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Mit dem Thema "Barmherzigkeit" hat Papst Franziskus das Zentrum der christlichen Botschaft in den Blickpunk der Aufmerksamkeit gerückt. George Augustin, Gründungsrektor des Kardinal Walter Kasper Instituts, erschließt die verschiedenen Aspekte der Barmherzigkeit in ihrem notwendigen Zusammenhang: Der christliche Glaube ist keine Überfremdung des Menschen, sondern die entscheidende Quelle, aus der Menschen schöpfen können, um Mensch zu werden und zu sein. Die Barmherzigkeit Gottes, die unserem Tun immer vorangeht, ist selbst die Motivation und Kraft eines gelungenen Menschseins.
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Seitenzahl: 107
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Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
George Augustin
Kraft der Barmherzigkeit
Mensch sein aus den Quellen des Glaubens
Matthias Grünewald Verlag
Einleitung
Die biblische Botschaft: Gott ist barmherzig
Das Gesicht der Barmherzigkeit: Jesus Christus
Die Macht der Barmherzigkeit über Sünde und Schuld
Barmherzigkeit und die Hoffnung auf das ewige Leben
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
Erfahrungsorte der Barmherzigkeit Gottes
Wirkungen der Barmherzigkeit in uns
Das untrennbare Doppelgebot
Werke der Barmherzigkeit
Praxis und Zeugnis der Barmherzigkeit in der Kirche
Für eine Kultur der Barmherzigkeit
Barmherzigkeit im Dialog der Kulturen und Religionen
Kraft der Barmherzigkeit zum gelingenden Menschsein
Literaturhinweise
Veröffentlichungen des Autors (Auswahl)
Anmerkungen
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
»Mein Gott, wer bist du, und wer bin ich?« Diese Frage ist die zentrale Frage aller religiös denkenden und suchenden Menschen. Sie ist wesentlich für jeden, der nach dem Sinn des Lebens fragt und Gott sucht. Wenn wir bekennen, dass Gott barmherzig ist, was bedeutet das für unser Selbstverständnis als Menschen? Was bedeutet Barmherzigkeit für unser Leben? Wo und wie finden wir die Barmherzigkeit? Ist sie die Kraftquelle unseres Denkens und Handelns? Kann die Barmherzigkeit Gottes zur Entfaltung unserer Persönlichkeit beitragen und sie fördern? Kann sie uns nach Sünde, Schuld und Versagen eine neue Möglichkeit geben, einen neuen Anfang zu wagen?
DieBotschaft der Barmherzigkeit steht im Zentrum der biblischen Offenbarung und sie bildet das Wesen der christlichen Berufung: »Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!« (Lk 6,36). Wenn Jesus uns auffordert, barmherzig zu sein, wie es unser himmlischer Vater ist, dann ist Barmherzigkeit die eigentliche Berufung und Sendung der Christen. Um diese Berufung leben und diese Sendung verwirklichen zu können, gilt es, die Tiefe des Evangeliums der Barmherzigkeit immer wieder neu entdecken.
Barmherzigkeit ist die Mitte der christlichen Heilsbotschaft und die Seele der Berufung zum Christsein. Es gilt, unser Menschsein und Christsein aus der Perspektive der Barmherzigkeit neu zu betrachten. Barmherzigkeit macht das Menschsein menschlich.
Der Begriff Barmherzigkeit hat unterschiedliche Bedeutungsebenen. Wir müssen drei grundlegende Dimensionen unterscheiden, um die tiefere Bedeutung von Barmherzigkeit für unser Christsein und Menschsein zu erfassen:
Zuerst und vor allem geht es um Gottes Barmherzigkeit. Sie ist authentischer Ausdruck seiner wohlwollenden Liebe. Sie ist als Eigenschaft Gottes sein Name.Auf der zweiten Ebene geht es um das Geschenk der Barmherzigkeit Gottes. Durch die Teilhabe an der Barmherzigkeit Gottes erfährt der Mensch ihre Leben prägende und verwandelnde Kraft. Sie ist die Wirkung der Gnade Gottes in uns und befähigt Menschen, selbst Barmherzigkeit zu leben.Barmherzigkeit als Haltung und Eigenschaft der Menschen, die in Taten der Nächstenliebe zum Ausdruck kommt, besonders in Barmherzigkeit gegenüber den Armen und Notleidenden, ist der dritte Aspekt der Barmherzigkeit.Nur wenn wir diese drei Dimensionenin ihrer Einheit und gegenseitigen Verwiesenheit sehen, kann Barmherzigkeit ihre volle Kraft entfalten und die Herzen bewegen und Seelen beflügeln. Indem wir die Schönheit der Barmherzigkeit Gottes erkennen und ihre Tiefe in unserem Leben erfahren, werden wir in allen Lebensbereichen Barmherzigkeit leben können.
Das Evangelium Jesu Christi offenbart Gott als barmherzigen Vater. In der Mitte seiner Botschaft steht die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters. So ist der Inhalt des Evangeliums Jesu Christi die Barmherzigkeit Gottes.
Zugleich offenbart Jesus die Fülle des Menschseins. Er zeigt uns, was der Mensch eigentlich sein sollte, was er wirklich ist. Jesus Christus bringt das Licht in die Finsternis der Welt: »Das Volk, das in Finsternis lebte, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen« (Mt 4,16). Als berufene Christen sollen wir die Sendung Jesu in die heutige Welt hinein fortsetzen. Die Botschaft Jesu bringt einen qualitativen Sprung mit sich. Sie wird nur verständlich im Kontext der Botschaft vom Reich Gottes, das in seiner Person gegenwärtig ist. Die volle Tragweite des Auftrags Jesu, barmherzig zu sein, wie es der himmlische Vater ist (vgl. Lk 6,36), erschließt sich daher nur denjenigen, die sich für das Reich Gottes entschieden haben und bereit sind, Jesus Christus als Herrn und Gott ihres Lebens anzunehmen, ihm nachzufolgen und in seinem Geiste zu leben und zu handeln. Barmherzigkeit drückt in neuer und erfrischender Weise aus, wie das Christsein ein gnadenhaftes Zusammenwirken von Gott und den Menschen ist: »Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!« (Lk 6,36).
Barmherzigkeit gehört also zur Identität des Christseins. Dennoch vermögen alle Menschen guten Willens, in diesen Worten eine Melodie zu vernehmen, die das Herz eines jeden Menschen berühren und bewegen kann. Die Botschaft der Barmherzigkeit ist nicht nur zentral für die Heilige Schrift, sondern ein Menschheitsthema, das universal über die Grenzen der Nationen, Kulturen und Religionen hinweg verstanden wird. Barmherzigkeit ist eine Sprache des Herzens und der Beziehung. Sie gehört zum wahren Menschsein des Menschen und zählt deshalb zum Erbe der Menschheit. Sie ist zeitlos, transkulturell und universal kommunikabel. Deshalb ist sie von bleibender Aktualität und brisanter praktischer Bedeutung. Barmherzigkeit ist die menschlichste aller Eigenschaften des Menschen, die den Menschen auszeichnet und das Schöne am Menschen sichtbar werden lässt.
Daher stellt sich dieses Buch die Aufgabe, im Lichte des Glaubens das Menschsein neu zu betrachten. Die Praxis der Barmherzigkeit ist wesentlich mit der Verlebendigung des Glaubens verbunden. Wo Glaube lebendig ist, da lebt die Barmherzigkeit. Wo die Barmherzigkeit Gottes ihre Kraft entfaltet, dort gelingt das Menschsein.
Eine Hinführung
Barmherzigkeit ist nicht irgendein Randthema, sondern sie ist die Mitte des Menschlichen und damit auch des Christlichen. Sie ist allen Menschen guten Willens zugänglich. Die Kraft der Barmherzigkeit zu entdecken, bedeutet zu erfahren, wie Menschsein aus den Quellen des Glaubens neu lebendig werden kann. Denn die Barmherzigkeit Gottes, die in der Schöpfung grundgelegt ist und im Erlösungswerk Jesu Christi ihren Höhepunkt erreicht, ist das Herz des Evangeliums.
Allerdings scheint Barmherzigkeit in unserem gegenwärtigen gesellschaftlichen und säkularen Kontext nicht hoch im Kurs zu stehen. Manchmal wird sie als Zeichen von Schwäche interpretiert. Wenn wir unseren Lebensalltag in einer leistungsbezogenen Gesellschaft betrachten, kommt unwillkürlich die Frage auf: Ist es der Geist der Barmherzigkeit, der die Handlungen der Menschen prägt? Andererseits spüren die meisten Menschen eine Sehnsucht nach Barmherzigkeit, und jeder erhofft für sich Barmherzigkeit. Jeder möchte eine humane Gesellschaft und eine Praxis der Menschlichkeit.
Unser Beitrag als glaubende Menschen liegt darin, dass wir die Haltung der Barmherzigkeit im Bewusstsein der Menschen wachhalten. Damit sprechen wir in der Wertedebatte der Gesellschaft die notwendige Voraussetzung an, die sich der gesellschaftliche Diskurs selber nicht geben kann (und die wir als Menschen uns selbst letztendlich nicht schaffen können). In der gegenwärtigen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Umbruchssituation ist es Aufgabe der Kirche, das Christsein aus der Perspektive der Barmherzigkeit Gottes geistig-geistlich zu reflektieren und pastoral sowie spirituell fruchtbar werden zu lassen. Dabei geht es nicht darum, das Christsein als Additiv zum Menschsein zu verstehen, sondern als die volle Entfaltung des Menschseins im Raum der Gnade Gottes.
Es gibt keinen Widerspruch zwischen Menschsein und Christsein, denn der eine Gott ist der Schöpfer und Erlöser aller Menschen, Ursprung und Vollendung des Lebens. Barmherzigkeit gehört daher zutiefst zum Menschsein des Menschen. Der Mensch hat,weil er Mensch ist, schon das Vermögen, barmherzig zu sein, unabhängig davon, ob er sich selbst als gläubig oder nicht gläubig, religiös oder nicht religiös bezeichnet. Deshalb hat jeder Mensch auch die Pflicht, diese wahrhaft menschliche Veranlagung zu entfalten und immer mehr barmherzig zu werden.
Barmherzigkeit ist die menschlichste aller Tugenden, eine Basistugend der Menschheit, keine Sondermoral der Christen. Den Mitmenschen gegenüber barmherzig zu sein, ist nicht nur eine christliche Berufung, sondern ein inneres Vermögen, eine Neigung, eine Anlage, eine innere Kraft, die im Herzen des Menschen vom Schöpfer eingestiftet ist. Deshalb kann uns Jesus auffordern, diese Veranlagung zur vollen Entfaltung zu bringen. »Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist« (Mt 5,48). Gott will, was er ist: Barmherzigkeit. »Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer« (Mt 9,13, vgl. Hos 6,6).
Die schöpfungsmäßige Anlage der Barmherzigkeit ist wahrhaft menschlich, und es gilt, diese im Sinne des Schöpfers weiterzuentwickeln und zur Vollkommenheit zu bringen. Jedem ist geboten, Wege zu suchen, wie wir die Gefühle von Mitleid und wohlwollender Aufmerksamkeit im alltäglichen Handeln umsetzen können. Ein barmherziges Herz gibt uns einen barmherzigen Blick, auf uns selbst und auf den anderen.
Die Barmherzigkeit, die Jesus offenbart und verkündigt, gilt nicht nur Christen, sondern allen Menschen guten Willens. Seine Botschaft ist an die Menschheitsfamilie gerichtet. Jeder Mensch ist persönlich angesprochen. Der Weltenrichter Christus wird am Ende jeden Menschen persönlich fragen, ob er Taten der Barmherzigkeit vollbracht hat oder nicht (vgl. Mt 25,31–46).
Dennoch ist Barmherzigkeit nicht in erster Linie ein Sozialprinzip zur Gestaltung der Gesellschaft. Wenn sie keine »hübsche Floskel«, keine kraftlose »Zauberformel« für eine Weltverbesserungstheorie, sondern ein alles bestimmendes Lebensprinzip der Menschlichkeit sein soll, dann müssen wir ihre tiefere Bedeutung neu erschließen, die nur innerhalb der gelebten Beziehung zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf, erfassbar ist.
Gerade wenn Barmherzigkeit unsere menschlichen Handlungen orientieren soll, dürfen wir sie nicht allein auf zwischenmenschliches Handeln reduzieren. Auf diese Gefahr der horizontalen Einseitigkeit hat Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika über das göttliche Erbarmen Dives in misericordia deutlich hingewiesen: »Je mehr sich die Sendung der Kirche auf den Menschen konzentriert, je mehr sie sozusagen anthropozentrisch ist, desto mehr muss sie sich als theozentrisch erweisen und es in Wirklichkeit sein, sich also in Jesus Christus auf den Vater ausrichten. Während verschiedene Geistesströmungen in der Vergangenheit und der Gegenwart dazu neigten und neigen, Theozentrik und Anthropozentrik voneinander zu trennen und sogar in Gegensatz zueinander zu bringen, bemüht sich die Kirche, darin Christus folgend, deren organische, tiefe Verbindung in die Geschichte des Menschen einzubringen. Das ist auch ein Grundgedanke, vielleicht sogar der wichtigste in der Lehre des letzten Konzils. Wenn wir also in der gegenwärtigen Phase der Kirchengeschichte unsere erste Aufgabe darin sehen, die Lehre des großen Konzils zu verwirklichen, so müssen wir uns diesem Grundgedanken mit Glauben, offenem Geist und mit dem Herzen zuwenden.«1
Denn nur von der unendlichen Barmherzigkeit Gottes her können wir das Menschsein des Menschen angemessen deuten und Licht in die Lebenswirklichkeit der Welt bringen. Denn bevor Barmherzigkeit zur ethischen Orientierung wird, ist sie eine existenzielle Erfahrung, sie ist zuerst und vor allem ein Geschenk Gottes, das wir empfangen sollen und in unserem Dasein bereits empfangen haben.2 Im christlichen Glauben wird dieses Geschenk des Menschseins erkannt und dankbar anerkannt. Gottes wohlwollende barmherzige Liebe steht am Anfang, in der Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes und im Bleiben in der Barmherzigkeit Gottes ist sie die motivierende Kraft für all unser Tun. In der Begegnung mit Jesus Christus, der die Barmherzigkeit Gottes in Person ist, und in seiner Nachfolge erfassen wir die Schönheit und die Unermesslichkeit der Barmherzigkeit Gottes: »Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.«3
Daher ist die Haltung, dass wir empfangende Menschen sind, von entscheidender Bedeutung, um die Unermesslichkeit der Barmherzigkeit Gottes zu entdecken. Ich bin, weil ich empfange. Bevor ich etwas tue, bin ich ein Empfangender. Wir sind und leben vor allem davon, was wir empfangen: von Gott und von den Menschen. Weil ich empfange, kann ich überhaupt sein, und nur was ich empfange, kann ich weitergeben.
Barmherzigkeit lebt aus einer Beziehung, der Beziehung zwischen Gott und den Menschen, zwischen Schöpfer und Geschöpf, und aus der Beziehung zwischen den Menschen untereinander, die sich als Mitgeschöpfe und als Kinder Gottes verstehen. In der Dankbarkeit, die aus der empfangenen Barmherzigkeit entsteht, wird die Beziehung zu Gott lebendig. Aus der Dankbarkeit über die empfangene Barmherzigkeit Gottes spüren die Menschen die Notwendigkeit, Barmherzigkeit weiterzuschenken. So ist die gnadenhaft geschenkte Barmherzigkeit Gottes Gabe und Aufgabe zugleich und bringt eine neue Beziehung der Menschen untereinander hervor. Der Empfang der Barmherzigkeit Gottes verpflichtet den Menschen, selbst barmherzig zu sein, aber der Empfang dieser Gabe ist zugleich die Befähigung und Ermutigung, Barmherzigkeit zu erweisen.
Das Leben der Barmherzigkeit im Alltag ist nicht immer selbstverständlich. Sie setzt ein bestimmtes Verständnis von Gott und seinem Dasein für uns Menschen voraus. Im Kontext der gott-menschlichen Beziehung wird ein Menschenbild erkennbar: Das Dasein des Menschen ist von der geschenkten und empfangenen Barmherzigkeit Gottes bestimmt. Diese gnadenhafte Bestimmung des Menschen ist die Grundvoraussetzung und der Ermöglichungsgrund für die Praxis der Barmherzigkeit. Aus diesem Blickwinkel wird die christliche Ethik eine Ethik der Barmherzigkeit.