezweifelte Lenz. Er kannte den Weinhändler aus Landsberg. Der war selbst sein bester Kunde und handelte nicht nur mit billigem Bodenseefusel, sondern auch mit jeder Menge Geschwätz, das er in Wirtshäusern und Bädern zwischen Landsberg und dem Schwäbischen aufschnappte.

Anna schien Lenz’ Unruhe zu spüren. Mit vor Schreck geweiteten Augen sah sie ihn an. Er schüttelte beruhigend den Kopf. Es half nichts, jetzt die Pferde scheu zu machen.

Die Bedienung kam mit dem Eintopf und Ignaz steckte sofort seinen Holzlöffel in die Schüssel. Eine Zeitlang waren alle drei ins Essen vertieft. Anna legte als Erste ihren Löffel zur Seite. Tiefe Schatten unter ihren goldbraunen Augen verstärkten die Blässe in ihrem Gesicht. Der Schmerz in ihrem Knie setzte ihr sichtlich zu. In diesem Moment wirkte sie älter als die zwanzig Lenze, die sie erst zählte. „Ich glaube nicht, dass wir mit deinem Knie morgen weit kommen werden.“

Anna wehrte ab. „Ich lege das Bein über Nacht hoch und morgen geht es wieder.“ Sie erhob sich. „Wir reden morgen darüber.“

Lenz wusste, dass die nächtliche Ruhepause nicht ausreichen würde. Er nahm Ignaz hoch und folgte ihr zur steilen Holztreppe nach oben. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass ihnen der Weinhändler neugierig nachsah.

Ihre Unterkunft war ein fensterloser Verschlag unter dem Dach. Nur eine schmale Luke ließ Licht und Luft herein. Wenigstens war der Sack auf der Palette mit frischem Stroh gepolstert. Anna und Ignaz waren so erschöpft, dass sie sofort einschliefen. Lenz selbst fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte er sich hin und her. Er konnte nur hoffen, dass ihn der Weinhändler nicht erkannt hatte. Denn sonst wusste bald halb Landsberg, dass der Kirchperger Lenz mit Frau und Kind auf dem Weg ins Schwäbische war.

 

 

25. Oktober Anno Domini 1527, Crispini-Tag,

Mindelheim

 

Es war dunkel, als Anna erwachte. Ihr Knie pochte und sie konnte es kaum abbiegen. Sie erhob sich mühsam und tastete nach dem Nachttopf, um sich zu erleichtern. Knarrend öffnete sich die Tür. Verschämt ließ sie ihr Unterkleid fallen. „Lenz, wo kommst du her?“

„Vom Wirt. Ich habe ihm gerade unseren Handkarren verkauft. Für einen Schilling, Essen und Unterkunft.“

Anna schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie sollen wir jetzt nach Memmingen kommen?“

„Mit einem Augsburger Tuchhändler, der uns auf seinem Gespann bis nach Trunkelsberg mitnimmt. Von dort sind es nur noch zwei Meilen bis zum Haus des Meisters. Schaffst du das?“

Sie zuckte mit den Schultern und deutete auf Ignaz, der mittlerweile auch wach war. „Aber er kann noch keine zwei Meilen laufen.“

„Ich nehme ihn einfach zwischendurch auf die Schulter. Das geht schon.“

„Wann müssen wir los?“

„Gleich. Der Wirt hat uns noch einen Gerstenbrei hingestellt. Deshalb hole ich euch.“ Lenz nahm Ignaz auf den Arm.

Anna folgte ihm humpelnd.

Als sie vom Hof zuckelten, ging die Sonne auf.

Unbemerkt legte der Hauner Caspar auf der anderen Seite des Hofes seinen beiden Gäulen die Futtersäcke an. Er war sicher, dass der alte Kirchperger einen ordentlichen Batzen Silber springen lassen würde, um zu erfahren, wo sich sein verlorener Sohn aufhielt. Wie man hörte, war Lenz auf Wanderschaft in der Schweiz, aber dass er so nah an seiner Geburtsstadt übernachtete – noch dazu mit Frau und Kind – war höchst seltsam. Egal, wie man es drehte, es war eine lukrative Geschichte.

 

Der freundliche Augsburger Tuchhändler belieferte die Memminger Patrizierfamilie Sättelin. Bei diesem Namen war Anna zusammengezuckt, erinnerte er sie doch an einen heimtückischen Priester aus Hofhennaberg, der ihren Bruder Gebhart verraten hatte. Sie saß kommod mit Ignaz hinter dem Kutschbock zwischen zwei Ballen Tuch und lauschte gespannt der Unterhaltung zwischen Lenz und dem Händler. Unaufhörlich sprudelten die neuesten Nachrichten aus der Reichsstadt am Lech aus ihm heraus.

„Warum hat die Kaufmannsfamilie Sättelin ihr Lager nicht direkt in Memmingen, sondern außerhalb in Trunkelsberg?“

„Ihr habt von Kaufmannsgeschäften wohl keine Ahnung“, erwiderte der Tuchhändler lachend. „Meine Ballen sind von fleißigen Dorfwebern rund um Augsburg gefertigt. Sie stehen der Qualität von städtischen Webern in Augsburg oder Memmingen in nichts nach.“

Anna wusste, dass auch in ihrem Heimatdorf Hürben etliche Kleinbauern sich mit der Zuarbeit für Händler wie die Fugger etwas dazuverdienten.

Lenz lenkte das Gespräch in eine andere Richtung: „Als Weitgereister kommt Ihr doch viel herum. Was ist Eure Meinung zu den Irrungen und Wirrungen der Reformation? Unser gnädiger Herr Herzog will alles Lutherische mit dem Beelzebub austreiben. Er hat die Wiedertäufer sogar mit dem Schwert hinrichten lassen. Wie ist die Lage dazu in Augsburg?“

Der Tuchhändler war sichtlich erfreut, dass er auch hier sein Wissen zum Besten geben konnte: „Die Lutherischen und die Anhänger Zwinglis oder Bucers sind in Augsburg gut gelitten. Die meisten sind fleißige Handwerker und zahlen ihre Steuern. Aber die sogenannten Gartenbrüder oder auch Wiedertäufer schlagen dem Fass den Boden aus. Besonders dieser verrückte Hut Hans, der den Weltuntergang für das kommende Pfingsten prophezeit. Der ist noch in sicherer Verwahrung zusammen mit dem Kopf der Bande, dem Dachser Jakob, und noch einem, dessen Namen ich vergessen habe. Ich glaube Groß oder so ähnlich. Unser Stadtschreiber Peutinger versucht zusammen mit diesem lutherischen Prediger Urbanus Rhegius, die Kerle zur Umkehr zu bewegen.“

Anna erinnerte sich gut an die langen Gespräche mit Hut im Haus des Färber-Jos. Der Täufer-Prediger hatte ihre Lesefortschritte gelobt und viele Fragen beantwortet, die ihr auf der Seele gebrannt hatten. Vermutlich drohte ihm in Augsburg am Ende ebenso die Hinrichtung wie ihrem Bruder. Sie lauschte weiter.

„Einige wurden vor einer Woche entlassen und der Stadt verwiesen, darunter auch der Maurer Kießling und Langenmantel, wohlhabender Spross einer angesehenen Patrizierfamilie in Augsburg. Die Namen sagen Euch zwar alle nichts, aber bei den beiden hätte ich es am wenigsten vermutet.“ Er schüttelte den Kopf. „Die armen Familien. Soviel ich weiß, wurde die Werkstatt vom Kießling verkauft. Außerdem munkelt man, dass Kießling und Langenmantel auf einem Hof außerhalb Augsburgs untergekrochen sind. Es ist gut, dass der Rat der Stadt durchgegriffen und diese Rattenlöcher ausgehoben hat.“

Eine eisige Kälte durchfuhr Anna nach dem, was sie eben gehört hatte. Es gab keinen Zweifel: Sie konnte nicht nach Augsburg zurück. Ihre einzige Hoffnung lag nun bei Lenz und darauf, dass gemeinsam alles gut werden würde. Sie duckte sich tiefer hinter die gestapelten Ballen und zog ihren Umhang fester um sich.

 

Der Wagen hielt ruckartig an und Anna schreckte aus ihrem Dämmerschlaf hoch. Vorsichtig streckte sie ihre steifen Glieder und stieg von der Ladefläche. Ihr Knie pochte nicht mehr so stark wie tags zuvor. Sie schulterte den Sack mit dem Essen. Lenz steckte dem Fuhrmann zwei Silberpfennige zu, die dieser rasch in seinem Beutel verschwinden ließ.

Lenz sah Anna prüfend an. „Geht es dir besser?“

Sie nickte. „Ich hoffe, das Knie hält bis Memmingen.“

„Wir haben nur noch zwei Meilen, also ungefähr eine gute Stunde.“ Lenz deutete zum Himmel, wo die Sonne schon deutlich tiefer stand. „Das müssten wir bis Einbruch der Dunkelheit schaffen.“

Anna nickte erneut. Der strahlendblaue Himmel und die schneebedeckten Berge in der Ferne erfüllten sie mit neuer Kraft. Nachdem sie das letzte Stück Brot geteilt hatten, sprang Ignaz wie ein übermütiger Welpe vor ihnen her. Immer wieder sammelte er Steine und brachte sie Anna – ein Spiel, das sie früher in Hürben gespielt hatten. Zwischendurch ergriff er ihre Hände und lief zwischen ihr und Lenz. Als schließlich das Memminger Kalchtor in Sicht kam, spürte Anna Unruhe in sich aufsteigen. Was, wenn man sie am Tor abwies oder der Lodweber keine Arbeit für Lenz hatte?

 

Die Wache musterte sie misstrauisch. „Seid ihr Juden?“

„Nein, wir kommen aus dem Lechrain und …“

„Aus Baiern seid ihr! Von da kommen nur zwei Arten von unerwünschtem Gesindel. Altgläubige oder Ketzer auf der Flucht. Was davon seid ihr?“ Der Wachmann trat bedrohlich auf die beiden zu.

Anna spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde und sie rot anlief. Sie befürchtete, dass sie das verdächtig machte.

Lenz sprang in die Bresche: „Weder noch, mein Herr. Ich bin Zimmerergeselle und mit meiner Frau und meinem Sohn auf dem Weg zu Meister Lodweber. Dort werde ich arbeiten.“

Der Wachmann hob die Brauen. „Zum Lodweber?“

„Ich war schon einmal bei ihm als Wandergeselle.“

Der Soldat schnaubte verächtlich. „Der Lodweber braucht sicher keinen Gesellen. Ihr kommt nicht rein.“

Anna war den Tränen nahe.

Der Hauptmann der Wache erschien. „Was ist hier los?“

Der Soldat erklärte: „Diese Leute behaupten, dass sie beim Lodweber in Dienst treten.“

„Deshalb willst du sie nicht in die Stadt lassen? Das hast du nicht zu entscheiden.“ Er wandte sich an Lenz: „Folgt mir. Ich begleite Euch zur Werkstatt.“

Lenz hob Ignaz auf die Schultern, der sich erschöpft an sein Bein geschmiegt hatte.

Anna atmete erleichtert auf, während sie versuchte, mit den Männern Schritt zu halten. Sie bemerkte, dass die Häuser immer prächtiger wurden, je weiter sie in die Stadt hineinkamen. Plötzlich blieb der Hauptmann der Wache abrupt stehen und deutete auf einen Betrunkenen, der über den Weinmarkt schwankte. „Das ist Meister Lodweber. Die Schänke ist praktisch sein zweites Zuhause. Er wird sicher froh sein, wenn ihn jemand nach Hause bringt.“

 

 

Kapitel 3

 

25. Oktober Anno Domini 1527, Memmingen

 

Zögernd betrat Anna die kleine Kammer, die ihnen Meister Lodweber widerwillig überlassen hatte. Lenz und Ignaz fielen sofort in tiefen Schlaf, doch Anna fand keine Ruhe. Sie zweifelte daran, dass sie hier wirklich eine Zukunft hatten. Lodweber war ein Trunkenbold! Den kurzen Weg zum Haus hatte er nur Unverständliches gelallt und immer wieder in einer lächerlichen Geste, den Finger an die Lippen gelegt. Ihr war nicht entgangen, dass auch Lenz über den Zustand seines ehemaligen Meisters erschüttert war. Ihre Zukunft war so ungewiss wie nie zuvor, denn mit dem besoffenen Lodweber war das letzte Stück Zuversicht verloren gegangen. Was blieb ihnen jetzt noch? Leise setzte sie sich auf und betrachtete Lenz. Sanftes Mondlicht fiel auf sein ausgezehrtes Gesicht. Die wulstige Narbe, die sich vom linken Augenwinkel bis zum Mund zog, und der struppige Bart ließen ihn älter erscheinen. Schwer zu glauben, dass er noch keine zwanzig Sommer erlebt hatte.

 

Anna erwachte nach einem kurzen, unruhigen Schlaf. Von unten drangen gedämpfte Stimmen zu ihnen herauf. Lenz war bereits wach und sah mit Ignaz auf dem Arm aus dem Fenster. Anna zog das Überkleid über ihr Hemd und stellte sich zu ihnen. „Was machen wir jetzt? Denkst du wirklich, wir sind hier willkommen? Nach dem Empfang gestern.“

„Ich verstehe das selbst nicht. Der Meister ist ein Anhänger Zwinglis und verabscheut das Trinken. Immerhin hat er uns aufgenommen.“

„Weil er besoffen war?“, erwiderte sie trotzig.

Lenz schwieg. Schließlich setzte er zu einer Erklärung an: „Meister Lodweber war bis zum Auftauchen der Soldaten des schwäbischen Bundes im Juli 1525 ein geachteter Mann und Zunftmeister. Obwohl er im Stadtrat saß, hat er die Reformation und die aufständischen Bauern unterstützt. Als der Schwäbische Bund den alten Glauben in Memmingen mit Gewalt wieder einführte, verlor er aufgrund der befohlenen Neuwahlen sein Amt. Was dann geschehen ist, weiß ich nicht, weil ich nach Bern weitergezogen bin.“

„Er hat die Bauern unterstützt? Das spricht für ihn.“

Lenz fuhr fort: „Ein Jahr später waren die Soldaten fort. Der neugewählte Rat hat dann die Reformation ein zweites Mal eingeführt. Diese Nachricht hat mich in Zürich erreicht. Daraufhin bin ich nach Memmingen zurück. Insgeheim habe ich ihn immer bewundert. Außerdem war ich für seine Frau Ursel wie ein eigener Sohn.“

„Warum bist du dann vor vier Monaten nach Augsburg gegangen? Hier hattest du doch alles.“

Lenz druckste herum. „Der Meister und seine Frau drängten mich, mir eine Frau zu suchen und in die Werkstatt einzusteigen.“

„Das wolltest du nicht, weil du immer noch deiner Magdalena nachgetrauert hast. Habe ich recht?“

Lenz blieb ihr die Antwort schuldig. Wortlos öffnete er die Tür. Sie stiegen die knarzende Treppe hinunter in die Küche des zweigeschossigen Hauses.

Anna fiel auf, dass überall Staub lag. Spinnweben in den Gauben zeugten davon, dass die Fenster schon lange niemand mehr geöffnet hatte. Sie betraten die Küche und die Stimmen verstummten. Eine alte Frau stand am Herd und rührte in einem Topf.

Ein junger Mann sprang vom Tisch auf und stürmte auf sie zu. „Lenz! Wo kommst du denn her?“

Die Alte dagegen musterte sie misstrauisch.

„Leander! Schön dich wieder zu sehen. Wir sind gestern Abend angekommen. Der Meister hat uns aufgenommen.“ Lenz sah sich um. „Wo sind die anderen?“

Der junge Mann senkte den Blick. „Hannes, Nazl und Utz sind fort.“

„Alle Gesellen? Wo sind sie hin?“

„Zum Hewel Georg. Dort gibt es Arbeit.“

Lenz schüttelte verwundert den Kopf. „Und wo ist der Martin?“

„Der wurde freigesprochen und ist dann auch abgehauen“, antwortete der Lehrling tonlos.

„Leander, was ist hier los?“ Meister Lodweber stand in der Tür. Dicke Adern traten an seinem Hals hervor und sein Gesicht rötete sich. „Halt keine Maulaffen feil. Geh in die Werkstatt und räum den Reißboden auf. Wenn ich nachher runterkomme, ist alles blitzblank gefegt.“ Er deutete auf Anna: „Wer bist du, Weib?“

Lenz räusperte sich: „Das ist Anna. Erinnerst du dich nicht mehr, Meister? Sie war schon gestern Abend bei mir.“

Lodweber schüttelte langsam den Kopf, so als ob er damit seine Gedanken ordnen könne. „Gestern?“, murmelte er. „Du warst gestern auch schon bei Lenz? Kann mich gar nicht an dich erinnern.“ Mit rot unterlaufenen Augen sah er von Lenz zu Anna und dann zu Ignaz, der sich verängstigt an Lenz schmiegte. Schließlich machte er eine wegwerfende Handbewegung. „Sei’s drum. Setzt euch. Vev! Bring Hafergrütze für alle.“ Damit ließ er sich schwer auf einen der Stühle fallen und rieb sich mit den Handballen die Augen.

Schweigend aßen sie ihre Grütze. Ignaz löffelte mit seinem Rosenholzlöffel Getreidebrei. Anna sah, dass er dabei immer wieder ängstliche Blicke zu Lodweber warf. Der legte schließlich seinen Löffel weg und schob die Schüssel von sich. „Was willst du hier?“

Lenz sah ihn unschlüssig an. „Äh … Arbeiten. Ich dachte, du brauchst einen Gesellen.“

„Wie lange bleibst du dieses Mal?“

Anna hörte den Vorwurf in Lodwebers Stimme.

„Ich will länger bleiben …“

Lodweber unterbrach ihn: „Die Dinge haben sich geändert, seit du fortgegangen bist.“

„Wie meinst du das?“

Lodweber kratzte sich am Kopf. „Die Auftragslage ist nicht – so gut.“

„Wie kann das sein?“, platzte es aus Lenz heraus. „Als ich dich Mitte Juni verlassen habe, warst du doch wieder gut im Geschäft. Wo ist die Meisterin und warum sind alle Gesellen fort?“

Lodweber stierte in seine leere Schüssel. Die Worte schienen ihm ausgegangen zu sein.

Vev räumte die Schüsseln ab. „Bei einem Säufer, der sich den ganzen Tag selbst bemitleidet, will niemand arbeiten“, keifte sie.

„Halt deine Schwertgosch!“, fuhr sie der Meister an. „Mach den Abwasch, feg die Stube aus, aber halt dein vorlautes Maul, Vev.“

„Ihr seid Witwer, Meister“, konstatierte Anna.

Lodweber starrte sie feindselig an, bevor sein Blick weich wurde. Tränen liefen über seine von roten Äderchen durchzogenen Wangen.

Anna stand auf und legte Lodweber die Hand auf die Schulter. Mit sanfter Stimme fragte sie: „Wann ist Eure liebe Frau zum Herrn gegangen?“

Lodweber weinte stumm. Nur das heftige Zucken seiner Schultern verriet, welche innere Pein ihn plagte. Leise presste er hervor: „Der Herr hat sie Ende Juli zu sich heimgeholt.“

Anna bekreuzigte sich. „Der Herr schenke ihr eine freudige Auferstehung.“

Eine geschlagene Stunde später saßen sie immer noch am Tisch in der Stube. Der Meister hatte ihnen die ganze Geschichte erzählt: Wie der plötzliche Tod seiner geliebten Frau ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Danach hatte er keinen Kopf mehr für die Arbeit gehabt, wichtige Aufträge falsch kalkuliert und es versäumt, notwendige Rohmaterialien zu bestellen. Alles war ihm aus den Händen geglitten. Nach und nach waren die Gesellen fortgegangen. Trost und Linderung hatte ihm nur der Wein gebracht, obwohl er wusste, dass Zwingli die Trunksucht verdammte. Lodweber wischte sich die Tränen aus den Augen. „Woher kommt ihr?“

Lenz sah Anna an und antwortete: „Aus Augsburg. Wir sind über Mindelheim gekommen. Gestern haben wir im Gasthof Hecht übernachtet.“

Lodweber fragte nicht weiter nach. Schließlich warf er Lenz einen flehenden Blick zu. „Ich könnte eine zupackende Hand gebrauchen.“

Im Hintergrund schnaubte Vev. „Er kann jede Hand gebrauchen, wenn er nicht sein Haus verlieren will.“

Lenz sagte nichts. Der Meister schwieg. Entweder war er es müde, der vorlauten alten Magd über den Mund zu fahren, oder er stimmte mit ihr überein.

Vev fuhr fort: „Vor dem Bauernkrieg noch wurde sein Vermögen auf vierhundert Pfund Pfennige geschätzt und er hat dem städtischen Kastenamt damals zwei Pfund Pfennige an Steuer bezahlt. Heuer an Nicolai wird er vermutlich gerade mal sechs Schillinge zahlen – wenn er die überhaupt noch aufbringen kann. Wenn du also bei uns bleibst, Lenz, kommt eine schwierige Aufgabe auf dich zu. Du musst ihn erst einmal davon abhalten, sein Geld zu versaufen.“

„Vev!“, donnerte Lodweber. „Jetzt reicht es.“

Vev keifte zurück: „Ich bin noch nicht fertig. Wir können keine weiteren Mäuler stopfen.“

Anna entgegnete: „Ich kann dich verstehen und will nichts umsonst. Ich arbeite für Unterkunft und Essen. Mein Bruder und seine Frau sind vor kurzem verstorben und Lenz hat mich und meinen Neffen aus Augsburg hierher mitgenommen. Ich habe keine Familie mehr.“

Lodweber nickte: „Ich sehe schon, auch du hast deinen Packen zu tragen.“ Er sah Vev an. „Anna und der Kleine bleiben hier. Sie geht dir zur Hand, und damit Basta.“

 

 

Kapitel 4

 

29. Oktober Anno Domini 1527, Memmingen

 

Anna verließ das Lodweber-Haus und wandte sich nach links. Direkt vor ihr lag ein Gebäude mit hohen Fenstern im Erdgeschoss. Beim Näherkommen schlug ihr der Geruch aus getrockneten Kräutern, erdigen Aromen und einem Hauch von Gewürzen entgegen. In dieser Apotheke hatte Vev auch das Arnika für Annas Knie besorgt, das mittlerweile kaum noch schmerzte. Sie humpelte weiter in Richtung des Weinmarkts. Langsam kannte sie sich ein wenig aus. Aus westlicher Richtung zog ein bestialischer Gestank über den mit prächtigen Zunfthäusern gesäumten, langgezogenen Platz. Von Vev wusste sie, dass dort der Schweinemarkt lag. Direkt vor ihr lag das stattliche Zunfthaus der Weber. Sie ließ es links liegen und folgte der Kramergasse zum Stadtmarkt im Norden.

Seit drei Tagen wohnten sie bei Meister Lodweber. Sie und Ignaz teilten sich eine Kammer, während Lenz beim Lehrling Leander untergekommen war. Die alte Magd Vev begegnete Anna mit kühler Zurückhaltung, doch bei Ignaz schmolz die Strenge der Alten wie Eis in der Frühlingssonne.

Auf dem Stadtmarkt kaufte Anna einen Laib frisches Brot für zehn Silberpfennige. Bestürzt stellte sie fest, dass das zwei Pfennige mehr waren, als sie in Augsburg dafür bezahlen musste. Der Anstieg der Preise war ungebrochen. Das galt auch für die Pastinaken und die Roten Bete, die ein Bauer aus einem der umliegenden Dörfer anbot. Anna liebte es, auf den Markt zu gehen. Der Duft frischer Backwaren wechselte mit dem würzigeren eines Lebzelterstandes, der kräftige Geruch gebratener Spieße wich der betörenden Aromenvielfalt eines Standes für Gewürzspezereien. Unvermittelt wehte aus Richtung des prächtigen Rathauses eine Rauchwolke über die Marktstände. Anna sah auf. Das Klirren von Hämmern auf einem Amboss erinnerte sie an die Schmieden entlang der Augsburger Stadtmauer im Lechviertel.

Anna war bereits auf dem Rückweg, als sie Vev bemerkte. Die alte Magd des Meisters wollte heute ihre Base in Amendingen besuchen. Doch anstatt den Stadtmarkt in Richtung des Ulmer Tors zu verlassen, schlurfte sie an der prächtigen Fachwerkfassade des Rathauses vorbei, dorthin, wo die Schmiedefeuer ihren Ursprung hatten. Anna beschloss kurzerhand, ihr in einigem Abstand zu folgen. Am Ende der Gasse hinter dem Rathaus ragte der Gefängnisturm auf, vor dem eine Wache postiert war. Vev grüßte den Wachmann herzlich, als sie vorbeiging. Das wurde ja immer mysteriöser!

Der Turm war Teil der Stadtmauer hier im Norden. Ärmliche Häuser säumten die Gasse daneben. Vev hielt inne und ließ ihren Blick aufmerksam umherschweifen. Anna drehte sich hastig weg und begann an ihrem Korb herumzufingern. Es schien, als hätte die alte Magd sie nicht bemerkt. Sie klopfte viermal an eine unscheinbare Tür. Nach einigen angespannten Herzschlägen öffnete sie sich, und eine Hand erschien im Türspalt. Ohne zu zögern, verschwand Vev im Inneren des Hauses.

Anna blieb verwirrt zurück, beschloss jedoch, das Häuschen genauer zu inspizieren. Sie schlich daran vorbei und musterte es verstohlen. Es sah aus wie hundert andere in der Stadt. Sie folgte der Straße bis zum Ende, bog nach rechts ab und stand unvermittelt vor dem Kalchtor, durch das sie vor wenigen Tagen die Stadt betreten hatte. Anna drehte um, entschlossen, noch einen letzten Blick auf das Haus zu werfen, in dem Vev verschwunden war. Als sie wieder am Haus anlangte, sah sie einen jungen Mann, der ebenfalls viermal an die Tür klopfte. Diese öffnete sich, und er ergriff die Hand, die sich ihm entgegengestreckte. Anna hörte ihn murmeln: „Das Wort ist Fleisch geworden.“

 

Die seltsame Begebenheit beschäftigte Anna noch, als sie schon längst wieder in der Kuchl beim Kochen stand. Die Worte, mit denen der junge Mann um Einlass gebeten hatte, waren eindeutig die Losung, mit der sich auch die Täufer in Augsburg zu erkennen gaben. Vev war nicht zu ihrer Base gegangen, sondern zu einer Winkelpredigt! Es musste also auch hier im Allgäu Zusammenkünfte geben, wie in Augsburg. Sie musste mit Lenz darüber sprechen.

Die Tür flog auf und Lenz trug den vor Freude glucksenden Ignaz auf dem Rücken herein. „Hier riecht es aber verführerisch. Gibt es Gemüsesuppe zum Nachtessen?“ Er setzte Ignaz ab.

Lodweber trat in die Küche. „Da läuft einem ja das Wasser im Munde zusammen.“ Wie schon die letzten Tage war er nüchtern. Mit einem Lächeln im bärtigen Gesicht schnitt er den frischen Brotlaib auf. Er schickte Lenz in den Keller, um einen Krug dünnen Bieres zu holen.

Lodweber faltete die Hände und sprach das Tischgebet: „Sei nicht ferne von uns, o Gott, sondern segne durch deine Gegenwart, was deine Güte uns bescheret hat; damit wir es mit rechtem Danke gegen dich und mit rechter Mäßigung genießen. Amen.“

Dann teilte Lodweber den Eintopf aus.

Während des Essens besprachen der Meister und Lenz, wie sie einen neuen Auftrag kalkulieren sollten. Trotz der angespannten Lage der Werkstatt war Lodwebers Zuversicht zurückgekehrt.

Ignaz kratzte mit seinem Rosenholzlöffel die letzten Reste aus der Schüssel vor ihm. Strahlend sah er zu Anna: „Essen.“ Sie tätschelte ihm den Kopf. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er wieder richtig sprach.

„Bleibt die Vev über Nacht bei ihrer Base in Amendingen?“, fragte Anna.

„Ja“, antwortete Lodweber kurz angebunden. „Das hat sie mir gesagt.“

Es schien, als hätte die Magd auch den Meister belogen.

„Der Leander ist bei seinen Eltern und kommt erst morgen Mittag zurück. Ihr kommt doch morgen mit in die Stadtkirche Unserer lieben Frau?“

Lenz hakte nach:„Warum gehen wir nicht nach Sankt Martin? Das ist doch deutlich näher, als die Südstadt.“

„In Sankt Martin predigt mit Georg Gugy dieser Tage ein Lutherischer. In Unserer lieben Frau dagegen liest wieder Simprecht Schenck die Messe. Er ist zurück in der Stadt und hat im Gegensatz zu Luther die Sache der Bauern unterstützt.“

Anna überlegte, ob sie Lodweber nach den Täufern fragen sollte, ließ es aber dann. Sie wusste nicht, wie der Meister darauf reagieren würde.

 

 

Kapitel 5

 

31. Oktober Anno Domini 1527, Memmingen

 

Anna streute frische Binsen, durchsetzt mit getrocknetem Rosmarin und Thymian auf den Boden der ausgefegten Wohnstube und der Kuchl. Sofort zog ein würziger Duft durch alle Räume im ersten Obergeschoss des Lodweber-Hauses. Sie stapfte die enge Stiege ins Dachgeschoss, wo die Schlafkammern lagen. Auch hier fegte sie zuerst aus, bevor sie einen Sack Binsen verteilte. Vev hatte Anna angewiesen, das Haus am Tag vor Allerheiligen gründlich zu lüften und sauberzumachen. „Unsere verstorbene Meisterin Ursel hat stets großen Wert auf ein sauberes Heim gelegt,“ erklärte sie. „Wer weiß, vielleicht schaut ihre Seele heute Nacht nach dem Rechten?“ Sie schlug ein Kreuz, bevor sie zusammen mit Ignaz zum Markt aufgebrochen war.

Anna war froh, dass sie nützlich sein konnte. Außerdem lenkte sie die Arbeit im Lodweber-Haushalt ab. Die schrecklichen Erinnerungen der letzten Wochen quälten sie nur noch selten in ihren Träumen.

Zuletzt nahm sie sich die Kammer des Meisters vor. Auf einem Tisch lagen einige Flugschriften. Neugierig griff sie danach und versuchte, den Titel der obersten Schrift zu entziffern. Ihr Finger glitt von Buchstabe zu Buchstabe und leise murmelnd wiederholte sie das Gelesene.

„Du kannst lesen?“

Erschrocken fuhr Anna zusammen. Sie hatte die Magd nicht kommen hören.

„Wo ist Ignaz?“, wich Anna aus.

„Er ist in der Werkstatt beim Lehrling. Du kannst lesen?“ Eindringlich wiederholte Vev die Frage. Dabei sah sie Anna prüfend an.

„Ja, ein wenig.“ Anna fühlte sich ertappt. „Das handelt von Zwingli. Soviel konnte ich erkennen.“ Anna hielt kurz inne, bevor sie weitersprach. „Während du bei deiner Base in Amendingen warst, waren wir mit dem Meister in der Stadtkirche, wo ein Schüler Zwinglis predigte.“

Vev senkte kurz den Blick, doch schnell hatte sie ihre alte Sicherheit wiedergewonnen. „Wer hat dir das beigebracht?“

Anna wählte ihre Worte mit Bedacht: „Ich stand bei einem Färber in Augsburg im Dienst. Eine Nachbarin hat es mich gelehrt.“

„Du hast im Lechviertel gewohnt?“

„Ja, und wie gesagt die Nachbarin …“

„Wie hieß die Frau?“, unterbrach sie Vev.

Anna beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen: „Sie heißt Daucher Susanna, aber alle nennen sie die Adolfin. Kennst du sie?“

Die Alte wandte sich ab und murmelte: „Wenn du hier fertig bist, kannst du mir beim Kochen helfen.“

 

Gleich nach dem Mittagsmahl verließ Vev ohne ein Wort der Erklärung das Haus und war bislang nicht zurückgekehrt. Anna nutzte die freie Zeit und schlenderte mit Ignaz zum nahen Rossmarkt, wo die letzten Händler ihre Tiere vor dem Aufbruch fütterten. Die dürren Klepper, die jetzt noch zum Verkauf standen, hatten Ignaz nicht sonderlich begeistert. Vielmehr hatte es ihm der nahe Stadtbach angetan. Mit einem langen dürren Ast versuchte er die braunen Blätter herauszufischen. Ein eisiger Wind pfiff um die Häuserecken. Waren die letzten Tage noch sonnig gewesen, so schlug nun das Wetter endgültig um. Zum ersten Mal graute Anna nicht vor den langen, kalten Wintertagen. Sie alle hatten ein Dach über dem Kopf und genug zu essen. Der Meister blühte regelrecht auf, seit ihm Lenz zur Hand ging. Weil in der Werkstatt viel liegengeblieben war, sah sie die beiden jedoch meist nur zu den Mahlzeiten. Auch deshalb hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, mit ihm über Vevs Besuch im Weberviertel zu sprechen.

Jammernd streckte Ignaz Anna seine eiskalten Hände hin. Sie eilten zurück. In der Stube traf sie auf Lenz und Meister Lodweber bei einem Krug Bier. Sofort kletterte Ignaz auf Lenz’ Schoß.

Lodweber lächelte, doch sein Blick war wehmütig auf die beiden gerichtet. „Das Glück eines Sohnes war meiner Ursel und mir leider nicht gegönnt. Dann wäre ich jetzt nicht so allein und hätte gleichzeitig einen würdigen Nachfolger für meine Werkstatt.“ Unvermittelt sprang er auf und fasste Lenz an die Schulter. „Könntest du dir vorstellen, für immer bei mir zu bleiben? Ich würde dich an der Werkstatt beteiligen, wenn du das Bürgerrecht erworben hast.“ Er wartete die Antwort von Lenz nicht ab und fuhr zu Anna gewandt fort: „Auch für dich und deinen Neffen ist hier Platz. Vielleicht sogar als Lenz’ Eheweib?“ Er rieb sich die Nase. „Oder was meinst du, Vev?“ Er wandte sich seiner alten Magd zu, die gerade auftauchte.

Anna wunderte sich, dass der Meister Vev um ihre Meinung fragte, vor allem nachdem er anfangs mit ihr sehr rüde umgegangen war.

Vev lächelte: „Vielleicht hat die drei ja der Himmel geschickt.“ Die Blicke der beiden Frauen trafen sich und Anna wusste in diesem Augenblick nicht, was sie von der Antwort der Alten halten sollte.

Lodweber klopfte auf den Tisch. „Da magst du recht haben.“

 

Als Anna nach dem Nachtessen im Licht von zwei Öllampen die zerrissenen Beinkleider des Meisters flickte, kam Lenz in die Stube.

„Ignaz schläft jetzt.“

„Hans und Vev sind auch gerade zu Bett gegangen.“

Er nahm ihr das Flickzeug aus der Hand. „Was meinst du zu dem Vorschlag des Meisters?“

„Da fragst du mich?“

„Natürlich, wen denn sonst?“

Anna hörte die Ungeduld in seiner Stimme.

„Er will mich in die Werkstatt aufnehmen. So eine Möglichkeit bekomme ich nie mehr.“

„Was geschieht mit der Zimmererwerkstatt deines Vaters in Landsberg?“

„Was soll diese Frage? Ich kann nicht mehr zurück.“

„Ja. Aber du hast selbst gesagt, dass dich dieser Amtmann Schaller nur als Lenz von Augsburg kennt. Vielleicht bleibt er ja nicht ewig in Landsberg. Dann wäre der Weg zurück möglich.“

Er kniff die Augen zusammen. „Geht es dir wirklich um die Werkstatt? Oder glaubst du, dass ich zu Magdalena zurückgehe, wenn die Gefahr nicht mehr so groß ist?“ Er stieß die Luft aus. „Ich habe dich sehr enttäuscht. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich damals geritten hat, aber mit Magdalena verbindet mich nichts mehr. Vielleicht hatte ich es für einen kurzen Moment gedacht. Das gebe ich zu. Aber sie hat sich in den letzten beiden Jahren nicht geändert. Sie denkt nur an sich. Dass sie sogar meinen Vater mit ihren Intrigen behelligt hat, werde ich ihr nie verzeihen.“ Er war mit jedem Wort lauter geworden und Anna legte mahnend den Zeigefinger an die Lippen.

Leiser fuhr er fort: „Der Meister hätte nichts dagegen, wenn aus uns beiden ein Paar wird.“ Seine Stimme wurde flehender. „Wir hätten unser Auskommen, könnten ein ganz normales Leben führen und müssten uns nicht mehr verstecken.

---ENDE DER LESEPROBE---