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Die Einheit der Christen wird nicht Ergebnis von Verwaltungsmaßnahmen sein und theologisch keine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Einheit der Christen ist vielmehr in der persönlichen Beziehung zu Jesus Christus begründet und ein Geschenk des Geistes Gottes, dem es Geist und Herz zu öffnen gilt. Das geistliche Leben der Christen ist der Weg zu dieser geschenkten Einheit, in der die Vielfalt der Gaben, die der Geist schenkt, eingebracht werden. Zu diesem Weg und seinen Stationen ermutigt das Buch von George Augustin.
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Seitenzahl: 220
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George Augustin
Die Seele der Ökumene
Einheit der Christen als geistlicher Prozess
Mit einem Geleitwort
von Walter Kardinal Kasper
Patmos Verlag
Geistliche Ökumene – Eine Einführung
1 Ökumene am Scheideweg
2 Wachstumsprozesse der Einheit
3 Das Zentrum der Einheit: Gott
4 Das Fundament der Einheit: Jesus Christus
5 Das Sakrament der Einheit: Eucharistie
6 Ökumenische Spiritualität und die Kirche
7 Teilhabe am Leben Gottes: Spirituelles Wachstum in der Einheit
8Communio sanctorum:Spirituelles Wachstum in der Heiligkeit
9 Die Universalität der Reich-Gottes-Botschaft: Spirituelles Wachstum in der Katholizität
10 »Damit die Welt glaube«: Apostolische Sendung, missionarische Spiritualität
11 Ökumene als lebendiger Dialog in Liebe und Wahrheit
12 Ausblick: Ökumene nach dem Ende der Ekklesiozentrik
Anmerkungen
Bibelstellenregister
Abkürzungen (Lehramtliche Dokumente)
Literaturhinweise
Über den Autor des Geleitwortes
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Jesus Christus hat am Abend vor seinem Leiden und Sterben für seine Jünger gebetet, »dass sie eins seien« (Joh 17,21). Dieses Gebet gilt als Grundlage der ökumenischen Bewegung und sagt zugleich, worum es in der Ökumene geht.
Denn es ist bezeichnend, dass es sich in dem Wort des Herrn am Abend vor seinem Tod nicht um ein Gebot oder gar um einen Befehl handelt, sondern um ein Gebet. Ökumene ist kein kirchlicher Aktionismus, nicht kirchliche Diplomatie, auch nicht ein akademischer Dialog. Wenn Jesus darum betet, dass seine Jünger eins seien, so wie er und der Vater eins sind, dann können wir diese Einheit nicht machen. Wir können sie nicht programmieren, nicht organisieren und nicht nach unseren Vorstellungen und Wünschen ausdenken und konstruieren. Die Einheit kann uns nur als Frucht des Gebets durch den Geist, den der Vater sendet, geschenkt werden. In diesem Sinn ist Ökumene – kurz gefasst – Teilnahme am Gebet Jesu, und das Gebet um die Einheit ist der Königsweg der Ökumene.
Selbstverständlich bedeutet solche geistliche Ökumene nicht, die Hände zu falten und sie dann in den Schoß zu legen. Auch wenn die Einheit nicht unser Werk ist, so lädt uns Gott doch ein, Mitarbeiter zu sein (1 Kor 3,9; 2 Kor 6,1) an seinem Plan der Einheit, mit der er alles zusammenfassen will (Eph 1,10). Jesus selbst hat für die Einheit seiner Jünger gebetet und ist dann im Gehorsam gegenüber dem Vater den Weg nach Golgota gegangen. So ist unser Gebet für die Einheit nicht Ersatz für unseren Einsatz für die Einheit. Das Gebet ist vielmehr der Atem und die Seele unseres Tuns.
In diesem Sinn hat die Kirche schon immer um die Einheit gebetet. Im ältesten Eucharistiegebet, das wir kennen, betete die Kirche: »Gedenke, Herr, deiner Kirche … und führe sie zusammen von den vier Winden in dein Reich, das du ihr bereitet hast« (Didache 10,5). Besonders in der Karfreitagsliturgie finden wir seit alters und bis heute das Gebet um die Einheit der Christen.
Das Gebet schlechthin für die Einheit der Christen ist das Herrengebet, das »Vater unser« (Mt 6,9–13; Lk 11,2–4). Es wird von den Christen aller Kirchen gebetet und verbindet sie sozusagen tagtäglich. Dieses Gebet spricht alle wesentlichen ökumenischen Anliegen an: Es richtet sich an den uns gemeinsamen Vater im Himmel, es bittet um das Kommen seines Reiches und die Erfüllung seines Willens, es bittet um das tägliche wie um das eucharistische Brot, um die Vergebung der Schuld unserer Trennung und die Heilung der Wunden, die sie geschlagen hat, um Bewahrung vor Versuchung zu neuen Trennungen und vor dem Bösem der Lieblosigkeit, der Spaltung, der Vorurteile, der Verketzerung und des Hasses.
Die moderne ökumenische Bewegung hat mit einer Gebetsökumene angefangen. Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben sich Christen, vor allem Frauen, verschiedener Kirchen auf allen Kontinenten unabhängig voneinander zum gemeinsamen Gebet um die Einheit versammelt. In Rom geschah dies durch den um das Laienapostolat verdienten und auch von den Päpsten als Beichtvater hochgeschätzten heiligen Vinzenz Pallotti (1795–1850) in der Kirche San Andrea della Valle. Im 19. Jahrhundert hat Paul Francis Wattson (1863–1940) die Gebetswoche für die Einheit der Christen auf den Weg gebracht. Schon Papst Pius X. und alle folgenden Päpste haben diese Initiative lebhaft aufgegriffen und unterstützt. Bei der Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910, die gewöhnlich als Ausgangspunkt der heutigen Ökumene gilt, geschah das Entscheidende nicht in der Versammlung hinter verschlossenen Türen, sondern durch Gebetsgruppen vor den Türen der Versammlung.
Im 20. Jahrhundert wurde vor allem der französische Abbé Paul Couturier (1881–1953) Promotor und Inspirator der Gebetswoche für die Einheit und des geistlichen Ökumenismus. Von ihm stammt die Idee der Ökumene als einem unsichtbaren Kloster. Während sich im sichtbaren Kloster die Mönche oder Nonnen sichtbar zum Gebet versammeln, geschieht dies in der geistlichen Ökumene in verschiedenen Ländern und Kontinenten in unsichtbarer Weise. Maßgebend wurde dann die ökumenische Gruppe von Dombes (seit 1937). Sie hat das Gebet für die Einheit verbunden mit der Bekehrung der Kirchen und hat damit neu ins Bewusstsein gerufen, dass die Einheit der Christen ein geistlicher Prozess ist, der ohne Umkehr und Erneuerung nicht möglich ist (Für die Umkehr der Kirchen. Identität und Wandel im Vollzug der Kirchengemeinschaft, 1991).
Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Gedanken der Reform und Erneuerung aufgegriffen (LG 8; UR 6) und in diesem umfassenden Sinn den geistlichen Ökumenismus als die Seele des Ökumenismus bezeichnet: »Diese Bekehrung der Herzen und die Heiligkeit des Lebens ist in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen Gebet der Christen als die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung anzusehen und kann mit Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden« (UR 8; vgl. UUS 15–17; 21–27).
Die geistliche Ökumene durch Gebet und Buße steht im Gesamtzusammenhang des christlichen und kirchlichen Lebens insgesamt. Sie nährt sich vor allem vom Wort Gottes in der Heiligen Schrift. Das geschieht in der persönlichen wie gemeinsamen geistlichen Schriftlesung (Lectio divina) und Schriftauslegung (DV 25) wie durch das Schauen auf die großen Zeugen des Wortes Gottes: auf Jesus Christus den Urzeugen (Offb 1,4f), auf Maria, seine Mutter, die das Wort Gottes in ihrem Herzen bewegt und es bereitwillig angenommen hat (Lk 1,38; 2,19.51), die große Wolke der Zeugen (Hebr 12,1), die Märtyrer, auch die vielen Märtyrer unserer Zeit, und die Heiligen in allen Jahrhunderten, zu denen auch viele Märtyrer und Bekenner der anderen Kirchen gehören. So gehört die geistliche Ökumene hinein in die große Gemeinschaft der Heiligen.
Neben und zusammen mit der Heiligen Schrift ist die Liturgie der Sakramente ein grundlegender Ort der geistlichen Ökumene. Durch den Glauben an Jesus Christus (Röm 10,12), auch durch die eine Taufe auf Jesus Christus sind wir in grundlegender Weise schon jetzt eins in Jesus Christus (1 Kor 12,13; Gal 3,27f; Kol 3,11). Auf der Grundlage dieser fundamentalen Einheit ist der ökumenische Dialog nicht nur ein Austausch von Gedanken und Wünschen, sondern ein geistlicher Austausch von Gaben des Geistes, welche jede Kirche erhalten hat (UUS 28; 57). Der ökumenische Austausch will uns bereichern; er macht uns nicht weniger katholisch, sondern in einem volleren Sinn katholisch. Er ist ein Weg, auf dem uns der Geist in die ganze Wahrheit einführt (Joh 16,13).
Die Eucharistie ist das Sakrament der Einheit schlechthin. »Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib, denn wir alle haben teil an dem einen Brot« (1 Kor 10,17); »Wie dies (Brot) auf den Bergen zerstreut war und zusammengebracht ein Brot geworden ist, so soll deine Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in dein Reich« (Didache 9,4). Auch heute ist in jeder Eucharistiefeier beim Friedensgruß (Pax) das Gebet um die Einheit fest verankert. »Herr Jesus Christus, schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem Willen Einheit und Frieden.« Umso größer muss bei der Feier der Eucharistie der Schmerz sein, dass wir das eine Brot nicht gemeinsam brechen und den einen Leib des Herrn nicht gemeinsam empfangen können. Schließlich nimmt uns das Sakrament der Buße, das Jesus der Kirche als österliches Geschenk mit auf den Weg gegeben hat (Joh 20,22f) wieder in die volle Gemeinschaft der Kirche auf, wenn wir uns durch die Sünde von Gott und voneinander, nicht zuletzt durch Sünden gegen die Einheit der Kirche getrennt haben.
Das Kirchenjahr mit dem Kranz der großen Feste, welche der ganzen Christenheit gemeinsam sind, besonders die Feier der Geburt und der Erscheinung (Epiphanie) des Herrn und die Feier des Paschamysterium und der Ausgießung des Heiligen Geistes, macht uns unsere Zusammengehörigkeit immer wieder neu bewusst, und es ist gut, dass wir aus Anlass dieser Feiern jeweils unsere Verbundenheit durch Grußbotschaften und Zeichen zum Ausdruck bringen. Dass wir Ostern dennoch in Ost und West noch immer nicht am gleichen Tag feiern können, ist eine tiefe Wunde, und mancher Spott von Nichtchristen kann uns nur beschämt machen.
Schließlich ist neben der Martyria und Leitourgia die gemeinsame Diakonia ein wichtiger Ort geistlicher Ökumene. Die Hilfe für Brüder und Schwestern, welche Not und Verfolgung leiden, ist nicht nur eine soziale und karitative Angelegenheit, sie ist Begegnung mit Jesus Christus selbst. »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,40). Durch den gemeinsamen Dienst für notleidende Glieder am einen Leib Christi geben wir Zeugnis unserer Einheit in Christus; durch unseren gemeinsamen Einsatz stärken wir zugleich das Band der Liebe zwischen uns und wachsen so untereinander tiefer zusammen. In der jüngsten Flüchtlingskrise ist das in erfreulicher Weise deutlich geworden, und es wird auch in Zukunft an Herausforderungen zum gemeinsamen Dienst nicht fehlen.
Die große Herausforderung, vor der wir stehen, ist die Situation der zunehmenden Verfolgung der Christen in vielen Teilen der Welt. Christen werden verfolgt, nicht weil sie orthodox, evangelisch oder katholisch sind; sie werden verfolgt, weil sie Christen sind. In dieser Ökumene des Blutes (Papst Franziskus) erfahren wir, dass das, was uns eint, wirklich mehr ist als alles, was uns trennt. Durch sie wird unser in der Taufe grundgelegtes gemeinsames Verwurzeltsein in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi konkret. Wenn das Blut der Märtyrer der Same neuer Christen ist (Tertullian), dann ist – so dürfen wir hoffen – das Blut der gemeinsamen Märtyrer der Same künftiger christlicher Einheit. So könnte die gemeinsame Märtyrer-Erfahrung unserer manchmal etwas müde gewordenen Ökumene neuen Elan und neue Hoffnung geben.
Jesus hat uns verheißen, dass alles, worum wir ihn in seinem Namen bitten, uns zuteilwerden wird (Joh 14,13f). Worum könnten wir mehr in seinem Namen beten als um die Einheit aller seiner Jünger. Das ist sein Testament, sein letzter Wille. So dürfen wir vertrauen: Der Geist Gottes, der die ökumenische Bewegung angestoßen hat (UR 1; 4), wird sie auch vollenden in einer Einheit, wie er sie will und nicht wie wir sie uns vorstellen und wollen. Das kann uns Leitbild, Motivation und Kraft sein, alles uns Mögliche und Verantwortliche zu tun, damit alle eins seien.
Die Seele der Ökumene
»Quanta est nobis via?« (»Wie lange ist der Weg, der noch vor uns liegt?«), so fragt Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika über die Ökumene »Ut unum sint« und bringt damit die Sehnsucht der in der Ökumene engagierten Christen nach Einheit zum Ausdruck: »Die bessere gegenseitige Kenntnis und die Übereinstimmung in Fragen der Lehre, die wir schon erreicht haben und die eine effektive Zunahme des Gemeinschaftsgefühls zur Folge hatten, können dem Gewissen der Christen, die die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche bekennen, freilich noch nicht genügen. Das letzte Ziel der ökumenischen Bewegung ist die Wiederherstellung der sichtbaren vollen Einheit der Getauften. Im Hinblick auf dieses Ziel sind alle bisher erreichten Ergebnisse nur ein, wenn auch vielversprechendes und positives Wegstück« (UUS 77). Auf diesem Weg zur vollen Kirchengemeinschaft haben die christlichen Konfessionen in den letzten Jahrzehnten der ökumenischen Begegnung und des Dialogs eine entscheidende Wegstrecke hinter sich gebracht. Jetzt steht die ökumenische Bewegung an einem entscheidenden »Wendepunkt«.1
Der Weg vor uns bis zum in der Enzyklika benannten Ziel der sichtbaren Einheit scheint noch steiniger und schwieriger zu sein als der Weg, der hinter uns liegt. Denn die ökumenische Landschaft ist gegenwärtig nicht nur unübersichtlich, sondern vor allem von Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet.
Wenn wir über die ökumenische Bewegung sprechen, müssen wir unbedingt eine allgemeine, weltweite universalchristliche Perspektive einnehmen. Die Beziehung zwischen den getrennten Christen ist von Land zu Land verschieden. Die ökumenische Situation stellt sich in den verschiedenen Ländern und Kontinenten und im Verhältnis zu den verschiedenen Kirchen und Konfessionen sehr unterschiedlich dar. Die Annäherungen bewegen sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Neben einem guten Miteinander der Gläubigen unterschiedlicher Kirchen und Konfessionen gibt es auch ein abgekühltes Nebeneinander. Viele Beziehungen sind durchaus mit aus der Vergangenheit übernommenen Verhärtungen und mit zeitgeistbedingten Abgrenzungen belastet.
Nach der anfänglichen Begeisterung der Christen beobachten wir einen Wandel in der ökumenischen Landschaft. In den christlichen Konfessionen erwacht eine neue Identitätsfrage: Wer bin ich? Wer sind wir? Wie können wir in einer globalisierten Welt unsere konfessionelle und kulturelle Identität bewahren?
Nach den konfessionellen Annäherungen der letzten Zeit findet in allen Kirchen und Konfessionen eine neue Suche und Besinnung auf die eigene konfessionelle Identität statt. Diese Suche nach Identität ist sehr oft mit einer Rückbesinnung aufs Nationale sowie einer kulturellen und politischen Abschottung verbunden. Derartigen Abgrenzungen und Unterschieden der Konfessionen wird eine spirituelle Einfärbung gegeben, um die Spaltungen und Differenzen zu rechtfertigen. Das verursacht Animositäten und Vorurteile in der Beziehung der Christen untereinander. Leider müssen wir auch die Beobachtung machen: Nicht nur unterschiedliche Meinungen, sondern auch grundlegende Gegensätze und Spaltungen über viele Fragen zum christlichen Glauben und Leben, zum Kirchesein und besonders zu ethischen Themen und zur Pastoral gibt es nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch innerhalb jeder christlichen Konfession. Die Trennungen und Spaltungen laufen nicht nur an der Linie der Konfessionsgrenzen entlang, sondern auch innerhalb der Konfessionen.
In der sich verändernden Landschaft der Ökumene können wir Folgendes beobachten: Die Optimisten sind nach den bescheidenen Anfängen der modernen Ökumene dankbar und froh für das Erreichte. Die Pessimisten sprechen vom Ende der Ökumene. Die Altmeister der ökumenischen Sternstunde klagen über die Interesselosigkeit der Jüngeren. Und die Nichtbeteiligten bezeichnen die Ökumene als Hobby von protestantisierenden Katholiken und katholisierenden Protestanten. In einigen orthodoxen Kirchen ist das Wort »Ökumene« immer noch negativ besetzt. Die kirchliche Basis zeigt sich inzwischen ungeduldig über das nicht angepackte »heiße Eisen«, und manche verbinden mit Ökumene meist nur noch Frustration. Denn der in mühseliger theologischer Kleinarbeit erarbeitete Konsens in Glaubensfragen erreichte nicht immer die Basis und wurde im kirchlichen Leben nicht wirklich rezipiert.2
Zweifellos haben der interkonfessionelle Dialog und die Begegnungen der Christen auf bilateraler und multilateraler Ebene in den letzten Jahrzehnten positive und greifbare Ergebnisse erzielt. Über viele strittige Kontroversfragen der Theologie wurde ein differenzierter Konsens herbeigeführt. Doch die Einheit der Christen in einer sichtbaren Kirchengemeinschaft scheint dennoch in unerreichbare Ferne gerückt zu sein. Die Last einer uralten, aus der Vergangenheit ererbten Verständnislosigkeit sowie gegenseitige Missverständnisse und Vorurteile belasten immer noch die Beziehungen der christlichen Kirchen und Konfessionen untereinander.
Die heutige ökumenische Situation ist weitgehend erschwert »durch Unbeweglichkeit, Gleichgültigkeit und eine unzureichende Kenntnis voneinander. Das Engagement für die Ökumene muss sich daher auf die Umkehr der Herzen und auf das Gebet stützen, was auch zur notwendigen Läuterung der geschichtlichen Erinnerung führen wird. Durch die Gnade des Heiligen Geistes sind die Jünger des Herrn, beseelt von der Liebe, vom Mut zur Wahrheit und von dem aufrichtigen Willen, einander zu verzeihen und sich zu versöhnen, aufgerufen, ihre schmerzvolleVergangenheit und jene Wunden, die diese leider auch heute noch immer hervorruft, gemeinsam neu zu bedenken. Von der stets jungen Kraft des Evangeliums werden sie eingeladen, gemeinsam aufrichtig und völlig objektiv die begangenen Irrtümer sowie die Begleiterscheinungen anzuerkennen, die am Beginn ihrer unglückseligen Trennungen standen. Dazu braucht es einen ruhigen und klaren, der Wahrheit verpflichteten und von der göttlichen Barmherzigkeit belebten Blick, der imstande ist, den Geist zu befreien und in einem jeden eine neue Bereitschaft zu wecken im Hinblick auf die Verkündigung des Evangeliums an die Menschen jedes Volkes und jeder Nation« (UUS 2).
Angesichts der gegenwärtigen Situation und der zukünftigen Herausforderungen müssen wir die Ökumene aus der Fülle und Mitte des christlichen Glaubens inhaltlich und spirituell neu bestimmen. Trotz aller immer wieder neu aufkommenden Irritationen und Schwierigkeiten in den ökumenischen Beziehungen gibt es keine Alternative zur Ökumene. Denn »die ökumenische Bewegung selbst ist sowohl geistlich wie lebenspraktisch ein irreversibler Prozess« (W. Kasper)3, da die Einheit in der Berufung und Sendung der Christen schon grundgelegt ist. Fast alle christlichen Kirchen und Konfessionen haben inzwischen ihre ökumenische Verantwortung erkannt und stellen sich dem bilateralen und multilateralen Gespräch. Aber gleichzeitig ist auch aus vielfältigen Gründen eine Krise der »Konsensökumene« zu beobachten, da es in manchen kontroversen Fragen nicht möglich scheint, einen Konsens zu erreichen.
Die Stimmung in den ökumenischen Bemühungen scheint sehr ambivalent zu sein: Erfreuliche Offenheit für die Kirchengemeinschaft und Tendenzen der zunehmenden konfessionellen Abgrenzung stehen nebeneinander, bisweilen auch gegeneinander. Es scheinen sich die christlichen Konfessionen mehr und mehr auseinanderzuleben. Darüber hinaus haben die christlichen Konfessionen keine gemeinsame Zielvorstellung über die Einheit mehr. Sie verstehen die Einheit in unterschiedlicher Weise und bewegen sich in unterschiedliche Richtungen. Durch eine unverhältnismäßige Betonung der Vielfalt und der versöhnten »Verschiedenheit« gerät zudem die dem christlichen Glauben innewohnende Notwendigkeit der Einheit der Christenheit als solche aus dem Blick.
Das Ziel der ökumenischen Bemühungen ist nicht weniger, als die volle sichtbare Gemeinschaft im Glauben und im sakramentalen Leben der noch immer getrennten Christen zu erreichen. Die theologischen Gespräche haben gezeigt, wie gering die uns noch trennenden Lehrunterschiede letztlich sind, selbstverständlich variieren diese von Denomination zu Denomination. Als Argumentation für eine dauerhafte Trennung der Kirchen in unterschiedliche Konfessionen sind sie nicht mehr aufrechtzuhalten. Aber diese theologische Einsicht führt die Kirchen noch nicht zu einer Willensbildung im Sinne einer sichtbaren Kirchengemeinschaft, weil sie an kulturellen Besonderheiten und nationalkirchlich geerbten Abneigungen und Vorurteilen, unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen, historisch gewachsenen Gepflogenheiten – oder sogar an ihrer gesellschaftlich und politischen Machtstellung immer noch festhalten. Eigentlich könnte die Einheit zwischen manchen Kirchen und Konfessionen schon verwirklicht sein, da sie sich theologisch angenähert haben. Aber trotz dieser vielfältigen Gemeinsamkeiten ist die sichtbare Einheit noch nicht Wirklichkeit geworden. Offensichtlich reicht die lehrmäßige Übereinkunft allein nicht aus, einen wirklichen und nachhaltigen Fortschritt auf dem Weg zur Einheit zu erzielen.
Vor diesem Hintergrund gilt es zu fragen: Was können oder müssen wir tun, damit ein neuer Aufbruch möglich wird? Was können wir tun, damit die im Dialog und in Begegnungen erreichten theologischen Erkenntnisse im Leben der Kirche rezipiert und daraus Konsequenzen für die Einheit gezogen werden? Wie kann es gelingen, die zahlreiche Konvergenzdokumente für die Verkündigung und Lebenspraxis in den Kirchen fruchtbar werden zu lassen? »Ob dahinter ökumenische Interesselosigkeit liegt oder konfessionelle Rechthaberei, ob die Übereinstimmungen doch nicht so tragfähig sind wie angenommen oder ob der Weg der Konsensökumene sich als Sackgasse erwiesen hat: Unbezweifelt ist, dass die ökumenisch-theologische Annäherung für die Kirchen als Ganze kaum relevant geworden ist« (P. Neuner).4
Im ökumenischen Kontext ist die derzeitige Pentekostalisierung, die Entstehung und das große Wachstum vieler Freikirchen, ein ernst zu nehmendes Phänomen. Mit weltweit über 400 Millionen Gläubigen stellen die Pfingstkirchen mittlerweile die nach der römisch-katholischen Kirche zweitgrößte christliche Glaubensgemeinschaft dar. Dieses Phänomen ist zweifellos eine Anfrage und Herausforderung an die traditionellen Großkirchen: Was vermissen diese Mitchristen in ihren Herkunftskirchen? Gott? Christus? Eine tragfähige Spiritualität? Eine lebendige Gottesdienstfeier? Vermissen sie die missionarische Dimension in den Großkirchen? Erscheinen die sozialen Engagements der Großkirchen losgelöst von der Beziehung zu Gott? Sind die Politisierung und die zunehmende Konturlosigkeit der Kirchen, die mehr oder weniger als ›große NGOs‹ (Nichtregierungsorganisationen) in Erscheinung treten, ein Grund? Angesichts dieser neuen Herausforderungen stehen wir in unseren ökumenischen Bemühungen um die sichtbare Einheit der Christen an einem Scheideweg.
Am entscheidenden Punkt unseres ökumenischen Weges brauchen wir einen spirituellen »Weckruf der Ökumene«5, der die Einheit der Christen voranbringt. Die Erfahrung zeigt, dass der ökumenische Prozess sich nicht allein auf theologisch-wissenschaftliche Bemühungen beschränken kann, sondern aus der Mitte des Christlichen kommen und von der Lebens- und Glaubenspraxis der Christen als Ganzes getragen werden muss.6 Das Hauptproblem der Ökumene ist heute nicht mehr so sehr die Suche nach Einigung und die grundsätzliche Notwendigkeit der Einheit, sondern deren Rezeption durch die einzelnen Kirchen und Konfessionen. Denn die Einheit ist eine Sache des gelebten Glaubens in den Kirchen und Konfessionen als Ganzen, nicht allein eine Frage theologischer Einigung. Sie muss geglaubt, gelebt und in der Praxis der Christen verwirklicht werden, damit die Kirchengemeinschaft Realität werden kann. Gemeinsames geistliches Leben ist für die Christenheit auf ihrem Weg zur Einheit konstitutiv.7 Wenn Ökumene ihre eigenen Anliegen bis in die Herzen der Menschen und die Bewegungen des Lebens transportieren will, braucht sie eine spirituelle Neuorientierung und einen klaren, aus der Mitte der christlichen Botschaft inspirierten Perspektivwechsel sowie eine Horizonterweiterung.
Es ist höchste Zeit für eine neue »Reformation« der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Diese neue Reformation meint in Gegensatz zur alten Reformation keine neue Spaltung, sondern eine Wiederherstellung der Einheit. Diese neue Reformation muss spirituell sein und zu einer Spiritualität führen, die uns Christen eint und eben nicht trennt. Eine »radikale« Spiritualität, aus den Wurzeln des christlichen Glaubens kommend. Eine Spiritualität, die uns in die lebendige Beziehung zu Jesus Christus führt und unseren Horizont erweitert, damit wir unser Christsein in einem neuen Licht sehen und unser geistliches Leben vertiefen und verlebendigen.
Wenn wir den ganzen ökumenischen Weg als einen geistlichen Prozess bezeichnen, dann nicht, um etwas von außen einen spirituellen Anstrich zu geben, sondern weil wir wollen, dass in der Ökumene eine innere Dynamik zum Vorschein kommt, die uns von unserem Christsein her ureigen ist. Denn die Einheit der Christen hat mit der lebendigen Mitte des Christseins zu tun. Sie ist nichts anderes als der sichtbare Ausdruck dessen, was Christen glauben: Wir sind in die trinitarische Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist hineingenommen. »Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast« (Joh 17,21).
Durch die Taufe sind wir Christen in Christus miteinander verbunden, und der Heilige Geist wohnt in uns. So treten wir ein in die Heiligkeit und Einheit Gottes und haben Anteil an ihr. Indem wir diese Teilhabe durch ein Leben des Glaubens lebendig gestalten, werden wir eine immer tiefere und bereichernde Einheit erfahren. Ökumene als einen geistlichen Prozess zu verstehen heißt, unsere christliche Berufung zur Nachfolge Christi bewusst in den Mittelpunkt stellen. Es gehört zur christlichen Berufung, dass die Christen ihre größere geistliche Einheit in dem einen Herrn immer mehr entdecken und aus der Dynamik dieser geistlichen Kraft der Kirche eine geistliche Gestalt geben. Wenn wir diesen geistlichen Weg gehen, werden wir feststellen: Was wir heute brauchen, ist nicht die Profilierung der Konfessionen durch gegenseitige Abgrenzungen, sondern die Profilierung des Christseins, damit wir alle gemeinsam Zeugnis geben für die uns tragende Hoffnung (1 Petr 3,15). Was eine zerrissene und aus den Fugen geratene Welt braucht, ist das Zeichen der Einheit im Zeugnisgeben für die Einzigkeit und die Einheit der Menschen. Die christliche Botschaft ist grundsätzlich auf die ganze Menschheit bezogen, und die Kirche als Trägerin dieser Botschaft darf niemals ihren Auftrag, »Zeichen und Werkzeug der Einheit der Menschheit« zu sein, vergessen. Die Einheit Gottes und die Einheit der Menschheit bilden den Universalrahmen der Heilsgeschichte, die Erscheinungsform des Reiches Gottes. Die Kirche ist berufen, zeichenhaft und werkzeuglich diese Einheit immer wieder zu vergegenwärtigen (vgl. LG 1). Sie ist im Dienste des Größeren, des Reiches Gottes.
Auf diesem Fundament allein kann das Ringen um die Einheit der Christen gelingen. Auf dem Weg der Nachfolge Christi, im Dienst des Reiches Gottes, unter Führung des Heiligen Geistes können die Differenzen und die noch strittigen Fragen in einem neuen Licht gesehen werden. Wenn wir diese Fragen geistlich und spirituell als ein Ringen um das richtige Verständnis und die Verwirklichung des christlichen Glaubens verstehen, werden wir nicht auf unserem gemeinsamen Weg resignieren, sondern die innere Notwendigkeit spüren, noch mehr Engagement zu entfalten, um den gemeinsamen Weg in der Nachfolge Christi zu gehen. Unsere Differenzen sollten niemals zu einer Minderung unseres Christseins führen. Eine solche spirituelle Haltung kann uns die nötige Geduld schenken, die noch vorhandenen Differenzen auszuhalten und beharrlich neue Räume des ökumenischen Miteinanders zu suchen und zusammen den Blick auf Jesus Christus zu richten. Um in einem Bild zu sprechen: Wenn wir den Blick allein auf uns richten, werden wie unter einem Vergrößerungsglas unsere Unterschiede umso stärker. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit dagegen auf Christus richten, geraten weniger unsere Differenzen in den Blick als der gemeinsame Herr.
Ökumene als geistlicher Prozess der Nachfolge Christi: Um auf diesem Weg zu bleiben, brauchen wir eine Selbstvergewisserung unseres Glaubens, eine neue Standortbestimmung in allem Christlichen, das sich in den Kirchen und Konfessionen wiederfindet, indem wir uns auf die Quellen und Grundwahrheiten des Glaubens besinnen. Unbedingt gehört dazu eine großzügige spirituelle Bereitschaft, das Wesentliche und unterscheidend Christliche von alldem zu trennen, was diese Grundlagen durch jahrhundertealte Verkrustungen verdunkelt und den Glauben seiner ursprünglichen Strahlkraft beraubt hat.
In der gemeinsamen Konzentration auf die Grundlagen unseres Glaubens können wir die dringende Notwendigkeit eines geistigen Perspektivwechsels und einer Horizonterweiterung erkennen. Der Weg der Ökumene soll den Ausgang in der Mitte des christlichen Glaubens nehmen und am Ende des Weges die Fülle des Glaubens in der Einheit aller Christgläubigen sichtbar machen. Dieser Weg ist sicherlich steinig und herausfordernd. Gerade deshalb können wir diesen Weg nur spirituell bewältigen. Das heißt: Zuerst müssen wir das Christsein und Kirchesein als Gottesbeziehung, als religio im ursprünglichen Sinn, erkennen lernen: Kirchesein ist die Erscheinungsform der konkret gelebten Gottesbeziehung. Alles, was wir unter Kirchesein verstehen, hat sein Kriterium in der Gestaltwerdung der Gottesbeziehung.
Die gemeinsame Konzentration auf die Grundlagen unseres Glaubens lässt uns die Fülle des Christseins entdecken: Eine Umkehr zu den Quellen und den zentralen Themen des Glaubens stellt uns vor die Gottesfrage, die Sehnsucht nach dem Gott der Liebe und Barmherzigkeit, vor die Frage nach Jesus Christus, um ihn als Leben, Weg und Hoffnung neu zu erkennen und von ihm Zeugnis zu geben, und schließlich vor die Frage nach dem Sinn und der Sendung der Kirche Gottes in Jesus Christus. Es geht um die zentrale und alles entscheidende Frage: Wie viel Christus gibt es bei uns Christen? Ist sein Evangelium die motivierende Kraft und die Quelle der Freude für all unser Christ- und Kirchesein und für alles, was wir in der Kirche denken und im Namen der Kirche tun?