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Ein historischer Heimatroman angesiedelt in der Region von Wesel. Lauffs umfangreiches literarisches Werk besteht vorwiegend aus Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. In seinen Prosawerken behandelt er meist Themen aus seiner niederrheinischen Heimat.
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Seitenzahl: 461
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Anne-Susanne
Joseph von Lauff
Inhalt:
Joseph von Lauff – Biografie und Bibliografie
Anne-Susanne
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Anne-Susanne, J. von Lauff
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849638702
www.jazzybee-verlag.de
Dichter, geb. 16. Nov. 1855 in Köln als Sohn eines Juristen, besuchte die Schule in Kalkar und Münster, wo er das Abiturientenexamen bestand, trat 1877 als Artillerist in die Armee ein, wurde 1878 zum Leutnant, 1890 zum Hauptmann befördert und wirkte, einer persönlichen Aufforderung des Kaisers folgend, 1898–1903 als Dramaturg am königlichen Theater in Wiesbaden, wo er noch jetzt lebt; gleichzeitig wurde ihm der Charakter eines Majors verliehen. L. begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit den epischen Dichtungen: »Jan van Calker, ein Malerlied vom Niederrhein« (Köln 1887, 3. Aufl. 1892) und »Der Helfensteiner, ein Sang aus dem Bauernkriege« (das. 1889, 3. Aufl. 1896), denen später folgten: »Die Overstolzin« (das. 1891, 5. Aufl. 1900); »Klaus Störtebecker«, ein Norderlied (das. 1893, 3. Aufl. 1895), »Herodias« (illustriert von O. Eckmann, das. 1897, 2. Aufl. 1898), »Advent«, drei Weihnachtsgeschichten (das. 1898, 4. Aufl. 1901), »Die Geißlerin«, epische Dichtung (das. 1900, 4. Aufl. 1902); er schrieb fernerhin die Romane: »Die Hexe«, eine Regensburger Geschichte (das. 1892, 6. Aufl. 1900), »Regina coeli. Eine Geschichte aus dem Abfall der Niederlande« (das. 1894, 2 Bde.; 7. Aufl. 1904), »Die Hauptmannsfrau«, ein Totentanz (das. 1895, 8. Aufl. 1903), »Der Mönch von Sankt Sebald«, eine Nürnberger Geschichte aus der Reformationszeit (das. 1896, 5. Aufl. 1899), »Im Rosenhag«, eine Stadtgeschichte aus dem alten Köln (das. 1898, 4. Aufl. 1899), »Kärrekiek« (das. 1902, 8. Aufl. 1903), »Marie Verwahnen« (das., 1.–6. Aufl. 1903), »Pittje Pittjewitt« (Berl. 1903) sowie die Lieder »Lauf ins Land« (Köln 1897, 4. Aufl. 1902). Als Dramatiker trat er zuerst hervor mit dem Trauerspiel »Inez de Castro« (Köln 1894, 3. Aufl. 1895). Von einer Hohenzollern-Tetralogie sind bisher erschienen und wiederholt ausgeführt »Der Burggraf« (Köln 1897, 6. Aufl. 1900) und »Der Eisenzahn« (das. 1899); ihnen sollen »Der Große Kurfürst« und »Friedrich der Große« folgen. Lauffs neueste Dramen sind das Nachtstück »Rüschhaus«, das vaterländische Spiel »Vorwärts« (beide das. 1900) und das nach dem Roman »Kärrekiek« verfaßte Trauerspiel »Der Heerohme« (das. 1902, 2. Aufl. 1903). Während L. in seinen Romanen echtes Volksleben des Niederrheins poetisch festhält und in seinen epischen und lyrischen Dichtungen trotz wortreicher Diktion ein starkes Talent verrät, greift er in seinen Dramen, namentlich in den höfisch beeinflußten Hohenzollern-Stücken, oft zu unkünstlerischen Mitteln und erweckte entschiedenen Widerspruch. Vgl. A. Schroeter, Joseph L., ein literarisches Zeitbild (Wiesbad. 1899); B. Sturm, Joseph L. (Wien 1903).
Der Nebel kroch mit weichen, lautlosen Tatzen über die Spellner Heide bei Wesel.
Die Batterien, die sich in den mageren, mahlenden Sand über Manneshöhe eingefressen hatten, waren kaum voneinander zu unterscheiden. Nur die gelben Messingknöpfe vereinzelter Kugelhelme tauchen hier und da auf. Regungslos stehn sie in dem ziehenden Schwaden, verschwinden, um wieder mit stumpfem Leuchten in die Erscheinung zu treten.
Es mochte auf sechs gehn.
Alles ist schußbereit. Das westfälische Fußartillerie-Regiment Nr. 7 hat heute kriegsmäßiges Schießen.
Hinter den Batterien, kaum tausend Schritt von der ersten Staffel entfernt, träumt das Lager noch zwischen seinen gekappten Akazien. Nichts ist zu sehen. Alles ist mit weißen Wattebauschen umkleidet.
Vor den Geschützen das ewige Ziehen von Straminfäden und eisgrauen Tüchern ... ein mächtiges, undurchdringliches Chaos. Die Ringkanonen und Bronzegeschütze gähnen ins Leere, ins Nichts, in das gespenstische Treiben eines Hexenkessels. Kein Polygon erscheint, keine Ziele werden sichtbar; überall das brodelnde, gleichmäßige Weben und Fließen, in dem die Geräusche wie auf Baumwollsocken einhergehen.
Dann ferner Galoppschlag. Dumpf und hohl klingt er auf dem Heideboden. Wie Schemen sprengen die Reiter durch den fadigen Dunst. Sie kommen vom Lager und nehmen Richtung auf den rechten Flügel der Stellung. Eine silberne Schärpe leuchtet undeutlich auf. Der Regimentsstab ist in die erste Staffel geritten.
Noch immer keine Fernsicht!
Der Wind liegt wie ein Hund am Boden.
In dem taufrischen Heidekraut ist nicht die geringste Bewegung.
Plötzlich hebt er sich auf. Er schnuppert. Er weiß noch nicht recht, wohin er sich wenden soll. Bald hierhin, bald dorthin. Dann streicht er leise nach Westen ab.
Die dritte Batterie vom rechten Flügel wird von Hauptmann Liese befehligt, von den Kanonieren allgemein ›unser Lieschen‹ geheißen – ein gerader Mann, scharf, aber gerecht und mit Augen, die an die stille Herzensgüte eines Kindes erinnern. Den ausgezogenen Krimstecher auf der Brust, die Hände in den Manteltaschen vergraben, sucht er vor sich Terrain zu gewinnen.
Seine scharfen Blicke bleiben im Nebel hängen, nisten sich ein und kommen nicht weiter.
"Denn nicht," sagt er still vor sich hin, verläßt den Beobachtungsstand und geht die nicht traversierte Batterie ab. Sechs eiserne Mörser auf Reihe! Wie dickleibige Ungetüme mit offenem Rachen kauern sie hinter den aufgetürmten Schanzkörben, jeden Augenblick fertig, ihre scharfgeladenen Bomben ins Vorgelände zu werfen.
Der Hauptmann lächelt; er ist zufrieden und sucht wieder den Beobachtungsstand auf.
Der Wind wird stärker. Aus der nahegelegenen Kiefernschonung kommt ein verhaltenes Rauschen herüber. Im Heidekraut beginnt es zu knistern wie in brennendem Reisig.
"Gefreiter Verheyen!"
Am zweiten Geschütz reckt sich ein junger Mann – schnittig und sehnig, das blonde, leichtgekräuselte Bärtchen keck nach oben gezwirbelt – und nimmt die Hacken zusammen.
"Herr Hauptmann!"
"Woher kommt der Wind?"
Der angefeuchtete Zeigefinger des Gefreiten fährt in die Höhe.
"Von Osten, Herr Hauptmann."
"Danke."
Die Kiefernschonung wird lauter. Feine Sandkörner stieben über die Brustwehr. Streifen abgerissenen Nebels gleiten vorüber. Große Fetzen werden aus den grauweißen Tüchern gesäbelt.
Vor der Front ist ein Flattern und Fliegen. Ein Stück tiefblauen Himmels blitzt auf. Noch hängt die Sonne kränklich am Himmel, aufgedunsen, ohne Glanz und Leben. Dann kommt Farbe hinein. Die Spitzen des Polygons treten in Sicht. Die scharfen Profilierungen des Werkes schieben sich vor; Glacis und Wallgang erscheinen. Noch ein letztes Kämpfen und Ringen – und wie von einer Riesenhand gekämmt, werden die Wattebausche beiseite geschoben.
Die stille Heide rollt sich auf in ihrem Spätsommerschmuck – purpurn – ein flammender Blütenrausch ohne Anfang und Ende.
Wie gelbe, langgestreckte Maden liegen die Ziele in diesem prächtigen, purpurfarbigen Teppich. Gottes Sonne flutet darüber hin und weckt auf den Kugelhelmen ein Blitzen und Leuchten.
›Unser Lieschen‹ atmet auf.
"Na – endlich!"
Er macht sich lang und hebt den Krimstecher.
Seinetwegen kann es losgehn.
Für seine Kanoniere auch.
Heute gilt's! – es ist kriegsmäßiges Schießen.
Aller Augen sind auf den Hauptmann gerichtet.
In diesem Augenblick geht die Regimentsflagge hoch. Die anderen folgen. Wie ziegelrote, scharfumrandete Flecke stehen sie in dem ehernen Himmel.
Dann ein scharfes Signal, schmetternd und hell wie Pferdegewieher: "Mit Granaten geladen! Vom rechten Flügel langsames Feuer!"
"Bum–m–m!"
Die erste Ringkanone rüttelte sich, machte einen tiefen Diener, schlug mit dem Bodenstück gegen das Lager der Richtmaschine und rasselte in ihre vorige Stellung zurück. Wie dumpfes Stiergebrüll ging ihr Ruf über die Heide. Der Boden zitterte, und zwischen den Schanzkörben war ein Rieseln und Rinnen. Geschütz und Bedienung standen in einem zähen Pulverrauchmantel, aber in diesem Mantel war ein Singen und Klingen. Mit einem feinen Vogelgezwitscher schnitt sich die Granate durch die flimmernde Luft. Am tiefen Horizont ein rauchschwaches Wölkchen! – Dann ein Krachen und Brechen! – Das Geschoß hatte seine Arbeit geleistet.
"Zweites Geschütz, Feuer!"
Wieder das Stiergebrüll, das Rasseln und Singen, und dann rollte es auf der ganzen Linie, betäubend und doch von straffen Händen geleitet.
All diese stählernen, bronzenen und eisernen Tiere waren gierig geworden. Die schwere Artillerie machte Musik, eine Musik, die das Herz höher schlagen läßt und die Augen blanker macht. Die Scheiben im Barackenlager klirrten davon. Bis weit über den Rhein und die Lippe fort hörten es die drüben im Lande.
Die Batterie Liese hielt das Ziel II unter Feuer. Wie wilde Hunde belferten die eisernen Mörser – kurz, gellend und die Ohren zerreißend. Bombe um Bombe, den feinen Rauch des brennenden Säulenzünders hinter sich herziehend, steilte sich auf, um dann mit hohem Bogen und scharfem Einfallwinkel in die lange, gelbe Linie am tiefblauen Waldrand zu schlagen.
Unentwegt, den Krimstecher am Auge, stand ›Lieschen‹ auf Posten.
Dann ging er mit der Ladung zurück.
Wieder kläfften die eisernen Hunde.
Der Hauptmann schmunzelte.
Das zweite Geschütz machte unter seinem Führer, dem Gefreiten Verheyen, abermals Dampf auf.
"Ting!" rief der Mörser, und dann ein Turteln und Einschlagen.
"Bravo, das zweite Geschütz!"
Der Batteriechef ließ das Glas herunter.
Die Pulverkammer der Zielbatterie war in die Luft geflogen. Eine schwarze, kompakte Rauchwolke strebte gen Himmel.
"Gratuliere, Verheyen!"
Der also Geehrte warf sich in die Brust, ließ wieder richten und summelte zwischen den Zähnen:
"Wo immer der eiserne Mörser kracht – Nehmt euch vor dem schwarzen Kragen in acht."
Sein Herz pochte unter dem mit Pulverschleim überzogenen Kittel.
Stunde um Stunde verrann. Langsames Feuer wechselte mit stärkerem und Schnellfeuer ab. Hin und wieder war eine Salve dazwischen.
Die Sonne stand fast scheitelrecht über der zitterigen, flimmernden Landschaft. Rings von violblauen Rändern umschlossen, lag die weite Ebene wie unter dem Zauber von blutenden Rosen. Das Heidekraut schwelgte in seinem Hochzeitskleid, und jede Blüte wandte sich der heißen Sonne entgegen. Manche verhauchte unter dem polternden Hufschlag und dem Granatfeuer.
Adjutanten sprengten ab und zu und brachten neue Befehle.
Und wieder war eine Stunde vergangen. Überall rauchgeschwärzte Gesichter. Der Schweiß perlte von den Stirnen herunter, rann über die Wangen und verfing sich in den angelaufenen Schuppenketten. Dampf und Qualm! – plötzlich durchschnitten von einem neuen Signal: "Jede Batterie feuert für sich! Feuer konzentrieren gegen den Hauptwall!"
Erst Totenstille. Dann erneute sich das taktmäßige Heulen der Flachbahngeschütze und das helle, infernalische, kurzabgebrochene Tinken der Mörser.
Der Wind flaute ab, kroch zurück, lag wieder am Boden. Die Hitze stopfte die Pulverwolken in die Stellungen hinein. Kaum war noch eine Hand vor Augen zu sehen.
"Erstes Geschütz, Feuer!"
Das Kommando kam aus der Batterie Liese. Die letzte Lage sollte durchchargiert werden. Der Mörser sprang auf – ein Blitzen, ein Krachen ... Dann aber, als wäre die letzte Stunde gekommen, fiel eine Rauch- und Feuersäule über die Bedienungsmannschaft her. Eine Sandmasse folgte, begleitet von einem Brechen und Klingen. "Himmel, Gewitter noch mal! – Was los ...?!"
Entsetzte Gesichter ... Es war etwas passiert. Anstatt ihren Steilflug über die Brustwehr zu nehmen, war die Bombe des ersten Geschützes, und zwar durch Herausspringen der Nichtkeile, gegen die federnden Schanzkörbe der Bekleidung geschlagen. Von hier aus klirrte sie mit einem nervenerschütternden Schrei in den stahlblauen Himmel gerade hinein, senkrecht, wie an der Lotschnur kletternd, das feine Sausen und Zirpen des brennenden Zünders hinter sich lassend.
Schnurgerade stieg der Tod in den Himmel, senkrecht mußte er wieder herunter, während die anderen Batterien ahnungslos ihre Granaten und Schrapnells versandten.
Das Unglück hing über den Leuten.
Das sah der Hauptmann.
"Nieder!"
Das Kommando streckte die erbleichte Mannschaft wie gemäht auf den Boden.
Hier konnte nur der Zufall retten und helfen.
Zwei Sekunden, drei Sekunden ... Über den Mörsern war ein Knattern und Heulen, dann ein haltloses Stürzen. Mit dumpfem Ton war die Bombe zwischen die Geschützstände getaumelt. Der Tod neben der Mannschaft! – Der Zünder zischte wie ein giftiges Reptil. Ultima ratio ... ! – Der Führer des zweiten Geschützes, Gefreiter Verheyen, sprang auf ... packte zu ... und mit verzweifelter Kraft warf er das eiserne Tier, die Todbringerin, über die Brustwehr.
Sein Atem stürmte.
Zwei Sekunden später – und er wäre eine einzige blutige Masse gewesen. Jenseits der Brustwehr, im Graben, zerplatzte die Bombe.
Ein Aufatmen wie nach einer himmlischen Botschaft! Der Tod war vorübergegangen.
Als der Rauch sich verzog, stand der Batteriechef neben Verheyen. Er hielt die Hand des Gefreiten und drückte sie.
"Bravo, Verheyen."
Seine Stimme zitterte.
Gleich darauf schmetterte es vom rechten Flügel der Stellung her: "Das Ganze halt!"
Die Flaggen senkten sich. Das kriegsmäßige Schießen war für heute beendet. –
Eine Stunde nachher erging an sämtliche Batterien der Befehl: "Heute nachmittag fünf Uhr hat das Regiment mit eingestellten Spielleuten und Burschen, rechts und links zum Kreise formiert, Aufstellung vor der Stabsbaracke zu nehmen. Anzug: Paradeanzug."
Dann Mittagsstille und Ruhe! Nur die Kugelakazien zwischen den Lagergassen rauschten leise im Wind. Unbewegliche Wolkenballen, rosig übermalt und blankgescheuert wie kupferne Kessel, grenzten den tiefen Horizont ab. Unter ihnen träumte der Schießplatz, eingebettet zwischen Ginsterbüschen und Erika und eingeduselt von dem monotonen Schleifen und Wetzen unzähliger Grillen. Es schien, als habe die jetzt so friedliche Heide nie in ihrem Leben Granatfeuer gespürt und Pulver gerochen – so still atmete sie, so bräutlich war sie geschmückt und so feierlich stieg von ihrer Brust eine jubelnde Lerche in den Abendhimmel hinein.
Von Spelln tönte das dünne und spitze Stimmchen einer Turmuhr herüber.
Das Regiment stand in der befohlenen Stellung, in weißem Lederzeug und mit heruntergelassenen Schuppenketten.
"Still gestanden!"
Mit dem Schlage fünf trat der Oberst, von seinem Adjutanten begleitet, in den geschlossenen Ring.
In der Mitte hielt er den Fuß an.
"Gefreiter Verheyen!"
"Hier!"
"Vortreten!"
Der Angerufene sprang vor, dicht vor den Regimentskommandeur.
Ein blaues, offenes Auge blitzte in das des Obersten.
"Woher sind Sie, Verheyen?"
"Aus Calkar am Niederrhein."
"Dasselbe Calkar, wo General Seydlitz geboren wurde?"
"Zu Befehl, Herr Oberst."
"Na, drum auch," und der Blick des Kommandeurs lief die Kugelhelme entlang, die ihn in schmucker Kreislinie umstanden.
"Artilleristen!" also klang seine helle, kurzabgerissene Stimme über das abendliche Heideland. "Der Soldat kennt keine Gefahr. Wo es auch sein mag, im Krieg oder im Frieden, zu Wasser oder zu Land, stets hat er ihr ins Auge zu sehn und ihr mannhaft zu begegnen, selbst unter Hintansetzung seines eigenen Lebens. Das ist heute geschehn. Einer der Euern hat im entscheidenden Augenblick Bravour und Entschlossenheit gezeigt und auf diese Weise das Leben vieler seiner Kameraden gerettet. Wie hier, so wird er auch auf dem Schlachtfelde handeln. Solche Artilleristen kann der König gebrauchen. Dessen zur Ehrung ernenne ich ihn zum Obergefreiten. Das weitere findet sich noch. Darüber wird der oberste Kriegsherr entscheiden. Ich gratuliere, Verheyen."
Mit einem kurzen Ruck schnellte die rechte Hand an den Helmschirm.
Das Regiment war entlassen. –
Die Batterie Liese steckte sich an diesem Abend frischgrüne Eichenbrüche an die Mützen, setzte sich mit propern Drillichjacken unter die Akazien ihrer Baracke und ließ mit behaglichem Schmunzeln ein Fäßchen Freibier über sich ergehen, das der neue Obergefreite spendiert hatte. Alle belobten ihn, alle traten mit geschmalzten Haarfechsen und blankgewichsten Stiefeln an ihn heran und ließen ihr Glas gegen das seinige klingen.
"Allerhand Achtung, Hermann!"
"Hermann, das hast du nobel gemacht!"
"Hermann, 'nen Ganzen!"
"Da kann sich einer ein Muster daran nehmen!"
"Richtig!" konstatierte eine langsame Stimme, und eine Enaksgestalt hielt ihm das Glas hin, eine Enaksgestalt mit einem gutmütigen, breiten Gesicht, als wäre es aus einem Hohlspiegel auf die Drillichjacke gepurzelt. Der freundliche Mund, in dessen linker Ecke ein Zigarrenstummel klebte, war wie ein Gummipfropfen auseinandergezogen. Darüber saß eine putzige Nase, wie aus einer kleinen Kartoffel gedrechselt, gehoben durch ein brandrotes Schnurrbärtchen, und die mit Sommersprenkeln austapezierte Hand, die sich jetzt schwer und wuchtig auf den Arm des neuen Obergefreiten legte, war mit ebensolchen brandroten Härchen besetzt, von denen jedes mit einem perlenden Schweißtröpfchen aufwarten konnte.
"Thyß Jansen will reden," lachte der Batterieschreiber herüber.
"Tu' ich, jawoll," versetzte Thyß Jansen, "denn Hermann und ich haben auf derselben Schulbank gesessen. Was, Hermann?" und dann sprach er so recht tief aus der frischgewaschenen und nach grüner Seife duftenden Drillichjacke heraus: "Hermann, ich freue mir kolosal, daß du als mein näherer heimatlicher Landsmann so mächtig nobilistert worden bist – Außerdem tu' ich's in die Heimat vermelden, daß unsere Landsmänner 'nen richtigen Begriff von deiner barbarischen Forsche bekommen. Hermann, es gilt."
Der Obergefreite tat ihm Bescheid, zwirbelte sein Bärtchen, sprang auf den nächsten Schemel und rief mit erhobenem Seidel über die Köpfe der Kameraden fort: "Auf das, was wir lieben. Die Batterie Liese soll leben!"
Und "Hoch!" ging das in heller Begeisterung durch die Reihen der jungen Vaterlandsverteidiger, "und nochmals hoch und zum dritten Male hoch!" – und Hermann winkte allen zu und bestellte ein neues Fäßchen aus der Kantine. –
Die Sterne hingen längst mit sanftem Blinzeln am Himmel. In den Baracken waren die Petroleumlampen erloschen. Die letzten Klänge der Retraite irrten noch wie zerfaserte Bänder über die stille, endlose Heide. Dann verhallten auch diese. Kaum hörbar gingen die Schritte der aufgezogenen Posten durch die mit Mondschein angefüllten Lagergassen. Der Sand unter ihren Füßen zwitscherte wie halbflügge Meisen – bald näher, bald ferner, um stärker und leiser zu werden.
Im westlichen Giebelfenster der fünften Baracke war noch Licht. Hier saß Thyß Jansen unter dem Schein einer tiefhängenden Schirmlampe, eifrigst damit beschäftigt, die letzten Zeilen eines in harter Arbeit niedergelegten Briefes zu Papier zu bringen.
Am ihn war harmonisches Schnarchen, bald schüchtern und mit dem feingesponnenen Ton einer sanftangestrichenen G-Saite, bald mit dem sonoren Klang eines kräftigen Bombardons, das mit ungeschmälerter Kraft durch die schnurgeraden Bettreihen lärmte.
Hierdurch ließ sich Thyß Jansen keineswegs beirren. Mit ungelenker Hand und die Zungenspitze in die linke Mundecke geschoben, setzte er die Buchstaben nebeneinander, tunkte er ein, schraubte er von Zeit zu Zeit den qualmenden Docht höher, um mit einem tiefen Seufzer die Feder beiseite zu legen und das Geschriebene nochmals zu überdenken. Dann las er:
"Vielgeliebde Eldern!
Ich thu Euch pflichtschuldigst zu wissen, daß ich mir auf Posten befinde, aber nicht in voller Mondur, sondern man blos in 'ner Drillingjacke und vor 'nem Bogen Postbabier. Aber ich nehm mir das Briefschreiben auch als Postenstehen an, weil es nachtschlafende Zeit ist und ich gewissermaßen mit 'ner Briefschreibfeder herumbadrulliere. Es is nicht for mir, daß ich solches vermelde, sondern es is for Hermann Verheyen, daß ich damit an das allsehende Goddeslicht rücke. Vielgeliebde Eltern, wenn Ihr mal wieder 'ne schöne Schlackwurst besitzet, so laßt es mir wissen, denn wir Artolleristen können so was immer gebrauchen. Hermann Verheyen nämlich ist heute ein richtiger Artollerieheld geworden, indem er, wie unser allergnädigster Herr Oberst gesagt hat, unter Wegschmeißung seines eigenen Lebens die ganze Batterie vom Tode erlöst hat. Vergeßt aber nicht bei Übersendung der Schlackwurst eigene Angelegenheit des Empfängers zu setzen. Und daher mußten wir in voller Mondur antreten, das heißt in kumplettem Lederzeug und die Schuppenkedden herunter, und da hat ihn unser allergnädigster Herr Oberst zum Obergefreiten erhoben und auch durchleuchten lassen, daß da noch was Schöneres nachkommen thäte. Das aber wäre Sache des obersten Landesvaters. Möglich, daß solches der Schwarzweiße Adlerorden bedeutet, was das glorreichste Zeichen ist, was wir in Breußen besitzen. Vielgeliebte Eldern, es können auch drei Schlackwürste sein, wenn es Euch nicht zu viel Mühe bereitet, aber unsere Batterie Liese befindet sich in einem erhabenen Zustand. Und daher thue ich Euch nochmals pflichtschuldigst zu wissen, daß Ihr überall vermelden sollt, was wir aus Calkar am Niederrhein for 'nen berühmten Artolleristen besitzen – und dieser benennt sich Hermann Verheyen. Solches wird seine Familie erfreuen, denn er hat sich kolosal in Schwung gebracht und uns alle mit sogenannten sauren Lorbeerblättern umkleidet. Vermeldet auch solches an Fräulein Anna Pulcher, denn sie ist ihm in Liebe unterthänig und kann sich an seine männliche Forschheit erfreuen. Auch die übrigen Landsmänner müssen es wissen, denn solche Heldenthaten hat nur noch unser General Seydlitz, der in Calkar verposamentiert ist, verunstaltet. Vielgeliebde Eldern – und nu lebt wohl, denn nu habe ich alles genau und wie es sich zugetragen hat zu nachtschlafender Zeit, und auf Posten ohne volle Mondur niedergeschrieben. So nehme ich denn hiermit meinen gehorsamsten Abtritt, indem ich in der Hoffnung verbleibe, daß Ihr mir fünf oder sechs Schlackwürste zuweisen werdet, um meine Nothdurft zu fröhnen. Es kann auch eine mittlere Speckseite dabei sein. Hiermit beschließe ich meinen Postbrief und unterfertige mich pflichtschuldigst als Euer theurer und wohlgerathener Sohn
Thyß Jansen, nunmehriger Kanonier im westfälischen Fuß- Artollerie-Regiment Nummer 7, stationisiert im Schießlager Spelln bei die Festung Wesel am Rhein.
Nochmals meinen gehorsamsten Ausdruck. Denkt aber an Anna Pulcher, besonders von wegen Hermann Verheyen.
Thyß Jansen."
Damit klebte er zu und schrieb die Adresse. Thyß Jansen war fertig.
Nebenan träumte Hermann Verheyen unter seiner blau- und weißgewürfelten Decke. Seine Seele spannte die Flügel und flog in die Heimat. Dabei sang sie aus dem blauen Himmel herunter:
"Zweierlei Tücher, Schnurrbart und Sterne Lieben die Mädchen Alle so gerne. Warum? Ei dar–um ..."
Inzwischen war auch der Briefschreiber auf den Strohsack gekrochen, steckte den Kopf vor und sah dann, wie die Hängelampe noch einmal aufzuckte und hierauf mit einem dünnäsigen Seufzer die Augen zumachte. Gleich darauf sägte er an einem harten Stuhlbein herum, bis das Sägen zart und melodisch wurde. Es erinnerte an den weltfernen Ton einer Glasharmonika, die aus den Gefilden erklang, wo die Seligen wohnen.
Inzwischen waren Monate vergangen. Die Heide blühte ab und zog ein Sterbekleid über. Der Rhein stöhnte unter dem klirrenden Eis, um dann wieder als ein freier Strom weiter zu fließen. Die vom Niederrhein taten das Stroh aus den Holzschuhen und schnupperten wie die Igel in dem laulichen Wind, der den Saft in Bast und Borte trieb und die hartgefrorenen Erdschollen langsam zermürbte. Wer Ohren hatte, zu hören, der konnte es hören: unter den Bocksdornhecken begannen die ersten Schneeglöckchen zu klingeln, aber so sein wie die Eiszapfen singen, wenn die kalten Sterne am tiefblauen Himmel erfrieren wollen.
Allein die Menschen in der kleinen niederrheinischen Stadt, von deren Turmspitze man weit in das klevische Land hineinsehen konnte, bis nach Emmerich und Elten zu, hörten kaum auf das köstliche Klingeln der Schneeglöckchen, denn noch immer lag ihnen das schwere Donnern und scharfe Tinken der Geschütze und Mörser in den Ohren, die im verflossenen Spätsommer so herrisch auf der Spellner Heide gearbeitet hatten.
Der Brief, den Thyß Jansen seinerzeit an seine Eltern gerichtet, war wie ein heiliges Himmeldonnerwetter in die sonst so stillen und nachdenklichen Köpfe der Kleinstädter und Niederungsbauern gefahren. Nun hatte auch die schmucke, von Wiesen und Äckern umsäumte, versonnene Stadt ihren Helden, nun hatten auch die Bürgersleute ihren Lorbeer, den sie sorgfältig pflanzten und tagtäglich mit frischem Brunnenwasser versorgten. Auch Thyß Jansen bekam etwas davon ab. Die geheimnisvolle Andeutung mit dem Schwarzweißen Adler ließ doch einen eigenartigen Fernblick erraten und eröffnete Gesichtspunkte, die ernstester Betrachtung wert erschienen. Manche jubelnde Lerche, die wie ein Pünktchen zwischen Erde und Himmel schwebte, mußte es sich gefallen lassen, zu einem stolzen Vogel zu werden, und wenn eine Dohle oder eine vagabundierende Krähe langsamen Fluges vorbeiruderte, wähnte manch einer, nun käme der heißersehnte Schwarzweiße Adler mit majestätischem Flügelschlagen herunter. Die mannhafte Tat auf der Spellner Heide zog immer weitere Kreise.
Nur einer blieb ruhig. Das war der Obergefreite Hermann Verheyen. Er freute sich seiner Tat, aber diese Freude blieb in gemessenen Grenzen. Das noch abzudienende Jahr lag freundlich vor ihm. Frischen Mutes und sonnigen Herzens erfüllte er seine militärischen Pflichten und dachte kaum noch an die ihm überkommene Ehrung. Dafür aber ließ sein Vater, der begüterte Mühlenbesitzer Jakob Verheyen, die harten Speziestaler auf den Wirtshaustisch knallen, spendierte allsonntags etliche Bouteillen ›Langkork‹ und wurde dabei nicht müde, dem Ruhm seines Sohnes immer frischen Wind unter die Flügel zu blasen.
Jakob Verheyen, ein Mann in den fünfziger Jahren, rank und sehnig gewachsen, mit sieghaften Manieren und herrischen Falkenaugen, hatte es verstanden, das Glück an sich zu fesseln und seine Unternehmungen so zu fundieren, daß sie trotzig und selbstsüchtig in den Himmel hineinwuchsen. Sein Name hatte guten Klang in der ganzen Umgebung. Als Freund gesucht, als Kirchenmeister gefürchtet, hatte er aus kleinen Anfängen Großes, ja Bedeutsames geschaffen und die stattliche Mühle in die Luft gehoben, die jetzt als Wahrzeichen der kleinen Stadt die weite Niederung beherrschte und bis spät in die Nacht hinein mit ihrem Segeltuch schlappte und mit feurigen Augen über die schlafenden Ziegeldächer geisterte.
Tagtäglich stand er auf dem Umgang seiner Mühle und sah in die Landschaft und dachte dann, wie er früher Kornsäcke geschleppt und für fremde Taschen seine Knochen zu Markt getragen hatte. Das war jetzt anders geworden, ganz und gar anders, denn nunmehr führte er das Heft in Händen, war sein eigener Herr und der wackere Schmied seines eigenen Glückes. Er hielt es mit eisernen Fäusten, und er freute sich dessen, und als zu dieser Freude noch die über den unerschrockenen Mut seines einzigen Sohnes hinzukam, da hörte Jakob Verheyen, der Mann mit dem stählernen Willen und der undurchdringlichen Seele, die Engel im Himmel geigen.
Und noch eine hörte sie geigen, lieblich und verheißend und wie ferne Glocken über dem Walde, die hoffnungsfreudig das Fest der Ostern einläuten.
Und das war Anna Pulcher, die Tochter Pitt Pulchers, die so eigenartig und schön war, daß die Kinder der kleinen Stadt sie wie ein überirdisches Wesen verehrten.
Mit aller Macht kam der Frühling über das niederrheinische Land. Da rasselten die Anker in den Werften, und die schweren Kohlenschiffschlepper zogen prustend und stampfend die quirlende, bleigraue, sich übereinanderschiebende Rauchstandarte hinter sich her. Dämme und Deiche streckten sich und geboten dem trüben Stauwasser: "Bis hier und nicht weiter," und dann leuchteten sie auf wie helle, schwefelgelbe Feuerstreifen, denn das Frühjahr hatte zahllose Teppiche von blühenden Dotterblumen über die hängenden Flanken gespreitet. Und die ersten Finken schlugen, und die Stachelbeersträucher glitzerten wie feinmaschige, smaragdgrüne Musselinschleier.
Und da solches geschah, da ging der Vater Annas, der achtbare Webermeister und Stadtverordnete Pitt Pulcher, mit brennender Kalkpfeife auf den Paternosterdeich, der die Stadt mit sehnigen Gelenken und sicheren Schleusenwerken einkreiste, und sah, wie in weiter Ferne die wieder aufgewachten Schleppschiffe ihre bleigrauen Straußenfedern hinter sich ließen. Und er ging bis zur ersten Dammkreuzung und sah, wie tausend und aber tausend Blumen ihre leuchtenden Augen aufschlugen. Und dann ging er, ein schönes Stück Hoffnungsfreude im Herzen, wieder nach Hause und sah in das wehe und leidensvolle Gesicht seines Weibes – und ging in den kleinen Garten – und hörte die ersten Buchfinken schlagen – und freute sich über die feinmaschigen, smaragdgrünen Musselinschleier der Stachelbeersträucher – und da sagte Pitt Pulcher: "Nu wird die ersehnte Erfüllung meines Wunsches wohl kommen."
Aber die Erfüllung seines Wunsches stand noch in weiter Ferne und ließ auf sich warten. Und dennoch hoffte Pitt Pulcher. Er hoffte, wie die Irdischen die Anschauung Gottes erhoffen. Er hoffte auf eine große Verheißung. Er hoffte wie eine junge Kinderseele auf das heilige Christfest; und das heilige Christfest mußte bald kommen, sonst zerrieselte ihm alles zwischen den Händen, wie Sand zwischen den Fingern zerrieselt.
Tagtäglich sprach der Doktor vor, und jedesmal, wenn er kam, stand ein zuversichtliches Leuchten auf seinem guten Gesicht. Und dieses Leuchten hielt an, bis er die Tür hinter sich hatte und der Drücker einklinkte. Er pfiff auch wohl eine heitere Melodie und zwar so laut, daß die Kranke es hören konnte. Dann aber verstummte das Pfeifen, und alle Zuversicht wischte eine unbarmherzige Hand von seinem Antlitz.
"Ich kann ihm nicht helfen," sagte er still vor sich hin. "Keiner vermag ihm zu helfen. Pitt Pulchers Hoffnung geht nicht in Erfüllung." –
Schon seit langen Jahren erfreute sich Pitt Pulcher eines bedeutsamen Ansehns. Alle grüßten ihn, und das mit Respekt, und wenn irgendeiner aus der Nachbarschaft einen guten Rat nötig hatte, sprach er nicht etwa beim Barbier oder beim juristischen Ferkelstecher vor, sondern wandte sich, ohne lange zu fragen, an jenen. Las der betagte und bereits etwas verlähmte Dechant Heinrich van Egern das Hochamt, dann stand Pitt Pulcher in seiner ganzen Größe und mit feierlichen Augen in seinem Kirchenstuhl, als habe ihn der liebe Herrgott direkt aus der Bibel in die neuzeitlichen Tage hineingepflanzt – so alttestamentlich sah er aus, so würdig und ehrfurchtgebietend, so mit echter Würde und Weihe umkleidet, daß sich die gläubigen Menschen heimlich anstießen und sich wechselseitig zuflüsterten: "Pitt Pulcher kann unbesehen in den Himmel hineinspazieren."
"Das stimmt," setzte dann auch Dores Jansen, der Vater von Thyß, pflichtschuldigst hinzu: "Von seinetwegen könnte man den Mann nackig in Indigo setzen; als ein nobeler und reicher König käme er jedesmal zurück. Aber ich meine nicht als ein König mit Reichtümers und Brillanten behangen, sondern als ein König mit 'nem reinen Zepter und mit 'nem echten und rechten christ-katholischen Glauben."
Und Dores Jansen, der Sargschreiner, wegen seiner tief herabhängenden Schulter und des schiefen Mundes halber auch der ›Hobel le Beau‹ geheißen, hatte durch die obige Behauptung den Nagel ganz regelrecht auf den Kopf geschlagen, denn Pitt Pulcher war ein frommer, spurechter Katholik, ohne Nebengedanken, blank wie eine Pflugschar, die drei Wochen hintereinander die fetten Schollen gebrochen. Sein Gewissen hatte nie etwas Schwarzes unter den Fingernägeln.
Er marschierte bereits den siebziger Jahren entgegen. Aber was wollte das bei ihm sagen? Hager und riemig gewachsen, zäh wie Spaltholz, hätte er es auch tapfer mit einem geschonten Fünfziger aufnehmen können. Gewiß, seine Haare zeigten schon hier und da einen eisgrauen Anflug, sein Gesicht war trocken und faltig, aber dieses Gesicht war wie mit einem Schnitzmesser aus einem harten Eichenstock herausgeholt worden, und in diesem Gesicht standen zwei selbstherrliche Augen, hell wie Schmaltebläue und durchsichtig wie Spiegelscheiben. Und diese Augen konnten lächeln wie die eines Jünglings, und diese Augen konnten gütig sein wie die eines wahrhaften Seelsorgers, aber wenn der Zorn in die Brust dieses Mannes hineingriff, der ehrliche, gerechte, bodenständige Zorn, dann konnten diese Augen sein wie das grimmige Aufblitzen von Polensensen oder wie der Schein im Gewitter, wenn der Wald sich beugte und die Wurzeln ächzten und die Stimme Gottes zwischen Himmel und Erde dahinrollte.
Pitt Pulcher war ein leidlich begüterter Mann, nicht reich, aber er hatte sein bequemes Auskommen.
Sein Gewerbe betrieb er nur noch aus alter Gewohnheit, aus dem Gedanken und der Überzeugung heraus: Pitt Pulcher, nun höre mal zu. – Als Dreikäsehoher hast du die Spule gedreht, fünfzehnjährig hast du über den Büchern gesessen und hast die Lade gewuchtet und freutest dich, wenn das Schiffchen auf- und niederschlurrte. Als Webergeselle hast du gefreit, als Meister geheiratet; als solcher dein Weib, das dir zwei Kinder geboren, geehrt und ihr die Tage leicht gemacht, selbst in ihrem elenden Siechtum, aber es ist dir gut gegangen im Leben. Also betreibe dein Handwerk weiter, das bereits deine Altvorderen betrieben, und bleibe dabei, bis du wieder aus dem Leben hinaus mußt und dir zum letzten Male die Worte zuklingen, ganz sacht, ganz leise, wie hinter einer dicken, mit Sternen besetzten Gardine: "Im Hause meines himmlischen Vaters sind viele Wohnungen bereitet. Pitt Pulcher, ziehe die Schuhe aus und säume nicht länger. Auch deine Wohnung ist hergerichtet. Sie wartet."
Also blieb Pitt Pulcher in seinem Handwerk, schlicht und gerecht, mit Vergißmeinnichtaugen, mit glattrasiertem Gesicht und mit einem Gewissen, das niemals seine schneeweiße und frischgebügelte Weste abgelegt hatte.
Sein geräumiges Haus mit den indigoblau gestrichenen Läden und den engbrüstigen Scheiben stieß an den Kirchplatz. Von den Fenstern seines Arbeitsraumes aus sah er den prächtigen gotischen Ziegelbau aufragen, verfolgte er die Dohlenvögel, die die Gesimse und zierlichen Fialen mit ihrer weißen Tünche beschmissen, gewahrte er den Koloß der Verheyenschen Mühle, der unermüdlich die fetten Speziestaler in die Tasche des Besitzers hineinschaufelte. Von diesen Fenstern aus hörte er das Geläut der Glocken, wenn sie ihren Mund auftaten und seine frommen Gedanken bei den Händen nahmen, um sie bis an das himmlische Tor zu geleiten.
Pitt Pulcher hatte die Glocken von jeher als Lebewesen angesprochen. Sie sagten ihm mehr, als sie anderen Menschen sagten. Sie standen ihm nah, sie waren ihm seelisch verschwistert. Er kannte ihre Tugenden und Unarten. Er teilte ihre jubelnde Freude zu Ostern und Pfingsten. Diese jubelnde Freude sah er durch die Wiesen spazieren, blond und blauäugig, und sie hatte ein Himmelsschlüsselchen hinter dem Ohr stecken. Er hörte ihre klagende Stimme beim Totenamt, und diese Stimme wehte auf florigen Tüchern über die dunklen Lebensbäume des Gottesackers. Und dann die Stimmen der Weihnacht ...! – jene Stimmen, die mit goldenen Füßchen über den Schnee gleiten, in die erhellten Stuben hineinklingen, duftige Fichtenzweige und versilberte Nüsse umspielen und dann leise zu summeln beginnen, immer lauter und befreiender werden, um schließlich mit tönenden Engelszungen zu sprechen und also zu reden: "Gloria in excelsis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis ..." Und wenn er sie hörte, dann hielt er den Perpendikel der großen Standuhr an, damit dieser die heilige Feier nicht störe, öffnete das Fenster und legte die Hände zusammen.
Pitt Pulcher kannte die einzelnen Glocken. Er kannte Klinsa und die Sankt Antoniusglocke, er kannte den Türk und die stolze Maria, vor allem aber war ihm Anne-Susanne ans Herz gewachsen. Ihr sonorer, lange nachhallender Ruf tönte in ges, und wenn sie den Mund auftat, dann war es, als würde eine gewaltige Domorgel lebendig, als spräche aus dem tönenden Orgelwerk die Stimme des Herrn, als spräche sie aus alten, längst vermoderten Zeiten heraus – und also sprach sie:
"Lof en eer moet gade syn, Anne-Susann is die name mien; Mie gaet, die Jan van Vechgel heit Int jaer ons Heer als hier na steit ..."
und dann brummte sie nach und stammelte: "Eintausenddreihundertundachtzig – eintausenddreihundertundachtzig – eintausenddreihundertundachtzig ..." und dann stand die alte Zeit neben Pitt Pulcher, mit verblichenen Zügen, mit eisgrauen Haaren und mit Spinnweb umhangen – und sie deutete rückwärts, ins Leere, ins Unermeßliche, ins Nichts. Aber der Alte verstand sie. Und er sah das hunderttürmige Köln. Er sah die Banner der Geschlechterherren und Zünfte fliegen, er hörte Pfeifen und Trommeln. Und das blutige Jahr 1372 packte in die Zunft der Weber hinein – und legte den Häuptern den Kopf vor die Füße – und färbte die Gassen purpurn und machte den Rhein zu einem Blutstrom, als wären die Rotfärber bei der Arbeit gewesen – und schleifte das Bannerzeichen der stolzen Weber in den Staub – und zerriß es ... Und dann reckte Pitt Pulcher sich auf, groß und bedächtig und zuversichtlich, und er hörte noch einmal auf das Summeln und Singen, und dann sagte er still und feierlich vor sich hin: "Anne-Susanne, du bist die Glocke der Pulcher, denn also steht geschrieben: Ich, Kaspar Christian Pulcher, Ältermann der hochmögenden Weber zu Köln, Herr über ihr Leben und Schaffen, über Maß und Gewicht, nunmehr heimgesucht und in die Verbannung gestoßen, durch das Rote Meer gegangen, um den Frieden zu finden, hier im Kirchspiel zu Calkar die Ruhe und den Frieden gefunden ... dessen aus Dankbarkeit und um unsern allmächtigen Gott, unsern Herrn Jesus Christus zu feiern, habe ich die Glocke ›Anne-Susanne‹ dem hiesigen Kirchspiel für ewige Zeiten gestiftet. Nicht aus Stolz oder aus feilem Hochmut heraus ist solches geschehen, sondern im Frieden mit Gott und in christlicher Demut. Ich verlange keine Guttat dafür, nicht Ehrenbezeugung und einen Namen, so einen klingenden Ton hat. Aber ich gebiete hiermit: Anne-Susanne soll läuten, wenn die Sterbestunde über mich kommt, und läuten soll sie, wenn einem meines Namens der Todesschweiß ausbrechen will und sein Erlöser ihn ruft. Damit ihm die Stunde leicht werde, in der er von hinnen muß, von Weib und Kind und allem, was ihm das Leben schön und das Sterben müheselig und schwer machte. Also geschehen am zweiten des April und im Jahre der Geburt unseres Herrn, da man schrieb eintausenddreihundertundachtzig. – Gott sei meiner Seele barmherzig, und er zeige ihr den Weg in das Licht, das ewiglich leuchtet. Amen."
So sprach Pitt Pulcher durch seinen großen Vorfahr auch heute, ernst und bestimmt und mit einem Blick in die Zukunft.
Draußen sangen die Stare. In den noch kahlen Lindenzweigen war leise Bewegung. Nur ab und zu wollte eine grüne Knospe durchbrechen. Der Abend legte bereits seine feinen Schleier über die Dächer.
Pitt Pulcher stand mit seiner brennenden Kalkpfeife am Fenster. Der Portoriko kräuselte feine Rauchwölkchen nach oben.
Der einsame Mann hatte seine ernsten Gedanken, hoffnungsfreudige und solche, die alle Hoffnung hinter sich ließen.
Um ihn lag der große Arbeitsraum mit seinem schlichten Mobiliar bereits in schummeriger Dämmerhelle. An den Wänden hingen verschiedene Stiche aus dem Leben der Heiligen, die einen guten Geschmack bekundeten. Dazwischen befand sich das buntilluminierte Bildnis der Muttergottes von Kevelaer, das Pitt Pulcher eigenhändig von dem nahen Gnadenort hergebracht hatte, um die Leiden seines schwerheimgesuchten Weibes weniger schmerzhaft zu machen. In der Tiefe des niedrigen Zimmers hob sich der Webstuhl auf. Schon der Großvater des jetzigen Besitzers hatte zwischen diesen Stuhlsäulen gearbeitet, den Kontermarsch gehen lassen und die Lade gewuchtet. Die Verkröpfungen der Längs- und Querriegel, von deren Enden lange Garnstränge hingen, verloren sich in dem Grau der schön gegliederten Balkendecke. Neben dem Stuhl lagen mächtige Leinwandballen gestapelt, teils bestellte Ware, teils solche, die auf Vorrat gearbeitet war und noch des Abnehmers harrte. Aber nicht lange, denn Pitt Pulchers Gewebe war gängig und erzielte Preise, die von den Forderungen anderer Webermeister wesentlich abwichen. Ein kaum merklicher Duft nach Hederich und gehecheltem Flachs einte sich den bläulichen Kringeln, die der Kalkpfeife des insichgekehrten Mannes entstiegen.
Draußen wischte der Abend das letzte Gold von den Dächern. Die Umrisse nahmen einen unbestimmten und kränklichen Ton an. Nur die Verheyensche Mühle hielt ihre scharfumrandete, massige Form bei. Gleich einem gigantischen Ungetüm überragte sie die am Boden kriechende Silhouette der Häuserzeilen, fast drohend, selbstgefällig und trotzig ihre schmalen Schattenflügel bewegend.
Unwillkürlich hafteten die Blicke Pitt Pulchers an dem riesenhaften Gangwerk, als sich ein weicher Arm in den seinen hineinschob.
Lautlos war eine hohe Mädchengestalt an seine Seite getreten, schwarz gekleidet und von seltenem Ebenmaß. Nur die schlanke Taille schien durch das Gewicht ihrer jungen Brust etwas ermüdet. Um das ovale Gesicht lag eine Fülle blonden Haares, hinten zu einem mächtigen Knoten geflochten.
Pitt Pulcher wandte sich.
"Schläft sie?" fragte er leise.
"Ja, Vater, sie schläft. Der Doktor war da."
"Wie steht es denn, Anna?"
"Er lächelte wieder. Jetzt wird es wohl besser werden, denn als er fortging, sagte er ruhig: Nun wird sich die Sache schon machen."
"Der Mann lächelt immer," versetzte der Alte mit einem wehen Ton in der Stimme. "Das geht nun schon an die fünfzehn Monate hindurch. Immer das gleichmäßige Lächeln, hinter dem etwas lauert, was ich für den Tod ansprechen möchte."
"Aber, Vater ...!"
"Ja, Anna, so ist das. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, als wenn Mutter auf 'ner Rutschbahn säße, die immer tiefer in das Elend hineinfährt, denn das mit dem ewigen Lächeln ... Ich glaube, der Mann hat das Lächeln noch an sich, wenn die Lichtjungfer kommt und Dores Jansen die schwarzen Bretter zusammennagelt. Und ich dachte mir schon: jetzt, wo's Frühjahr wird, da käme auch für uns Ostern und Auferstehungsfreude."
Die letzten Worte flatterten verstört durch die eingedunkelte Stube.
Ein verhaltenes Schluchzen war an seiner Seite.
"Nun hoffe doch man," sagte die Tochter und drängte sich dicht an die Brust ihres Vaters. "Alle Leute sind doch so gut zu uns. Sie beten ja für Mutter, und da wird der liebe Gott doch nicht wollen ... Auch Jakob Verheyen hat anfragen lassen."
Pitt Pulcher merkte auf.
"So – auch Jakob Verheyen?" und seine Blicke irrten wieder zu der großen Mühle, die jetzt wie eine tiefschwarze Kulisse immer ernster und seltsamer in den abendlichen Himmel hineingespensterte. Er konnte sich nicht davon losmachen. Seine Blicke krochen ihr dicht auf den Leib.
Sein Atem ging schwer.
Was hatte der Mann nur?
Die Tochter sah ängstlich zu ihm auf. Da legte er den Arm um sie her und sprach mit weicher Betonung:
"Anna, daß ich's man sage ... Ich wollte schon längst davon sprechen ... Aber verstehe mich richtig ... Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten hineinmengelieren. Das steht mir nicht an. Das ist niemals bei mir Mode gewesen. Da ist jeder sein eigener Herr und sich selber der Nächste; denn ich weiß, was von Pulcherscher Art ist, das geht immer seinen schnurgeraden Weg und hat stündlich seinen Herrgott vor Augen. Drum ist keine Not und keine Sorge bei mir. Aber ich meine nur, Anna: Wann hast du Hermann Verheyen zuletzt gesehen?"
"Als er auf Urlaub war, vergangene Weihnacht."
"Und dann nicht mehr?"
"Nein – und dann nicht mehr."
"Aber ihr schreibt euch noch immer?"
"Ja, alle vier Wochen."
"Und hast du ihm auch geschrieben, daß es Mutter nicht gut geht?"
"Ja, das habe ich ihm alles geschrieben."
"Auch das mit Stephan; daß dein Bruder die niederen Weihen empfangen hat und übers Jahr seine heilige Primiz hält?"
"Ja, Vater; aber warum fragst du das alles?"
"Kind," sagte der Alte, und sein Arm legte sich fester um den jungen Leib der Tochter, "ich habe gar nichts gegen Hermann Verheyen. Er schlägt seiner seligen Mutter nach. Es steckt etwas Großes in ihm, etwas von dem, was die Zuversichtlichen und die Stillen im Lande besitzen. Das hat er auf dem Schießplatz bewiesen. Da hat er den Tod von der Seite seiner Kameraden genommen. Das war freiwillige Tat, und solche Tat drückt einem die Tränen in die Augen hinein. So was vergißt man nie mehr im Leben. So was lebt über das Kreuz hinaus, das dereinstmal auf seinem Grabe stehn wird. Nein, ich habe gar nichts gegen Hermann Verheyen. Solche Menschen kann man gebrauchen im Leben und Sterben. Solche Menschen wachsen in die Zeit zurück, in jene Zeit, wo ein Kaspar Christian Pulcher die Zunft der Weber aus dem blutigen Köln herausführte ... Aber sein Vater ..."
Und wieder gingen seine Blicke über die stumpfgewordenen, lichtlosen Häuser fort und umgriffen den dunklen Mühlenkoloß, dessen Flügel kaum noch voneinander zu unterscheiden waren. Nur wie unermeßliche Flortücher stakelten sie durch die ruhige Luft. Im oberen Geschoß hellte ein Fenster auf. Es zeigte nach dem Pulcherschen Hause. Wie ein Zyklopenauge, dunstig und in die Länge gezogen, sah es von seiner schwarzen Höhe herunter.
Hier das Auge des Alten und dort das Verheyensche Auge.
Wie sie sich anstierten!
"Ich weiß nicht," ergänzte Pitt Pulcher, und es klang etwas in der Stimme, was das Herzblut gefrieren machte, "aber mir ist so, als käme von der Mühle ein Unglück herunter ..."
Anna schreckte zusammen.
"Jakob Verheyen ...?!" fragte sie tonlos.
Der Alte schüttelte den Kopf; aber immer enger hielt er sein Kind umfangen, als müsse er es vor einer drohenden Gefahr beschützen.
"Nein, Anna, nicht rühr' an die Sache. Jakob Verheyen hat es immer mit den Pulchers gehalten. Aber die schweren Gedanken! Vor Jahren waren sie da, damals kurz nach der Geburt deines Bruders – dann später ... und heute sind sie wiedergekommen. Ich habe keine Gründe dafür, wenigstens keine, die ich als richtig ansprechen könnte. Aber von der Mühle kommt es herunter, von da will der Staub über mich her, der alles absterben läßt, was in meinem Blumengarten blüht und grünt – und es will doch Ostern werden auf Erden."
Da straffte sich das junge Mädchen in ihrer ganzen Kraft und jungfräulichen Herbe. Beide Arme schlang sie um den Hals ihres Vaters. Ihre junge, harte Brust kam ins Stürmen.
"Ja, es will Ostern werden auf Erden," sagte sie zuversichtlich, "Ostern für dich und Mutter, für Stephan und mich – und für Hermann Verheyen."
Und die Stunde drückte die Herzen der beiden zusammen, immer fester und fester, und Pitt Pulcher bekam von dem jungen Herzschlag etwas ab, und eine plötzliche Hoffnung und eine zuversichtliche Freude war in ihm.
"Ostern ...!" sagte er still vor sich hin.
Jenseits der Nikolaikirche begannen die ersten Sterne zu blinzeln.
Jetzt geht leise und putzt euch den Staub von den Schuhen. Dann zieht die Messingklingel, die schön und blank neben der weißlackierten Haustür hängt, aber so, daß sie nicht unnötig schrillt, vielmehr kaum hörbar anschlägt und mit seinem Stimmchen bis in die gartenwärts gelegene schmucke und sonnige Küche hineinbimmelt. Und wenn dann die Haushälterin kommt und euch öffnet, wenn dann die alte Mieke erscheint mit ihrer niederrheinischen Knippmütz und dem goldenen Ohrgehänge darunter, und wenn sie dann sagt: "Gelobt sei Jesus Christus!" und ihr geantwortet habt: "In alle Ewigkeit, Amen!" dann tretet sacht über den gescheuerten Estrich und haltet den Fuß an.
Euch gerad gegenüber grüßt das Bild der Mutter Gottes von einer Gipskonsole herunter. Ein Kränzlein von weißen und roten Papierrosen umrahmt sie. Darunter hängt das ewige Lämpchen. Der Docht knistert so schüchtern und zierlich, wie ein graues Mäuschen hinter der Tapete musiziert, und der Lichtschein, der in dem rosigen Behälter aufleuchtet, hat Ähnlichkeit mit den zarten Lichtern, wie sie geheimnisvoll brennen am Tag Allerseelen. – Und dann horcht auf. Aus dem ersten Zimmer zur linken Hand kommt ein kaum wahrnehmbares Singen herüber – eine Kanarienrolle, aber so wunderlieblich und fein, als klängen ausgesponnene Glasfäden gegeneinander, als erzählten sich zierliche Eiskristalle stille Geschichten, wenn ein unmerklicher Hauch durch den Winterwald geht und sie aus weiter Ferne zu tönen beginnen.
Hier weilt der Friede, hier reichen sich Opferfreudigkeit und Nächstenliebe die Hand, zwischen diesen Wänden lebt ein echter, allverzeihender Glaube, in dieses Haus dringt nicht das Geräusch des Tages und der Hader der Parteien, denn in diesem Hause wohnt der hochwürdige Ehrendomherr und Dechant, Herr Heinrich van Egern.
"Gelobt sei Jesus Christus!" also grüßt es von der Gipskonsole herunter, und selige Stimmen geben die Antwort: "In Ewigkeit, Amen!" –
Es war zwei Tage später und zum Beginn der Leidenswoche des Herrn, da fiel ein warmer Sonnenschein durch die weißen Mullgardinen, die dem Studierzimmer des alten Herrn etwas Behagliches und Freundliches gaben. Hyazinthen und Krokus standen am Fenster. Die Disputa, ein prächtiger Stich von Joseph von Keller, nahm fast die rückwärtige Wand ein. Darunter stand ein weitausgelegtes Sofa mit Schlummerrolle und Lehnschonern. Bücherregale, mit Werken theologischen und naturwissenschaftlichen Inhalts besetzt, eine Schreibkommode, ein Betpult, etliche Stühle, ein Rauchtischchen und sonstige Dinge vervollständigten das einfache Mobiliar, aber der Sonnenschein, der immer liebevoller und zärtlicher durch die weißen Gardinen lächelte, gab allem eine Fülle des Lichtes und einen goldenen Reichtum.
Und in dieser Fülle des Lichtes saß Heinrich van Egern, ein dünnes Männchen mit weißen Spinnwebhaaren und zitterigen Händen, aber mit stillen Augen und einem blühenden Greisengesicht, um dessen Mundecken der Ausdruck von Milde und Güte spielte, offenbar der bleibende Bestand seines inneren Wesens. Seit Monaten war der alte Herr ans Haus gefesselt. Eine plötzliche Lähmung, die ihn in Ausübung seines Berufes überraschte, hatte die linke Körperhälfte empfindlich getroffen. Nur mühsam konnte er sich von einem Zimmer in das andere bewegen, wenngleich es ihm auch um vieles besser ging und sein reger Geist keinen Schaden genommen hatte. Wie so viele auf Erden, versprach er sich alles von der heilsamen Wirkung der jungen Frühlingstage, und seine Seele blieb heiter.
Sein Pfeifchen schmeckte ihm noch. Aus langem Weichselrohr ließ er duftige Wölkchen emporsteigen, die sich in feingegliederten Spiralen durch das Zimmer bewegten.
Der warme Hyazinthenduft erquickte ihn, und die satten Farben der Krokusblüten erfreuten sein Auge.
Nur eins schien ihm zu fehlen. Er suchte versonnen und träumend danach. Jetzt schien er es gefunden zu haben.
"Na, Hänschen, wie wär's denn?" fragte er mit gütigem Lächeln über die Schulter. Hierauf machte er eine liebevolle Bewegung nach dem mit Tannengrün umkleideten Messingkäfig und versuchte, mit Daumen und Mittelfinger zu schnalzen.
Und siehe da: der schwefelgelbe Harzer blähte sein Kröpfchen und ließ eine kaum wahrnehmbare Lispelrolle vernehmen. Mit haardünnem Silbergespinst flimmerte es um den geistlichen Herrn. Er nickte still vor sich hin und legte die Hände zusammen: "Schön so, Hänschen, immer man weiter."
Und der kleine Andreasberger verstand ihn. Aus der Lispelrolle wuchs ein zartes Klingeln heraus, dann ein melodisches Pfeifen, dem eine getragene Wasserrolle folgte, die die ganze Stube mit süßem Wohllaut erfüllte. Die weichen Töne schienen aus dem Paradies zu kommen, und sie nahmen sich bei den Händen und schwebten in einem goldenen, klingenden Reigen um den Einsamen, der alles Irdische abstreifte und auf stillen Wegen pilgerte, die nicht mehr der Erde angehörten.
Fast hätte er das Klopfen unbeachtet gelassen, das sich von draußen her vernehmen ließ.
"Herein!" sagte er aus seinen Träumen heraus, als sich die Tür auch schon sacht in ihren Angeln bewegte.
"Hochwürden haben befohlen," mit diesen Worten drehte sich ein grobknochiger Mann behutsam ins Zimmer, der zu den Großen und Stiernackigen im Lande zählte und eine feierliche Wolke von Wachsdüften und Weihrauch hinter sich herschleppte; dabei räusperte er sich und strich bedächtig die gelockerten Seitenhaare über den kahlen Scheitel, die er dort wie einzelne Sardellen verteilte. "Und somit, Hochwürden ... vorher aber möchte ich mich ganz ergebenst nach dem Befinden Eurer Hochwürden erkundigen."
"Ich danke Ihnen, Roloffs. Der Herr meint es gnädig mit mir. Es gibt Menschen, die schwerer zu leiden haben als ich. Ein jeder von uns hat sein Kreuzlein zu tragen. Meines ist nicht allzu bedrückend, und ich hoffe zu Gott, er wird mir noch manche Tage vergönnen. Und dann noch, Roloffs: stirbt auch der Leib, was schadet es, die Seele wird leben."
"Wir nehmen ernsten Herzens Notiz davon," versetzte der Küster, "und wir werden nicht verfehlen, solches den Herren des Kirchenvorstandes freundwilligst zu unterbreiten."
Das ›Wir‹ unterstrich er mit einer behaglichen, aber festen Betonung, denn er liebte es, sich bei wichtigen Angelegenheiten des Pluralis majestaticus zu bedienen, und eine solche schien ihm heute gekommen.
"Zur Sache denn," meinte der alte Herr und zeigte auf einen Stuhl, ihm gegenüber.
Der Küster setzte sich unter Verbreitung eines aufdringlichen Weihrauchduftes, nachdem er zuvor die Schöße seines schwarzen Düffelrockes sorglich auseinander gelegt hatte. Des Respektes halber bediente er sich zum Sitzen nur der äußersten Stuhlkante.
"Es dürfte sich wohl um Frau Elisabeth Pulcher handeln?" fragte er leise.
"Allerdings handelt es sich um Frau Elisabeth Pulcher," entgegnete der Dechant, "denn zu meinem größten Leidwesen erfuhr ich, daß ihre Tage gezählt sein dürfen. Oder sind Sie anderer Meinung, Herr Roloffs?"
Der Küster machte eine abwehrende Handbewegung.
"Wenn es erlaubt ist zu reden, Hochwürden, so möchten wir unsere unmaßgebliche Meinung nicht vorenthalten. Selbstverständlich ganz submissest, Hochwürden."
Mit erhobenen Armen hielt er beide Handflächen dem geistlichen Herrn entgegen.
Dieser nickte schmerzlich, wußte er doch, was kommen würde.
"Na denn," sagte der Küster, und über das glattrasierte Gesicht, dem an Kinn und Backen die bläulichen Spuren des Rasiermessers anhafteten, legte sich jene Trauerstimmung, die sich aller bemächtigt, wenn die ersten Schollen auf den Sargdeckel niederfallen.
"Wir denken das Schlimmste," sagte er hierauf. "Wir haben überhaupt gar keine Hoffnung, Hochwürden. Das zeitweilige Aufflackern bestätigt nur unsere ernste Befürchtung. Außerdem geruhen der Herr Sanitätsrat zu lächeln. Wir kennen dieses Lächeln, Hochwürden, denn wenn der Sanitätsrat zu lächeln belieben, dann ist die ganze Angelegenheit nur durch die letzte Wegzehrung zu regeln. Selbstverständlich ganz submissest, Hochwürden."
"Also doch!" sagte der Dechant und sah betrübt vor sich hin.
"Daß nichts verabsäumt wird, Roloffs," meinte er schließlich. "Der Tod liebt Überraschungen. Die Frau ist ja versöhnt mit dem Herrn. Ihr Wandel erging sich in Christo, und ihr Lebensabend war köstlich. Und dennoch: besser ist besser. Der Herr Vikar soll sich bereit halten, ihr auf Anruf die letzte Ölung zu geben."
"Der Herr Vikar sind bereits unterrichtet worden, Hochwürden."
"Schön, sehr schön," sagte der Dechant. "Zu gerne hätte ich ihr selbst diesen Liebesdienst erwiesen, und wenn meine Kräfte es gestatten ..."
"Aber, Hochwürden ...!" ereiferte sich der Küster, und wieder erhob er abwehrend die Hände. "Das geht nicht, das geht absolut nicht. Ihr jetziger Zustand ... das hieße Gott versuchen, Hochwürden."
"Sie mögen recht haben, Roloffs. Das Unmögliche ist eben unmöglich. Aber eins wünsche ich und gebiete es hiermit: sollte das Unabänderliche eintreten, will ihre Seele von hinnen scheiden, in diesem Augenblick wird Anne-Susanne geläutet."
Der Küster blickte erstaunt auf.
"Wieso das, Hochwürden? Wenn es gestattet ist zu reden, so möchten wir uns ganz submissest erlauben ..."
"Was gibt es denn, Roloffs?"
"Solange wir die Ehre haben, unser Amt zu verwalten, und das sind schon an die fünfundzwanzig Jahre, Hochwürden, wurde Anne-Susanne, außer bei feierlichen Gelegenheiten und den sonst vorgeschriebenen Stunden, nur auf dem Beerdigungsgange in Anspruch genommen. Und daher sollten wir annehmen, Hochwürden ..."
"In diesem Falle," sagte der Dechant, und er fühlte selber, daß in seiner Stimme ein fester und erquicklicher Ton war, "wird sie auch in der Sterbestunde geläutet. Es ist eine alte Gerechtsame der Pulcherschen Familie. Sie liegt verbrieft im Kirchenarchiv. Ein heiliges Vermächtnis aus großer und bedeutsamer Zeit. Dem wird Rechnung getragen – daran läßt sich nicht rütteln und deuteln – und die Leidende ist eine Pulcher."
"Dann werden wir sofort vorstellig werden ..."
"Meine Anordnung genügt," versetzte der Dechant.
"Somit dürften wir auch den Vorsitzenden des Kirchenvorstandes, den wohlachtbaren Herrn Jakob Verheyen umgehen?"
"Ja."
"Haben Eure Hochwürden noch sonst was?"
Der Dechant verneinte.
Der Harzer ließ wieder eine silberlichte, zartausgesponnene Klingelrolle vernehmen.
Der Küster erhob sich in seiner ganzen stiernackigen Größe.
"Gelobt sei Jesus Christus!" sagte er mit niedergeschlagenen Augen.
"In Ewigkeit, Amen!" versetzte der geistliche Herr, und sein Interesse wandte sich wieder dem fleißigen Andreasberger zu.
"Also – gegebenen Falles wird Anne-Susanne geläutet. Wir nehmen Kenntnis davon. Selbstverständlich ganz submissest, Hochwürden."
Damit war der Küster auf weichen Schuhen und von einer dicken Weihrauchwolke umkleidet in den Hausflur geglitten, hinter ihm her rieselte und perlte die niedliche Rolle des kleinen Sängers.
"Anne-Susanne," meinte Herr Roloffs, als er die Haustür am Pastorat vorsichtig hinter sich eingeklinkt hatte. "Hm, Hm! – eine ganz neue Sache! Der Herr Parochus loci sind doch in allem bewandert. Der Herr Parochus loci wissen den Kirchenvorstand ganz niedlich auszuschalten. Möge der Herr ihn behüten – in nomine patris et filii et spiritus sancti."
Damit straffte er sich und ging stelzbeinig, sich selber mit köstlichen Spezereien umwölkend, der nahegelegenen Küsterei zu. –
An demselben Nachmittag saß Frau Elisabeth Pulcher am Fenster, das auf den schmucken Hausgarten hinaussah. Weiche Kissen stützten den armen Körper und gestatteten es ihm, aufrecht im Lehnstuhl zu sitzen.
Auch hier der warme Sonnenschein, aber er sah in ein abgehärmtes Gesicht, in dem die Augen wie glanzlose Sterne feierten. Ihre abgezehrten Finger konnten nicht zur Ruhe kommen. In nervöser Hast griffen sie über- und untereinander. Sie hatte ihren Willen darüber verloren.
Frau Elisabeth Pulcher, um vieles jünger als ihr Mann, hatte keine eigentliche Krankheit, keine sichtlichen Schmerzen. Sie welkte dahin, wie eine Blume dahinwelkt. Das leidende, von schlicht gescheitelten Haaren eingerahmte Gesicht trug noch immer den Stempel einstiger Schönheit, obgleich ein fremder Zug die anmutige Reinheit der Linien zerstört hatte. Das war früher anders gewesen. Als Tochter des emeritierten Schulmagisters Gerhard Ivers und dann als Lehrerin der Mädchenschule in der kleinen Nachbargemeinde hatte sie die Herzen aller Männer erobert. Viele warben um sie, allein Elisabeth Ivers sah über diese Werbungen fort, wie man über nichtige Dinge hinwegsieht. Jahre hindurch blieb sie verschlossen und einsam. Da kam Pitt Pulcher, und ihm, dem Vierzigjährigen, war es vergönnt, das heißumstrittene Mädchen in seine Arme zu schließen. An demselben Tage stand Jakob Verheyen auf dem Umgang seiner