Die Seherin von der Getter - Joseph von Lauff - E-Book

Die Seherin von der Getter E-Book

Joseph von Lauff

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Beschreibung

Ein Roman aus der münsterischen Heide, angesiedelt auf dem mütterlichen Gutshof. Lauffs umfangreiches literarisches Werk besteht vorwiegend aus Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. In seinen Prosawerken behandelt er meist Themen aus seiner niederrheinischen Heimat.

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Die Seherin von der Getter

Joseph von Lauff

Inhalt:

Joseph von Lauff – Biografie und Bibliografie

Die Seherin von der Getter

Meiner Mutter

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Schluß

Die Seherin von der Getter, J. von Lauff

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849638818

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Joseph von Lauff – Biografie und Bibliografie

Dichter, geb. 16. Nov. 1855 in Köln als Sohn eines Juristen, besuchte die Schule in Kalkar und Münster, wo er das Abiturientenexamen bestand, trat 1877 als Artillerist in die Armee ein, wurde 1878 zum Leutnant, 1890 zum Hauptmann befördert und wirkte, einer persönlichen Aufforderung des Kaisers folgend, 1898–1903 als Dramaturg am königlichen Theater in Wiesbaden, wo er noch jetzt lebt; gleichzeitig wurde ihm der Charakter eines Majors verliehen. L. begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit den epischen Dichtungen: »Jan van Calker, ein Malerlied vom Niederrhein« (Köln 1887, 3. Aufl. 1892) und »Der Helfensteiner, ein Sang aus dem Bauernkriege« (das. 1889, 3. Aufl. 1896), denen später folgten: »Die Overstolzin« (das. 1891, 5. Aufl. 1900); »Klaus Störtebecker«, ein Norderlied (das. 1893, 3. Aufl. 1895), »Herodias« (illustriert von O. Eckmann, das. 1897, 2. Aufl. 1898), »Advent«, drei Weihnachtsgeschichten (das. 1898, 4. Aufl. 1901), »Die Geißlerin«, epische Dichtung (das. 1900, 4. Aufl. 1902); er schrieb fernerhin die Romane: »Die Hexe«, eine Regensburger Geschichte (das. 1892, 6. Aufl. 1900), »Regina coeli. Eine Geschichte aus dem Abfall der Niederlande« (das. 1894, 2 Bde.; 7. Aufl. 1904), »Die Hauptmannsfrau«, ein Totentanz (das. 1895, 8. Aufl. 1903), »Der Mönch von Sankt Sebald«, eine Nürnberger Geschichte aus der Reformationszeit (das. 1896, 5. Aufl. 1899), »Im Rosenhag«, eine Stadtgeschichte aus dem alten Köln (das. 1898, 4. Aufl. 1899), »Kärrekiek« (das. 1902, 8. Aufl. 1903), »Marie Verwahnen« (das., 1.–6. Aufl. 1903), »Pittje Pittjewitt« (Berl. 1903) sowie die Lieder »Lauf ins Land« (Köln 1897, 4. Aufl. 1902). Als Dramatiker trat er zuerst hervor mit dem Trauerspiel »Inez de Castro« (Köln 1894, 3. Aufl. 1895). Von einer Hohenzollern-Tetralogie sind bisher erschienen und wiederholt ausgeführt »Der Burggraf« (Köln 1897, 6. Aufl. 1900) und »Der Eisenzahn« (das. 1899); ihnen sollen »Der Große Kurfürst« und »Friedrich der Große« folgen. Lauffs neueste Dramen sind das Nachtstück »Rüschhaus«, das vaterländische Spiel »Vorwärts« (beide das. 1900) und das nach dem Roman »Kärrekiek« verfaßte Trauerspiel »Der Heerohme« (das. 1902, 2. Aufl. 1903). Während L. in seinen Romanen echtes Volksleben des Niederrheins poetisch festhält und in seinen epischen und lyrischen Dichtungen trotz wortreicher Diktion ein starkes Talent verrät, greift er in seinen Dramen, namentlich in den höfisch beeinflußten Hohenzollern-Stücken, oft zu unkünstlerischen Mitteln und erweckte entschiedenen Widerspruch. Vgl. A. Schroeter, Joseph L., ein literarisches Zeitbild (Wiesbad. 1899); B. Sturm, Joseph L. (Wien 1903).

Die Seherin von der Getter

Meiner Mutter

Nun steh' ich mit grauen Haaren Und sinne den Zeiten nach. Ach, Mutter, vor hundert Jahren Da war dein erster Tag.

Ringsum ein Blätterfalben Und herbstlich-stille Ruh'; Es winkten dir allenthalben Die Wunder der Heide zu.

Sie kamen mit Sagen und Singen, Wie Stimmen vom nahen Ried, Und ließen dir heimlich erklingen Ein seliges Wiegenlied.

Und was die blühende Heide Dir treulich ins Herz gesenkt, Das hast du in Lust und Leide Mir doppelt und dreifach geschenkt.

Das folgte mir allwegs und immer, Ein Zauber seltner Art, Das weinte beim Kerzenschimmer,

Ich will sachlich berichten ... so wie es anhub und sich fortspann, um dann mit einem wehen Laut und doch mit einem Klang der Freude darin in der münsterischen Heide zu verzittern.

Ich sah diese Heide als Kind, ich sah sie später, als ich in die Jahre gekommen, und sah sie, als Deutschland seine tiefste Schmach und Schande erlebte und nahe daran war, an Gottes Einsicht und Barmherzigkeit zu zweifeln und sein eigenes Geschick zu verfluchen. Aber immer, wenn ich sie sah, gleichviel, ob sie blühte oder sich bräunte, gleichviel, ob Schatten über sie hingingen oder in stillen Sommernächten ein Gewirr von goldenen Bienenschwärmen über sie fortzog – ich entwirrte Rätsel bei Rätsel und Wunder bei Wunder ... und gewahrte einen stolzen Freisassenhof, von einem stillen Wasser und alten Buchenständen umgeben ... und hörte die gütigen und anheimelnden Worte: »Ick gröte Ju, leiwe Mann!« ... und sah die ›Blassen‹ im Lande ... und sah am Helweg die Bläulinge fliegen. Und wenn sie über Porst und Erika hingaukelten, dann war es mir so, als wären es die blauen und gespensterhaften Augen der Annette von Droste-Hülshoff gewesen, der stillen Annette, die auch zu den ›Blassen‹ gehörte und Gesichte hatte, wie sie die anderen Menschen nicht hatten, und einsam ihres Weges ging, um tiefe und eigenartige Gedanken und Bilder zu finden.

O, diese münsterländische und endlose Heide!

Von ihr und dem stolzen Freisassenhof mit dem verschwiegenen Wasser, von den frohen und traurigen Begebnissen, die sich mit diesem Anwesen verknüpften, von einer bitteren Dornenkrone und dem Klingeln einer übermütigen Schellenkappe will ich erzählen, in meiner Art und Weise und mit dem Gehaben eines kundigen Sinnierers. So hört denn!

Es war um die Mitte der sechziger Jahre.

Die Heide hatte längst ihren Blütenschmuck verloren, und was droben gejubelt: die Kirchenmusik der Lerchen war vom Himmel genommen. Dafür lärmten die Häher um so emsiger, und der Wald stand wie ein einsamer König, wie ein König im Purpur.

Ein Schuß fiel.

Ein zweiter, ein dritter.

Dann wieder Stille.

Durch die massigen Baumkronen zwirnten pulverblaue Rauchwölkchen ihre zierlichen Netze, rieselten in feinen Spiralen hierhin und dorthin, um bald darauf in ein Nichts zu vergehen.

Der hohe Buchenforst schien zu brennen, so rot war er, so blutrünstig, so mit flammender Lohe gesprenkelt. Sein Feuermantel schob sich bis dicht an den stolzen Hof, an den alten Edelmannssitz, der seit Jahrhunderten den alten Travelmännern gehörte.

Haus Getter lag mit seinen gestaffelten Giebeln, seinen Bindern und Steingurten und vermoosten Ziegeldächern wie ein breites Untier am Boden, eigenwillig, quer- und sturköpfig, als sei es gewillt, seine Klauen noch weitere Jahrhunderte hindurch in die westfälische Erde zu schlagen und sich in dem tiefen Wasser zu spiegeln, das wie ein Zyklopenauge aufwärts glotzte und drei Seiten des weitläuftigen Gebäudes umgurgelte ... und diesem Untier gebot Bernd Travelmann, der letzte seines Stammes, eine Kraftnatur, einer von denen, die das Fürchten nicht kannten und denen die nachthungrigen Weiber aus den Händen fraßen wie gierige Hühner.

Haus Getter – ein Edelmannssitz und dennoch ein Freisassenhof! Und das war also gekommen.

Anno Domini 1557.

Um diese Zeit hatte der päpstliche Stuhl eine erledigte Dompräbende dem aus dem adeligen Erbmännergeschlecht herstammenden Dethmarus von Travelmann übertragen. Das Domkapitel selber tat Einspruch, weil es ihm eine der Vorbedingungen für den Eintritt in ihr Kollegium, die Ritterbürtigkeit, absprach. Dieser Entscheid funkte in die Erbmännerfamilien hinein wie eine Petarde. Der Abgewiesene nicht, aber die Droste und Bischkoping, die von der Tinnen und Clevorn betraten den Rechtsweg, um ihr angefochtenes Diplom aufs neue zu erkämpfen und verbriefen zu lassen. Nach langjährigen Verhandlungen, die 1557 und in den folgenden Jahren bei der Rota, dem päpstlichen Gerichtshof in Rom, 1647 bei den auf dem Friedenskongreß zu Münster anwesenden Reichsständen, später beim Reichskammergericht in Speyer geführt wurden, bestätigte Kaiser Leopold im Jahre des Herrn 1685 das Urteil des Reichskammergerichts, wonach die Geschlechter der Erbmänner ›rechten alten Adeligen und Ritterbürtigen Standes‹ erklärt und ›gleich anderen deß Stiftes Münster Rittermäßigen vom Adel zu halten seyn‹ ... und trotzdem: die Herren des Domkapitels sperrten sich weiter, doch endlich, als zwölf Jahre später ein abermaliger Reichsschluß wiederum zugunsten der Erbmänner entschied und ihre volle Gleichberechtigung anerkannte, hatten sich auch die widerhaarigen Pfaffen zu fügen und ihren Nacken zu beugen. Sie taten's gequält und hohnlachenden Mundes.

Da aber – Wilderich Travelmann gehörte zu denen, die gern gewalttätig wurden ... und war ein sehniger Mann, verwitterten Ansehens und mit scharfer Adlernase. Der nun – mit aufgestrammten Ärmeln, einen Bauernkittel um die harten Knochen geschlagen, die Hosen in den Stiefelschäften und die seidene Schirmmütze im Nacken, also ausstaffiert trat er in die Kapitelgemeinschaft und hielt den verdutzten Würdenträgern die Faust vor die Stirne.

»Oho! ihr Gaukler und Narren, ihr Fettlummen und Kanzelschreier, wie die räudigen Füchse gedachtet ihr uns aus unsern angestammten Gerechtsamen und Ehren zu schwefeln. Die Knochen hätte man euch brechen sollen im Leibe, euch Bettelvögten und Schmarotzern am Kadaver der alleinseligmachenden Kirche, und hätte ein löbliches Kammergericht mich zum Vollstrecker aufgerufen, ich hätte mich erbötig gezeigt und wäre euer Henker geworden.«

Eine grimmige Lache folgte.

»Ja, so wahr ich hier stehe – euer Henker und Peinmann, denn wir Travelmänner haben noch Humor und unsre besondern Launen, und weil wir sie haben, verkünde ich hiermit: Nicht, weil ihr es also gewollt, sondern aus freien Stücken heraus und weil es mir Spaß macht: ich schwefle mich selbst aus und verstänkere damit euern pfäffischen Hochmut! Holla, merkt auf und versteht den Witz von der Sache! Wappen und Schild werfe ich von mir, aber das sage ich euch« – und seine gestreckte Faust wurde wie Stein – »um so freier und stolzer schlägt das Edelmannsherz unter dem Bauern- und Freisassenkittel. Dies mein Gelöbnis, ihr Pfründenträger und Sudelköche, von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Amen!«

Die Faust sank herunter, die Faust, die wie ein unbarmherziger Wackerstein aussah. Wilderich Travelmann, der sich in Kraft eigener Machtbefugnis aus dem rittermäßigen Stand in den der Freisassen und geringen Leute versetzte, sah in kalkige Gesichter.

Dann wandte er sich und stülpte die Ärmel herunter.

Straffen Nackens verließ er das hohe Kapitel.

So geschehen 1709 und am Tage, da der Stern von Bethlehem begann über Münster zu scheinen.

Genau wie der Ahn, so der Nachfahr, der jetzt auf Getter regierte, wie ein Ritter im Sattel saß, um gleich darauf mit einem Doppelgespann den Acker zu brechen. Getreu dem Gelöbnis seines Altvordern, gefiel er sich im Bäuerlichen und war dennoch eine Herrennatur mit kindlichen Augen, den Weibern nicht abhold, wie alle Travelmänner, und genau wie sein Vater, den man in den besten Jahren, eines Liebeshandels wegen, neben der großen Mergelgrube gefunden, die Male der heiligen Feme am Leibe: ein blankes Messer, darauf die eingeritzten Buchstaben standen: »S. S. G. G.«, was andeuten sollte: Stein, Strick, Gras und Grein – die Zeichen eines nur noch schattenhaften Daseins aus verklungenen Tagen. So fanden sie ihn, hingewürgt von dem Rächer seiner gemordeten Ehre, aber ruhig und friedlich und noch ein Lächeln um die kantigen Mundecken.

Draufgänger waren die Travelmänner von jeher gewesen, und der tollste von ihnen: der letzte des Stammes, ein Mann wie geschaffen, Blöcke zu wälzen und eine Zinnassiette mit den Händen zusammenzurollen; wenn's not tat, die Pflugschar ins Erdreich stoßend, ein Knecht unter Knechten, nach alter Sitte und der Satzung gemäß mit der betagten Mutter und seinem jungen Weibe die Tafel des Gesindes teilend, Schulter an Schulter mit Kostgängern und Mägden, gefügig wie ein Stier im Joch, um dann wieder, wenn die Wälder zu flammen begannen und die Heide sich bräunte, das Edelmannsblut herauszukehren, den Kavalier zu spielen und in seinen reichen Feld- und Holzbeständen das Horn klingen und die Büchse knallen zu lassen. Horrido und kein Ende!

Und so auch heute.

Über die münsterische Heide ... ab und zu rief ein Schuß aus weiter und verlorener Ferne herüber.

Ein Sterben und Falben, und doch war der Spätherbst voll silberigen Lichtes, ein Blinkfeuer, das keine Wärme mehr hatte und sich anließ wie das Lächeln der Beschläge auf einem Sargdeckel. Und dieses silberige Licht fiel durch niedrige Fenster in die mächtige Diele des Freisassenhofes, um die sich die übrigen Räume des weitverzweigten Hauses gruppierten.

An der einen Schmalseite knisterte ein lohes Kaminfeuer, eine hohe Kastenuhr tat ihren ebenmäßigen Gang, während von links aus der Tiefe das mahlende Wiederkäuen der Rinder und das einschläfernde Klirren der Halfterketten herübertönten.

Unter den tiefhängenden Balken war geweihte und heilige Erde. Hier wurden Knechte und Mägde in Verpflichtung genommen, die Ringe gewechselt, die Toten gebahrt und die Feste des Jahres in gemeinsamer Feier begangen, und was die Hauptsache war: die alte Überlieferung brachte Freisassenleute und Dienerschaft an die nämliche Schüssel, ohne Ansehen der Person, ohne Nebengedanken und von dem Grundsatz beseelt: den dreschenden Ochsen soll man ehren und ihm das Maul nicht verbinden, auf daß Werktätigkeit atme und ein fröhliches Hantieren die Scheunen fülle und die Wohlfahrt des Hauses mehre. Nur an Sonn- und Feiertagen und bei opulenten Gelegenheiten wurden für die Herrschaft und Gesinde gesonderte Tische in gesonderten Räumen hergerichtet. Sonst niemals. Gemeinsames Brot, gemeinsame Tafel. So und nicht anders, und das blieb Gesetz bis zur heutigen Stunde ... und da Mittagszeit war, saßen zwanzig bis fünfundzwanzig Leute in langen Reihen sich schräg gegenüber, still und sittsam und übersponnen von dem kühlen Herbstlicht.

Eine Viertelstunde später legten sie Gabel und Messer beiseite.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.«

Eine laute und wohlklingende Stimme hatte gesprochen, und siehe: eine hagere Frau, die in die siebzig hineinging, ganz in Schwarz gekleidet und ein enganschließendes Samthäubchen auf den eisgrauen Haaren, erhob sich an der Kopfseite des Tisches, bolzengerade, mit hartem Gesicht und stahlgrauen Augen.

Gleichzeitig griff sie nach dem schweren Krückstock, der an ihrem Polsterstuhl lehnte.

Darauf stützte sie sich, um dabei noch größer und ranker zu werden.

So stand sie, Ehrfurcht gebietend.

Judith Travelmann war wie aus einer Legende oder aus einem alten Heldenliede genommen.

So scharf ihre Züge auch schienen, so sehr sie auch an starres Metall erinnerten und ihre gesunden Zähne an die eines Raubtieres gemahnten, ihre Blicke waren voller Güte und Warmherzigkeit, wenn sie auch aufbegehren konnten wie die angestauten Wasser in einem Schleusenwehr ... und diese Blicke gingen über den Tisch fort, von einem zum andern, und dabei sagte sie nochmals: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Gesegnete Mahlzeit! und nun« – und sie wandte sich an einen vierschrötigen Mann, dessen Haare aussahen, als wären sie durch lehmiges Wasser gezogen, und meinte in ihrer ernsten und bedachtsamen Weise: »Jans Schwarte, der Herr ist zur Jagd, und ich habe zu fragen: Was ist deine Arbeit für die Nachmittagsstunden?«

»Die Blässe ruft nach dem Bullen,« versetzte er ruhig.

»Dann führe sie hin, gib aber Obacht, daß sie ihn ordentlich annimmt, sonst ist das Sprunggeld für gar nichts gewesen. Vergeudete Kraft ist ein Greuel vor dem Schöpfer.«

»Wollen's besorgen, Madam.«

»Merci, und du?« und ihre Augen blieben an einem haften, der unmittelbar neben dem Vierschrötigen saß und just dabei war, sein dürftiges Lippenbärtchen in die Höhe zu zwirbeln. Seine Haut war wie brüchiges Leder, und sein Gesicht erinnerte an das einer Kuhantilope. »Und du, was ist deine Arbeit für heute?«

»Ich habe mit den Mägden die letzten Kartoffeln zu mieten.«

»Tu's und halte deinen Heiland vor Augen! Sieh auf die Kartoffeln und nicht auf die Mägde!«

Ihr Stock klirrte auf den Estrich.

»So lebst du im Herrn,« fuhr sie unbeirrt fort, »und bist nicht durch Sünde gegangen.«

Am unteren Tisch verfärbte sich eins der Weibsbilder, ein blutjunges Ding mit brandroten Haaren.

Ein bedrückendes Schweigen machte sich geltend.

Da warf die Alte den Kopf herum, sah den Oberknecht an und fragte: »Hövelkamp, und wie habt Ihr disponiert?«

»Fünf Gespanne haben die Stoppeln zu brechen. Zwei an der Mergelgrube und drei bei der oberen Wegscheid. Es können auch sechs werden, wenn's not tut. Immer schlankweg und mit allen Schikanen. Vor Abend haben die Schollen zu liegen. Der Herr hat's befohlen.«

»Gott helf' Euch, und jetzt an die Arbeit!«

Da streckten sich alle, rückten die Binsenstühle zurecht und verließen die Diele.

Unmerklich hatte sich neben der Alten eine hohe Frauengestalt erhoben, die bisher den weisen Lehren und Ermahnungen lächelnden Mundes gefolgt war. Als hätte sich alles Licht der Mittagsstunde auf ihrem Scheitel gesammelt, so eigenartig rieselte es ihr über Schultern und Arme. Unter ihren Brauen stand eine brennende Marter, die trotz ihres Lächelns nicht zum Schwinden gelangte. Ihr Schattenriß war von einer Ebenmäßigkeit, wie nicht mehr zu finden ... und trotz dieser brennenden Marter – schön war die Hausfrau des Herrn von der Getter, schön wie ein Sommertag und anbetenswert in ihrer kirchenstillen Ruhe und Würde. Den jungen Leib und die weizenblonde Flechtenkrone trug sie wie ein Geschenk des Herrn, bescheiden und in fraulicher Reinheit.

Sie wandte sich zum Gehen.

Da wurde ihr Name gerufen.

»Hille!«

Die Alte nickte ihr zu. Ihre Linke tastete nach der Hand ihrer Schwiegertochter.

»Hille, ich möchte dich sprechen; im Herrenzimmer, wenn es dir recht ist.«

»Und wann befiehlst du, Mutter?«

»Befehlen? Ich habe nichts zu befehlen. Nur, ich trage Sorge um dich und möchte diese Sorge gern fortgewischt haben.«

»Aber Mutter ...!«

»Ja, Hille, so ist es, wenn du auch lächelst und diese meine Sorge als Laune ansprechen möchtest; es ist nur um deinetwillen, daß ich so rede.«

Ihr Atem ging schwer. Sie gab die Hand des jungen Weibes frei, stützte sich auf die elfenbeinerne Krücke und reckte sich wieder. Ihre weiten Augen leuchteten wie Mondsteine.

»Hille, und nochmals gesagt: Nein du, ich habe dir nichts zu befehlen. Wie sollte ich auch? Das ist niemals bei mir Mode gewesen; denn eine geborene Darfeld kann lassen und tun, was sie will. Sie ist Herrin auf Getter, obgleich ich, die alte Travelmännin, noch lebe und noch lange zu leben gedenke. Und wenn ich auch zeitweilig unter Knechten und Mägden regiere, dieses und jenes betreibe und hinter den Säumigen her bin, so geschieht es nur deshalb, um dir das Dasein erträglicher und leichter zu machen. Erst allmählich kann man sich in das Schaffen und Wirken dieses Hofes hineinfinden. Hier fallen gröbere Späne als auf einem Edelsitz. Alles will seine Zeit haben. Das soll hiermit gesagt sein.«

»Ich danke dir, Mutter.«

»Keine Veranlassung, Hille. Aber ich möchte dich bitten. Ich habe so meine wehen Gedanken. Früher ... ich habe sie schon einmal durchkostet. Dann gingen sie von mir, um irgendwo im Moor zu verquiemen. Aber wie lange? Geschrieben steht: Gestorben, begraben, abgestiegen zur Hölle, am dritten Tage jedoch wieder auferstanden von den Toten. Die alte Geschichte. Was tot war, kann sich aufs neue beleben. Man braucht nur die Grasnarbe abzustreifen. So auch das, was mich ängstigt. Seit gestern ist es wiedergekommen, hat sich an mich geworfen wie gierige Schmeißfliegen und will mir meine Ruhe nicht lassen.«

»Was hast du denn, Mutter?«

»Was ich habe? Ganz einfach: den sehnlichen Wunsch, Klarheit zu schaffen und den unheimlichen Vorstellungen das Genick abzudrehen. Je eher, je besser. Also bis gleich denn. Zuvor jedoch: ich habe noch mit der da zu reden.«

Sie sah über die Schulter und hob ihren Krückstock.

In der halbgeöffneten Dielentür, die geradeswegs in den Hof hinausführte, stand eine ranke Dirn in der ersten Herbe des Frühlings. Die Rechte hielt noch die Klinke umgriffen. Das Gesicht war kantig, unregelmäßig, wie mit einem harten Meißel gebildet, erschien aber trotzdem unter dem Zauber einer wilden und erregenden Schönheit. In schweren Zöpfen lag das blauschwarze Haar um die wächsernen Schläfen. Sie trug städtische Kleidung, nur war diese Kleidung fadenscheinig und splissig geworden, ließ aber das Geheimnis ihrer straffen Brust und die Linien ihres wohlgebildeten Leibes sattsam erkennen.

Die aufgerissenen Blicke kamen der Greisin flackernd entgegen. Sie waren wie unruhige Kerzen in einer Sterbekapelle.

Hille achtete nicht darauf.

»Mutter, nun kann ich wohl gehen?«

»Tu' das, mein Kind, und erwarte mich später!« und als Hille Travelmann die Diele verlassen hatte, gebot Judith der Fremden: »Tritt näher, Johanna!«

Langsam kam die Angerufene heran, langsam und mit zögernden Schritten.

Dicht vor der Alten hielt sie den Fuß an.

Zwei Sekunden hindurch stand Auge in Auge, nur zwei Sekunden hindurch, aber so, als wenn der eine Blick den andern ausforschen wollte. Und sie sahen sich wechselseitig bis in die innerste Seele.

»Ich ließ dich rufen, Johanna.«

»Das weiß ich. Drum bin ich gekommen.«

Der harte Glanz ihrer tiefblauen Augen wurde metallisch.

»Warum ich dich rufen ließ, wird dir gesagt sein?«

»Nein, mir wurde gar nichts gesagt.«

»Dann sollst du es hören. Knechte und Mägde sind vollauf beschäftigt, und wir können Hände gebrauchen. Helfen sollst du nachher, wenn die Herren vom Jagen zurück sind. Ich werde dir Dank wissen.«

Die Fremde schwieg. Die Blicke umschleierten sich, und ihre schmalen Finger flochten sich krampfhaft zusammen. Um ihre blaßroten Mundecken spielten unwirsche, fast höhnische Fältchen.

»Gib Antwort, Johanna, oder kannst du die Worte nicht finden?«

Die Angeredete lächelte mühsam.

»Warum sollte ich die Worte nicht finden?« fragte sie bitter. »Um solche bin ich niemals verlegen gewesen.«

»So sprich auch und lasse alle Redensarten beiseite. Auf Getter wird nicht lange verhandelt. Also willst du kommen und beim Schüsseltreiben die Herren bedienen, oder ziehst du es vor, auf deinem verwahrlosten Kotten zu bleiben?«

»Das letztere nicht; ich muß schon das erstere wählen.«

»Du mußt schon? Keiner muß müssen. Jeder hat Anwartschaft auf seine persönliche Freiheit. Daran hat keiner zu rütteln. Auch ich nicht. Jedem das Seine. Das ist preußisches Recht und westfälische Satzung, oder aber« – und sie musterte das hochgewachsene Mädchen mit erstaunten und fragenden Blicken – »soll das etwa heißen, Johanna ...?«

»Ja, das soll heißen ...«

Durch die herbe Gestalt lief ein Zittern und Aufbegehren. Das Antlitz schien blutleer geworden. Ihre Brust hob und senkte sich stürmisch.

»Sie müssen nämlich wissen, Frau Travelmann, ich wurde bei den Ursulinerinnen in Dorsten erzogen, und da sollte ich denken ...«

Eine unwillige Geste.

»Ich weiß, ich weiß! Du bringst mir nichts Neues. Also im Klosterfrieden der ehrsamen Nönnchen erzogen? Auch eine Wohltat, aber nicht jedermanns Sache. Und wie lange, Johanna?«

»Zwei Jahre bin ich in Dorsten gewesen.«

»Und wann hast du retour gemacht?«

»So um Pfingsten herum.«

»Und hast alles zu Hause beim alten gefunden?«

Verlegen senkten sich die langen Wimpern herunter.

»Nein, Frau Travelmann, es hat sich vieles geändert.«

»Gut, lassen wir das, aber ich sage dir hiermit« – und der Krückstock stieß etliche Male auf den hallenden Estrich – »es wäre besser gewesen, du wärest nicht nach Dorsten gegangen.«

»Frau Travelmann ...!«

»Ja du – es wäre besser gewesen, denn seit dem Tage hat alles bei euch den Krebsgang genommen. Was ist aus deinem Vater geworden, aus seinen Äckern und Hutungen? Solch prächtige Parzellen waren kaum bei einem Heidegänger zu finden, so mastig und fett waren sie und wohlgeeignet, ihren Mann doppelt und dreifach zu ernähren. Aber was tat der Besitzer? Frage im Krug an. Dicht an den Herrgott sine Kerke hett de Düwel sin Kapellken gebaut, wo se mit gläsernen Klocken lüet. Da sitzt er beim Schnaps und kartelt, bis der Morgenwind die rußige Lampe auspustet.«

»Na – so was!«

»Ja du – oder er hockt in den Bülten auf Anstand, um einen Travelmannschen Rehbock niederzuknallen; aber Hand an den Pflug zu legen und vor Tau und Tag Furche bei Furche zu ziehen, das gibt's nicht. Nicht rühr' an die Sache, und so was will leben, und so was will den ehrlichen Namen ›Zinsbauer‹ führen?«

»Frau Travelmann, er ist immer mein Vater.«

»Schweige, Johanna! Kindeslieb ist gut, aber Affenliebe ist von jeher vom Übel gewesen. Es bleibt dabei: der Mensch ist reif, koppheister zu gehen. Das kann alle Tage passieren. Er sät nicht und erntet nicht und begnügt sich damit, andermanns Fische aus den Reusen zu mausen und andermanns Wild auf die Decke zu legen. Noch neulich ... das mit dem Revierförster ... mit Fritz Garke aus Hiltrup ... Und wäre mein Sohn nicht dazwischen geraten und hätte nicht Gnade vor Recht ergehen lassen – dein Vater säße hinter eisernen Traillen. Ja du – hätte deine verstorbene Mutter nicht wie 'ne Turteltaube gegurrt, wärest du nicht nach Dorsten gegangen, er wäre ein ehrlicher Zinsbauer und Kötter geblieben, frei und nicht mit Schulden belastet. So aber: der Jude gerbt ihm das Leder, und der Fusel treibt ihm den Verstand aus dem Hirnkasten, und jetzt, wo ich die Hand strecken will, um wenigstens dich aus dem Elend zu ziehen, aus dem Gröbsten herauszubringen, da kommst du und sagst mir: Ich bin bei den Ursulinerinnen gewesen, habe das Meine gelernt, und es wäre bitter für mich, andermanns Brot zu essen und meine Schuhe unter andermanns Tischzeug zu stellen. Ja oder nein – das wolltest du sagen.«

»Ja, Frau Travelmann, das wollte ich sagen.«

Unter den Wimpern der Ärmsten blitzte es auf. Aber nicht lange. Das Blitzen verlor sich, und ihre Stimme war fahrig geworden.

Die Alte zuckte erregt.

»Ja so!« sagte sie schartig, »du mit deinen verfluchten Klostergeschichten; aber denke daran: der Zinsbauer Barthlemes Altrogge kam auf die Rutschbahn und ist durch eigenes Verschulden zum Bettler geworden. Und du, seine Tochter...«

Drohend stand Judith Travelmann vor dem geängstigten Mädchen. Ihre schwarze Gestalt drängte sich an die Balkendecke heran.

Ein verhaltener Aufschrei.

»Ich will ja!«

Dann Totenstille. Schatten gingen über die Diele, und aus diesen Schatten heraus wuchs das Einsehen, ließ sich das dumpfe Muhen der Wiederkäuer und das sanfte Klingeln der Halfterketten vernehmen.

Die große Stille hielt an, und in dieser greifbaren Stille: die Alte trat näher.

Da plötzlich ... sie legte den Krückstock beiseite und streckte die Hände, die schlanken Hände, die rein und weiß wie Hostien waren.

»Komm' her – du!«

Und diese Hände, sie packten zu und legten sich sorglich um zwei gerundete Schultern.

»Gut Ding, was sich ändert, und gut, daß es also gekommen; denn ich will nur dein Bestes.«

Judith beugte den geschmeidigen Körper Johannas langsam zurück und sah ihr tief in die Augen.

Fünfzehn Herzschläge vergingen.

Über ihre Züge lief ein feierliches Glänzen, und ihre Stimme wurde gütig und weich, als sie sagte: »Es ist ein wirres Leben auf Erden, nicht ernst und nicht weise; das wirrste aber hat sich an dich und deinen Kotten geworfen. Da möchte ich helfen. Deinem Vater nicht mehr. Der pulverte seinen ehrlichen Namen und alles, was sein war, mit Strunk und Stiel auseinander. Da müßte schon ein Apostel erscheinen oder sonst ein Gesalbter des Herrn; und Wunder sind heute so rar wie sittsame Mägdekammern. Aber dir möchte ich beistehen, dich aus der frierenden Einsamkeit holen, um dir etwas Wärme zu geben. Du mußt nämlich wissen: ich sah dich als Kind, als deine unselige Mutter noch lebte, dann später in der Kirche zu Hiltrup. Da trugst du das Kommunionskränzlein im Haar, zum erstenmal, und deine Augen waren niedergeschlagen. Das gefiel mir, Johanna. Hierauf sah ich dich noch dann und wann im Grasgarten. Dann nicht mehr. Es kam eine große Leere, und die Leute sagten, du wärest nach Dorsten gegangen. Das war übel getan und übel bewerkstelligt, denn was vom Bauern abstammt, gehört in die Wirtschaft und nicht in den Klosterfrieden der ehrsamen Nönnchen, zumal da deine mit Tod abgegangene Mutter ihr Bestes vertan hatte und der Vater bereits abfällig wurde. Du hättest das Malör aufhalten können. Daran ist nichts mehr zu ändern. Die Klosterfrauen in Ehren, und man kann dennoch der Meinung sein, daß im Weinberg des Herrn manch übles Gesäme wuchert. Das klingt widersinnig und ist trotzdem auf dem richtigen Acker der Erkenntnis gewachsen, denn geschrieben steht: Man soll kein Bauernkraut in städtische Krumen verpflanzen; da geilt es zu stark und gibt mißliche Triebe. Im übrigen: ich sehe« – und ihre Rechte glitt sacht und schmeichelnd über das schwarzblaue Haar der Verängstigten – »du bist schön geworden, Johanna. Aus der wilden Heidehummel wurde ein Falter. Ein Geschenk des Herrn, ein großes Geschenk, nur mußt du dich hüten, es auffällig zu tragen, es aller Welt wie auf 'ner Assiette zu zeigen und anzupräsentieren. Halte Gott vor Augen und bewahre deinen Leib wie ein Tafeltuch, von dem sie die geweihten Brote verteilen. So wird dir's an Segen nicht mangeln ... Und wenn du dich anstellig zeigst: Haus Getter kann ein tüchtiges Frauenzimmer gebrauchen.«

Sie gab die Schultern frei und nahm wieder den Krückstock.

Ihr Antlitz war bleich geworden, hart und bleich und von einer gesättigten Ruhe.

»Du kannst jetzt gehen, und komme bald wieder! Also bis später, Johanna.«

Sie ließ die schweren Lider herunter.

Als sie die Augendeckel aufs neue emporhob, war sie allein auf der Diele.

Noch lange stand sie mit weiten Blicken in der silberigen Helle, geistesabwesend und dennoch sinnierend. Dann ging sie zur Küche, um für den heutigen Abend die nötigen Befehle zu geben.

Den Mägden gebot sie, die Tische zu richten, die Tafeltücher zu spreiten und frische Tannenzweige zwischen die Gedecke zu legen. Sie sprach langsam und eindringlich, begleitet von dem melancholischen ›Kri- Kri‹ eines geigenden Heimchens. Als sie damit fertig geworden, trat sie ins Freie, schritt über den Hof und stellte sich neben die breite Einfahrt hin, von wo aus der Blick ins Unermeßliche reichte. Heideland und Äcker.

Unbeweglich blieb sie hier stehen.

Auf den nahen Feldern ging die Arbeit über dampfende Schollen. Fünf Gespanne waren dort in voller Tätigkeit. Sonst ringsum Mittagsstille.

Darüber hinaus lag Münster, die Wiedertäuferstadt, die lindenumsäumte, die Stadt mit dem sonoren Glockengeläut – im feinmaschigen Dunst, wie in einem blauen Duft von Weihrauch und Myrrhen. Einzelne Türme waren deutlich erkennbar. So die prächtige Krone des heiligen Ludger und der Helm von Lamberti.

Und weiter zur Linken ...

Wieder begann es zu knallen, fielen vereinzelte Schüsse. Ein Hornruf dazwischen.

»Haha!« sagte die Alte, »jetzt jagen sie auf der Uhlenbrinker Gemarkung. Weidmannsheil und fröhliches Schüsseltreiben!«

Ihr Blick pilgerte weiter.

Alles, was sie sah, war Freisassengut und Travelmannsch Eigen. In den nächsten Äckern schlummerte bereits die Saat, Weizen und Gerste, und hier und dort begann schon der Winterroggen zu grünen.

Sie dachte dabei an ein schöneres und edleres Saatkorn. Sie dachte an Hille und den jungen Erben, den sie mit allen Fasern und Masern ihres reichen Herzens ersehnte. Wenn er doch käme!

Bald darauf wandte sie sich und ging gemessenen Schrittes dem Herrenhause zu.

Hier stieß sie auf den Oberknecht, der vom Felde gekommen war, um das sechste Gespann aus den Ställen zu ziehen.

»Hövelkamp, auf ein Wort! Ich komme nochmals auf die alte Sache zurück. Ihr habt doch richtig gesehen?«

»Ich weiß nicht, Madam, wo die Frage hinaussoll?«

»Ich meine das von wegen der Herrin.«

»Ja, Madam, ich habe richtig gesehen.«

»Und sie ist auf dem Helweg gewesen, und Ihr könnt Euch nicht irren?«

»Nein, ich kann mich nicht irren.«

»Hövelkamp, ich frage noch einmal!«

Ihre Stimme stellte sich auf.

»Madam, so wahr mir Gott helfe – sie hat auf dem Helweg gestanden.«

»Wie lange wohl?«

'ne Stunde vielleicht.«

»Und habt mit keinem darüber gesprochen?«

»Mit keinem.«

»Und Ihr schweigt gegen jeden?«

»Eher in die schwarze Lake dahinten.«

»Ich danke – und nun: gute Verrichtung!«

»Merci!«

Drei Minuten später ging ihr Krückstock fest und tönend durch die weißgekalkten Gänge des Freisassenhofes.

2

Sankt Hubertus! Der dritte November! Seit Menschengedenken hatte dieser Tag nicht so freundlich gelächelt, nicht so wohlig mit seinen Blättern geraschelt und niemals dem hochgemuten Weidwerk eine so köstliche Wildbahn gespreitet.

Kein Wipfel bog sich unter regenschwerem Rauschen, lag unter dunstigem Nebel. Der Buchenwald stand ernst und feierlich unter einem ehernen Himmel, war bis heute nicht zum Bettler geworden. Er trug noch immer sein volles Ornat, brüstete sich wie ein würdiger Kardinal und zog das abgeworfene Laub gleich einer köstlichen Schleppe hinter sich her.

Der Kardinal opferte. Goldene Schnüre, brennende Girlanden wirrten sich in frommem Schweigen durch den hohen Tempel. Das Opferfeuer blutete bis in das Herrenzimmer hinein.

Unter den Fenstern träumte das todstille Wasser. Es drängte sich dicht an die Grundmauern des Hauses und verlor sich in den purpurroten Schatten des nahen Gehölzes. Wildenten schwaderten hoch, strichen langen Halses feldeinwärts. Ein Gabelweih zog seine einsamen Kreise. Sie zerfaserten als schnurfeine Linien. Ein Kranz von verwaschenem, überständigem Rohr grenzte die flachen Ufer ab. Seitwärts davon streckte sich die braune, endlose Heide. Ein gelber Streifen pflügte sich kerzengrade hindurch, breit und zermahlen und von grotesken Pappel- und Weidenstümpfen begleitet.

Wie eine fette, dickleibige Made kroch er dem tiefen Horizont zu. Der Helweg.

Das Herrenzimmer selber atmete Travelmannsche Einfachheit. Nur schlichtes Mobiliar und kahle Wände. Außer des Hermann von Kerßenbroich Chronik von Münster, in der viel des Erschrecklichen über den Wiedertäuferkönig Jan van Leyden, Knipperdolling, Krechting und die schöne Elisabeth Wandscher erzählt war, gab es nur wenige Bücher. Die Travelmänner lasen nicht gerne. Das einzige Schmuckstück: ein alter Gewehrschrank, mit trefflichen Waffen bestellt, darüber kapitale Hirschgeweihe, deren Träger einst in toller Brunft die unheimliche Dawert durchröhrt hatten. Und dann noch ... seitlich davon: das Bildnis einer Dame in schwarzem Ebenholzrahmen.

Am Fenster stand Hille. Das märchenschöne Glühen, das vom nahen Buchenwald ausging, legte einen Scharlach um ihre hohe Gestalt und machte ihr schmales Gesicht aufleuchten.

Ihre hellen, insichgekehrten Blicke waren auf den Helweg gerichtet. Langsam und selbstverloren breitete sie die Arme und kreuzte sie wieder. Ab und zu flüsterten ihre Lippen unverständliche Worte. Die Augen gaben zurück, was ihre Seele bewegte. Sie kam von dem verrufenen Wege nicht los, und wie sie auch versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, Lichtes zu sehen und heitere Bilder zu finden, immer wieder wurde sie in den Bann des gelben, öde dahinkriechenden Streifens gezogen. Eine drängende Unruhe ging über sie hin, und dennoch war sie wie geistesabwesend. Regungslos stand sie. Immer tiefer und tiefer versank sie in ein bedrohliches Sinnen, als hätten die Worte sich an sie geworfen: »Von Erde bist du, und zur Erde sollst du wieder zurück,« und nur das Auf und Nieder ihrer jungen Brust deutete an, daß sie lebte.

Eine geheimnisvolle Starrheit erfüllte ihr Wesen, machte die Wangen blutleer und die Augen zu Totenlampen, die in die Ewigkeit schauten. Und doch war es kein irdisches Sehen. Scheinbar sah sie nicht und hörte sie nicht. Sie hörte es nicht, wie der Krückstock der Alten die langen Korridore durchhallte, zeitweilig innehielt, um dann wieder in abgemessenen Pausen weiter zu tönen. Es war ein knochentrockenes Klingen und Schreiten, unwirsch und aufdringlich. Aber unbemerkt ging es an ihrem Ohr vorüber, als wäre es gar nichts gewesen; auch hörte sie nicht, wie die Klinke rückte und die Türe sich geräuschvoll auftat.

Judith Travelmann war ins Zimmer getreten.

Dicht hinter der Abwendigen machte sie halt; dann sagte sie leise, fast scheu und mit dem Unterton einer verhaltenen Trauer: »Ich möchte dir meine Liebe in goldenen Schalen reichen. Alles um mich verschwindet, ist nicht vorhanden für mich, hat mir nichts mehr zu sagen. Ich sehe nur dich. Sonst nichts mehr, und wie eine Heilige stehst du.«

Sie legte ihr die Hand auf die Schulter.

Die Überraschte warf sich herum.

»Mutter, wie kommst du darauf?«

»Weil es mir eine zwingende Macht also gebietet. Ja, wie eine Heilige stehst du. Ich kann es nicht ändern und lasse mir den Glauben daran nicht nehmen. So sah ich dich, Hille, damals auf Darfeld, als dein Vater in Not war und der rote Spiegel erschien, um ihm die bleiche, gierige Faust an die Kehle zu legen. Es war ein ernster Tag und eine wehe Stunde. Ein bitteres Leid. Aber dieses Leid machte dich einer Blutzeugin ähnlich. So sah ich dich stehen, als mein Sohn und ich vorsprachen, um dieses Leid von Darfeld zu nehmen. Wir alle sind zu Gottes Füßen, aber es war doch ein Glück, daß wir kamen. Dann später ... so sah ich dich stehen, als die Sterbelaken niederfielen und dein Vater hinwegging. So sah ich dich, Hille ...«

Sie suchte nach Atem.

»Ja,« fuhr sie fort, »so sah ich dich, Hille, als du nach kurzem Besinnen meinem Jungen die Hand reichtest, die letzte ihres Stammes dem letzten der wilden Travelmänner, und das danke ich dir bis zum heutigen Tage, denn mit deinem Einzuge brannte das Herdfeuer freundlicher, kam Ordnung in die Knechte- und Mägdekammern, verlor sich die Wolfszeit auf Getter. Du schüttelst den Kopf, aber es ist so. Lasse mich nur aussprechen, Hille! Ich fühlte deine gütige Hand und gewahrte, wie alles seinen regelmäßigen und freundlichen Gang nahm. Deine Heiterkeit blieb, und nur dein Wandeln zwischen Himmel und Erde, die dunkeln Kräfte, die auch die ›Blassen‹ im Lande an sich haben, wurden von dir genommen. Ich wähnte dich glücklich, und nun muß ich sehen ...«

Das junge Weib verfärbte sich.

»Und ich sage dir, Hille, lieber die alte Wolfszeit zurück, als dies Grübeln und Suchen, denn solches ist schlimmer als alles und dreht einem das Gesicht in den Nacken.«

»Mutter ...!«

Die Gutsherrin straffte sich hoch. Sie war noch bleicher denn vorhin geworden. Ihre Finger krampften sich ein und lösten sich wieder.

»Mutter, was heißt das? Willst du mich trösten, oder bist du erschienen, mir diese Stunde noch herber zu machen?«

Judith Travelmann winkte ab.

»Dich trösten? Nein du, ich will dich nicht trösten. Auch das andere nicht. Ich will keines von beidem. Wie kommst du darauf?« Sie lächelte bitter. »Ich bin eine Mutter, und du solltest mich kennen. Wer so viel des Grames durchmachen mußte wie ich, dem steht es nicht an, nur tröstliche Worte zu bieten. Solche Worte sind wie ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Sie führen nicht weiter und legen keinen Balsam auf geschlagene Wunden. Wer so wie ich das Unheil kommen sah ... damals vor Jahren ... wie es mit hartem Knöchel an die Fensterladen pochte und mir gebot, an die Mergelgrube zu treten ... Wer so wie ich ... und als ich dann an das entsetzliche Wasser herantrat und die blutige Klinge mir zugrinste: Stein, Strick, Gras und Grein ... Wer so was geschaut, der hat auf Jahre hinaus das Lachen verlernt und trägt andermanns Leid doppelt und dreifach. Das solltest du wissen, denn deine Liebe ist größer und deine Sinne sind feiner als die Liebe und die Sinne andrer Menschen. Sie sind wie zarte Nebel, die alles mit ihren weißen Schleiern umspinnen, und ich sollte drum meinen ... Nein du, meine Arme sind gebreitet nach dir, und meine Seele möchte dich einhüllen in den Mantel des Friedens und der ewigen Freude.«

Ein Schluchzen war bei ihr.

Hille wandte sich ab.

Judith war dicht an ihre Seite getreten.

Sie legte den Arm um sie her: »Komm', setze dich hin; dann läßt sich alles besser bereden,« und sie führte sie zum nächststehenden Sessel, um sie sacht in die Kissen zu drücken. Auch sie nahm Platz und stellte den Krückstock neben sich und tat die Hände zusammen, die Hände, die schmal und welk waren und an die reinen Hände eines Priesters erinnerten.

»Hille, ich habe mit dir in aller Ruhe zu sprechen, in aller Ruhe, und so, daß es Unberufene nicht hören. Es gibt Dinge, die vertragen kein lautes Geräusch, noch weniger den Lärm des Tages. Sie sind wie Schmetterlingsflügel, haben die Eigenschaft, leicht ihren Schmelz zu verlieren. Sie sind wie ein verschwiegenes Wasser. Man darf sie nicht stören. Sie wollen die gütige Pflege einer Barmherzigen. Nur so ist Heilung zu hoffen. Nur so werden dir und mir die Sorgen und Ängste vom Herzen genommen, wird es uns gelingen, ein innerliches Behagen zu finden. Das ist unsere Bestimmung. So und nicht anders, denn wir wollen doch nicht mit dem rostroten Sterbezug der jetzigen Tage dahinschreiten, sondern der Zukunft gedenken, der Hoffnung und Auferstehungsfreude.«

So redete sie, während ihre Blicke die Gestalt ihrer Tochter umfaßten.

Ihre Lippen preßten sich fest gegeneinander. Sie schwieg, und eine tiefe, leidvolle Falte stellte sich auf zwischen ihren stahlgrauen Augen.

Keiner sprach mehr. Niemand wagte es, die unfreiwillige Stille zu scheuchen. Nur draußen ... im Ried war Bewegung, und drüben: der stille Wald begann plötzlich zu rauschen. Große Fetzen wurden aus seinem Purpurmantel gerissen. Sie flatterten hoch und schaukelten ziellos ins Ungewisse hinein, um sich irgendwo in der Heide niederzulassen, wesenlos und ohne Wiederkehr. Gleichzeitig hoben sich dunkle Krähenvögel aus den roten Kronen. Grau in grau und mit heiseren Stimmen, so trieben sie der gelben Made zu, die unaufhörlich ihres Weges dahinkroch, schnurgerade fort, öde und trostlos und wie das unheimliche Schleichen des Schicksals.

Die beiden lauschten hinaus.

Das Rauschen war eindringlicher und das Lärmen stärker geworden.

Da sagte die Alte: »Das bedeutet nichts Gutes. Die Luft ist stickig geworden, als wäre sie mit Unheil belastet. Auch der Wind tut sich auf. Das haben die Krähenvögel nicht gerne. Überhaupt diese Vögel! Ich liebe sie nicht und liebe die jetzige Zeit nicht. Allerheiligen und Allerseelen sind traurige Feste. Sie liegen hinter uns, aber ihre bangen Eindrücke wirken noch nach. An solchen Tagen heben sich die Gesichte am Helweg.«

Die junge Frau horchte auf.

»Am Helweg ... wo Dinge geschehen ...« sprach die Alte unbeirrt weiter, aber mit zerdrückten Worten und ohne die Augen zu heben, »wo Dinge geschehen, die nicht von dieser Welt sind, seltsame Begebenheiten, so die Seelen ängstigen, sie in eine gesteigerte Erwartungsspanne versetzen, um sie schließlich elend zu machen. Doch später hiervon, und wenn es auch hart wird, darüber zu sprechen, es muß klar zwischen uns werden, sonst kann ich meine richtige Besinnung nicht finden.«

Mit einem schmerzlichen Laut brach sie ab. Der Schmelz eines feinen Seidenfadens spielte durch die halbgeöffneten Lider.

»Zuvor habe ich dir eine Erklärung zu machen.«

»Du – mir?«

»Ja du – Emmerich Dinklage ist wiedergekommen.«

Hille drückte sich scheu in den Sessel. Ihr Blut stürmte. Mit aller Willenskraft hielt sie es nieder.

»Emmerich?!« fragte sie tonlos. »Der ist doch in Leukas, seit zwei Jahren in Leukas, und wollte dann nach Mykenä. So hieß es doch früher.«

»Ja, Hille, so hieß es. Er ist auch in Mykenä gewesen. Aber nicht lange. Westfälisches Blut ist heißer als das Blut andrer Menschen, wenn auch zäher und dicker. Das gefällt sich nicht unter der griechischen Sonne. Das wußte ich lange. Das will in die einsame Heide zurück und in den geheimnisvollen Duft, den die Frauen zwischen Ems und Lippe an sich haben. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, und dennoch sind sie nur ein Tag vor dem Herrn. Wir alle bringen unsere Jahre zu wie im Traume, und im Traume wachsen böse Gedanken.«

»Wie meinst du das, Mutter?«

»Das mußt du schon mir überlassen. Ich weiß nur: er ist wieder in Münster. Was er früher schon wollte, das tat er. Er habilitierte sich dort. Die nächste Professur ist ihm sicher. Bernd traf ihn vor wenigen Tagen und lud ihn zur Jagd ein. Er wollte dir eine Überraschung bereiten, eine Begrüßung auf Getter, und wenn ich mich auch innig freue, ihn wieder zu sehen, ich glaube, eine andere Lösung hätte manches beglichen. Nicht etwa ...« und ihre Stimme erhob sich: »Wer die Hand wider ihn aufhebt, dem soll die Hand verdorren, denn er gehört zu unsern Getreuen, und sein Herz ist wie das eines Kindes, wenn auch fest und stark, frei und bodenständig wie das Eisen in unserer Erde. Aber ich meine: nur ein paar Jahre vielleicht, nur noch ein paar lumpige Jahre ...«

Die letzten Worte vergingen in einem kaum hörbaren Sprechen, als wenn sie sich scheuten, die letzten Konsequenzen zu ziehen.

»Und nun?« fragte Hille, die Augen starr auf die Alte gerichtet.

»Kind, was soll ich weiter noch sagen? In dem Angedeuteten ist bereits alles enthalten, was sich wie graue Schatten an mich drängte. Und in diesem Schatten sitzt das Frösteln. Hille, er ist wiedergekommen. Die alte Sehnsucht fiel über ihn her. Er mußte heimwärts. Die westfälischen Menschen sterben an Heimweh und sterben an Liebe. Und wenn sie nicht wollen, wenn sie sich dagegen sperren, müssen sie zurück in das Land ihrer Väter. So auch er. Spiegelungen und Spiegelbilder. Sie reihen sich aneinander wie stille Geschichten. Nur darf unter diesen stillen Geschichten nicht ein Dritter verkümmern. Diese Spiegelungen und Spiegelbilder, sie stecken einem wie fremde Körper im Blut, sehen einen mit verweinten Augen an und machen längst zermürbte Erinnerungen wieder lebendig. Sie kriechen einem nach wie treue Hunde, die man von sich gewiesen, und da geht das nicht anders, schon um der Barmherzigkeit willen: man gibt ihnen aufs neue die frühere Liebe zu kosten. Ich kenne das, Hille. Die Zeiten, die über mich fortgingen, machten mich wissend. Hof und Herd sind mir teuer. Ich halte sie fest wie mit eisernen Klammern. Irgend eine Entweihung daran entweiht meinen Körper. Wir, die Travelmann, werden die ›wilden‹ geheißen. Das weißt du, und wir sind stolz auf den Namen. Aber in dieser Wildheit wohnt auch die Arbeit des Stiers und das Schlummern der Vertrauensseligkeit. Besonders in Bernd. 'ne Portion Leichtsinn ist in ihm, aber nichts Arges. Er geht stur geradeaus und hat kein Verständnis für die feinen Sächelchen einer subtilen Lebenskunst. Das ist gut und doch nicht gut. Dann ferner. Eine innige Freundschaft verbindet ihn mit Emmerich. Auch das muß ich loben. Alles zu seiner Zeit. Aber diese Freundschaft könnte brüchig werden. Ich denke dabei an die gemeinsam verlebten Stunden auf Darfeld. Gründe fehlen hierfür, allein ein seltsames und vages Empfinden ... Das gibt mir Rätsel auf, Rätsel, die noch der Auflösung harren und die mich mit kalten Fingerspitzen berühren. Ich mag mich irren darin. Allein ich sage mir wieder: Bernd kann seine Stunde verpassen. Die zarten Schwingungen, die nötig sind, die Irrungen und Wirrungen eines Menschenherzens auseinander zu legen, sind niemals seine starke Seite gewesen. Indessen, eine Mutter sieht tiefer, und da dachte ich, Hille ...«

»Mutter ...!«

Das war Hille Travelmann nicht mehr. Mit einem jähen Ruck war die Gutsherrin in die Höhe gefahren. Ein Blitz zuckte in ihrem Auge, und eine dunkle Blutwelle schlug ihr bis unter die weizenblonden Haare.

Was war das nur? Saß eine Richterin vor ihr? War da eine gekommen, gewillt, ihr die Reinheit des Leibes und ihres tiefen Empfindens zu nehmen? Tat sich da ein irregeführter Mund auf, um Falsches aus den Blättern ihres Lebensbuches zu deuten? Sie wähnte in einen blutroten Nebel zu sehen, und dieser Nebel hüllte alles ein, was ihr noch freudig erschien, begehrenswert und wie ein heiliges Singen am Tage der Auferstehung.

Nein, das war Hille nicht mehr, nicht mehr die gütige Frau in ihrer feiertägigen Andacht und Würde, die Reine und Hohe, die ihre lichte Flechtenkrone trug wie ein Geschenk des Herrn. Diese feiertägige Andacht war jetzt von ihr genommen. Sie hatte ihr nichts mehr zu bieten. Ihr Wesensinnere fiel von ihr ab. Sie wandelte sich. Ihr mildes Antlitz war wie graue Erde geworden. Die starren Hände auf die Brust gepreßt, stand sie, als würde sie verzehrt von einem gierigen Feuer. Aber dieses Feuer verbrannte sie nicht, vereiste sie nur und machte ihre Züge kalt und gefühllos.

»Emmerich Dinklage! Was soll dieser Name? Warum bringst du ihn mit mir in Verbindung? Mit mir und Bernd und meinen früheren Tagen? Ja, wie die Dinge nun liegen, es wäre mir lieber gewesen, ich hätte ihn niemals gesehen, er wäre mir niemals begegnet im Leben, denn wie ich jetzt annehmen muß: aus diesen Spiegelungen und Spiegelbildern scheinen sich häßliche Vorstellungen und Wahnbegriffe zu heben. Ich habe nichts zu verhehlen und nichts zu verheimlichen. Weder er, noch ich. Nur, ich kann in seine Seele nicht schauen. Aber ich hafte für ihn. Wir haben weder das Licht des Tages, noch das der Sterne zu fürchten. Also weshalb diese Kränkung? und wenn sie auch aus banger Sorge heraus und aus lauterem Herzen geschah, es ist immer eine Kränkung gewesen. Und diese Kränkung – ich weise sie von mir.«

»Du ...!« rief die Alte.

Judith stand vor ihr. Ihren Stock stellte sie fest auf den Boden, fest und energisch, als sei ihm geboten worden, dort Wurzeln zu schlagen, um zu einem stattlichen und sparrigen Baum zu werden, ein Zeichen der Stärke und ein Schirm und Schutz des Freisassenhofes.

»Wie kommst du mir vor? Lehnst du dich auf gegen die Mutter? Du scheinst vergessen zu haben, was du mir schuldest. Früher: ich bin die Herrin von der Getter gewesen. Jetzt bist du es geworden, und dennoch: vor einem grauen Haupte sollst du Achtung besitzen, um ihm die Jahre leichter zu machen.«

»Das tu' ich, aber das, was du sagtest ... Ich habe Bernd doch alles gegeben, und nun willst du mich zermürben und klein machen. Das war nicht wohlgetan. Wer hebt den Stein wider mich auf! Er möge kommen. Ich harre des Steines, denn ich bin eine Darfeld.«

»Das warst du.«

»Und ich bin es noch immer. Das sollte dir Bürge sein. Aber wenn du diese Bürgschaft nicht annimmst« – und sie streckte sich, als habe sie eine Kugel getroffen – »Mutter, Mutter, Mutter! um deinetwillen ersticke ich das Blut der Darfeld in mir. Dir zu Liebe – ich will nicht anders sein und scheinen, als was du mich hießest. Mutter!« – und ein wilder Schrei flog gegen sie an – »so verstehe mich doch, so begreife mich doch! So wahr mir Gott helfe: trotz des Blutes in mir – ich bin eine Travelmann, Mutter! Jetzt und für immer und bis zur Stunde des Todes.«

Sie warf sich herum.

»Hille, mein Kind – du!« und ein schluchzendes Weib ruhte an der Brust einer Greisin, wie vom Sturme in einen sicheren Hafen verschlagen, und siehe: Schulter an Schulter, die Arme um den Leib ihrer Tochter geschlungen, begann die Alte leise zu sprechen, leise und heimlich, so wie der Wind es tut, wenn er nach einer heißen Sonne heraufzieht, um die verängstigten Halme sanft auseinander zu strählen und ihnen Trost und Segen zu bringen. »Nun ist alles von mir gefallen, aber auch alles, und was du ›Kränkung‹ nennst, ist keine Kränkung gewesen. Wie sollte ich auch? Eine, die gewillt ist, dir ihre Liebe in goldenen Schalen zu reichen, kann dich nicht kränken. Es war ein Quälen für mich, ein Zergrämen um das Glück meines Hauses! und nun muß ich sehen: es ist alles eitel und nichtig gewesen und ein Nichts unter dem Himmelreich. In dir ist die Majestät des Weibes verkörpert. Kannst du vergeben? Jetzt weiß ich: du bist eine Travelmann, Hille, und doch eine Darfeld. Gott segne die Darfelds. Kind du, mein Kind – du! O wie ich dich liebe! Lieben ist wie Sterben, und Sterben heißt glücklich werden, denn durch die Umarmung des Todes werden wir der Anschauung Gottes teilhaftig.«

Und dann lächelte sie durch ihre Tränen hindurch, und dieses Lächeln war ein befreiendes Lächeln, ein Gruß an die Zukunft. Allein ihm war keine lange Dauer beschieden. Die schmale, tiefe Falte steilte sich wieder zwischen den Augenbrauen. Irgend etwas Unbegreifliches und Schattenhaftes hob sich drüben auf dem verwunschenen Helweg, schien aus dem Boden zu wachsen, wandelte näher heran und sah durch die Fenster – ein Gesicht, als hätte sich darin die Not Gottes verewigt. Und dieses Schattenhafte trat durch die Wände wie durch eine Gardine hindurch, fahl und verdämmert und in toter Beleuchtung – und wandte sich, und da sagte die Alte: »Hille, die dunkeln Vögel fliegen noch immer. Überhaupt diese Vögel! Ich liebe sie nicht und liebe die jetzige Zeit nicht. Allerheiligen und Allerseelen sind traurige Feste. An solchen Tagen heben sich die Gesichte am Helweg ...« und ihre Stimme nahm wieder einen stählernen Ton an: »An solchen Tagen ... Hille, du bist auf dem Helweg gewesen.«

Das saß wie ein Peitschenhieb.

Ein weher Ton rang sich aus der Brust der Gepeinigten.

»Mutter, du hast mich gesehen?«

»Ich nicht, sonst – ich wäre gekommen, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Aber einer sah dich, wie du den Geschehnissen folgtest und das Übernatürliche suchtest – ein minderer Mann und einer von denen, die selber gezwungen sind, ihr Fernempfinden wie eine Bürde der Vorsehung zu tragen ... und er durfte nicht vor dich hintreten und sagen: Komm' mit mir! Es ist nicht gut, am Tage Allerheiligen zwischen Himmel und Erde zu suchen und Zukünftiges sehen zu wollen. Er wäre sündig geworden an seiner eigenen Mission und seiner eigenen Sendung. Hille, und dieser ...«

»Hövelkamp ...!«

Sie machte sich frei, trat rücklings, und zwei wissende Augen waren stier und glanzlos auf Judith gerichtet – wie im Entsetzen.

»Ja, ich bin auf dem Helweg gewesen. Ich mußte. Das alte Verhängnis trieb mich hin, hielt mich fest und gebot mir, Fernem zu lauschen und verlorene Stimmen zu hören! Seit Jahren zum erstenmal wieder, und ich dachte schon: der Herr ist mit dir und hat die Gesichte für immer gestundet.«

Ihre Worte zerfaserten, gingen unter in einem dumpfen Schweigen, und in dieser dumpfen Qual und Marter durchlebte sie die Dinge noch einmal, alle die Dinge, die sie sehen mußte und doch nicht sehen wollte, all' die Geräusche, die sie von sich wies und doch nicht abweisen konnte ... aber nur für eine Augenblicksspanne ... in der raschen Flucht von Sekunden ... gleichsam als würden die Bilder von einer unsichtbaren Geißel gepeitscht und vorübergetrieben.

Die Hände gefaltet, wie verlähmt, sagte sie von einem innern Grauen gepackt: »Und ist doch nicht von mir genommen – das furchtbare Sehen. Mein Gott und mein Heiland!« und ihre Arme hoben sich flehend: »Warum das, warum das?! und da sagen die Menschen: es ist ein Geschenk des Himmels. Wenn auch – so ist es doch eine traurige Gabe, ein Schauen der Lebendigen und Toten, ein Schreiten durch eine endlose Nacht ohne Andacht und Sternenfeuer ... und ich muß immer dran denken: ich trage meinen Leib und mein Geschick wie eine Mondsüchtige, wie es die Ruhelosen und Gezeichneten tragen. Mutter, Mutter ...!«

Matt sanken ihre Hände herunter.

»Und deine Wahrnehmungen, Hille? Was sahst du?«

Atemlos war die Alte an ihre Seite getreten.

»Nur flüchtige Schemen. Vom Vorwerk kam es ... langsam und in breiten, gemächlichen Schritten ... am Wasser vorüber ... und trat in den Hausflur ... und dann: eine Stunde später wurde etwas Langgestrecktes vom Hofe getragen.«

»Was war es?«

»Ich weiß nicht. Ein Tuch war darüber gespreitet.«

»Und sahst du das Wappen, das Wappen der Travelmänner?«

Ein stoßweises Ächzen: »Das Wappen, das Wappen!«

»Das nicht. Ein Laken nur, ein einfaches Laken. Es wandelte still seines Weges ... fünf Schuh über dem Boden ... und waren Geräusche dabei ... ernst und feierlich ... ohne Aufhören ... wie das monotone Hersagen von Gebeten bei einem Leichenbegängnis ... und waren doch Stimmen des Herrn. Und diese Stimmen! heilig sind sie, ewig, ohne Anfang und Ende, und wer sie vernimmt, dem ist so, als säße er auf einem Stein und müßte die Sandkörner zählen, die nötig sind, um eine Hand mit Kirchhofserde zu füllen. Und ich kann es nicht ändern, ich muß selber zählen, immer nur zählen ...«

Sie taumelte.

Die Arme der Greisin hielten sie auf.

»Hierhin gehörst du!« und der Krückstock machte eine stracke Bewegung, drohte zum Helweg hinüber, als geböte er ihm, nicht mehr den Frieden und die Freude des Hauses zu stören. Und die Droherin selber ... sie ging über sich fort. Ihre Zunge wurde befehlend, scharf und brüchig, als sei sie gewillt, die Stunde herauszufordern.

»Herr,« begehrte sie auf, »wer bist du? Was willst du? Bist du gekommen, mir das Brot des Lebens zu nehmen? Herr, sei doch ein barmherziger Gott und keiner von denen, die gebieten, mit den Toten zu hausen.«

Ein wehes Aufschluchzen.

»Ach Mutter – du versündigst dich ja!«

»Nur keine Sorge. Mein Erlöser weiß, was ich rede. Er weiß auch: wir, die Travelmänner, sind ein wildes Geschlecht. Sie beten nicht häufig, und wenn sie es tun, dann ist es ein Beten aus der Tiefe heraus und mit 'nem Strick um den Nacken. Ich selber, Judith Travelmann, bin aus dem nämlichen Holze geschnitten und bete, wie die Travelmänner es machen. Aber in dieser Wildheit« – und immer fester und inniger zog sie die Tochter an sich – »in dieser Wildheit liegt auch der Wille zur Kraft und der der Vollstreckung. Und dieser Wille weiß dich zu schützen. Ich will, und was ich will, das erzwinge ich auch. Ja du – ich werfe mir ein armseliges Gewand über und zieh' mir die Schuhe herunter. Und so gekleidet, barfuß und straffen Rückens, pilgere ich in die Kirche von Hiltrup, mir gleich, was sie sagen: Gläubige und Ungläubige, Juden und Christenmenschen, und führe alles zu einem glücklichen Ende. Und in Kraft dieses Willens: den hölzernen Christus, ich bete ihn vom Kreuze herunter und befehle dem Heiland: Komm' mit mir, sei ein barmherziger Richter und keiner von denen, die das Leben zerbrechen. Ich bringe ihn mit und veranlasse ihn, dir die große, heilige und doch unselige Gabe aus den Augen zu nehmen, und sage ihm glatt vor die Stirne: Spreite die Hände, auf daß sie gesunde. Ich lasse dich nicht, du erhörtest mich denn!«

»Mein Gott, mein Gott!«

»Also geschieht es, denn sonst wäre ich wert und würdig, ins Elend zu fahren, darin sich weder Werk, Kunst und Vernunft, noch Weisheit befindet. Und siehe: er tut es, er muß; denn über ein kleines wirst du niederknien und sprechen: Ich bin gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht meines Leibes.«

Die so Angeredete schien einer Verstorbenen ähnlich; nur ihre Blicke waren voller Licht und Glanz und wie der frühe Tag über den Wäldern.

»Gebenedeit unter den Weibern! Das ist es! sonst: unser Geschlecht stirbt aus wie die stolze Sippe der Adler auf den Tiroler Bergen. Das kannst du nicht wollen. Von Gott begnadet und gebenedeit unter den Weibern ... und der Herr wird nicht mangeln ... Und ist es so weit: unter der Mutterschaft – deine Ruhe kommt wieder.«

»Ach du, du ...!«

»Ja, deine Ruhe kommt wieder. Das will der Herr so, denn mein Gebet kann Berge versetzen und den Heiland vom Kreuze holen ... und ist es so weit ...«

Da sah sie: Der Glanz in den Augen der wie aus einem Traum Erwachten war zu einem leuchtenden Feuer geworden.

Judith prallte zurück.

»Hille, ich sehe und wenn es so ist« – und ihre Stimme flackerte auf wie eine helle Freudenflamme in der Osternacht – »dessen zum Zeichen: ich nehme den Travelmannschen Schmuck aus der Lade, und dann –« und ihre Rechte wies auf die Dame im schwarzen Ebenholzrahmen – »tragen sollst du ihn am heutigen Abend, wie ihn Gudula Elitza Travelmann trug, die Frau Wilderichs, des Aufrechten, der mit gekrempelten Ärmeln unter die Herren des hohen Kapitels trat und ihnen die Worte zwischen die Schläfen hämmerte: Wappen und Schild werfe ich von mir, aber das sage ich euch: um so freier und stolzer schlägt das Edelmannsherz unter dem Bauern- und Freisassenkittel. Dies mein Gelöbnis, ihr Pfründenträger und Pfaffen, von jetzt an bis in alle Ewigkeit, Amen! Und diesen Schmuck – tragen sollst du ihn am heutigen Abend. Nur ein Zeichen für mich. Keines für Bernd. Erst später. Es sei sein Weihnachtsgeschenk.«

»Du Liebe, du Gute!«

»Ich warte darauf. Und den Schmuck – Hille, soll ich ihn schicken?«

Keine Antwort erfolgte. Nur ein glückliches Lächeln spielte um den Mund der Gutsherrin.

Judith Travelmann nickte.

Erhobenen Hauptes verließ sie das Zimmer.

3

Immer dasselbe, immer dasselbe! Stimmen der Hoffnung, Stimmen aus dem Paradies, und es waren Glocken dazwischen, Feiertagsglocken, Glocken fern über dem Walde. Und sie läuteten den ›Engeln des Herrn‹ und sangen: »Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Und wisse: bist du wirklich gebenedeit unter den Weibern – unter der Mutterschaft – deine Ruhe kommt wieder ...« eine Offenbarung, die ihr Prozessionsblumen und Immortellen darreichte, sie ermutigte und ihr gebot, in den Garten des Friedens und der Weltvergessenheit zu treten.

Hille Travelmann war stiller und gefaßter geworden. Es schien ein Sichwiederfinden zu sein, ein Genesen, ein Appell an das Leben ... und dieses Sichwiederfinden ... Ach! die mit der Mutter durchquälten