Die Schwester des Ketzers - Uschi Pfaffeneder - E-Book

Die Schwester des Ketzers E-Book

Uschi Pfaffeneder

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Anna Schuster ist die Tochter eines armen Kleinhäuslers im Lechrain. Eines Nachts belauscht sie eine geheimnisvolle Versammlung, an der ihr Bruder Gebhart teilnimmt. Ein Fremder beschwört das nahe Strafgericht Gottes. Ihr Lauschen bleibt nicht verborgen. Der unbekannte Prediger bietet ihr kurz darauf eine Stelle als Magd in seiner Färberwerkstatt in Augsburg an. Sie geht das Wagnis ein und ihr Mut zahlt sich aus. Sie genießt die Freiheiten der liberalen Reichsstadt, wo sich ihr Wunsch Lesen zu lernen, erfüllt. Als Lenz Kirchperger in ihr Leben tritt, scheint das Glück vollkommen, auch wenn seine Erlebnisse aus dem Bauernkrieg zwischen ihnen stehen. Eine neue Glaubensheimat finden sie in der Gemeinschaft der Gartenbrüder, die Kirche und staatliche Macht in Frage stellen. Das bleibt nicht ohne Folgen, denn der bisher tolerante Augsburger Stadtrat fürchtet um die öffentliche Ordnung. Er beschließt, diese neue Sekte der Wiedertäufer zu zerschlagen. Anna und Lenz sind in Gefahr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Das Buch

 

Anna Schuster ist die Tochter eines armen Kleinhäuslers im Lechrain. Eines Nachts belauscht sie eine geheimnisvolle Versammlung, an der ihr Bruder Gebhart teilnimmt. Ein Fremder beschwört das nahe Strafgericht Gottes. Ihr Lauschen bleibt nicht verborgen.

Der unbekannte Prediger bietet ihr kurz darauf eine Stelle als Magd in seiner Färberwerkstatt in Augsburg an. Sie geht das Wagnis ein und ihr Mut zahlt sich aus. Sie genießt die Freiheiten der liberalen Reichsstadt, wo sich ihr Wunsch Lesen zu lernen, erfüllt.

Als Lenz Kirchperger in ihr Leben tritt, scheint das Glück vollkommen, auch wenn seine Erlebnisse aus dem Bauernkrieg zwischen ihnen stehen. Eine neue Glaubensheimat finden sie in der Gemeinschaft der Gartenbrüder, die Kirche und staatliche Macht in Frage stellen.

Das bleibt nicht ohne Folgen, denn der bisher tolerante Augsburger Stadtrat fürchtet um die öffentliche Ordnung. Er beschließt, diese neue Sekte der Wiedertäufer zu zerschlagen. Anna und Lenz sind in Gefahr.

 

Die Autoren

 

Uschi Pfaffeneder, Jahrgang 1962, arbeitete als Sozialversicherungsfachangestellte, bevor sie sich neben der Familie mit der katholischen Theologie an der Domschule Würzburg auseinandersetzte. Ergänzend liegt ihr das logotherapeutische Konzept von Viktor Frankl am Herzen, das sich aus drei philosophischen und psychologischen Grundgedanken ableitet: Der Freiheit des Willens, dem Willen zum Sinn und dem Sinn im Leben. Aktuell ist sie in der Kinderbetreuung tätig, wo sie auch eine Lesewerkstatt an einer Grundschule leitet.

 

Klaus Pfaffeneder, Jahrgang 1962, ist Maschinenbauingenieur und arbeitet seit vielen Jahren als leitender Angestellter. Mit fünfzehn schrieb er Sportberichte für das Landsberger Tagblatt. »Der Baumeister von Landsberg« war sein erster historischer Roman.

 

Die beiden haben die Kriminalromane um den Kommissar Viertaler »Entwurzelte Schatten« und »Täter-Opfer-Schuld« gemeinsam geschrieben, leiten die Schreibwerkstatt der VHS Landsberg. Sie haben drei erwachsene Söhne.

 

 

USCHI UND KLAUS PFAFFENEDER

 

 

 

 

 

Die Schwester des

Ketzers

 

 

 

Die Auserwählten

 

 

 

 

 

Historischer Roman

 

 

 

 

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.liccaratur-verlag.de

 

 

 

IMPRESSUM

Erschienen im Liccaratur-Verlag

Klaus Pfaffeneder, Friedensstraße 5

86899 Landsberg am Lech

 

Illustration und Umschlaggestaltung: Braun - Gestaltung & Produktion, Fürstenfeldbruck

Fotografie: Jakob Pfaffeneder, München

Historisches Buch auf Cover: Allgäuer Online Antiquariat, Memmingen

Lektorat: Anke Höhl-Kayser M. A., Wuppertal, www.textehexe.com

Copyright: © Liccaratur-Verlag, Landsberg

 

 

 

Erstausgabe 2022

 

ISBN 978-3-944810-10-2

 

 

 

Für Toni Drexler

 

ehemaliger Kreisheimatpfleger Fürstenfeldbruck

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen alleine der Fantasie der Autoren. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden dagegen sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze in Landsberg am Lech, Augsburg, München und im Landkreis Fürstenfeldbruck. Wir haben uns für die alten Schreibweisen entschieden, also für Hürben, statt Hörbach. Ebenso wie Hennaberg, statt Althegnenberg und Fürchelmoos statt Haspelmoor.

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Landkarten Lechrain, Augsburg und Landsberg

 

Dramatis Personae

 

Prolog

 

Die Schwester des Ketzers

 

Epilog

 

Historische Hintergründe

 

Glossar - historische Begriffe

 

Danksagung der Autoren

 

Literaturverzeichnis

Touren auf den Spuren der Täufer

 

Weitere Titel des Liccaratur-Verlags

 

 

Karte unterer Lechrain

 

 

Karte Lechviertel Augsburg

 

 

Karte Landsberg

Dramatis Personae

Historische Persönlichkeiten sind mit (*) gekennzeichnet.

 

Die Hürbener (Hörbacher)

*Schuster, Anna

Tochter eines Kleinhäuslers (16 tel Bauer, bzw. Gütler), Schwester des Schuster Gebhart

 

*Schuster, Gebhart

Sohn eines Kleinhäuslers (16 tel Bauer) und Schuster, Bruder von Anna

 

Schuster, Agnes

Frau des Schuster Gebhart

 

Schuster, Ignaz

Sohn von Agnes und Gebhart

 

*Jos, Christoph

genannt Hüter-Christl

 

*Drexler, André

genannt André auf der Stelzen

 

*Hoffmair, Mathes

Sohn eines Vollbauern

 

 

Die Hofhennaberger (Hofhegnenberger)

*Galhart, Peter

Scherge der Hofmark Hennaberg

 

*Adelzhauser, Heinrich

Hofmarkspfleger in Hennaberg

 

*Sättelin, Raphael

Pfarrer der Hofmark Hennaberg

 

Josefine

genannt Finni, Lebensgefährtin des Pfarrers Raphael Sättelin

 

 

Die Hochdorfer

*Sedlmaier, Jörg

Bauer auf dem Sedlhof in Hochdorf

 

Margarete

genannt Gretl, seine alte Magd

 

 

Die Augsburger

*Thoma, Josef

Färbermeister, genannt der Färber-Jos

 

*Kießling, Hans

Maurermeister (+ 1529)

 

*Riexner, Ulrich

Webermeister, Spitzname Utz

 

*Daucher, Susanna

genannt Adolfin (*1495), Bildhauergattin

 

*Rehlinger, Ulrich

Bürgermeister in Augsburg (+ 1547) und Großkaufmann

 

*Peutinger, Konrad

Stadtschreiber und Jurist (1465-1547)

 

*Dachser, Jakob

Theologe (+ 1567), Vorsteher der Augsburger Gartenbrüder

 

 

Die Ingolstädter

*Von Eck, Johannes

Professor der Theologie (1486-1543), Gegenspieler Luthers

 

Pfettner, Christof

Magister der Theologie und Lutheraner, Freund von Lenz Kirchperger

 

Culinula, Hubertus

Kiechle Hubert, Freund von Christof, Doctor der Mathematik

 

*Apianus, Petrus

Apian Peter (1495-1552), Professor der Mathematik und berühmter Kartograph

 

 

Die Landsberger

Kirchperger, Lenz

Zimmerergeselle auf Wanderschaft

 

Kirchperger, Lienhart

Vater von Lenz

 

Kirchperger, Julia

Großmutter von Lenz, Tochter des Baumeisters Veit Maurer

 

*Von Egloffstein, Gregor

Pfleger in Landsberg, Herr der Hofmark Grunertshofen im Lechrain

 

*Haidenbucher, Hanns

Kastner in Landsberg und Landrichter in Vertretung

 

Kräler, Eberhart

Bürgermeister von Landsberg

 

*Haldenberger, Magnus

(1480-1541) Stadtpfarrer seit 1524, ehemaliger Pfarrer der Heilig-Geist-Spitalkirche

 

*Moritz

Stadtphysikus (Arzt)

 

*Schaller, Hanns

Amtmann des Landrichters

 

Mitterhuber, Magdalena

Tochter eines reichen Maurermeisters, erste Freundin von Lenz

Mitterhuber, Georg

Bruder von Magdalena (+ 1525)

 

Büttel, Ulrich

Büttel des Eisenmeisters

 

Meister Gerhard

Züchtiger oder Henker

 

 

Teilnehmer des Augsburger Conciliums

*Hut, Hans

(1490-1527) fahrender Buchdrucker und -händler, charismatischer Prediger

 

*Denck, Hans

(1500-1527) Baccalaureus der Theologie, spiritueller Führer der Gartenbrüder-Bewegung

 

*Mittermaier, Hans

Theologe und Prediger aus Ingolstadt (+ 1529)

 

*Groß, Jakob

(1500 – 1531) Schweizer Theologe

 

*Spörle, Leonhard

Missionar und Prediger (+ 1527) aus Prittriching bei Landsberg

 

*Prenner, Jörg

Missionar und Prediger (+ 1528) aus Schmiechen bei Landsberg

 

 

Die Münchner

*Wilhelm IV

Herzog von Baiern (1493-1550)

 

*Von Ecken, Leonhard

Kanzler von Baiern (1480-1550), eigentlich von Eck

 

*Pasenseer, Martin

Großinquisitor in Jesenwang ab 17. November 1527

 

*Vogt, Konrad

Neuer Landrichter in Landsberg ab November 1527

 

Seiberstorffer, Heinrich

Rentmeister von Burghausen

 

 

 

Prolog

Anno Domini, 10. Mai 1525

 

„Die Narren stellen sich in Gefechtsformation auf!“ Bürgermeister Kräler, der Hauptmann der Landsberger Bürgerwehr, klopfte beruhigend auf den schweißnassen Hals seines unruhig tänzelnden Wallachs.

Lenz’ Hochgefühl von heute Morgen war verflogen. Sie waren ausgezogen, einem Haufen Bauern, Kleinhäuslern und Tagelöhnern Angst einzujagen. Den ganzen Weg vom Landsberger Lechtor über Spötting, Igling und Großkitzighofen waren er und seine Kameraden aufgekratzt marschiert. Doch jetzt stand ihnen ein brüllender Bauernhaufen mit Sensen und Dreschflegeln auf einer Anhöhe südöstlich von Kleinkitzighofen gegenüber.

Lenz wuchtete seine Arkebuse von der schmerzenden Schulter und wandte sich zu den hinter ihm marschierenden Spießern um. Georg Mitterhuber, Bruder seiner ersten Liebe Magdalena, starrte mit kalkweißem Gesicht auf die kampfbereiten Bauern. Mit einem hysterischen Anflug in der Stimme schrie er: „Das sind ja mindestens doppelt so viele wie wir.“

 

Lenz versuchte, seinen jüngeren Freund zu beruhigen: „Die Narren sind schlecht ausgerüstet. Wenn die unsere Reiter sehen, geben sie Fersengeld.“ Insgeheim jedoch war auch er beunruhigt. Jeder der Landsberger Reisigen kannte die Geschichte der Weinsberger Bluttat am Ostermontag in Württemberg, wo aufständische Bauern den Grafen Ludwig von Helfenstein und seine Ritter erschlagen hatten.

Magdalenas Bruder, der einen fünfzehn Fuß langen Spieß trug, rang sich ein Grinsen ab: „Ich mache mir keine Sorgen. Du beschützt mich mit deiner Arkebuse, so, wie es dir meine Schwester aufgetragen hat.“

 

Es war Nachmittag und die Sonne stand bereits im Westen hinter der Gefechtsstellung aus schmutzigen, zerlumpten Gestalten. Lenz beobachtete das Bemühen der Bauern, Ordnung in ihren Haufen zu bekommen. Ein einzelner Reiter galoppierte auf seinem Schlachtross heran. Es war der Landsberger Pfleger und Heerführer, Gregor von Egloffstein.

„Hauptmann Kräler! Stellt Eure Mannen auf. Eilt Euch, wir wollen das hinter uns bringen, bevor es dunkel wird.“

„Sollten wir nicht zuerst verhandeln?“, antwortete Bürgermeister Kräler. „Wenn Ihr nur genügend Druck aufbaut, gehen die Burschen zurück in ...“

Doch Egloffstein wendete wortlos sein Schlachtross und preschte in Richtung des Dorfes Kleinkitzighofen davon. Die Hufe des riesigen Hengstes schleuderten Erdklumpen in die Höhe.

Lenz starrte ihm hinterher. Der Landsberger Pfleger hatte offenbar kein Verhandlungsmandat vom baierischen Herzog. Er wollte, wie auch Martin Luther in seiner jüngsten Flugschrift es forderte, diese Mordgeister erschlagen.

Die zweihundert baierischen Panzerreiter, Lanziere und Kürassiere, folgten ihm und fingen an, die Bauern auf ihrem Hügel einzukreisen. Eine kühle Brise trug die gebrüllten Schmähungen der Aufständischen zusammen mit dem Duft frisch abgemähten Grases zu ihnen herüber. Angst kroch Lenz in die Beine. Trotz der frühsommerlichen Hitze fror er.

 

„Spießträger, Kommando dicht!“

Unschlüssig starrten die Männer zu ihrem Bürgermeister.

Mit sich überschlagender Stimme schrie der Hauptmann erneut: „Bewegt euch endlich, ihr Taugenichtse. Wir haben das hundert Mal geübt. Kommando dicht!“

Zögerlich stellten sie sich in zwei Schritt Abstand voneinander auf. In den vorderen beiden Reihen standen Spießer. Dahinter Helmbarten- und Glefenträger für den Nahkampf.

Lenz’ Schützengruppe postierte sich auf der rechten Seite des Mannsvierecks. Georg Mitterhuber versuchte, wenige Schritte entfernt von ihm, seinen Spieß senkrecht zu halten.

 

Lenz betete ein stilles Vater Unser, so, wie es ihn seine Oma Julia gelehrt hatte.

„Feuerschützen! Nehmt auf eure Arkebuse! Blast ab eure Pfanne!“

Mechanisch befolgte Lenz die Kommandos. Wo waren er und Georg da hineingeraten?

„Tut Pulver auf die Pfanne!“

Das hatte nichts mehr mit dem zu tun, womit Hauptmann Kräler sie angespornt hatte. Das war kein Bauernerschrecken.

„Feuerschützen, schließt die Pfanne!“

Warum verhandelte niemand?

„Blaset ab die Pfanne!“

War den Bauern die Freiheit wichtiger, als zu leben?

„Arkebuse herum in Anschlag! Lunten bereit!“

 

Das Gemetzel begann. Panzerschützen von den Seiten und ein Angriff von hinten ließen die Bauern in wilder Panik auf die Landsberger Stellung zu rennen.

Lenz feuerte seine Arkebuse ab und warf sie fort. Zum Laden blieb jetzt keine Zeit mehr. Hektisch zog er sein Rapier. Es wog schwer in seiner Hand. Er suchte nach seinem Freund Georg. Alles schien mit einem Mal auf unheimliche Weise verlangsamt. Lenz sah Männer durch Arkebusenkugeln fallen. Die Gegner krachten aufeinander und verkeilten sich. Beide Gruppen schoben die vordersten hin und her. Das Brüllen wich einem Stöhnen, Grunzen und Jammern. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eine Sense auf Georgs Kopf niederfuhr. Nein! In Lenz’ Ohren rauschte das Blut. Sein Freund durfte nicht fallen! Wie von Sinnen hackte Lenz auf die Gegner ein. Er hatte Magdalena versprochen, auf ihren Bruder aufzupassen! In rasender Wut tötete er jeden, der sich ihm in den Weg stellte. „Mordgeister!“, brüllte er dabei. „In die Hölle mit euch!“ Er erreichte Georg und schlug den Sensenmann nieder. Sein Freund lag zuckend am Boden. Aus einer tiefen Wunde an seiner Seite quoll Blut. Wie aus dem Nichts sprang ein bärtiger Kerl in die Bresche, die er geschlagen hatte. Für einen Herzschlag sah er in dessen wutverzerrtes Gesicht. Etwas traf Lenz am Kopf und alles wurde schwarz.

 

Eine Stunde später waberten Dunstschwaden über die feuchten Wiesen in der Dämmerung, wie riesige Drachen auf der Jagd nach den Seelen der Gefallenen. Lenz erwachte von einem pochenden Schmerz auf seiner linken Gesichtshälfte. Er fasste die Stelle an. Ein tiefer Schnitt brannte höllisch. Seine Hand zuckte zurück. Er rappelte sich hoch. Um ihn herum lagen hunderte Tote und Verwundete. Ein abscheulicher Geruch nach abziehendem Pulverdampf, Blut und Exkrementen zog durch die abendliche Luft. Das Jammern der Verletzten war durchsetzt vom Rauschen eines nahen Baches. Die gebrochenen Augen seines Freundes starrten ihn an. Verzweifelt begann er zu weinen. Er konnte Magdalena nicht mehr gegenübertreten.

 

 

Kapitel 1

 

Anno Domini, 9. Juli 1527, Sonnabend,

Hürben im Fürchelmoos

 

Am Himmel dräuten dunkle Wolken und verstärkten die Schatten der Abenddämmerung, die aus dem naheliegenden Wald krochen. Gebhart Schuster vergewisserte sich, dass sich niemand mehr auf den umliegenden Höfen herumtrieb, als er sich zu dem verbotenen Treffen aufmachte. Alle paar Schritte blieb er stehen und lauschte. Doch außer dem Rauschen des Windes in den Bäumen war nichts zu hören. Eine Bogenschussweite entfernt lag das Hüterhaus des kleinen Dorfes im Moos, aber für Gebhart war es der Weg in eine andere Welt.

Er erreichte das Hüterhaus, aus dem kein Laut drang. Die Fensterläden waren geschlossen, allerdings flackerte der Schein von Kerzen durch die Ritzen nach draußen. Er blickte sich noch einmal um, bevor er das verabredete Klopfzeichen gab: Tok-tok, tok-tok, tok. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Als er hineinschlüpfte, zuckte der erste Blitz.

 

Anna kauerte unter dem Fenster und lauschte angestrengt. Das Brausen des Windes machte es heute Abend fast unmöglich, der Unterhaltung drinnen zu folgen. Sie richtete sich auf und presste ihr Ohr an einen Spalt zwischen den Holzbrettern. Bruchstückhaft drangen Worte zu ihr nach draußen im aufziehenden Gewitter, das inzwischen direkt über ihr stand. Der Wind erstarb. Mit einem Mal war es totenstill. Das, was sie nun vernahm, ließ sie erschauern. Das Raunen der anderen Teilnehmer unterstrich die eindringliche, ihr unbekannte Stimme.

Die ersten Regentropfen fielen schwer auf ihre Haut. Sie schirmte ihr Ohr ab, damit sie besser hörte: „Das Strafgericht Gottes ist nahe und wird die Pfaffen für ihre falschen Predigten züchtigen und sie müssen Antwort geben über ihre falsche Lehre. Doch auch die Gewaltigen müssen ihre Herrschaft rechtfertigen. Und allen Gezeichneten und Versiegelten wird durch das Schwert in der Hand Gerechtigkeit zuteil.“

In diesem Augenblick öffnete der Himmel seine Schleusen. Der Lärm des Wolkenbruchs verschluckte alles Weitere. Mittlerweile tropfnass, eilte sie nach Hause. Dass sich hinter ihrem Rücken die Tür des Hüterhauses geöffnet hatte und ein aufmerksamer Blick ihr Davonhuschen bemerkte, blieb ihr verborgen.

 

 

Kapitel 2

 

Anno Domini, 15. Juli 1527 – Hürben

 

Die Maulschelle kam unerwartet. Sie traf Anna mit voller Wucht auf die Wange. Sie zuckte zusammen, Tränen schossen ihr in die Augen. Für einen Moment war sie fassungslos. Mit zittrigen Händen griff sie sich den Reisigbesen und erhob ihn drohend gegen ihre Schwägerin Agnes. „Was fällt dir ein, mich zu schlagen.“

Ein schriller Schrei von Agnes durchschnitt die abgestandene Luft in dem armseligen Gütl. „Du willst mir drohen? Der eine Schlag hat dir wohl nicht gereicht. Ich werde dich lehren, was Gehorsam heißt.“ Mit einer schnellen Bewegung versuchte Agnes Anna den Besen aus der Hand zu reißen. In diesem Moment flog die Tür auf. Im Türrahmen erschien Gebhart Schuster. Mit großen Schritten eilte er auf die zankenden Weiber zu und entwand seiner Schwester den Besen. „Was ist jetzt schon wieder los? Ihr beiden seid nur noch am Keifen. Es ist nicht mehr auszuhalten. Man hört euch bis ins Dorf. Irgendwann finde ich eine von euch mit eingeschlagenem Kopf.“ Vorwurfsvoll sah er seine Frau Agnes an.

„Was zürnst du mir? Deine Schwester hat angefangen. Sie hat mich als frömmlerisches Weib beschimpft, das dem Pfarrer nach dem Maul redet und dabei nicht sieht, wie uns die Kirche ausbeutet.“

Agnes’ Stimme klang mit jedem Wort kreischender. Zornesrot wandte sich Gebhart an Anna: „Was für närrische Reden schwingst du da?“

Anna hob abwehrend die Hände. „Da klagt mich der Richtige an. Du sagst doch selber, dass die Pfaffen nur von Barmherzigkeit reden, aber nicht danach handeln. Sie bestehen selbst bei schlechter Ernte auf ihren Abgaben, auch wenn wir vor Hunger sterben. Mir graut jetzt schon, wenn ich dem geilen Schwarzrock Sättelin auf Gally die Gilt bringen muss. Dessen Barmherzigkeit besteht darin, seine Haushälterin zu vögeln und Bankerte zu zeugen.“

Erneut kreischte Agnes auf: „Du verleumdest einen Mann mit heiligen Händen!“

„Mit heiligen Händen. Dass ich nicht lache. Die sind doch alle gleich und ...“

Unvermittelt hob Gebhart den kleinen Buben hoch, der unter dem Tisch saß und das Geschrei mit bangem Gesichtsausdruck verfolgt hatte. Er drückte ihn Anna ihn die Arme. „Du bist jetzt mal ganz still. Nimm Ignaz und geh mit ihm an den Bach. Wir unterhalten uns später.“

„Aber –“

„Keine Widerrede.“ Seine Stimme war schneidend. Grob schob er sie zusammen mit dem Jungen ins Freie und warf die Tür hinter ihr zu. Der Knall schmerzte sie mehr als die Maulschelle von Agnes.

Ignaz’ klebrige Hand strich ihr vorsichtig über ihre schmerzende Wange. „Anna, aua. Aua Anna“, brabbelte er dabei.

Beruhigend klopfte sie dem fast Zweijährigen den Rücken. „Alles gut, Ignaz. Es tut mir leid, wenn wir dich erschreckt haben.“

Seine dünnen Ärmchen schlangen sich um ihren Hals. Der Kopf mit den lockigen, dunkelbraunen Haaren schmiegte sich an ihre Schulter. Innerlich aufgewühlt stapfte sie durch die hüfthohen Stauden. Nach dem Gewitter vor einer Woche war der Trampelpfad durch das Moos wieder trocken. Ansonsten quoll der Moorschlamm schwarz durch ihre Zehen.

Ihre Füße trugen sie zum Finsterbach, dem die reißende Kraft des Frühjahrs in der Sommerhitze verlorengegangen war. Anna schürzte ihren langen Rock und setzte Ignaz am Ufer ab. Jauchzend vor Vergnügen warf er sofort Bachkiesel ins Wasser. Das kühle Nass an ihren Füßen beruhigte Annas erhitztes Gemüt. So konnte es mit Agnes nicht weitergehen. Jedoch mehr als der Streit beschäftigte sie das geheimnisvolle Treffen, an dem ihr Bruder teilgenommen hatte. Sie war Gebhart vor ein paar Tagen eher zufällig gefolgt. Es war ihr komisch vorgekommen, dass er sich in der Dunkelheit Richtung Waldrand geschlichen hatte. Was trieb ihr Bruder in dieser Hütte? Vor allem, mit wem?

 

Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie das Kommen Gebharts erst wahrnahm, als dieser hinter ihr am Bach stand.

„Du musst gehen! Für dich ist auf dem Hof kein Platz mehr.“ Gebhart versuchte, seiner Stimme einen harten Klang zu geben. „Der heutige Streit mit Agnes hat das Fass zum Überlaufen gebracht.“ Das stimmte nicht ganz. Eigentlich war die Entscheidung bei dem letzten Treffen gefallen, wo sie Anna durch die Läden entdeckt hatten. Ob ihm seine Schwester schon öfter nachgeschlichen war, wusste er nicht, aber mit ihrer Neugierde und ihrem losen Mundwerk war sie eine Gefahr für die gemeinsame Sache der Brüder.

„Gebhart, es tut mir leid. Ich werde mich von Agnes nicht mehr reizen lassen, ich werde ...“

Mit einer raschen Handbewegung schnitt er ihr das Wort ab. „Es geht nicht nur um Agnes.“

„Ach so“, antwortete sie schnippisch. „Was steckt dann hinter deiner Entscheidung?“ Ihre Mundwinkel verzogen sich spöttisch: „Oder besser gesagt: wer?“

Erneut kochte die Wut in ihm hoch. Er würde sich weder von Agnes noch von Anna sein neues Leben nehmen lassen. Ohne auf ihre Frage einzugehen, fuhr er hitzig fort: „Entweder du heiratest Quirin aus Hennaberg. Oder ...“

Wie eine Furie baute sich Anna vor ihm auf. Aufgebracht zischte sie ihn an: „Das kannst du vergessen, ich heirate keinen Mösler. Außerdem ist dieser Kleinhäusler uralt, potthässlich und man sieht ihm den Hunger schon von weitem an.“

„Sei nicht so überheblich. Wir alle sind Mösler. Du kannst froh sein, wenn dich der Quirin überhaupt noch will, so oft, wie du ihn schon abgewiesen hast. Mit deinen zwanzig Lenzen bist du schon überfällig und als dein Vormund habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.“

„Ich bin deine Schwester und kein Stück Vieh, das du verschacherst. Ist das der Dank dafür, dass ich deiner schwangeren Frau zur Hand gegangen bin, als du mit deinem Kumpel André in den Krieg gezogen bist? Und was hat es gebracht? Nichts! Wir sind verschuldet bis an unser Lebensende und André ist seither ein sabbernder, einbeiniger Krüppel.“

Dass Anna den Bauernkrieg erwähnte, schlug dem Fass den Boden aus. „Schluss jetzt! Du nimmst Quirin oder du suchst dir eine Stelle als Magd irgendwo anders.“ Er hob seinen mittlerweile greinenden Sohn aus dem Bach. „Vorher bringst du noch einen Sack Rauschbeeren zum Sedlhof. Jörg hat einen Abnehmer dafür. Er gibt dir Schuhe mit, die er zum Flicken hergerichtet hat.“

 

 

Kapitel 3

 

Anno Domini, 15. Juli 1527 – Hürben

 

Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel, als Anna nach Hochdorf zum Hof von Jörg Sedlmaier aufbrach. Ohne diesen mit ihrem Bruder befreundeten Großbauern wäre das Essen noch karger als ohnehin schon. Die Schuhe der anderen Bauern und Kleinhäusler aus dem Dorf allein machten das Kraut nicht fett.

Die zweieinhalb Meilen hinauf zum Sedlmaier-Hof zogen sich bei dieser Hitze. Die Riemen des schweren Huckelkorbs mit den Rauschbeeren schnitten ihr in die Schultern. An den sonnigen Stellen im Moos stampfte sie hart auf. Von Kindesbeinen an hatte man ihr das beigebracht, um nicht auf eine Kreuzotter zu treten. Gegen die unzähligen Mücken half das nicht. Ihr Oberkleid war längst durchgeweicht und der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten. Ein lautes Magenknurren erinnerte sie daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte. Sie suchte sich am Wegesrand ein schattiges Plätzchen, das frei von Brombeerranken war, die hier überall in den Weg wucherten und ihre Beine zerkratzen. Das mitgebrachte Wasser dämpfte ihr Hungergefühl nur kurz. Sie tröstete sich damit, dass das meiste des Weges geschafft war. Der Sedlbauer steckte ihr sicher ein Stück Brot zu, bevor sie sich wieder auf den Rückweg machte.

Das monotone Gehen beruhigte ihre aufgewühlten Gedanken. Vielleicht wusste der Sedlmaier Jörg einen Ausweg. Schließlich kannten sie sich schon lange. Sie ahnte, dass ihm die keifende Agnes auch zuwider war. Anna ließ die Häuser des alten Moosdorfes Hennaberg hinter sich und schlug den Weg nach Hochdorf ein. Bald zeigte sich das imposante Steintor des Sedlhofs mit dem heiligen Nepomuk darauf. Hoffentlich lief ihr die greise Magd Gretl nicht über den Weg. Die war genauso frömmlerisch wie Agnes.

Im Inneren des Hofes gab es zahlreiche Gebäude. Fette Hühner dösten in der Sonne. Die Kinder des Gesindes versuchten, mit Steinen einen alten Holzeimer zu treffen. Inmitten der Horde stand lachend Jörg. Der Sedlbauer war groß und stattlich. Unter seiner Bundhaube aus Leinen quollen strohige, blonde Haare, die ebenso wie sein Bart von grauen Strähnen durchzogen waren. Seine braunen Hosen und das weiße Hemd waren nicht geflickt und sauber. Dadurch unterschied er sich von den Leuten, mit denen Anna sonst verkehrte. Kurz blickte sie verschämt an sich herab. Ihr eigenes Kleid hatte schon bessere Zeiten gesehen; zahlreiche Löcher und dunkle Flecken getrocknetem Moorschlamms am Saum verrieten ihre Herkunft.

Als er sie sah, wurde sein Blick ernst. Er eilte auf sie zu und nahm ihr den schweren Huckelkorb aus Weidengeflecht ab. „Du hast sicher Hunger. Komm mit in die Kuchl. Es ist bestimmt noch etwas von unserem Mittagsmahl übrig.“ Seine blauen Augen mit den vielen Lachfältchen zwinkerten ihr zu.

„Ich sollte eigentlich nur eure Schuhe zum Flicken abholen und ich möchte nicht zu spät zurück sein.“ Ihr Einwand war schnell vergessen, als sie die Stube betrat, in der auch das Gesinde sein Essen einnahm. Es roch himmlisch und ihr lief das Wasser im Munde zusammen.

Jörg drückte sie auf einen Stuhl. „Bis Sonnenuntergang ist noch lang hin und dann bist du längst wieder bei deinem Bruder. Aber sag, wie geht es dir? Ist die Agnes immer noch so zänkisch?“

Die Wärme seiner Worte und die Geborgenheit der Kuchl überwältigten Anna. Die Tränen, die seit ihrem Aufbruch heute Vormittag in ihrem Hals steckten, brachen sich Bahn und sie schluchzte auf.

„Was ist los?“

„Gebhart will mich heuer noch mit Quirin aus Hennaberg verheiraten. Mir graut vor ihm.“

Jörg wiegte den Kopf. „Dein Bruder ist nun mal dein Vormund, seit dein Vater tot ist. Und wenn du dich irgendwo als Magd verdingst?“

„Das hat er auch vorgeschlagen. Aber wo soll ich auf die Schnelle hin?“ Nachdenklich fuhr sie fort: „Wenn mich nicht alles täuscht, ist Agnes wieder schwanger. Vielleicht ist sie ja froh, wenn ich ihr da zur Hand gehe, wie damals, als Gebhart im Krieg war.“

„Bist du sicher?“

„Nein, du hast recht. Sie ist der Meinung, dass ich endlich den Platz einnehmen soll, den Gott mir zugedacht hat. Also Quirin heiraten.“ Sie schüttelte sich. „Das gleiche Gesalber, das der Pfaffe Sättelin von sich gibt. Was weiß der denn schon von Gott? Manchmal glaube ich wirklich, dass er etwas anderes erzählt, als in der Bibel steht. Wir dummen Schäfchen können ja nicht lesen.“

Ein sonores Lachen erklang vom Türrahmen her. Sie hatte sich so in Rage geredet, dass sie den Ankömmling nicht wahrgenommen hatte.

Jörg deutete auf den Fremden: „Das ist der Thoma Jos aus Augsburg. Oder auch einfach nur Färber-Jos, da er der Zunft der Färber angehört. Er kauft bei uns seine Lebensmittel und deine Rauschbeeren. Die sind hier billiger als in der Stadt. Außerdem bringt er seine Schuhe mit, die dein Bruder für ihn flickt. Auch wenn er ein Handwerksmeister ist, muss er jeden Heller umdrehen.“

Anna musterte den Gast, der ein rotes Barett in seinen Händen drehte. Sein struppiges schwarzgraues Haar stand nach allen Seiten ab, während der Bart gepflegt schien. Die große Hakennase verlieh ihm etwas Raubvogelhaftes. Am eindrucksvollsten jedoch waren die großen schwarzen Augen, die auf die Entfernung wie Holzkohle schimmerten. Der Fremde trat näher. „Verzeiht, dass ich euer Gespräch belauscht habe. Aber vielleicht kann ich ja Abhilfe schaffen.“

Als Anna seine Stimme hörte, erkannte sie, dass er kein Unbekannter war.

 

 

Kapitel 4

 

Anno Domini, 18. Juli 1527 – Hürben

 

Der schlafwarme Körper ihres Neffen schmiegte sich an sie. Die süßliche Ausdünstung des gerade der Muttermilch entwöhnten Zweijährigen vermischte sich mit dem Geruch des fauligen Strohs ihrer Schlafstatt. Zärtlich strich sie Ignaz über die dunklen Locken, die verschwitzt am Kopf des Kleinen klebten. Die letzten Wochen waren unerträglich heiß gewesen. Selbst des Nachts staute sich die Hitze in dem einstöckigen Gütl in der Nähe des Finsterbachs. Gut für die Ernte, die auf den Feldern rings um Hürben schon weit fortgeschritten war. Von ihren zwölf Tagwerk dagegen waren gerade einmal eineinhalb mit Roggen bebaut. Neben sauren Äpfeln, ein wenig Kraut und Rüben war nicht viel zu holen auf ihren mageren Wiesen, auf denen ein Schaf, eine dürre Ziege und ein paar Hühner darbten. Da war kein Platz mehr für ein weiteres hungriges Maul, selbst wenn es die eigene Schwester war. Aber das war nicht der wahre Grund. Hätte es noch eines Beweises bedurft, so war das die gestrige Begegnung mit diesem Färber-Jos. Er war es, der im Hüterhäusl vor einer guten Woche das nahe Strafgericht prophezeit hatte. Und nun wollte er sie als Magd mit nach Augsburg nehmen.

Zuerst hatte sie gezögert, doch ihre Neugierde war stärker als ihre Angst. Sie wusste nicht, was sie dort erwartete. Schlimmer als hier konnte es nicht sein.

Gebhart war über ihren Entschluss nicht überrascht gewesen. Vermutlich steckte er zusammen mit dem Färber-Jos unter einer Decke. Auch das war ihr egal. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.

 

Leise stand sie auf, um ihren Neffen nicht zu wecken. Ihn würde sie vermissen. Sie zog sich den grob gewebten Überrock über das Unterkleid aus Flachs. Alles andere war bereits in dem gepackten Bündel neben ihrem Bett. Vorsichtig nahm sie es auf und stieg die wackelige Leiter hinunter ins Erdgeschoss. Sie trat ins Freie. Die dunkelste Stunde der Nacht war fast vorbei. Am Horizont zeigte ein schmaler heller Streifen den nahen Sonnenaufgang an. Barfuß lief sie über die taufeuchte Wiese zum Finsterbach. Wer konnte sagen, wann sie wieder hierher kam. Sie tauchte ihre Hände in das kühle Nass, befeuchtete ihr Gesicht und ihren Hals. Anna lauschte dem Pfeifen der Vögel, das mit dem heller werdenden Tag lauter wurde. Würde sie die auch in Augsburg hören? Wehmut schlich sich in ihr Herz. Als die Morgendämmerung die Nacht endgültig vertrieben hatte, brach sie auf. Zurück am Haus erkannte sie im Gegenlicht ihren Bruder Gebhart. Ihre Kehle wurde eng.

Er trat auf sie zu. „Du kannst die Schuhe für den Färber-Jos gleich mitnehmen. Die vom Sedlmaier Hof bringe ich dann selbst vorbei.“ Seine Stimme klang rau.

Ihre mühsam aufrecht erhaltene Fassung brach wie ein Kartenhaus zusammen. Schluchzend fiel sie ihm um den Hals und nahm seinen Geruch auf. Ihr Bruder war der einzige Vertraute in ihrem armseligen Leben.Er entzog sich ihrer Umarmung. „Du musst los, damit dein neuer Dienstherr nicht ohne dich geht.“ Kurz zögerte er, als wollte er ihr noch etwas sagen, drehte sich dann wortlos um und schlich ins Haus zurück.

Mit tränennassem Gesicht schulterte Anna die beiden Bündel. War der Himmel in den letzten Tagen bereits am frühen Morgen strahlend blau gewesen, zogen heute erste Wolken auf. Die Luft war drückender. Die Moosgräser und Wildkräuter am Wegesrand dufteten betörend. Jetzt, wo sie diesen Weg vermutlich zum letzten Mal ging, nahm sie ihre Umgebung leuchtender wahr. Die Heide stand in voller Blüte und war gleichzeitig auch ein Zeichen, dass der Herbst seine Fühler ausstreckte. Den Weg nach Hochdorf säumten zahlreiche Spirken, die typisch für das Fürchelmoos waren. Knorrige Wurzeln wechselten sich mit Stellen ab, wo der Boden bei jedem Schritt nachgab. Wenn man weiterging, füllte sich die eigene Spur mit Wasser. Gebhart hatte ihr oft Schauergeschichten über das Moor erzählt. Angeblich brachten die Geister tot geborener und nicht getaufter Kinder die Reisenden vom Weg ab, damit diese in den Moorlöchern versanken. Eine Mär, die ihr heute noch Gänsehaut verursachte. Je näher sie dem höher gelegenen Hochdorf kam, desto trockener wurde der Weg. Im Eingangstor des Sedlhofs stand ein bereits voll beladener Pferdekarren. Der Sedlmaier Jörg und der Färber-Jos unterhielten sich leise mit dem Rücken zu ihr. Sie wirkten sehr vertraut, als sie sich mit einer Umarmung voneinander verabschiedeten. Anna fragte sich in diesem Moment, ob der Sedlbauer nicht auch im Hüter-Häusl in Hürben dabei gewesen war.

 

 

Kapitel 5

 

Anno Domini, 18. Juli 1527,

auf dem Weg nach Augsburg

 

Mit einem Seitenblick beobachtete der Färber-Jos die neben ihm auf dem Kutschbock sitzende Anna. Das Mädchen war von einer stillen Schönheit. Ein schmales, fein geschnittenes Gesicht. Große braune Augen unter dunklen Haaren, die sie locker im Nacken zusammengebunden hatte. Sie war zierlich und strahlte doch eine Kraft aus, die ihn faszinierte. Dass sie hier mit ihm auf dem Kutschbock saß, war ihrer Neugierde geschuldet. Sie wusste, wer er war. Das sah er in ihrem Blick. Vermutlich hatte sie seine Stimme erkannt. Deshalb waren er und die Brüder nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass die Lauscherin aus Hürben wegmusste. Dabei kam ihnen zugute, dass Anna sich eher als Magd verdingen würde, statt einen Kleinhäusler zu heiraten.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, wandte sie sich ihm direkt zu. „Ich wusste nicht, dass wir mit dem Pferdekarren nach Augsburg fahren.“

Jos deutete auf die Ladefläche. Darauf stapelten sich Säcke mit Roggen, Kisten mit Frühäpfeln, Rettichen und Pastinaken. „Für das alles hier bezahle ich beim Sedlbauern gut zwei Schillinge weniger als in Augsburg.“

„Wir haben im Fürchelmoos selbst kaum zu essen.“

Jos nickte: „Die Zeiten sind auch für Handwerker wie mich hart. Durch das Verlagssystem der Fugger müssen manche Weber in Augsburg fast ihren gesamten Verdienst fürs tägliche Brot ausgeben.“

„Was ist ein Verlagssystem?“

„Die Handelsgesellschaften, wie die Fugger, Rehlinger und Welser beschäftigen Weber in den Dörfern rings um Augsburg. Die liefern ihre Tuche zu günstigeren Konditionen, als die zünftigen Augsburger. So bleibt der Preis insgesamt niedrig, obwohl das Leben ständig teurer wird.“

„Aber die Fugger bringen Arbeit in unser Dorf“, wandte Anna ein.

„Das ist zunächst einmal richtig. Nur am Ende gewinnen immer die Kaufleute durch eine höhere Gewinnspanne.“

„Dann seid Ihr also regelmäßig in Hochdorf?“ Sie sah ihn prüfend an, bevor sie fortfuhr: „Es wundert mich nur, dass mir mein Bruder nicht von Euch erzählt hat. Wo er doch auch Euer Schuhwerk repariert. Sind Euch die Augsburger Schuster auch zu teuer?“

Jos schmunzelte innerlich. Anna war nicht nur klug, sie nannte die Dinge beim Namen. Man konnte ihr nichts vormachen. „Im Gegensatz zu den angeblich so christlichen Kaufleuten verdiene ich mein Geld mit meiner Hände Arbeit. Ich beute niemanden aus. Deinem Bruder zahle ich den Preis, den ich auch in Augsburg zahlen müsste. Gebhart und Jörg sind Freunde für mich. Außerdem gibt es im Fürchelmoos die besten Rauschbeeren.“

„Da sind auch welche dabei, die ich gesammelt habe“, erklärte sie nicht ohne Stolz.

Der Färber-Jos nickte. „Die verwende ich zum Schwarzfärben. Alles in allem rentiert sich der Weg zu euch raus für mich.“

„Und auch für uns Mösler“, ergänzte Anna nachdenklich.

„Jetzt habe ich so viel von mir erzählt. Von dir weiß ich nur, dass du die Schwester von Gebhart bist. Würdest du gerne lesen lernen?“

Annas Gesicht hellte sich auf. Zum ersten Mal, seit sie losgefahren waren. „Ja, sehr gern.“

„Und warum?“

Sie zögerte. Ihm entging nicht der kurze Anflug von Misstrauen, der über ihr Gesicht huschte.

Doch ihre Neugierde siegte und sie platzte heraus: „Weil ich gerne die Flugschriften von Doctor Luther lesen möchte, die der Pfarrer in seinen Sonntagspredigten verteufelt.“

Gebhart und seine Schwester waren sich sehr ähnlich. Jos bohrte nach: „Und warum gerade Luther? Meines Wissens hat er sich mit seinen Thesen nicht überall Freunde gemacht. Gerade in Baiern nicht, wo ihr wohnt. Im schwäbischen Augsburg denkt man anders darüber.“

Sie nickte. „Ich weiß, aber Luther hat gesagt, dass alle Menschen frei sind und dass man sich die göttliche Gnade nicht erkaufen kann. Nach dem Tod unseres Vaters hat uns der Pfaffe bedrängt, wir sollen noch einen Ablassbrief kaufen, damit der Verstorbene nicht so lange im Fegefeuer für seine Sündenstrafen büßen muss. Wie hätte das gehen sollen? Wir wussten sowieso schon kaum, wie wir jedes Jahr am Tag des heiligen Gallus im Oktober die Stift von siebzig Silberpfennigen aufbringen sollten. Und der Hofmarksherr verlangte über tausend Silberpfennige nur dafür, dass Gebhart anstelle unseres Vaters das Gütl bewirtschaften konnte. Für die sauren Wiesen und Felder im Moos und damit wir ein Dach über dem Kopf hatten. Geld, das sich mein Bruder von der Kirche leihen musste. Die haben uns das nicht umsonst gegeben, wie Ihr euch sicher vorstellen könnt.“ Ihre Stimme klang mit einem Mal bitter. „Schulden, die er zeit seines Lebens auf Erden nie zurückzahlen kann. Ganz zu schweigen von der Sündenstrafe im Fegefeuer dafür, wie Ihr sicher wisst.“ Sie sah ihn herausfordernd an.

Als Jos nickte, fuhr sie fort: „In seiner Verzweiflung ist Gebhart zusammen mit seinem Freund, dem Drexler André, in den Krieg gezogen. Sie wollten für ihre Rechte kämpfen, die die Bauernvertreter in Memmingen mit den zwölf Artikeln eingefordert hatten. Unter anderem eben auch für die Abschaffung der Abfahrt und Anfahrt für das Gütl nach dem Tod des vorherigen Pächters. Weniger Schulden bedeuten weniger Fegefeuer.“ Sie senkte den Kopf und starrte auf das Hinterteil des alten Kleppers, der den Wagen zog.

Der Färber-Jos räusperte sich. Die Offenheit der jungen Frau berührte ihn. „Ich kenne die Dämonen, die deinen Bruder plagen. Er hat mir von ihnen erzählt. Er fühlt sich schuldig, weil André seit dem Krieg eine Holzprothese hat und nicht mehr ganz richtig im Kopf ist.“

„André wird seitdem nur noch André auf der Stelzen gerufen“, warf Anna ein. „Obendrein hatte der Scherge Galhart sie zu einer Strafe von je drei Gulden verdonnert, weil sie verbotenerweise am Krieg teilgenommen haben. Gebhart war nach dem Krieg so, so ... niedergeschlagen. André verwundet, Schulden mehr als vorher und zu Hause ein bigottes Eheweib. Das einzig Gute an dieser Ehe ist der kleine Ignaz.“ Anna schüttelte den Kopf, als könnte sie damit alles ungeschehen machen.

„Ich kann seine Enttäuschung gut verstehen. Er hat sich durch Luther mehr erhofft. Der Mönch hatte den Finger in die Wunden gelegt und den Keim der Freiheit in die Köpfe der Unterdrückten gepflanzt. Letzten Endes aber hat er sich auf die Seite der Fürsten gestellt, welche die Bauernaufstände blutig niedergeschlagen hatten. Bei all dem Guten, das Doctor Luther bewirkt, ist das die dunkle Seite, die das Vertrauen der Armen und Unterdrückten erschütterte.“

„Das wusste ich nicht.“ Ihre Betroffenheit spiegelte sich in ihren Augen und Jos bemühte sich, seine Aussage abzumildern: „Susanna, eine gute Freundin von mir, ist den Lehren Luthers sehr zugetan. Sie besitzt auch eine deutschsprachige Bibel und hält in ihrem Haus regelmäßig Bibelstunden ab. Du könntest da sicherlich teilnehmen und so, wie ich sie kenne, würde sie dir auch das Lesen beibringen. Dann kannst du dir dein eigenes Bild über Doctor Luther machen.“ Wie Jos selbst zum Wittenberger Reformator stand, würde er ihr heute nicht sagen.

Annas Bestürzung wich einem strahlenden Lächeln. „Gern.“

Er deutete nach Westen, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. „Gleich kommen wir zum Lech. Du kannst das Rauschen schon hören. Und du wirst spüren, dass es durch den Fluß deutlich kühler wird.“ Wenig später zeigte er auf das gegenüberliegende Ufer, das ein langgezogener Wald säumte. „Das ist schon der Augsburger Stadtwald und dort hinten, auf dem Hügel, liegt Kissing.“

 

Waren sie bisher nur wenigen Menschen begegnet, füllte sich mittlerweile der Weg mit Männern, Frauen und Kindern, die ebenso wie sie auf dem Weg nach Augsburg waren. Mit Bündeln oder Handkarren, die sie hinter sich herzogen. Manch neidischer Blick traf das Fuhrwerk vom Thoma Jos.

Während Anna fasziniert das bunte Treiben betrachtete, taxierte der Färber aufmerksam die dräuenden Wolken über dem Kuhsee. „Ich hoffe, wir kommen trockenen Fußes in meiner Wohnstatt an. Gewitterwolken über diesem Altarm des Lechs sind ein schlechtes Zeichen. Da geht es manchmal ganz schnell.“

„Aber es riecht hier irgendwie nach Verwesung.“

Jos erwiderte nichts. Sie würde schon bald selbst sehen, wonach es hier roch.

Kaum war der Galgen in Sicht, verstummte das Stimmengewirr um sie herum. Annas Gesicht wurde weiß wie Kreide. Sie schluckte, um die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen. „Halt dir dein Tuch vor die Nase. Das hilft.“

„Ich habe schon einige Tote gesehen, aber noch nie einen so –“ Sie suchte nach Worten.

„Du meinst einen Toten, der seit Wochen als Abschreckung für alle am Galgen hängt und von der Sonne und den Krähen zerfleddert wird.“

Sie nickte.

Jos sah, dass sie trotz ihres Ekels die Augen nicht von dem Gehängten lassen konnte, während sie vorbeifuhren. Das Mädchen war hart im Nehmen. Die restliche Meile bis zur Afrabrücke verlief schweigend. Er sprang ab und führte das Pferd am Zügel weiter. „Komm, da vorne ist schon der Lechüber-gang.“

 

Anna versuchte in dem Gedränge, dicht an ihm dran zu bleiben. Der Weg führte geradewegs auf ein herrschaftliches Haus zu ihrer Linken zu, das direkt am Lech stand. Rechter Hand ragte auf einem Hügel eine Stadt mit einer wehrhaften Mauer. Der hohe Kirchturm streckte sich wie ein mahnender Zeigefinger in den Himmel.

„Mädle, jetzt mach Platz, wir wollen da auch noch nei.“

Ein Bauer mit einem Handkarren drängte sich an ihr vorbei. Anna strauchelte.

Jos fasste sie stützend am Arm. „Du bleibst am besten bei mir. In dem Gedränge finde ich dich nicht so schnell wieder.“ Sie nickte stumm. Angst und Neugier wechselten sich in ihrem Inneren ab. Beschwichtigend fuhr Jos fort: „Das ist alles neu für dich, aber du wirst sehen, in ein paar Monaten hast du dich an das Leben hier gewöhnt. Das da drüben auf dem Hügel ist übrigens Friedberg und wir sind jetzt in Hochzoll, wo wir über die große Holzbrücke über den Lech müssen.“

Beim Augsburger Zollhaus auf der anderen Seite des Flusses drückte Jos dem Zöllner zwei Silberstücke in die Hand. Der junge Mann beglotzte Anna aufdringlich.

„Wen hasch du denn heut dabei? Des isch ja a ganz Hübsche. Di würd i au net aus mei’m Bett schubsa.“

Die Umstehenden lachten.

„Die isch aber net für dei Bett ’dacht.“ Jos grinste, doch in dem Unterton seiner Stimme war die stille Warnung zu hören, die Finger von Anna zu lassen. „Das Mädle hilft mir im Haus. Mei alte Magd hat die Schwindsucht weggerafft.“ Er zog Anna am Ärmel nach, vorbei an einer weiten Wiese, wo Tücher am Boden gespannt waren. Der Himmel hatte mittlerweile eine gelbliche Färbung angenommen. Schwarze Gewitterwolken türmten sich drohend auf. Heftige Windstöße blähten die aufgespannten Tuchbahnen bedrohlich auf. Jos winkte einem schlaksigen Mann in ärmlicher Kleidung, der seine Frau und seinen Sohn laut anhielt, die Tücher zusammenzuraffen. „Das ist der Riexner Utz, ein Weber. Er spannt hier seine Stoffe zum Bleichen auf. Jetzt muss er sich eilen, damit die nicht nass werden, sonst fängt er morgen von vorne an. Das kann er sich nicht leisten. Schließlich passen die Stadtwachen nicht umsonst auf.“

„Wie bei uns auf der Allmende. Wir müssen die Hüter auf der Gemeindewiese auch bezahlen, damit sie auf unser Vieh achten.“

Der Menschenstrom verteilte sich. Nur noch wenige waren in ihrer Richtung unterwegs.

Anna blieb abrupt stehen. Wie von Geisterhand spannte sich ein gemauerter Steinbogen über die Straße. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Das sind unsere Schwibbogenbrücke und das gleichnamige Tor. Das haben wir den Römern zu verdanken. Wobei der Stadtgraben darunter mit dem Unrat nicht so angenehm ist.“ Er wedelte mit der Hand den Geruch weg. „An so drückenden Tagen wie heute stinkt er erbärmlich.“

Trotz des beißenden Gestanks konnte sich Anna kaum losreißen. Doch Jos drängte zum Weitergehen. „Das kannst du dir zukünftig jeden Tag anschauen. Wir sind gleich an meiner Wohnstatt.“

Wieder überquerten sie eine kleine Brücke. „So viel Wasser gibt es bei uns in Hürben nicht.“

Jos lachte. „Wir sind hier im Lechviertel und das ganze Wasser, das du siehst, sind nur Kanäle, die vom Lech abgezweigt oder aufgestaut wurden. Da vorne, am Anfang der Gasse, siehst du dein neues Zuhause.“ Mit Blick auf die zuckenden Blitze an dem dunklen Himmel fuhr er fort: „Wir müssen uns mit dem Ausladen eilen. Es geht gleich los.“ Kaum dass das Fuhrwerk stand, drückte er Anna einen Korb mit Gemüse in die Hand und sperrte die Tür zum Haus auf.

In diesem Moment eilte ein junger Mann in einem verstaubten Wams durch die schmale Gasse auf sie zu. Das Erste, was Anna auffiel, war eine dicke rote Narbe, die sich quer über sein Gesicht zog. „Lasst euch helfen, bevor das Gewitter losbricht.“

„Dank dir, Lenz, du kommst wie gerufen.“ Schweigend luden sie die Körbe und Säcke ab. Anna bemerkte, dass ihr dieser Lenz beim Ausladen verstohlen zulächelte, was ihr gefiel.

Gerade als sie fertig waren, öffnete der Himmel seine Schleusen.

 

 

Kapitel 6

 

Anno Domini, 30. Juli 1527, Augsburg

 

Seit knapp zwei Wochen lebte Anna hier in Augsburg beim Färber-Jos. Anfangs hatte ihr Jos zwar gezeigt, wo Stadtmarkt und Bäcker waren. Dann aber musste sie sich in dem Gewirr der engen Gassen selbst zurechtfinden. So kostete es sie viel Zeit, nur um das Notwendigste für den Tag einzukaufen. Tagsüber kam sie deshalb kaum zum Nachdenken und nachts sank sie in einen traumlosen Schlaf. Sie fühlte sich wohl hier. Ihr altes, armseliges Leben, in dem der Hunger ihr ständiger Begleiter war, vermisste sie nicht.

Außerdem war da noch Lenz, der ihr Herz schneller schlagen ließ, wenn sie ihn sah. Sein Weg zur Arbeit führte ihn am Haus des Färber-Jos vorbei. Aber bisher hatte er ihr nur lächelnd zugenickt.

Sie zog den köchelnden Getreidebrei für das Frühessen vom Feuer und stellte ihn zu den irdenen Schüsseln auf den Tisch der Kuchl. Ihr Tag begann kurz nach Sonnenaufgang, da Jos früh an die Arbeit ging. Ihr Frühessen verlief meistens wortlos, denn der Färber redete am Morgen wenig. Deshalb war sie verwundert, als er heute das Wort an sie richtete, kaum dass er die Kuchl betreten hatte.

„Übermorgen kommt Meister Hans, ein fahrender Buchhändler. Er wird für zwei Tage unser Gast sein und in dem Zimmer neben meiner Kammer schlafen. Du musst da ausfegen, frische Binsen streuen und einen neuen Strohsack hineinlegen.“

„Die Binsen und das alte Stroh habe ich schon verbrannt, Meister. Ausfegen werde ich, wenn ich vom Markt zurück bin.“

Jos nickte anerkennend. „Ich sehe schon, da habe ich mir eine Magd geholt, die sieht, was zu tun ist und der man nichts anschaffen muss. Allein schon, dass Kuchl und Wohnstube wieder heimelige Orte sind, rechne ich dir hoch an. Bei meiner alten Magd hatte ich immer das Gefühl, nie alleine zu sein, vor lauter Ungeziefer.“

Anna genoss das Lob ihres Dienstherrn. In Hürben hatte sie nie jemand gelobt. „Soll ich etwas Besonderes kochen?“

„Etwas Besonderes nicht, aber viel. Hans isst viel und er redet viel.“ Jos lachte. „Du kannst dich schon mal darauf einstellen, dass es nicht so ruhig sein wird wie sonst. Wenn er nicht unterwegs ist, wird er in der Wohnstube sitzen und Geschichten erzählen.“ Jos schob seinen Stuhl zurück. „Bevor ich es vergesse: Ich habe mit meiner Freundin Susanna Daucher gesprochen. Sie bringt dir gerne das Lesen bei und wenn du willst, darfst du auch bei ihren Bibelstunden dabei sein.“

Anna sprang auf. „Ich komme gerne, Meister. Sagt ihr das bitte.“

„Lass den Meister weg. Ich bin der Jos für dich. Und mit Susanna kannst du es selber ausmachen. Wir treffen sie am kommenden Sonntag. Wir gehen zusammen in die Barfüßerkirche, wo ein besonderer lutherischer Prediger da sein wird.“ Er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: „Es ist also keine Messe, so, wie du sie aus Hürben kennst.“

Anna winkte ab. „Da fehlt mir auch nichts. Ich bin nur in die Kirche gegangen, weil es sich bei uns im Dorf so gehört. Außerdem hätte mich meine Schwägerin Agnes sofort beim Pfarrer angeschwärzt, wenn ich einfach zuhause geblieben wäre. Ich habe nur die Bilder an der Wand angeschaut, bis der Pfarrer fertig war.“

Wieder lachte der Färber-Jos. „Deine Offenheit hat mich schon auf dem Sedlmaier-Hof beeindruckt. Du bist bei unseren Brüdern und Schwestern in Augsburg gut aufgehoben.“

Anna stutzte kurz. Was meinte er mit Brüdern und Schwestern? Doch sie fragte nicht nach. Momentan war sie einfach glücklich. All das hatte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Sie griff sich den Einkaufskorb und hoffte, auf ihrem Weg zum Markt, Lenz wiederzusehen.

 

Auch Lenz Kirchperger war früh auf den Beinen. Er verließ den Gasthof Zum Weißen Adler kurz vor dem fünften Glockenschlag am Morgen. Die Sonne verdrängte gerade die Schatten aus der Bäckergasse, die den Milchberg im Süden mit dem Predigerberg im Norden verband. Trotz der frühen Stunde schoben sich viele Menschen durch die enge Gasse. Ein verführerischer Duft strömte aus den zahlreichen Backstuben, die hier ansässig waren. Jeden Morgen lief Lenz das Wasser im Munde zusammen, wenn er die zweihundert Schritt bis zu seinem Lieblingsbäcker ging. Er hatte es in den vier Wochen, seit er in Augsburg war, keinen einzigen Tag versäumt, ein frisches Brot zu kaufen. Er wich zwei Gesellen aus, die ein Brett zwischen sich trugen, das Lenz an ein Türblatt erinnerte. Darauf lagen gut und gerne zwanzig Laibe duftenden Roggenbrotes für den nahegelegenen Augsburger Stadtmarkt. Er betrat den Verkaufsraum und erstand ein längliches Weizenbrot für neun Silberpfennige; immerhin ein Viertel seines Tagesverdienstes. Die Weber, Färber oder Bleicher berappten dafür die Hälfte ihres Tageslohnes, weshalb sie es sich nicht leisteten. Für diese Handwerker wurden die Zeiten immer härter. Alles wurde teurer, nur die Arbeitskraft nicht. Dafür sorgten die großen Handelshäuser der Fugger und Welser.

Er trat ins Freie, brach ein Ende ab und begann gierig zu essen. Nach wenigen Schritten bog er Richtung Osten in die Gasse Am Schwall ein. Sofort fiel das Licht der aufgehenden Sonne in sein Gesicht. Lenz blieb stehen. Kauend genoss er diesen Moment. In Augenblicken wie diesen vergaß er beinahe die Schuld, die er auf sich geladen hatte.

Er packte den Rest des Brotes in seinen Beutel und setzte seinen Weg fort. Am Schwalllech angekommen, folgte er einer Gasse nach Norden, immer entlang dieses Lechkanals mit den vielen ratternden Wasserrädern. Am Konvent der Schwestern der freiwilligen Armut am Schwall, teilte sich der Schwalllech in den Mittleren und Hinteren Lech. Ab hier verdeckten die hohen Gebäude der Laienschwestern die Sonne. Er überquerte eine kleine Brücke und erreichte die Gasse Hinterer Lech.

Beim zweiten Anwesen auf der linken Seite verlangsamte er seinen Schritt, in der Hoffnung, die neue Magd des Färber-Jos anzutreffen. Bisher hatte er ihr nur zugelächelt. Doch heute wollte er sie ansprechen. Das Glück war mit ihm, denn Anna verließ das Haus, als er vorbeiging. Kurzentschlossen trat er ihr in den Weg. „Guten Morgen Anna!“

„Guten Morgen, Lenz.“

Ihr Gesicht schien zu leuchten und schlug ihn augenblicklich in Bann. „Wie geht es dir?“, war alles, was er herausbrachte.

Sie lächelte ihn an. „Gut. Ich bin auf dem Weg zum Stadtmarkt. Einkaufen für den Meister.“

Er fasste all seinen Mut zusammen: „Soll ich dir heute mal das Lechviertel zeigen? Anschließend könnten wir im Weißen Adler einen Becher Wein trinken. Was meinst du?“

„Ich überlege es mir.“ Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Schau doch auf dem Heimweg von der Arbeit noch einmal vorbei. Wenn Meister Jos mich nicht braucht, komme ich gerne mit.“

Sie winkte ihm zum Abschied zu und Lenz sah ihr nach, bis sie um die Häuserecke bog. Er war glücklich, hatte das Gefühl, die dunkelhaarige, zierliche Frau schon ewig zu kennen. Ganz im Gegensatz zu seiner Jugendliebe Magdalena, wo er nie wusste, woran er war. Lenz stieß die Luft zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor. Magdalena war Geschichte, auch wenn er manchen Sonntag mit ihr in den verborgenen Winkeln der Landsberger Stadtgärten verbrachte hatte. Die Zeit war reif für etwas Neues. Beschwingt legte er die zweihundert Schritte bis zu dem dreistöckigen Anwesen mit den sechs Fensterachsen seines Meisters zurück. Über eine hölzerne Brücke betrat Lenz den Eingangsbereich des eindrucksvollen Hauses.

„Gott zum Gruße, Lenz!“, empfing ihn Meister Kießling frohgelaunt. „Wie immer der Erste!“

„Guten Morgen, Meister. Was steht heute an?“ Lenz schätzte Meister Hans, der wie er aus Baiern stammte. An Peter und Paul Ende Juni hatte Lenz als wandernder Zimmermann an seine Tür geklopft. Sein Betrieb war gefragt, sowohl bei den einfachen Leuten wie auch bei den wohlhabenderen Handwerkern. Deshalb konnte Kießling jede Hand gebrauchen.

„Heute pressiert es nicht so. Wir müssen nachher nur das Aufmaß für ein Stützgerüst nehmen. Der Bauherr will ein repräsentatives Kreuzgewölbe im Eingangsbereich seines Hauses haben.“ Meister Hans klopfte auf den freien Platz neben sich auf der Bank. „Komm, setz dich. Die letzten Wochen war so viel zu tun, dass wir gar nicht zum Reden gekommen sind. Es interessiert mich, was ein Fremdgeschriebener wie du auf seiner Wanderschaft in Bern, Zürich und Memmingen so erlebt hat.“

Lenz ahnte seit Längerem, dass nicht allein seine Kenntnisse und Fähigkeiten den Meister überzeugt hatten, sondern auch die Tatsache, dass seine bisherigen Arbeitsstätten in Hochburgen des Protestantismus lagen. Denn Kießling war, wie viele Augsburger, ein Anhänger der Reformation. Ganz im Sinne Luthers und Zwinglis schätzte er die Arbeit als gottgefällig.

„Ich wüsste nicht, was es da groß zu erzählen gibt. Ihr kennt meine Arbeit und ich hoffe, Ihr seid damit zufrieden.“

„Alles bestens, Lenz. Mich plagt eine Frage, die ich gerne mit dir disputieren möchte.“ Dabei sah er seinen Gesellen aufmerksam an. „Mich interessiert, worin sich deiner Meinung nach Zwingli und Luther unterscheiden. Während deiner Aufenthalte in Zürich und Memmingen hast du doch beide Lehren kennengelernt.“

Lenz war sich bewusst, dass der Meister ihn aushorchte, um seine Gesinnung in Erfahrung zu bringen. Zurückhaltend antwortete er: „Huldrych Zwingli hat das altgläubige System in Zürich nur gegen ein Regime des Stadtrates ersetzt.

---ENDE DER LESEPROBE---