O du mein Niederrhein - Joseph von Lauff - E-Book

O du mein Niederrhein E-Book

Joseph von Lauff

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Beschreibung

Eine Liebesgeschichte vom Niederrhein. Joseph von Lauff war ein deutscher Offizier und Schriftsteller, der 1933 in Cochem verstarb. Lauffs umfangreiches literarisches Werk besteht vorwiegend aus Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. In seinen Prosawerken behandelt er meist Themen aus seiner niederrheinischen Heimat.

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O du mein Niederrhein

Joseph von Lauff

Inhalt:

Joseph von Lauff – Biografie und Bibliografie

O du mein Niederrhein

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Schluß

O du mein Niederrhein, J. von Lauff

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849638771

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Joseph von Lauff – Biografie und Bibliografie

Dichter, geb. 16. Nov. 1855 in Köln als Sohn eines Juristen, besuchte die Schule in Kalkar und Münster, wo er das Abiturientenexamen bestand, trat 1877 als Artillerist in die Armee ein, wurde 1878 zum Leutnant, 1890 zum Hauptmann befördert und wirkte, einer persönlichen Aufforderung des Kaisers folgend, 1898–1903 als Dramaturg am königlichen Theater in Wiesbaden, wo er noch jetzt lebt; gleichzeitig wurde ihm der Charakter eines Majors verliehen. L. begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit den epischen Dichtungen: »Jan van Calker, ein Malerlied vom Niederrhein« (Köln 1887, 3. Aufl. 1892) und »Der Helfensteiner, ein Sang aus dem Bauernkriege« (das. 1889, 3. Aufl. 1896), denen später folgten: »Die Overstolzin« (das. 1891, 5. Aufl. 1900); »Klaus Störtebecker«, ein Norderlied (das. 1893, 3. Aufl. 1895), »Herodias« (illustriert von O. Eckmann, das. 1897, 2. Aufl. 1898), »Advent«, drei Weihnachtsgeschichten (das. 1898, 4. Aufl. 1901), »Die Geißlerin«, epische Dichtung (das. 1900, 4. Aufl. 1902); er schrieb fernerhin die Romane: »Die Hexe«, eine Regensburger Geschichte (das. 1892, 6. Aufl. 1900), »Regina coeli. Eine Geschichte aus dem Abfall der Niederlande« (das. 1894, 2 Bde.; 7. Aufl. 1904), »Die Hauptmannsfrau«, ein Totentanz (das. 1895, 8. Aufl. 1903), »Der Mönch von Sankt Sebald«, eine Nürnberger Geschichte aus der Reformationszeit (das. 1896, 5. Aufl. 1899), »Im Rosenhag«, eine Stadtgeschichte aus dem alten Köln (das. 1898, 4. Aufl. 1899), »Kärrekiek« (das. 1902, 8. Aufl. 1903), »Marie Verwahnen« (das., 1.–6. Aufl. 1903), »Pittje Pittjewitt« (Berl. 1903) sowie die Lieder »Lauf ins Land« (Köln 1897, 4. Aufl. 1902). Als Dramatiker trat er zuerst hervor mit dem Trauerspiel »Inez de Castro« (Köln 1894, 3. Aufl. 1895). Von einer Hohenzollern-Tetralogie sind bisher erschienen und wiederholt ausgeführt »Der Burggraf« (Köln 1897, 6. Aufl. 1900) und »Der Eisenzahn« (das. 1899); ihnen sollen »Der Große Kurfürst« und »Friedrich der Große« folgen. Lauffs neueste Dramen sind das Nachtstück »Rüschhaus«, das vaterländische Spiel »Vorwärts« (beide das. 1900) und das nach dem Roman »Kärrekiek« verfaßte Trauerspiel »Der Heerohme« (das. 1902, 2. Aufl. 1903). Während L. in seinen Romanen echtes Volksleben des Niederrheins poetisch festhält und in seinen epischen und lyrischen Dichtungen trotz wortreicher Diktion ein starkes Talent verrät, greift er in seinen Dramen, namentlich in den höfisch beeinflußten Hohenzollern-Stücken, oft zu unkünstlerischen Mitteln und erweckte entschiedenen Widerspruch. Vgl. A. Schroeter, Joseph L., ein literarisches Zeitbild (Wiesbad. 1899); B. Sturm, Joseph L. (Wien 1903).

O du mein Niederrhein

Erstes Kapitel

Wie schön ist die Erde! Alles grünt und blüht um mich, und drüben im Vorgehölz hinter der großen Weidenkoppel läßt der Vogel Bülow seine Wunderstimme vernehmen.

Ich bin schon längst in das ›biblische Alter‹ getreten. Das sechsundsiebenzigste Jahr winkt mir aus nicht allzu großer Ferne herüber, und ich freue mich, just um diese Zeit im Land, wo ich meine Jugend durchlebte, weilen zu können.

O du mein Niederrhein!

Ich stehe auf dem Leedeich, der sich von Kalkar über Till und Huisberden bis zum Emmericher Eiland hinzieht. Rings um mich her, in dem unermeßlichen Grasland, bestickte der Herr die Weiten mit Salbei, Vergißmeinnicht, Wiesenschaumkraut und Kuckucksblumen. Es ist wie ein Zauber, diesen bunten Teppich aus den tausend Nächten und der einen Nacht vor sich ausgespreitet zu sehen. Just auf der nämlichen Stelle habe ich oft als kleiner Junge mit meinen Kameraden gestanden, und wenn hoch über uns ein Storch langsamen Fluges vorübersegelte, riefen wir sehnsüchtig in den blauen Himmel hinein: »Euwer, Euwer, pillepoot, breng ons Moeder en Kindje!«

Alle Ortschaften, die um mich liegen, weiß ich mit Namen zu nennen. Ich kenne ihre Kirchtürme, ihre Garten und verträumten Katstellen, ihre stolzen Gehöfte und alle die Menschen, die diese stolzen Gehöfte und verträumten Katstellen bewohnen. Hier weint es, dort lacht es, hier wird eine sanfte Geige angestrichen, die anmutet, als zöge eine herzinnige Freude über die Gegend, und drüben ... eine Sterbeglocke schlägt an, um irgendeinem guten Bekannten das letzte Lied in die Grube zu singen.

O du mein Niederrhein!

Einer gesellt sich mir.

»Was – Kapitän Hemskerk?!«

»Tag, Jupp, bin ich noch immer.«

Wir schütteln uns die Hände und bleiben mehrere Tage zusammen.

Er hat vieles auf dem Herzen. Bei einer Tonpfeife und einem Glase Bordeaux beginnt er leise zu sprechen. Was er mir sagte, habe ich niedergeschrieben. Es war einmal... und dennoch ist es erst in den jüngst verflossenen Jahren geschehen.

So hört denn.

*

Ein Hahn krähte.

Es war ein prächtiger, opulenter, federflunkeriger, wenn auch etwas abgemergelter Cochinchinahahn, der mit heller und herausfordernder Stimme in einen sonnigen niederrheinischen Herbstmorgen hineinjubilierte. Das Prächtige und Federflunkerige verdankte er seiner äußeren Aufmachung, seinem inneren Gehalt, das Abgemergelte seinen zahlreichen Frauen und Nebenfrauen, die mit ihren Reizen nicht haushielten und allzeit in hellen Scharen um ihn herumkakelten. Von einem Torpfosten der Einfahrt aus, die in die Behausung des jungen Revierförsters Reiner Auwater führte, besang er seinen vielköpfigen Harem, die mit Herbstzeitlosen bestickten Wiesen und Triften, die stillen Altwasser, die weite Niederung ohne Anfang und Ende.

Die Welt stand in Gold. Der Klever Reichswald brannte aus weiter Ferne wie eine feuerfalbe Lohe herüber. Die Türme von Emmerich grüßten von jenseits des Rheines, und um die Ziegeldächer des benachbarten Huisberden schaukelten sich die überständigen Blätter der kanadischen Pappeln wie Feuerfliegen in laulichen Sommernächten.

Der opulente Hahn krähte zum andern.

Er war nicht allein. Außer seiner weiblichen Gefolgschaft bewunderte ihn ein rundliches, appetitliches Wesen, die noch immer anmutige Frau des Küsters und Kantors des nahegelegenen Kirchspiels, die just dabei war, der betagten Mutter Auwater im Försterhause eine Stippvisite zu machen.

Besagtes Forsthaus lag in einem Vortrupp von Gehölzen und Heiden, von immensen Salweidendistrikten umgeben, die sich bis an den Rhein und das Emmericher Eiland erstreckten.

Dem strebte die Küstersfrau zu. Der Hahn hielt sie auf. Mit runden Augen, die weißen Hände um ihr molliges Fürtuch gelegt, betrachtete sie den herzhaften Kräher, diesen Ritter mit den goldenen Sporen. Auch die herumschweifenden Hennen nahmen ihr ganzes Interesse in Anspruch. Nein, waren die glücklich zu preisen! und ihre Gedanken wanderten ab, bewegten sich in selige Gefilde und suchten die Zeit aus, während welcher sie als Zweitmädchen bei dem Knollen- und Rübenlakalier Baron Gisbert Kreuzwendedich von Riswyk auf Haus Borghees bei Emmerich in Stellung gewesen. Gott, diese Zeiten, dieses gefühlvolle Hindämmern zwischen süßem Nichtstun und den niedlichen Aufmerksamkeiten eines alleinstehenden Junggesellen! – Aufmerksamkeiten, die beinahe vor Traualtar und Standesamt geführt hatten, wäre da nicht so ein verflixter weitläuftiger Onkel mit braunrotem Pontakgesicht und Einglas dazwischengetreten, um in kraft seiner Amtsgewalt und herrischen Einwendungen die preziös eingefädelte Angelegenheit wieder auseinanderzuzwirnen. Leider, leider! Denn was hatte sie jetzt? Sie, die unter dem Namen die ›Semmelfüchsin‹ die Umwelt in Aufruhr versetzt und den Mannsleuten der gesamten Flurkarte die Köpfe verdreht hatte, womit konnte sie in der heutigen Stunde noch aufwarten? Lediglich mit dem Küster und Kantor von Huisberden, 'nem Sack voll lärmender Kinder und 'nem Anwesen, in dem die Dickwurze auch nicht mastiger gediehen als die in andermanns Gärten. Alles, nichts weiter! Gewißlich, ihr Gatte, Herr Severin Stappers, war als solcher, als gewissenhafter und kirchentreuer Beamter höchlichst zu preisen, sein Lebenswandel konnte vor Gott und den Menschen bestehen, sein Gehabe war das eines gerechten und aufrechten Mannes, aber bei Licht besehen: gegen den Knollen- und Rübenkavalier Gisbert Kreuzwendedich von Riswyk auf Haus Borghees bei Emmerich, gegen diesen jovialen und splendiden Schwerenöter mit Eichenlaub und Schwertern am Ringe konnte Severin Stappers nicht aufkommen, selbst dann nicht, wären ihm die Schätze von Golkonda und die des Maharadscha von Lahore zu eigen gewesen. Früher und jetzt! Immer wieder mußte sie an Gisbert Kreuzwendedich denken, immer wieder traten ihr die traulichen Begebenheiten der längst dahingegangenen Tage vor die erregte Seele, vornehmlich jetzt, wo der stolzliche Hahn so herausfordernd krähte und die Hennen ihn anblinzelten, als hätten sie in ihm das Ideal aller Ideale gefunden.

»Ach Gisbert ...!«

Frau Engelke Stappers wandte sich ab.

Sie wollte nichts mehr sehen und hören. Traurigkeit wandelte sie an. Sie beneidete Hahn und Hennen und alles, was berufen war, dem niedlichen Gott Amor ein Kränzlein zu flechten. Also fort damit! und energischen Fußes durchschritt sie die Torfahrt, um auf kiesbestreuten Wegen das kleine Haus zu gewinnen, woselbst der junge Revierförster Reiner Auwater mit seiner betagten Mutter ein einsames Dasein führte, in diesen unfrohen Zeitläuften der Heimsuchung der Schmach und der Schande gedachten, die darauf ausgingen, alles Hohe und Überkommene unter die Füße zu treten.

Frau Engelke Stappers ging durch leuchtende Herbstblumen. Alle Rabatten des Anwesens strotzten davon: Astern, Kapuzinerkressen und Zinnien ... und als gedächten die mastigen und buntscheckigen Dahlien der üppigen Frau eine solenne Ovation zu bereiten, hatten sie sich zu beiden Seiten des Pfades in Paradestellung aufgepflanzt, wie Gardefüsiliere im Gliede, straff und farbenprächtig, die schwefelköpfigen auf den äußersten Flügeln. Nein, dieses Paradieren und Blühen! – und dabei krähte der Cochinchinapascha seine prächtigste Note, ließen die herumschweifenden Hennen ihr zärtlichstes Gackern vernehmen, schaukelten die überständigen Blätter so glitzernd und reichhaltig von den Bäumen herunter, als gälte es, die pummelige, adrette und sehnsuchtshungrige Frau Engelke Stappers mit lauterem Gold zu umkleiden.

Alles und jedes atmete Liebe und Hingebung. Die sterbende Natur suchte noch einmal ihren köstlichsten Glanz zu entfalten, noch einmal unter heißen Küssen sich und die Welt zu umarmen. In Schönheit wollte sie hingehen, in reicher Anmut ihren letzten Seufzer dahingeben.

Just um diese Stunde war Mutter Auwater, eine weiße, zutunliche Frau mit einem frischen Paradiesapfelgesichtchen, eifrigst dabei, den Tisch zu spreiten und für das zweite Frühstück herzurichten. Sie erwartete Reiner, der auf einem Reviergang begriffen, bald zurückkehren mußte.

In das sonore Tacken der alten Standuhr, deren Perpendikel behaglich in dem weitbauchigen Kasten rumorte, mischte sich das subtile Klimpern von Tassen und Unterschälchen. Sie ordnete jegliches mit Umsicht. Leicht ging ihr alles vonstatten. Achtsam und freundlich verstand sie es, den schlichten Gedecken eine ansprechende Aufmachung zu geben, mit dem Reiz des Anheimelnden die blauweiß gewürfelte Spreite zu schmücken. Ein lustiger Strauß von Herbstblumen zierte die Mitte. Außer der Bunzlauer Kaffeekanne, die noch auf dem Küchenherd des Aufgusses harrte, mutete die sorgliche Herrichtung so feierlich an, als wäre sie aus einer preziösen Glasservante mit Spiegelscheiben genommen.

So, nun konnte ihr Reiner erscheinen, nun durfte sie mit ihrem Ältesten, der ihr überaus lieb und teuer war und ihren Lebensabend mit einer Goldfolie abgrenzte, ein kleines Plauderstündchen verleben ... und so saß sie denn, die Hände ineinandergeschlagen, still und verträumt, und harrte des Sohnes, als heimelig und zaghaft angeklopft wurde.

Mutter Auwater erhob sich.

»Kommt benne!«

Leise seufzte die Tür in den Angeln.

Mutter Auwater machte kreisrunde Augen.

»Herr Jeses! Meine liebe Frau Stappers, was verschafft mir die Ehre?«

»Je ja!« sagte diese, während ihr spitzes Züngelchen wie das einer seidenfadigen Miezekatze die roten Lippen umschleckerte, »man muß gute Nachbarschaft halten, denn ohne diese ist das heutige Leben kaum noch als Leben anzusprechen. Alles geht seinen konträrigen Weg, die Liebe zur Menschheit powert so allmählich aus, und wenn man in diesen hundsföttischen Zeiten, in welchen die besten Eingebungen wie Treibholz abstrudeln, die freundschaftlichen Beziehungen nicht hochhalten täte, man verkäme ja bei lebendigem Leibe, ohne noch einmal nach Atem schnappen zu dürfen.«

»Das ist weise gesprochen. Darunter kann ich mein allerheiligstes Amen nur setzen.«

»Meine ich auch, denn ohne dieses erfröre einem direkt das Vaterunser im Munde zusammen. Werktätige Liebe, die tut es. Ich mache gleich auf Emmerich zu, und da möchte ich fragen, ob ich nicht der Barmherzigkeit wegen eine Bestellung mitnehmen könnte. So wäre für Sie doch eine Reise erspart, und was mich anbetrifft: es ist gerne gegeben.«

»Zu gütig, meine liebe Frau Stappers. Ja, ich habe 'ne Bestellung zu machen. Mit Freuden nehme ich an. Aber alles mit 'ner gewissen Andacht. Vielleicht erst ein Schälchen mit Kaffee gefällig?«

»Warum nicht? So was ist immer bekömmlich, und wenn ich so hier die mollige Stube betrachte ...«

»Na, schön denn,« und während Mutter Auwater sich in der Küche beschäftigte, um die Bunzlauer Kaffeekanne zu richten, das brodelnde Wasser auf den Ansatz zu gießen, machte sich's die hübsche Semmelfüchsin bequem, nahm den kommodesten Sessel am Tisch ein und ließ ihre viven Augen von einem Mobiliar zum andern pilgern.

Nein, hatten die Auwaters 'ne genügliche Wohnung! Das blinkte und blenkerte man so, zumal die liebe Morgensonne auch das Unauffälligste in den frischesten Couleuren erscheinen ließ. Sie liebkoste alles und jedes, spiegelte sich in den blanken Läufen der Büchsen und Flinten wider, die sich schnurgerade ausgerichtet im Gewehrschrank befanden, umschmeichelte die Geweihe der kapitalen Brunfthirsche und flocht ein güldenes Kränzlein um das Bildnis des wackeren Hegemeisters Heinrich Auwater, den eine hinterlistige Spartakistenkugel allzufrüh in die ewigen Jagdgründe verwiesen hatte. Dicht nebenan dämmerte ein Rotkehlchen seine anspruchslose Waldstrophe in die Stube hinein, glitzerklar, duftig wie Thymian und Waldmeister, gleichsam aus bunten, nadelfeinen Glasfäden gesponnen, die sich verwirrten und wieder entwirrten, um letzten Endes wie eine stille und hoffnungslose Sehnsucht zu sterben.

Engelke Stappers wurde gerührt.

Die Tränen wollten ihr kommen.

Sie dachte an längst dahingegangene, verwunschene Tage... und in dieses Sinnen hinein...

»So, meine Liebe ...« und während Mutter Auwater die Bunzlauer Kanne zubrachte, einschenkte, Sahnenäpfchen und Zuckerdose anpräsentierte und sich schließlich neben die Semmelfüchsin placierte, meinte sie freundlich: »Bei Ihnen zu Hause ist wohl alles in bester Verfassung.«

»Ich danke der Nachfrage. Es geht ja so ziemlich, aber bei Licht besehen, ist doch viel Talmi dazwischen geraten.«

»Das wäre denn doch! Wie kommen Sie bloß auf Talmi? Sie und Ihre Angehörigen leben wie Turteltauben zusammen. Ehe und Haushalt sind mustergültig, und wenn man dem Kirchspiel Glauben schenken darf, haben Sie die große Nummer gezogen.«

»Ja, das sagen Sie so, meine liebe Frau Auwater, aber alles in allem genommen kann ich diesem nicht meine volle Estimierung erweisen. Gewißlich: mein kleines Pröhlzeug ist außer Wettbewerb, kann seine Lex wie am Schnürchen, ist auch gut in der Christenlehre. Die Säuglinge natürlich machen noch Umstände, aber das tut nichts. Auch über Severin kann ich nicht klagen. Er stellt seinen Mann und hat seine großen Verdienste, denn wenn er sich mit dem Herrn Pastor auf den Versehgängen befindet, die Messinglaterne vorträgt, um Jesu Christi willen mit dem silbernen Schellchen daherbimmelt, dann wird es den Sterbenden leicht, die ewige Ruhe zu finden, sich gewissermaßen auf die weißen Strümpfe ins Himmelreich zu begeben. Indessen, da sind noch andere Dinge, die einem das Dasein weniger erfreulich gestalten, Dinge ...« und ihre Stimme wurde zu einem wehen und heimlichen Flüstern: »Zärtliche Dinge, die kaum das Licht des Tages vertragen und sich glücklich fühlen, wenn sie das Düster einer Speck- und Räucherkammer um sich wissen, denn nur so können sie alter Zeiten gedenken, ihre Freude und ihr zugemessenes Leid beziehen.«

Sie sah bedrückt vor sich hin, nahm ihr Kaffeelöffelchen und begann fahrig in der duftigen Brühe zu rühren.

Mutter Auwater legte ihr begütigend die Hand auf die Linke.

»Darf man nicht wissen, meine liebe Frau Stappers...?«

»Man darf, man darf!« flötete die Semmelfüchsin, machte verliebte Nasenlöcher und legte das Kaffeelöffelchen behutsam auf seiten. »Um es mit einem Worte zu sagen: Ich kann nicht vergessen. Es ist wie 'ne alte und ganz absonderliche Wundergeschichte, und die hakt mit dem Blut des heiligen Januarius mächtig zusammen. Selbiges nun, wie 'ne schöne Legende verkündet, befindet sich für gewöhnliche Zeitläufte in 'nem eingetrockneten Zustand. Wenn man aber das Fläschchen mit unschuldsvollen Händen berührt, dazu dreimal hintereinander das Vaterunser von rückwärts herbetet, beginnt es zu fließen und aufzukochen, als säße ein überirdisches Feuer dahinter.«

»Nicht möglich!«

»Aber es ist so. Davon läßt sich kein Tiftelchen abdividieren, denn ich hab's mit eigenen Augen in 'nem ehrwürdigen Geschichtenbuche gelesen... und wie das mit dem getrockneten Blut des heiligen Januarius bestellt ist, so ist das just so mit meinem eigenen Herzen bestellt, denn wenn ich es mit irgendeiner angenehmen Erinnerung betippe, beginnt es aufzukochen und heimlich ins Fließen zu kommen.«

»Ach, Sie...!«

»Meine liebe Frau Auwater, ich kann es nicht ändern, und wenn Sie verstatten, ich bin gerne erbötig...«

»Ich bitte darum.«

Frau Engelke Stappers legte bewegt ihre runden Hände um die Fülle ihrer schnacken Weste, ließ die Augendeckel herunter und sagte: »Das ist nu wohl so vor zehn Jahren gewesen. Da befand ich mich auf dem Hause Borghees bei Emmerich in 'ner gehobenen Stellung. Dort war alles vom obersten Ende. Ich konnte nicht klagen. Meine Tage schaukelten sich dahin wie Schmetterlinge über Butterblumen und Maisütchen, kurz, ich brauchte nur mit dem linken Auge zu plinkern, gleich war der junge Baron Gisbert Kreuzwendedich von Riswyk dabei, mir den geheimsten Wunsch zu verstatten, mir die schönsten Erfüllungen für die Zukunft in Aussicht zu stellen. Aber da eines Tages...«

Ihre Stimme zerbrach. Eine einsame Träne begann leise zu fließen. Kaffeeschälchen, Zuckerdose, das delikate Weißbrot und die spendierte westfälische Mettwurst, alle diese einladenden Genüsse hatten der erregten Frau nichts mehr zu sagen.

Sie weinte.

Mutter Auwater sprach ihr begütigend zu. Allein nichts wollte verfangen, bis sie schließlich in die Worte ausbrach: »Aber wie kommen Sie jetzt auf diese alte Geschichte? In diesem Momang, wo Sie doch Ihren Severin und Ihre schuldlosen unmündigen Kinder besitzen?«

»Ach, Gott – ja...!« und die Semmelfüchsin wisperte benaut vor sich hin: »Das eingetrocknete Blut des heiligen Januarius... es wurde berührt, denn ich hörte doch Ihren prächtigen Cochinchinahahn krähen.«

»Christus! was hat denn mein Hahn mit dem heiligen Januarius und Ihrem Herzen zu schaffen?«

»Meine liebe Frau Auwater, das ist es ja eben. Ich muß dabei immer an Gisbert Kreuzwendedich denken, denn er war auch so einer mit 'nem vollen Aweck und 'ner ausbündigen Lebhaftigkeit, immer kavaliermäßig, immer mit 'ner großen und aufmerksamen Liebe behaftet – bald mit 'nem Spitzenhäubchen als Sonntagspräsent, bald mit 'nem wohlwollenden Zutun und 'nem Champagnergläschen mit Pritzelwasser. Aber alles in Reinheit, alles in aloisianischer Schuldlosigkeit. Dann und wann kam zwar so 'ne kleine Amorettengeschichte dazwischen. Aber das tat nichts, denn ich konnte mich rühmen, in meinen Verhältnissen allzeit den Finger Gottes zu sehen, nicht um Haaresbreite auf die verkehrte Seite zu schielen. Das lohnte sich mächtig, denn vor meiner Eingebung war ich bereits so halber 'ne gnädige Frau Baronin geworden, zumal Gisbert schon die schwergoldenen Ringe in Bestellung gegeben hatte, eifrigst dabei, die nötigen Papiere zu's Aufgebot in Ordnung bringen zu lassen.«

Mutter Auwater schlug die Hände zusammen.

»Mein Gott, diese Aussichten!«

»Und was für welche!« hieb die Semmelfüchsin blitzsauber nach. »Aussichten mit 'nem veritablen Grund und Boden unter den Füßen, bis letzten und furchtbaren Endes der Erb- und Monokelonkel erschien und wie 'n aufgeblasener Bronzeputer daherkollerte: Gisbert, entweder die Mamsell und die Liebe, oder Haus Borghees mit allen Zutaten und meine sonstigen Besitztitel werden anderweitig vergeben. Eins von beiden, denn das Ganze paßt nicht zusammen. Ach, du mein Göttchen! wollen Sie's glauben, meine liebe Frau Auwater: ich habe Gisbert Kreuzwendedich aufgeben müssen, nur aus dem Grunde heraus, ihn nicht außer Erbfall zu stellen. Ich tat es um Jesu Christi willen und der ewigen Barmherzigkeit wegen.«

Ihre Stimme versackte in einem wehen Stammeln und Dahindämmern.

»Aber Sie taten's, um den braven Herrn Stappers zu nehmen.«

»Gewißlich, meine liebe Frau Auwater. Auf Borghees war meines Bleibens nicht länger. Die Verhältnisse spitzten sich zu, ich mußte mich sonstwo umsehen, um noch den nötigen Anschluß zu finden, und so bin ich denn auf Severin Stappers verfallen, bereu' es auch bis zur jetzigen Stunde nicht, denn wie schon oben bemerkt: er ist nicht von heute und gestern, riecht allzeit lecker nach Mannsleut', hält sich toujours proper im Zeug, und wenn er sich bei's Kerzenziehen befindet, kommt einem immer so 'n angenehmes Odol unter die Nase, aber Hand aufs Herz,« und ihre Rechte legte sich breit auf die Chiffonbluse, »dessentwegen brauche ich meine verjährte Liebe nicht in den Schornstein zu schreiben, denn ich bin bis zur jetzigen Stunde völlig kumpabel, als ehemalige baronliche Braut aller Welt offenkundig in die Augen zu sehen. Indessen, wenn mich eins bedrückt, so ist es der Umstand, daß Gisbert noch immer einhäusig ist, schwer daran trägt, sich ohne zweckdienliche Lebensgefährtin einrichten zu müssen. Da werden ihm die Tage zu lang und die Nächte zu Nächten, die in ihren riemigen Hirtzensprüngen kein Ende finden können.«

Mutter Auwater nickte ihr zu: »Kann es mir denken... und wie geht es ihm sonst, ich meine...?«

»Wie ich höre, ausnehmend gut. Er befindet sich in adretter und schuldenfreier Verfassung, denn nach dem Ableben des Onkels mit dem fatalen ›Entweder oder‹ ist dessen ganzer Besitzstand, mit Einschluß von Borghees und Liegenschaften, als erb- und eigentümlich an Gisbert übergegangen. Ich aber... wenn ich mich jetzt in den erhofften Umständen befände, könnte ich auf stund's im Auto oder mit sonstigen Kommoditäten ins Hochamt fahren, auch mich anderweitig honorig erweisen. Das ist es.«

Ihre Partnerin winkte ab: »Lassen wir das, meine liebe Frau Stappers. Seien wir zufrieden mit dem, was wir haben, und seien Sie überzeugt: ich bin keine von denen, die den ersten besten Stein von der Landstraße heben, um ihn auf Ihre junge Liebe zu werfen. Das steht mir nicht an, dafür habe ich zuviel Estimierung Ihrer Person gegenüber, aber besser ist besser ... und Sie als nunmehrige Gattin und Mutter sollten ein Ende finden, dem Verlorenen nicht nachtrauern, eifrigst bemüht sein, den letzten Rest davon aus Ihrem Herzen zu reißen, denn ein solches Erinnern und eine solche aussichtslose Liebe haben bloß Leid im Gefolge.«

Die Semmelfüchsin flocht die Hände zusammen.

»Allerdings richtig,« sagte sie mit weher Betonung. »Leid in Masse, aber ein auserwähltes und heiliges Leid, das große Leid wie am Kalvarienberg, denn ein solches Leid findet Einlaß im Himmel, man kann wohl behaupten: wird besonders von der heiligen Jungfrau Maria in Schutz und Achtung genommen, wie überhaupt jegliche Liebe schmerzhafte Zutaten aufweist und gut daran tut, sich mehr oder weniger auf traurige Zeiten vorzubereiten.«

Mutter Auwater fuhr erregt in die Höhe.

»Das ist aber eine kühne Auslegung.«

»Leider, so ist das. Ich habe sie auch bloß im Namen Gottes und im Namen meiner eigenen Seelenruhe verkündigt, weil sich daraus für meine Person bedeutsame Milderungsgründe ergeben, wenn ich auch nicht abstreiten will, daß manche Liebe weniger Leid besitzt, sogar triumphierend einhergeht, wie zum Beispiel ...«

»Nein, meine gute Frau Stappers, ich kann nicht mehr folgen. Ihre Ausführungen sind bitter wie Wermut. Ich danke meinem Herrgott im hohen Himmel da droben, daß wir im hiesigen Forsthaus von der Liebe bis zur jetzigen Stunde noch kein Tiftelchen verspüren, und wenn sie erscheint, dann darf sie nur im Namen Gottes, durch mein mütterliches Zutun und meinen mütterlichen Segen erscheinen.«

Die Semmelfüchsin erhob sich. Um ihre rosigen Lippen kringelte es sich mit dem feinen Kringeln eines Eidechsenschwänzleins.

»Aber ich sage Ihnen: sie steht vor der Türe. Bloß abwarten. Sie werden noch Ihr blaues Wunder erleben.«

»Und ich für meine Person bestätige nochmals: mein Reiner freit nicht und heiratet nicht, bevor nicht mein zweiter, der Klemens, die priesterlichen Weihen hinter sich hat, sich als seligmachender Kaplan in Amt und Würden befindet.«

Die junge Frau legte ihr lächelnd die Hand auf die Schulter.

»Warten wir ab. Der göttliche Amor läßt sich nicht abweisen. Der stört sich nicht an priesterliche Weihen und Würden. Der hat mit Ihrem Klemens gar nichts zu schaffen, überhaupt keine Gemeinschaft, läßt sich von ihm überhaupt nicht imponieren. Der greift sich einfach den andern und schießt mitten ins Schwarze.«

»Und das ohne mein Zutun?«

»Ja, ohne Ihr Zutun!«

»Frau Stappers,« und in den grauen Augen der Alten begann es mit erregten Fünkchen zu spielen, »was Sie auch aufstellen – gegen mein Wissen und Wollen wird sich Reiner niemals verloben, niemals, so wahr ich hier stehe.«

Die Semmelfüchsin blieb die verkörperte Ruhe.

»Dann lassen Sie sich sagen, meine liebe Frau Auwater, er hat's schon.«

»Wa ...was ...?!«

»Vollständig fertig, und das in Ehren und mit heiliger Inbrunst.«

»Christus, wer ist's denn?«

»Um es mit einem Wörtchen zu sagen: dem Kaptän Pitt Hemskerk die seine.«

»Was – Jakobine ...?!«

»Ja, Jakobine, die schöne Jakobine, Jakobine Hemskerk aus Grieth, nach der sich alle die Finger belecken.«

»Himmel, seit wann denn?«

»Seit gestern. Grieth und Huisberden liegen dicht zusammen.«

»Also wirklich versprochen, ohne mir davon auch nur ein einziges Sterbenswörtchen zu sagen!«

»Er wird seine Gründe wohl haben.«

»Mein Gott und mein Heiland!«

Mutter Auwater verfärbte sich, sank auf ihren Sessel zurück und sah verworren ins Leere. Durch ihr wehes Gesichtsfeld zogen graue und verwaschene Fäden. In diesem grauen und verwaschenen Gespinst verlor sich alles und jedes, was sie jemals an Vertrauen und Zuversicht, an Freude und Hoffnung in ihrem Herzen getragen hatte. Wie harte Kiesel fiel es ihr von den Lippen herunter: »Und so was muß ich an meinem Sohne Reiner erleben?! O du grundgütiger Himmel, o du Mutter der Schmerzen und der Barmherzigkeiten!«

Die Semmelfüchsin fiel ihr energisch ins Wort: »Was, Sie wollen noch hier lamentieren, wo ich annehmen mußte, Sie hätten sich in dreifachen Seligkeiten befunden? Sie wollen hier die Miesmacherin spielen, wo die Erkorene aufwarten kann, Schwung und Freiheit ins Haus bringt, alle Spiegel ihr zurufen: Du bist die Schönste im Land und heilig berufen, 'nem Prinzen die Federposen anzuwärmen, ohne darüber erröten zu müssen? Sie sollten sich schämen, so den göttlichen Amor von ihrer Haustür zu weisen. Nein, so was ist auf Erden noch nicht jung geworden, seitdem ich vom lieben Herrgott meinen Atem beziehe.«

»Alles schon richtig. Nur – ich kann es nicht fassen, meine liebe Frau Stappers.«

»Das müssen Sie aber, wo Sie mit Reiner 'ne leuchtende Brautschaft betreten. Ich kenn' mich in Grieth und Nachbarschaft aus, denn wenn ich mir den Kapitän Hemskerk mit seinen majestätischen Rheinkähnen besehe, wenn ich mir seine Weidenkoppeln betrachte, die an vierhundert Morgen ergeben, dann kann ich nur sagen: Sie und Ihr Reiner haben in dreiundfünfzig nebeneinanderstehende Fettnäpfchen gegriffen, beziehen neben diesem grandiosen Profit noch 'ne extraordinäre Schönheit auf Lager, und wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie sagen: Frau Stappers hat ehrlich gesprochen. So – nu muß ich wohl gehen und hab' nur noch wegen des Auftrages zu fragen ...«

»Ach ja!« kam es schluchzend zurück. »Wenn Sie so gütig sein wollen, möchte ich um 'ne Flasche ›Ruhrperlen‹ bitten. Reiner kann sie auf seinen Reviergängen gebrauchen.«

»Wird in Bestellung genommen. Bei Michel Virgilis Tappert am Krantor sind die besten zu haben. Adjüs denn!«

»Adjüs denn!«

Mutter Auwater sah ihr mit toten Augen nach. Aber diese Augen wandelten sich. In ihnen stand plötzlich eine glänzende Helle. Ergeben legte sie die arbeitsfrohen Hände zusammen und hörte auf das märchensüße Singen des Rotkehlchens, dessen gesponnene Weisen immer zärtlicher und zutunlicher wurden.

Zweites Kapitel

Ach, dieses Liebeseelchen, dieses Sängerlein mit dem ziegelroten Brüstchen! Kein Schlaggärnchen hatte es in freier Wildbahn betört, kein verschlagener Vogelsteller es eingekäfigt. Aus freien Stücken war es erschienen, aus freien Stücken harrte es aus, um nunmehr seit Jahren seine anspruchslose Strophe im verschwiegenen Försterhause zu singen.

So auch heute. Wie aus einem zarten Nebel heraus ließ es sein Stimmchen vernehmen. Leidvolles und Schmerzliches, Freudenreiches und Schönes, Vergangenes und Zukünftiges wirrte es bunt durcheinander. Es war wie das Klimpern von Rosenkranzperlen, wie das Weinen und Beten in einer Gnadenkapelle, um dann wieder wie das heimelige Läuten von Glockenblumen, das Rieseln eines Wiesenbächleins unter Salbei und Unserer Lieben Frauen Bettstroh zu werden. Unter diesem Singen und Sagen blühte das niederrheinische Land, schwebte die Mutter Gottes im blauen Gewand durch die Heide von Kevelaer, wurden Tränen gesammelt und Ringe gewechselt, wandelten Tage und Stunden, die voller Glorie waren, auch solche, die in ihren eigenen Tränen erstickten.

Ach, dieses Liebeseelchen, dieses Sängerlein mit dem ziegelroten Brüstchen! Es ähnelte einem Märchenerzähler, einem Bringer der Freude, einem Träger der Unruhe. Sein Psalmodieren verstärkte sich, und Mutter Auwater hörte darauf, als klängen Engelszungen ihr zu, als redeten Geisterstimmen aus jenen Tagen heraus, die ihr nichts mehr zu sagen hatten ... und dennoch hatten sie ihr vieles zu sagen.

Ihre Hände schlossen sich fester zusammen, ihr Kopf sank nach vorne.

»Ave Maria!«

Mit diesem Gruß auf den Lippen pilgerte ihre Seele in verflossene Zeiten hinein, während alle Geräusche im Hause verstummten, die sonst schon verschwiegenen Räume noch stiller und vereinsamter wurden. Die Erinnerung nahm sie beiseite, führte sie in den Garten der Anschauung und den der Betrachtungen. Spiegelbilder und Spiegelungen zogen an ihrem Geiste vorüber, deuteten hierhin und dorthin, hatten ihr vieles zu zeigen, wisperten ihr zu: »So warst du, so bist du geworden, so wirst du einst werden. Der Herr war dein Stab. Er schützte dich, er leitete dich, er führte dich nicht in Versuchung. Der Herr wird bei dir sein, wenn deine Hand erlahmt und dein Fuß zu schwer wird. Er wird dir den Schweiß vom Antlitz nehmen, wenn deine Tage gezählt sind und du dich danach sehnest, der Anschauung Gottes teilhaftig zu werden. Dein Leben war Liebe und Mühe, und dein Sterben wird köstlich sein.« Sie sah sich als kleines Mädchen zwischen Maßliebchen und Tausendgüldenkraut stehen, über sich den ewigen Himmel, zu ihren Füßen die unermeßlichen Wiesen, die sich bis nach Holland erstreckten. Sie sah sich als Jungfrau, feingegliedert, mit den köstlichen Reizen des erwachenden Weibes ausgestattet. Um Mannesliebe brauchte sie keine Sorgen zu tragen. Sie kam daher mit dem Schmeicheln des Sommerwindes, mit dem Brausen des Sturmes in laulichen Frühlingsnächten. Willig und gern gab sie ihr ein und ihr alles, ihre Mädchenblüte, dahin, um die Frucht zu empfangen. Und als sie empfangen hatte, nahm ihr Mann sie zwischen seine mächtigen Arme, drückte ihr einen innigen Kuß auf die Lippen und fragte mit heißer Stimme: »Bist du glücklich, Johanna?«

»Ja, ich bin glücklich geworden,« gab sie lächelnd zurück, »glücklich durch deine stolze Liebe und dich.«

Das beseligte ihn, und sein Bart legte sich um sie her wie ein fließendes Segel.

Und sie gebar einen Sohn, den nannten sie Reiner. Solches geschah in dem Hause, das sie noch heute bewohnte.

Die Zeit wanderte ab. Die Standuhr tat ihren ruhigen Gang. Nichts trübte den zarten Hauch der Ereignisse, die sich mit arbeitsamen und feiertägigen Augen aneinanderreihten wie die Spiele schuldloser Kinderherzen. Dann wieder gab Frau Johanna die Blüte des Weibes hin, um die Frucht zu empfangen. Und als sie empfangen hatte, nahm ihr Mann sie zwischen seine mächtigen Arme, drückte ihr einen innigen Kuß auf die Lippen und fragte zum andern: »Bist du glücklich, Johanna?«

»Ja, ich bin glücklich geworden,« gab sie lächelnd zurück, »glücklich durch deine stolze Liebe und dich.«

Das beseligte ihn, und sein Bart legte sich um sie her wie ein fließendes Segel.

Und nochmals gebar sie einen Sohn, den nannten sie Klemens und gelobten zu Gott, ihn dem geistlichen Stande zu weihen.

Solches geschah in dem Hause, das sie noch heute bewohnte.

Die Zeit wanderte ab. Die Standuhr tat ihren ruhigen Gang, die Levkojenrabatten blühten in dem kleinen Kraut- und Gewürzgärtchen wie einst und ehedem, ohne Schaden zu leiden, ohne die Arten zu wechseln. Die Rohrdrosseln riefen ihr »Kärrekiek« so inbrünstiglich durch die weite Gegend, wie sie es immer getan hatten, von morgens bis in den späten Abend hinein, bis die Sterne an dem blauen Kattun des Himmels aufgeisterten und von der Allmacht Gottes erzählten.

Die Kleinen wuchsen heran, freuten sich ihres ungebundenen Lebens, wurden zu Jünglingen, die das Herz der Eltern froh machten und Hohes verhießen. Heinrich Auwater, nunmehr zum königlichen Hegemeister ernannt, schaffte für viere. Seine Kulturen florierten, die ihm unterstellten forstlichen Reviere standen außer Wettbewerb, und wenn er spät abends kein Büchsenlicht mehr hatte, wie er zu sagen pflegte, trat er den Heimweg an, um bei Weib und Kindern die geruhsame Nacht zu erwarten. Dann aber, beim Zubettegehen, wenn das trauliche Rübsenöllicht im Schlafzimmer aufflämmerte und zitterige Kringel gegen die niedrige Decke zeichnete, nahm er seine Herzenskönigin zwischen die mächtigen Arme, küßte sie heiß, indem er ihr zuflüsterte: »Johanna, ich glaube, wir sind glücklich geworden.«

»Ja,« gab sie mit dem Lächeln eines Weibes zurück, das sich beseligt fühlte, dem nichts mehr auf dieser Erde zu wünschen übrig blieb. Dabei legte sein Bart sich um sie her wie ein fließendes Segel.

Das ging so fort und immer so weiter, ohne daß sich der zarte Hauch der Dinge und der Ereignisse trübte, bis sich eines Tages der Kaiser und sein Volk genötigt sahen, das Recht und die Ehre und das Heil des bedrängten und umzingelten Vaterlandes auf die Spitze des Schwertes zu stellen.

»Mutter, es geht um alles, um Ehre, Leben und Sterben,« und eine schwere Faust rumpelte auf den Tisch, eine wehe Stimme sprach in den schwülen und dunstigen Sommerabend hinein: »Gott sei mit uns in seiner Kraft und Herrlichkeit ... und stütze das Volk in seiner Not und seinen Wirrnissen ... und mache das Gewürm und Geziefer zuschanden, das schon seit Jahren dabei ist, Deutschland, die breitschattige Eiche, zu ringeln, seinem Wurzelstock die Wohltat der Mutter Erde zu nehmen. Ich trage Sorge um vieles. Nicht um den Glanz unserer Waffen und ihrer strahlenden Führer. Aber schon der herrlichste Deutsche mußte einst fallen. Siegfried fiel. Leider Gottes sei es geklagt: er fiel durch die eigene Landsmannschaft, durch die Hinterhältigkeit und den Verrat eines Abwegigen ... und über die Gaue hin krächzten die Geier und Aasvögel, steht über dem Odenwald ein blutiger Schatten, ein Zeichen dafür: hier blutet die Schande für ewiglich, denn an dieser Stätte wurde der edelste Deutsche, wurde Siegfried erschlagen. Gott helfe uns allen und erbarme sich unser!«

Ernst sah der Hegemeister in den Abend hinaus, über den Klever Reichswald hin, über dessen düsteren Massen sich das erste Sternenlicht zeigte, trüb und vernebelt, um bald wie ein armseliges Totenlämpchen zu verlöschen.

»Amen,« sagte er leise.

Die Wetterwolke brach los, warf seine züngelnde Lohe. Da marschierte Deutschland, marschierte mit aufgestülptem Visier, im blanken Eisen seiner gerechten und ehrlichen Sache. Auch Reiner zog mit, strahlend und leuchtend, als junger Forstbeflissener, den ersten Flaum auf den Lippen, während Klemens noch das Gymnasium in Kleve besuchte.

Herr, stehe uns bei!

Aber der Herr hatte kein Einsehen. Herrliche Massensiege! um letzten Endes im Sumpf zu ersticken. Statt glorreicher Friedenskränze das Grauen, an Stelle von werktätiger Arbeit und Freiheit die Verelendung eines ringenden Volkes auf Jahre hinaus, auf Menschenalter hinaus, unzählig wie die häßlichen Scharen der Prozessionsraupen bei ihren gefräßigen Pilgerzügen, bei ihrem Ziehen ohne Anfang und Absehen.

»Die Hände unserer Feinde mögen verdorren ...«

Der alte Hegemeister, jetzt weiß vor Entsetzen geworden, stand wie eine Säule im Reichswald, der im heißen Brand des Abends blutete, als wäre ihm eine tiefe, nie mehr heilende Wunde geschlagen.

»Ja, die Hände mögen verdorren, die die Feder ansetzten, um uns das Diktat von Versailles aufzuzwingen. Aber ich diene, sonst geht in absehbarer Zeit mein Letztes und Heiligstes, geht der mir anvertraute Wald vor die Hunde. Ich diene – diene wie die Aufrechten dienen, um das Los ungeborener Generationen leichter zu machen, diene im heißen Gedanken an eine mögliche Stunde, die aus Schatten und Tränen die gepanzerte Faust stößt, willens, in Kraft eigener Machtbefugnis der Willkür ein Ziel zu setzen, dem Niedergang ein ›Bis hierher und nicht weiter‹ zwischen die Schläfen zu hämmern. Ich diene ...« und er diente mit zerrissener Seele und fliegendem Atem. Er kämpfte gegen die Schänder des Forstes, gegen das feige Gesindel, das unter der schmutzigen Flagge der Sonderbündler marschierte und Menschen und Vieh zu Tode hetzte. Er kämpfte gegen die ausposaunte Freiheit, den schreienden Hirsch wahllos auf die Decke zu schroten, gegen alles, was die Schneisen und Gestelle seines sakrosankten Waldes entweihte.

»Ich diene ...!« und er diente im Sinne eines Starken in Israel, einer von den Stillen, aber auch einer von der alten Garde im Lande. Er diente bis zum letzten Atemzuge, bis zum letzten eigenen Abkämpfen. Seine Falkenlichter feierten nicht. Sie waren rings und überall, bei Tages- und Nachtzeit, in Finsternis und Sternenfeuer, und diese Falkenlichter machten ihm Feinde ... und da eines Abends ...

In der Heideläufergemarkung, bei dem Wildgatter, wo die drei verkrüppelten Birken standen, fiel ein Schuß.

Er bellte und kläffte.

Die im Försterhause mußten ihn hören.

»Mein Gott und mein Heiland, das ist nicht Vaters Büchse gewesen!«

Und wieder ein Schuß, ein dritter, ein vierter.

»Nein, das ist nicht Vaters Büchse gewesen! Gott gnade uns allen!« und Mutter Auwater warf ihre Arme zur Decke, um wie eine Sterbende niederzubrechen.

Sie sah ein weißes Gesicht, und dieses Gesicht schaute sie an mit unendlicher Liebe. Nur drei Herzschläge hindurch. Dann senkten sich die Lider über die gebrochenen Augen. Sie fühlte sich mit heißem Blut übertropft, und dieses Blut war das Blut ihres Mannes. Sie spürte einen warmen Hauch auf den Lippen, wie sie ihn oftmals verspürte, und dieser Hauch war sein letzter Gruß aus dem Walde.

Als man ihn brachte, ebbten ihre Tränen zurück wie die Flut nach einem schweren Seegang. Sie sah in friedliche Züge, die das Leid nicht mehr kannten. Ihre weiße Hand legte sich sacht über die Stirne des Toten. Ihre Lippen stammelten: »Nun hast du mir den ersten Schmerz getan. Er wird bei mir sein, bis wir uns wiederfinden in dem heiligen Licht, das wir auf Erden nicht haben. Das Höchste ist dir Pflicht und Erbe geblieben: Du dientest, und Gott ist barmherzig gewesen. Er nahm dir das Bitterste: den Untergang deines Volkes zu sehen ...« und als man ihn aufbahrte, das Frührot des neuen Tages durch die Scheiben fingerte, ließ sie das Fenster öffnen, um den laulichen Hauch des welkenden Laubes und den Duft der Mutter Erde ins Zimmer zu lassen, und siehe: ein Rotkehlchen saß auf dem Sims, regte die Schwingen, um sich bei der brennenden Kerze am Kopfende des Hingestreckten ein trauliches Plätzchen zu suchen. Es fand, was es suchte. Bald darauf hub es an, seinen freien Waldgesang, sein Zwitschern und Hindämmern durch die Stube zu zwirnen – ein Märchen in der Totenkammer, eine freundliche Note im Hause der Trauer und der Verstörung.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben,« so sang es. »Deine Taten wurden gewogen und nicht zu leicht befunden. Im ewigen Jerusalem wohnt die Vergeltung. Umkleidet wirst du mit dem weißen Kleide der Reinheit, denn wer die Treue bewahrte, nicht eid- und sichelbrüchig wurde, wird eines solchen Kleides teilhaftig für ewiglich, im leuchtenden Angesicht des Herrn ...« und während des Singens psalmodierten die Eichen aus der Ferne herüber, wölkten die alten Tannen, die ehrwürdigen Leviten des Reichswaldes, ihren Weihrauch um das stille Gewese, war es so, als begänne um die eingekerbten Lippen des Verstorbenen ein Lächeln zu spielen, das nicht von dieser Welt war, aber sich freute, den köstlichen Gruß von Forst und Heide bei sich zu wissen.

Frau Johanna sah dieses Lächeln. Reiner stand ihr zur Rechten, Klemens zur Linken. Ihre Hände verflochten sich, ihre Herzen drängten enger zusammen. Eine unsichtbare Fessel umschlang sie wie mit einer eisernen Kette.

Sie aber nahm ein Tüchlein und spreitete es über das Antlitz des Toten: »Lieber Mann, gehe in Frieden,« und sah Reiner an und ihren Jüngsten. Leise fiel es von ihren bleichen Lippen herunter: »Nun habe ich euch noch, sonst nichts mehr.«

»Mutter ...! Mutter ...!«

Nie wohl wurde das gebenedeite Wort Mutter so heilig gerufen, nie wohl war es von einem solchen Schmerze durchzittert, nie wohl von einem so stolzen Gelöbnis durchwoben. Aus dem Munde des Erlösers ist es nicht schöner und reiner gekommen, als sich die Stunde nahte, in der er das Haupt neigen und sterben mußte.

»Mutter ...! Mutter ...!« und treu ihrem Schmerz, treu ihrem Gelöbnis, treu ihrem gebenedeiten Wort, das nicht heiliger und feierlicher von Golgatha über den Berg des Ärgernisses hinzog, trugen sie ihre Mutter auf Händen, ehrten sie sie, wie keine Söhne die Mutter noch ehrten, schafften für sie im Sinne des Verstorbenen und machten ihren Lebensabend zu einem köstlichen Abend.

Nichts änderte sich in dem traulichen Forsthaus, keine Schilderei wurde verrückt, kein Möbelstück auf eine andere Seite geschoben. Waffen und Trophäen des Vaters standen auf Reihe wie einst und ehedem. Ein frischer Tannenbruch zierte täglich sein Bild, und wenn der Tag des heiligen Hubertus heraufgraute, die Nächte schon lange Hirtzensprünge machten und die Kapitalen zu röhren begannen, schmückte ein Eichkranz den Sessel, in dem er willig und gern die Sorgen der grünen Farben verschmerzt und sich ihrer stolzen Freuden erinnert hatte ... in nomine Sancti Huberti», im Namen aller, die es gut meinen mit Wald und Wild, die blühende Heide als eine hehre und keusche Frau ansprechen, die sich nur denen hingab und ihre märchenhaften Reize und Wunder offenbarte, die ihre heiße und große Liebe verdienten – in nomine Sancti Huberti und seiner erlauchten Gefolgschaft.

Reiner wurde Folger im Amt. Mit heiligem Eifer befolgte er die Zuwachslehre und die Lehre vom Umtrieb. Überkommene historische Bäume waren sakrosankt für ihn und die Axt. Er stöberte die Wilderer auf, ließ jedem raren Pflänzchen sein Wachstum, um an ihm seine Freude, sein Genießen zu haben. Der Buchfink schmetterte ihm tagtäglich seinen ›Reiterhinzu‹, das Bächlein plätscherte daher, als gälte es, ihm den Morgengruß und den Morgensegen zu bieten. Als Heger und Pfleger – mit Siegfriedsaugen durchschritt er die Wildbahn, die Schneisen und Gestelle, die ihm überkommenen Reviere. Jedes Lebewesen fühlte und spürte: in ihm ist der alte Hegemeister aufs neue erstanden, wandelt sein Geist wie in den Tagen, da sie noch raunten und flüsterten: »O Deutschland, hoch in Ehren, o Deutschland, gebenedeit unter den Völkern der Erde!« Sein scharfgemeißeltes Gesicht, über dessen Nasenwurzel sich eine tiefe Rune aufstellte, schien wie aus Bronze gehauen. Gleich seinem Vater, so diente auch er, gleich ihm den wilden Schmerz um das Verlorene, Unwiederbringliche zwischen den Rippen. Wie Sankt Michael vor dem Paradiese, hielt er die Fahnenwacht in Forst und Flur, auf endloser Heide. Sein Arm reichte weit, seine Liebe noch weiter. Dem jüngeren Bruder gegenüber blieb er ein treuer Wardein und Sachwalter, verstattete ihm das Studium auf dem Seminar in Münster, die Anwartschaft auf ein keusches und gottwohlgefälliges Priestertum, auf daß er einst sprechen möge: »Ich bin ein guter Hirte und weide meine Schafe. Ich tränke sie morgens am Bronnen der Erkenntnis und führe sie auf den Anger der Duldsamkeit und den des Verzeihens. Ich lehre sie, dem Herrn zu geben, was des Herrn, dem Kaiser, was des Kaisers, auf daß sie nicht in Unrast geraten in diesem Tale der Tränen und dem der Anfechtungen.«

Ja, sein Arm reichte weit, aber seine Liebe noch weiter. So vergingen ihm und den Seinen die Tage, die Monde und Jahre, und während all dieser Zeit, bis zur heutigen Stunde – das kleine Sängerlein mit dem ziegelroten Brüstchen, das nämliche Sängerlein, das dem hingestreckten Hegemeister an seinem Totenbette das freie Waldlied gesungen hatte, lieblich wie Himmelschlüsselchen, duftig wie der Ruch der Veilchen unter Bocksdornhecken, war im Försterhause heimisch geblieben, teils im Freiflug, teils in seinem mit Tannengrün umgitterten Bauer. Heute hatte es Freiflug. Wie aus einem zarten Nebel heraus ließ es bei jeder Tageszeit seine glitzerfeine Stimme vernehmen. Leidvolles und Schmerzliches, Freudenreiches und Schönes, Vergangenes und Zukünftiges wirrte es bunt durcheinander. Es war wie das Klimpern von Rosenkranzperlen, wie das Weinen und Beten in einer Gnadenkapelle. Es war ein Sängerlein auf Selfkantpantoffeln und dann wieder ein solches mit klingenden Silberschellchen. Es ähnelte einem Märchenerzähler, einem Bringer der Freude, einem Träger der Unruhe, und Mutter Auwater hörte darauf, als tönten ihr Engelszungen zu, als redeten Geisterstimmen aus jenen Tagen heraus, die ihr nichts mehr zu sagen hatten ... und dennoch hatten sie ihr vieles zu sagen.

Ihre Hände schlossen sich fester zusammen, ihr Kopf sank nach vorne.

So ruhte sie lange.

Längst schon befand sich Frau Engelke Stappers auf der Chaussee, die in ihrem buntesten Herbstschmuck an den Rhein und nach Emmerich führte, als ein junger, riemiger Mann in grüner Farbe, die blauweißen Deckfederchen des Hähers am niedrigen Filz, dessen schmale Krempe die linke Ohrmuschel berührte, den Heckenweg heraufmarschierte, der von den Salweidenplantagen direkt auf die Landstraße führte.

Wäre Frau Engelke seines Kommens sicher gewesen, zweifelsohne hätte sie an der Kreuzung ein Viertelstündchen zugegeben, um auch ihm ihre wärmste Teilnahme mit allen nur möglichen Wünschen für die kommenden Tage ans warme Jägerherz zu betten.

Dem jungen Mann konnte es gleich sein.

Die Büchse geachselt, federnden Schrittes, scharfnasig, mit Augen, die an die eines Falken erinnerten, rollte er den Weg unter sich auf, als wären seine Schuhe beflügelt. Dabei pfiff er den ›Jäger aus Kurpfalz‹ mit dem herzhaften Ton einer preußischen Pickelpfeife, um das ›Halli, hallo! gar lustig ist die Jägerei‹ frohstimmig in Gottes weite Landschaft zu singen.

Wenn einem heute die Welt in Gold stand – ihm stand sie in Gold, zudem noch in leuchtender Maienblüte ... und mit dieser Welt in Gold und dieser leuchtenden Maienblüte unter dem Wams ging er seinem Heim und dem Försterhause entgegen. Als er sein wohlgepflegtes Gärtchen mit all seinen ergötzlichen Herbstblumen erreichte, das verschwiegene Gärtchen mit den gefiederten Astern, den hohen Goldruten, den buntscheckigen Georginen, ließ die Pickelpfeife noch einmal so munter die letzte Strophe ertönen:

»Nun sind wir in Kurpfalz. Wer aber gibt uns Mittagsbrot, Wer schenkt die Gläser voll Dem Jäger aus Kurpfalz? Halli, hallo ...«

Im Hausflur, woselbst allerlei seltsame Trophäen, wie zackige Geweihe von kapitalen Eigenbrötlern, Vogelbälge, Raritäten aus Wald und Flur, Auer- und Birkhähne mit ausgebreiteten Fächern, die weißgekalkte Wand schmückten, legte er Filz und Büchse ab.

Die eigenartige Stille des Hauses befremdete ihn.

»Nanu!«

Auf Zehenspitzen betrat er das Wohnzimmer.

Da sah er ...

Seine Mutter ruhte friedlich im Sessel, den Kopf vornübergebeugt, die arbeitsamen Hände gefaltet. Das Rotkehlchen saß ihr auf der Rückenlehne zu Häupten. Allerlei Bilder und Erinnerungen zwitscherte es in ihre Träume hinein. Es war ein Sängerlein auf Selfkantpantoffeln und dann wieder ein solches mit klingenden Silberschellchen. Es ähnelte einem Märchenerzähler, einem Bringer der Freude, einem Träger der Unruhe. Leidvolles und Schmerzvolles, Vergangenes und Zukünftiges, Schönes und Freudenreiches wirrte es bunt durcheinander.

Reiner trat naher heran und drückte ihr einen Kuß auf die Stirne.

»Mütterchen ...!«

»Ach Reiner ...!« und sie wischte sich ihren Schlaf aus den Augen. »All die Zeit, wo ich so eine kleine halbe Stunde hindurch abwesend war, habe ich mich mit dir und deinen Tagen beschäftigt.«

Sie glitt sich mit der Hand über die Stirne.

»Ich weiß es nicht, Reiner, wie es so kommt, aber ich muß immer an die Predigt vom letzten Sonntag denken, worin unser Herr Pastor so schön sagte: Ich möchte dir jegliches antun, um das Mutterherz und das des Sohnes mit einem dauernden Kettlein zu verschweißen, auf daß sie nebeneinandergehen wie aus der Hand Gottes gekommen. Ich möchte dir meine Liebe in goldenen Schalen reichen, aber viele unter euch wollen von der Liebe und den goldenen Schalen nichts wissen.«

Er sah sie betroffen an, nahm einen Stuhl und setzte sich dicht an ihre Seite.

»Wie meinst du das, Mutter?«

»Ach Gott, Reiner, wie soll ich das meinen? Mir geht so viel durch den Kopf, Liebes und Gutes, Freundliches und Unfreundliches, besonders in der jetzigen Stunde. Auch du hast deine Sorgen und Verdrießlichkeiten, deine Reviergänge und so ...«

»Der heutige ist prächtig verlaufen. Die Salweidenströpper haben das Mausen vergessen. Auch bin ich nicht auf Schlingen und sonstigen Unfug gestoßen.«

»Das ist ja recht erfreulich zu hören. Aber das mit der Liebe in goldenen Schalen! Alles um mich verschwindet. Ich sehe nur dich und Klemens. Aber dich sehe ich zu allen Stunden ... und da möchte ich fragen ...«

Sie nahm seine Hände.

»Reiner, du bist gestern da drüben gewesen, in Grieth, ohne mir darüber ein Wörtchen zu sagen.«

»Ja, Mutter, ich bin drüben gewesen.«

»Und hast auch Jakobine Hemskerk gesehen?«

»Das weißt du ...?«

In seinem Herzen begann es stärker zu pochen.

»Ja, Reiner, das weiß ich, und die es mir sagte, fügte erklärend hinzu: Grieth und Huisberden liegen nicht weit auseinander.«

»Nein, das liegen sie nicht.«

»Und hast auch mit dem alten Hemskerk geredet?«

»Mit Hemskerk – nein. Er war nach Duisburg-Ruhrort, um dort Ladung zu nehmen.«

»So?!« und ihre Hände drückten fester und inniger. »Aber mit Jakobine bist du versprochen?«

»Mutter ...!«

Sie hob ganz sachte die Hand und legte sie wieder auf die ihres Sohnes. Ihre Augen umschleierten sich, standen in einem hellen Wasser, das langsam niedersickerte.

»Ja, mit Jakobine bist du versprochen, so ganz aus heiterem Himmel herunter, obgleich ich mir immerzu dachte: bei so was hat auch eine Mutter ein kleines Wörtchen zu sagen. Das ist doch allzeit so Mode gewesen. Eine Mutter hat auch ihre Rechte.«

»Ja,« lächelte Reiner, »hat sie auch und soll sie auch haben.«

»Dann verstehe ich nicht. Die Welt ist anders geworden, und die Menschen sind gleichfalls anders geworden, obwohl ich mir einbildete, in unserem Hause wäre so was bis auf das letzte Tiftelchen beim alten geblieben; es ginge alles seinen richtigen Gang, ohne viel Komplimente und ähnliches aufzustellen, genau so wie es Vater in seiner aufrechten und geraden Weise besorgte, und nun muß ich sehen ... und bin doch immer des Glaubens gewesen, ohne mein Wollen und Wissen, ohne meine Zustimmung einzuholen, wird Reiner einen so ernsten Schritt nicht unternehmen, obgleich ich weiß, er wird dir niemals eine Unwürdige zuführen. Und dann noch ... Das Herz einer Mutter ist wie ein Buch mit stillen Geschichten und schönen Bildern. Man braucht nur die Blätter einzeln auf die andere Seite zu legen, um sich davon überzeugen zu lassen, denn aus diesen stillen Geschichten und schönen Bildern kann sich einer manches entnehmen. Ich denke dabei an so vieles. Besonders an die Liebe in goldenen Schalen. Sie versäumt nichts. Sie gibt keine Rätsel auf und ergeht sich nicht in Spitzfindigkeiten. Sie ist immer auf Wache. Schon mit dem jungen Morgen erhebt sie sich, um erst mit den späten Sternen schlafen zu gehen. Ihre Wesenseinheit ist Güte, ihre Sorge hat keine Zeit, müde zu sein. Sie kann Berge versetzen und Ströme ableiten. Das ist die Mutterliebe in goldenen Schalen. Das weißt du alles, und da du es weißt, hättest du zu mir kommen müssen, um mit mir dein Leid und deine heimliche Freude ehrlich zu teilen, bevor andere Leute ... Reiner, das hättest du sollen, denn man kann immer nicht wissen ...«

»Ja, Mutter, das hätte ich sollen. Aber nun höre mal zu,« und er legte seine starken Arme um sie her, zog sie an sich und begann leise zu sprechen: »Mutter, du kennst Jakobine und kennst auch den Alten, und da du ihn kennst, wirst du mir beipflichten: der Kapitän Hemskerk ist nicht von heute und gestern. Er hat nur ein einziges Kind zu vergeben. Das ist ihm wie der Apfel im Auge. Sich von diesem zu trennen, geht ihm so nahe, als würde ihm geboten, sich auf den Altenteil zu setzen und sein Steuer in andermanns Hände zu legen. Alle estimieren ihn. Sein Name wird bewertet von Mannheim bis tief ins Holländische hinein. Er und seine Schiffe haben 'nen ordentlichen Schritt unter Sohlen und Eichenplanken. Wo sie in Sicht kommen, da heißt es: Respekt vor Kapitän Hemskerk und seiner Navigation. Das sind Kerle mit Ärmel. Dabei hat er Rosinen im Sack, die er in ihrer Größe höher eintaxiert als Mirabellen und Eierpflaumen ... und wenn er den Tod noch nicht haben will, schickt er ihm 'nen Doktor mit langsamen Füßen entgegen. Das alles hat man in Rechnung zu ziehen ...« und nun erzählte er, wie die Zuneigung so allmählich gekommen, wie es um ihn und Jakobine stände, wie er ihr Jawort erhalten, sie sich unverbrüchliche Treue gelobt hätten bis zu ihrem gottwohlgefälligen Ableben. So habe er sich denn gestern kurzerhand entschlossen, den Schritt zu wagen und den herben und selbstherrlichen Kapitän um die Hand seiner Tochter zu bitten. Mit dem frühesten sei er denn auch nach Grieth aufgebrochen, um sich sein Glück zu erkämpfen, leider, ohne Hemskerk anzutreffen. Der befände sich zurzeit in Duisburg-Ruhrort, damit beschäftigt, schwere Zuckerladungen zu verfrachten, sie rheinabwärts bis nach Rotterdam zu führen. Jakobine ginge morgen oder übermorgen dorthin, willens, mit ihrem Vater 'ne vierzehntägige Reise nach Holland zu unternehmen. Dabei würde sie Gelegenheit finden, alles bestens vorzubereiten und seiner Bewerbung die Wege zu ebnen, denn er, der Vater, besäße schon 'ne gehörige Portion Nucken und Raupen unter den Ankerknöpfen ... »und nun,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, indem er die Mutter inniger umarmte, »wirst du verstehen, warum ich dir gegenüber nicht anders handeln konnte und durfte, weshalb ich erst später ...«

»Ach Reiner ...!«

»Ja – du ...!« gab er beseligt zurück, »die Mutterliebe ist schon eine Liebe in goldenen Schalen, und diese Mutterliebe wollte ich wahrhaft beglücken, aber erst dann wollte ich kommen, erst dann dir die Botschaft ans Herz legen, wenn ich mit gutem Gewissen sagen durfte: Ich habe nicht nur Jakobine, sondern auch ihren Vater gefunden.«

»Ach Reiner, Reiner! und das kann in vierzehn Tagen geschehen?«

Ihre Augen flackerten.

»Mutter, ich hoffe zu Gott: der Tag bricht früher herein.«

»Und glaubst du, daß Hemskerk ...?«