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So sehr deshalb jene Männer unserer persönlichen Achtung gewiss sein dürfen, welche ihre Lebenskraft diesen hochwichtigen Bestrebungen widmen, so ist es dennoch die Frage, ob die Behauptung der historischen Kontinuität im strengen Sinne in unserer Lage denn überhaupt möglich sei, oder ob wir nicht am Ende an einem jener Punkte in der Geschichte stehen, wo eine großartige Idee alle Phasen ihrer Entwickelung durchlaufen hat und unwiderruflich dazu verurteilt ist, zugunsten neu eintretender leitender Ideen vom Schauplatz abzutreten, wenngleich nicht ohne einige ihrer wichtigsten Bestandteile in die neue Entwickelungsphase zu übertragen und mit den übrigen als Dünger für das neu aufsprossende Leben zu dienen. Die historische Kontinuität im weiteren Sinne würde auch in letzterem Falle gewahrt bleiben, wenn schon der Bruch mit den maßgebenden Prinzipien des Alten und die Aufnahme bisher draußen stehender, vielleicht fernher geholter befruchtender Keime immer etwas Sprungweises, Revolutionäres hat. Inhaltsverzeichnis Vorwort zur dritten Auflage Umbildung oder Neubildung? Die geschichtliche Aufgabe des Protestantismus Christentum und moderne Kultur Das paulinische und johanneische Christentum Das Christentum Christi Die Unchristlichkeit des liberalen Protestantismus Die Irreligiosität des liberalen Protestantismus Die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Weltreligion Die historischen Bausteine der Religion der Zukunft
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Seitenzahl: 143
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Die Selbstzersetzung des Christentums
und
Die Religion der Zukunft
Eduard von Hartmann
Verlag Heliakon
Titel: Die Selbstzersetzung des Christentums und Die Religion der Zukunft
Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon
Vertrieb: ePubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Titelbild: „First Day of Creation“
© 2024 Verlag Heliakon
www.verlag-heliakon.de
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Title Page
Vorwort zur dritten Auflage
Umbildung oder Neubildung?
Die geschichtliche Aufgabe des Protestantismus
Christentum und moderne Kultur
Das paulinische und johanneische Christentum
Das Christentum Christi
Die Unchristlichkeit des liberalen Protestantismus
Die Irreligiosität des liberalen Protestantismus
Die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Weltreligion
Die historischen Bausteine der Religion der Zukunft
Beim Erscheinen der dritten Auflage dieser Schrift bin ich in der günstigen Lage, auf meine inzwischen veröffentlichten religionsphilosophischen Arbeiten verweisen zu können. Es sind dies 1) die Krisis des Christentums in der modernen Theologie, 1. Auflage 1880, 2. Auflage 1888; 2) Das religiöse Bewusstsein der Menschheit im Stufengange seiner Entwicklung, 1. Auflage 1882,2. Auflage 1888; 3) Die Religion des Geistes, 1. Auflage 1882, 2. Auflage 1888, — letztere beiden in der zweiten Auflage zusammengefasst unter dem Titel „Religionsphilosophie“.
In der „Krisis des Christentums“ habe ich mich mit einigen hervorragenden neueren Theologen auseinandergesetzt und zu konstatieren versucht, dass die von mir behauptete Selbstzersetzung des Christentums wirklich in vollem Gange sei und sogar bereits an einen kritischen Punkt gelangt sei. Insbesondere die erste Abhandlung in der genannten Schrift: „Das christliche Zentraldogma und seine unheilbare Auflösung“, welche die geschichtliche Selbstzersetzung der Christologie und die Vergeblichkeit der modernen theologischen Rettungsversuche vor Augen führt, bildet eine unmittelbare Fortsetzung und unentbehrliche Ergänzung zur „Selbstzersetzung des Christentums“.
„Das religiöse Bewusstsein der Menschheit im Stufengange seiner Entwicklung“ enthält die nähere, geschichtlich begründete Ausführung des IX. Abschnitts der vorliegenden Schrift, welcher die Überschrift trägt: „die historischen Bausteine der Religion der Zukunft“. Bei dem Erscheinen der ersten und zweiten Auflage der „Selbstzersetzung des Christentums“ haben die Gegner über diesen Schlussabschnitt nur gespottet, und selbst diejenigen, welche der Schrift im Ganzen mit Wohlwollen und Zustimmung entgegenkamen, betrachteten den Schluss als einen paradoxen, kaum ernst gemeinten Einfall. „Das religiöse Bewusstsein der Menschheit“ hat des näheren dargetan, dass meine Auffassung der Religionsgeschichte als einer aufsteigenden Entwicklung ebenso wenig ein unbegründeter Einfall war, wie meine Behauptung, dass die letzte und höchste Phase, auf welche die bisherige konvergierende Entwicklung hinweist, eine Synthese der indischen und christlichen Religion sein müsse. Auch meine Aufstellung, dass nicht Jesus von Nazareth, sondern Paulus der Begründer des Christentums sei, wird in dem Buch über das religiöse Bewusstsein der Menschheit genauer begründet und hat seither von theologischer Seite, wenn auch natürlich nicht unumwundene Zustimmung, so doch eine weniger schroffe Ablehnung erfahren, da die nüchterne, geschichtliche Auffassung der Tatsachen auch in diesen Kreisen zusehends an Boden gewinnt.
„Die Religion des Geistes“ hat endlich die theoretischen Grundzüge einer religiösen Weltanschauung entwickelt, aufgrund deren eine solche Religion der Zukunft sich ausbilden könnte. Sie hat den Beweis geliefert, dass es mir durchaus nur um positive Aufstellungen zu tun ist, und dass Kritik und Negation für mich niemals Selbstzweck, sondern bloß Durchgangspunkte zu einem Positiven bilden, das nur aus der objektiven immanenten Vernunft der Geschichte und aus der Logik der psychologischen Tatsachen, aber nicht etwa aus individueller Willkür und subjektiven Einfällen zu schöpfen ist. Dieser mein Standpunkt war schon aus der ersten Auflage der vorliegenden Schrift für einen aufmerksamen Leser unschwer zu entnehmen, und bezeichnet keineswegs einen erst später von mir vollzogenen Fortschritt. Aber das Publikum, welches für die „Religion der Zukunft“ nur ein Achselzucken hatte und sich ausschließlich an die „Selbstzersetzung des Christentums“ hielt, sah damals nur die Negativität meiner Stellung gegen das historische Christentum und verkannte vollständig den Ernst meiner positiven Tendenzen, für deren Entfaltung ich zunächst durch die Kritik des Bestehenden Raum gewinnen musste. Meine „Religionsphilosophie“, welche dieses Missverständnis beseitigen musste, hat bis jetzt nicht eine solche Verbreitung erlangt wie die in zwei starken Auflagen abgesetzte „Selbstzersetzung des Christentums“, so dass noch immer theologische Schriften erscheinen, die meine Ansichten bloß auf Grund der letzteren bekämpfen, ohne von der Existenz der ersteren eine Ahnung zu haben. Am meisten hat mich aber die erste Hälfte des Titels bei solchen Anhängern des Christentums in Verruf gebracht, welche von dieser Schrift nichts als den Titel kannten. Zufällig rührt derselbe nicht einmal von mir her, sondern von dem Verleger der ersten Auflage, welchem die für die vorläufige journalistische Veröffentlichung gewählte Überschrift „Zur religiösen Frage“ zu farblos schien.
Wenngleich meine Religionsphilosophie für philosophische Leser als die Maßgebende systematische Darstellung meiner bezüglichen Ansichten zu bevorzugen ist, so dürfte die nachfolgende Schrift ihrer leichteren Schreibart wegen für Laien doch mehr zu empfehlen sein, insbesondere zur ersten Einführung in den Gedankenkreis, welcher in meinen späteren Schriften durchmessen wird.
Berlin-Lichterfelde, im Juni 1888.
Eduard von Hartmann
Wohl selten hat es eine irreligiösere Zeit gegeben als die unsere, und dennoch haben nicht oft die religiösen Fragen eine Zeit tiefer bewegt als gerade jetzt. Wir kommen her aus einer Periode, wo der Indifferentismus sich paarte mit einem gewohnheitsmäßigen Schlendrian des Festhaltens am Überkommenen, wo die religiöse Lauheit die Unbrauchbarkeit der überlieferten Religionsformen für den modernen Zeitgeist ignorierte. Unsre Väter waren gerade konservativ genug, um den Kirchenbesuch in der Ordnung zu finden, und gerade aufgeklärt genug, um über den Gedanken zu lächeln, dass jemals noch religiöse Fragen das Herz des Volkes zu wilder Leidenschaft sollten entflammen können; sie waren sich aber dieses Widerspruchs in ihrem Verhalten nicht bewusst.
Inzwischen hat die theologische, historische und philosophische Kritik rastlos weiter gearbeitet (ich nenne nur Schopenhauer, Strauss und Feuerbach), und der moderne Zeitgeist sich ungestüm fortentwickelt; beides zusammen drängte immer unausweichlicher die Einsicht auf, dass die traditionellen Religionsformen in ihren wesentlichsten Punkten unerträglich mit unserer gesamten Weltanschauung geworden seien. Auf der andern Seite bewiesen zwei Erscheinungen, wie irrtümlich der Glaube des aufgeklärten Indifferentismus an die Machtlosigkeit und Entbehrlichkeit der Religion für das Volksgemüt gewesen sei: die katholische Kirche erhob sich in Staunen und schreckenerregender Gewalt und bewies, wie sehr sie noch imstande sei, die Massen zu fanatisieren, wenn sie dieses Ziel energisch und konsequent verfolgt, und als Gegenstück zeigte uns die nackte Bestialität der Sozialdemokratie in ihrem kosmopolitischen Jubel über die Gräuel der Pariser Commune, bis, zu welchem Grade der Rohheit das Volk gelangt, wenn ihm mit der Religion die einzige Gestalt abhandenkommt, in welcher ihm der Idealismus zugänglich ist.
Wer das Volk zu einer höheren Bildungsstufe erzogen wissen wollte, musste nach solchen augenscheinlichen Beweisen einsehen, dass die Religion als Haupterziehungsmittel zu einer idealen Weltanschauung demselben unentbehrlich sei, dass, wenn der Kulturfortschritt dieses Moment außer Acht lassen zu können glaube, er dadurch nur dem Überwuchern kulturfeindlicher, die Religion zum Deckmantel nehmender Tendenzen Vorschub leiste, und dass doch wiederum die Religion in Gestalt der überlieferten Konfessionen unfähig sei, als Träger einer geistigen Kultur zu dienen, der sie in ihren Grundprinzipien feindlich gegenübersteht.
Aus dieser Sachlage entspringt die Dringlichkeit der religiösen Frage, und der Eifer, mit welchem von so vielen Seiten daran gearbeitet wird, eine solche Religion zu gewinnen, welche mit dem modernen Zeitgeist und den Zielen der modernen Kulturentwicklung im Einklang stehe und dadurch zur Erfüllung ihrer Aufgabe der idealen Volkserziehung brauchbar sei. Es ist naturgemäß, dass diese Bestrebungen sich an die überlieferten Religionen anschließen, teils, weil es ein gewagtes und unausführbares Unternehmen wäre, ganz von vorn anzufangen, teils, weil die geschichtliche Kontinuität sich dem modernen Bewusstsein als ein unersetzlich wertvolles Gut aufgedrängt hat, um dessen Erhaltung willen die größten zulässigen Konzessionen nicht zu groß erscheinen dürfen.
So sehr deshalb jene Männer unserer persönlichen Achtung gewiss sein dürfen, welche ihre Lebenskraft diesen hochwichtigen Bestrebungen widmen, so ist es dennoch die Frage, ob die Behauptung der historischen Kontinuität im strengen Sinne in unserer Lage denn überhaupt möglich sei, oder ob wir nicht am Ende an einem jener Punkte in der Geschichte stehen, wo eine großartige Idee alle Phasen ihrer Entwickelung durchlaufen hat und unwiderruflich dazu verurteilt ist, zugunsten neu eintretender leitender Ideen vom Schauplatz abzutreten, wenngleich nicht ohne einige ihrer wichtigsten Bestandteile in die neue Entwickelungsphase zu übertragen und mit den übrigen als Dünger für das neu aufsprossende Leben zu dienen. Die historische Kontinuität im weiteren Sinne würde auch in letzterem Falle gewahrt bleiben, wenn schon der Bruch mit den maßgebenden Prinzipien des Alten und die Aufnahme bisher draußen stehender, vielleicht fernher geholter befruchtender Keime immer etwas Sprungweises, Revolutionäres hat.
Da indessen alle Reformen, alle neu eintretenden Entwicklungsphasen innerhalb eines und desselben Entwicklungszyklus gleichfalls mehr oder weniger durch das Einsetzen neuer Ideenkeime entstehen, und da andrerseits auch beim Abschluss eines alten und Beginn eines neuen Entwicklungszyklus die neuen befruchtenden Ideen nicht vom Himmel fallen, sondern irgendwoher aus der bisherigen Kulturentwicklung genommen werden, so sieht man, dass schließlich beide Fälle sich doch wieder nur graduell unterscheiden, d. h., dass ihr Unterschied wesentlich in dem relativen Maß von Bedeutung liegt, welches die aus der bisherigen gradlinigen Entwicklung beibehaltenen, und welches die von seitwärts her in die Entwickelung neu hereingenommenen Elemente beanspruchen. Wer unter diesem Gesichtspunkt die Parallelen zieht zwischen der Entstehung des Buddhismus aus dem Brahmanismus und der Reformation einerseits, und zwischen ersterer und der Entstehung des Christentums aus dem Judentum andrerseits, der wird verstehen, was ich meine.
Immerhin aber wäre es ein Irrtum zu glauben, dass solcher graduelle Unterschied eine qualitative Differenz ausschließe; es ist überall so in der Natur, dass graduelle Unterschiede, die ein gewisses Maß überschreiten, sich als qualitative Differenzen bemerkbar machen (man denke z. B. an den Unterschied von Tier- und Menschenseele), und unter Umständen sogar einen sprungweißen Umschlag der Qualität herbeiführen (man denke an den Wechsel des Aggregatzustandes bei gradueller Zu- oder Abnahme der Temperatur). So kann bis zu einem gewissen Grade des Hinzutritts neuer Ideenkeime bei Ausscheidung abgenutzter Elemente die historische Kontinuität der Entwickelung im engeren Sinne gewahrt erscheinen, während bei Überschreitung eines bestimmten Grades der Bruch mit dem Alten und der Beginn der Herrschaft, eines Neuen eklatant wird.
Wenden wir diese Betrachtung auf den Entwicklungsgang der christlichen Idee an, so lautet die Frage, ob nicht gegenwärtig sich bereits die Notwendigkeit herausgestellt hat, so viel von dem Alten auszuscheiden, dass der übrig bleibende Rest zu dürftig geworden ist, um noch als Religion zu erwärmen und zu begeistern, und ob nicht die notwendig gewordene Ausscheidung gerade solche Grundsteine des christlichen Glaubens betroffen hat, dass einem die Lust vergehen, muss ein so seiner Grundfesten beraubtes Gebäude zu bewohnen, solange nicht die herausgenommenen Grundsteine durch andere, neue ergänzt sind. Die vorangeschickten Erwägungen über die Notwendigkeit einer Religion überhaupt und die Unmöglichkeit des Festhaltens an einer der modernen Kulturentwicklung feindlichen Religion mag manchen redlich um das Wohl der Menschheit Besorgten so sehr in humane Beklemmungen versetzen, dass er, wenn er von seinem Standpunkt aus noch keinen Ersatz der herausgerissenen Pfeiler durch neue sieht, sich wohl gern in die Täuschung wiegen mag, das so seiner Stützen beraubte Haus sei immer noch wohnlich genug, um die Vorübergehenden zum Eintritt einzuladen. Eine solche Selbsttäuschung wird wie gesagt unsere persönliche Achtung vor dem redlichen Streben jener Männer nicht verringern, aber die wissenschaftliche Ehrlichkeit zwingt jeden, dessen Intellekt nicht in gleichem Maße unter dem fälschenden Einfluss des Willens steht, sich einer solchen Selbsttäuschung zu erwehren, und lieber die unwohnliche Dürftigkeit des allerwärts vom kritischen Zeitbewusstsein durchlöcherten und zerfressenen religiösen Gebäudes sich offen einzugestehen, in der Hoffnung, dass grade die deutlich erkannte Unzulänglichkeit und der brennende Mangel der schärfste Sporn zum Forschen und zur Umschau nach anderweitigen religiösen Ideen werden müsse, welche die abgenutzten zu ersetzen und wo möglich zu übertreffen fähig seien.
Wenn ein vormals reicher Mann bankerott geworden, so tut er nicht wohl, sich selber und seine Familie mit unhaltbaren Vorspiegelungen von gerettetem Wohlstand hinzuhalten, sondern er wird immer noch am weitesten kommen, wenn er seine armselige Lage nimmt, wie sie wirklich ist, um durch desto ernstere vereinte Arbeit sich möglichst bald wieder aufzuraffen. Es scheint daher wichtig, unser Kapitalkonto an christlich-religiösem Besitz genauer zu betrachten und uns klar zu machen, wie sich unser gegenwärtiger Besitzstand einerseits zu dem Reichtum, dessen traurige Reste er bildet, und andrerseits als Deckung zu unsern religiösen Lebensbedürfnissen verhält.
Um jedem Missverständnis vorzubeugen, bemerke ich noch ausdrücklich, dass es keineswegs meine Absicht ist, an dieser Stelle gegen die Grunddogmen des positiven Christentums zu polemisieren; ich wende mich hier nur an solche Leser, welche die Kritik der letzteren bereits hinter sich haben, um mit ihnen zu beratschlagen, ob vielleicht der liberale Protestantismus, wie er behauptet, einen Ersatz für das Verlorene zu gewähren imstande ist, beziehungsweise ob und nach welcher Richtung sonst etwa ein solcher Ersatz zu suchen sei.
Will man den modernen liberalen Protestantismus in seinem innersten Wesen verstehen, so muss man sich vor allem darüber klar werden, dass diese Richtung keineswegs bloß ein Einfall von einzelnen Personen ist, der zufällig bei mehreren Beifall gefunden hat, sondern dass dieselbe die ebenso notwendige Konsequenz des in der Reformation zum Durchbruch gelangten protestantischen Prinzips bildet, wie die päpstliche Unfehlbarkeit die folgerichtige Spitze des katholischen Prinzips darstellt.
Der Katholizismus verlangt Einheit des Glaubens in allen wesentlichen Stücken; was aber wesentlich und was unwesentlich sei, bestimmt er selbst als Kirche, und überlässt diese Bestimmung keineswegs dem Urteil des Einzelnen, weil dadurch sofort der Divergenz der Glaubensmeinungen Tür und Tor geöffnet wäre. Die Grundlage des Glaubens bilden ihm wie der evangelischen Kirche die unfehlbaren kanonischen Bücher; da aber die Auslegung derselben streitig werden kann, so muss zur Wahrung der Einheit des Glaubens notwendig eine inappellable Auslegungsinstanz vorhanden sein. Wäre diese mit bloß menschlicher Einsicht begabt, so wäre das Opfer des Intellekts denn doch eine zu starke Anforderung; aber die katholische Kirche nimmt nicht mit Unrecht an, dass es ganz ebenso im Interesse des Heiligen Geistes liegen müsse, die inappellablen Ausleger der kanonischen Schriften wie die Verfasser derselben zu inspirieren, und dass eine geistverlassene Kirche, die nur vor Jahrtausenden einmal inspirierte Bekenner besass, ein recht klägliches Ding wäre. Muss aber an die Inspiration der inappellablen Auslegungsinstanz geglaubt werden, so ist es nicht nur überflüssig, den Heiligen Geist mit Inspiration eines ganzen Konzils statt einer einzelnen Person zu inkommodieren, sondern es ist auch störend, dass die Minorität des Konzils der Gnade der Inspiration entbehrt; daher ist es ganz folgerichtig, das jeweilige Oberhaupt der Kirche als inappellable Auslegungsinstanz anzusehen, da die Einheit des Glaubens nicht besser als durch Einköpfigkeit aller Glaubensentscheidungen gewahrt werden kann. Gilt der Papst einmal als Nachfolger Petri, so ist nicht einzusehen, warum er nicht ebenso gut soll unfehlbar inspirierte Bullen schreiben können, wie Petrus unfehlbar inspirierte Episteln schrieb, — obgleich er nur ein ungebildeter Fischer war. Deshalb ist die päpstliche Unfehlbarkeit die längst geforderte Krönung für die Glaubenseinheit des Katholizismus, und alles Gerede gegen dieselbe ist sinnlos im Munde derer, die den Papst als Nachfolger Petri und Petrus als Verfasser unfehlbar inspirierter Episteln ansehen.
Wer hingegen die Unfehlbarkeit der Kirche und die Möglichkeit unfehlbarer Inspiration in der Gegenwart leugnet, wer sich weigert, das Opfer des Intellekts zu bringen, d. h. seine reiflich erwogene zweifellose persönliche Überzeugung den Lehrentscheidungen der Kirche unterzuordnen, wer mit einem Wort gegen die absolute dogmatische Autorität der Kirche protestiert und sich das Recht der freien Forschung und der religiösen Gewissensfreiheit wahrt, der wird kaum umhin können, auch den Glauben an die unfehlbare Inspiration der Verfasser der kanonischen Schriften fallen zu lassen. Wer von der Unmöglichkeit des Wunders für die Gegenwart überzeugt ist, spielt jedenfalls eine wunderliche Rolle, wenn er dessen Möglichkeit für die Zeit vor 1800 Jahren aufrechterhält.
Die Reformatoren merkten es gar nicht, dass ihr Glaube an die Unfehlbarkeit der kanonischen Schriften, den sie mit der Muttermilch eingesogen hatten, ganz ausschließlich auf dem Glauben an die ihn bezeugende Unfehlbarkeit der Kirche und der kirchlichen Tradition beruhte; weil der Glaube an die Unfehlbarkeit der Schrift ihnen persönlich in Fleisch und Blut übergegangen war, darum ahnten sie gar nicht, dass sie mit dem Protest gegen die Unfehlbarkeit der Kirche und Tradition den Boden des ersteren unterhöhlten, dass sie mit ihm den ersten Stein aus dem fest gefügten Gebäude der Hierarchie herausrissen, dem notwendig unter dem Einfluss der Zeit Stein vor Stein abbröckelnd nachstürzen musste. Sie erhoben auf der einen Seite das protestantische Prinzip der freien Forschung und Gewissensfreiheit auf ihren Schild, und glaubten auf der andern Seite den Fluss der so eingeleiteten Desorganisation des Dogmas durch willkürlich gezogene Schranken, durch Menschensatzungen ihres Gutdünkens und Pochen auf ihren dogmatischen Rest eindämmen zu können, wähnend, dass die Menschen sich solchen Willkürsatzungen als unüberschreitbaren Schranken fügen würden, nachdem einmal die unfehlbare, auf gegenwärtiger Inspiration beruhende Autorität der Kirche zerstört war.1