Die seltsamsten Orte der Antike - Martin Zimmermann - E-Book

Die seltsamsten Orte der Antike E-Book

Martin Zimmermann

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Beschreibung

Vergessen Sie alles, was Sie über die Antike zu wissen glauben – und freuen Sie sich auf eine Reise zu Gärten der Liebe und uralten Bibliotheken des Orients, zu goldenen Pferdeställen im pharaonischen Ägypten und Geisterhäusern in Athen, zu Piratenstädten im Gebirge und zum Mittelpunkt der Welt! Jenseits des Forum Romanum un d der Akropolis gibt es Orte, von denen kein Lateinlehrer je erzählt hat. Zu ihnen gehört das einst mächtige Eridu, im Bewusstsein der Sumerer die Urstadt der Welt, ebenso wie Megalopolis, das so fremd anmutet wie die leerstehenden Megacitys im heutigen China. Aber auch das Grabmal der ägyptischen Herrscherin Kleopatra in Alexandria – Symbol einer der größten Liebesgeschichten der Menschheit – ist eine dieser seltsamen Stätten, die es kennenzulernen lohnt. Das Gleiche gilt für die Stadt der Elefanten im Nahen Osten, wo Zehntausende von Tieren gezüchtet wurden, weil die umliegenden Königreiche ihre Heere damit ausstatten wollten. Und dann warten auf uns rätselhafte Plätze einer fernen Vergangenheit, wo verstörende Rituale gepflegt wurden wie im Heiligtum der Gula in Isin oder in jener Stadt in Gallien, wo die Kelten Totenschädel erschlagener Feinde in ihre Haustüren einpassten, die noch heute zu sehen sind. Zu diesen und vielen weiteren Orten einer unbekannten Antike führt Martin Zimmermann, einer der besten Kenner des Altertums, in seinem ebenso klugen wie unterhaltsamen Buch.

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Martin Zimmermann

Die seltsamsten Orte der Antike

Gespensterhäuser, Hängende Gärtenund die Enden der Welt

Mit Illustrationen vonLukas Wossagk

C.H.BECK

Zum Buch

Vergessen Sie alles, was Sie über die Antike zu wissen glauben, und freuen Sie sich auf eine ungewöhnliche Reise zu seltsamen Stätten der Liebe und zu uralten Bibliotheken, zu goldenen Pferdeställen und Grabmälern mythischer Herrscher, zum Mittelpunkt der Welt und sogar auf einen Abstecher in die Unterwelt!

Jenseits des Forum Romanum und der Akropolis in Athen gab es Orte in der Antike, von denen selbst nur wenige Fachleute einmal gehört, geschweige denn sie einmal besucht haben. Zu ihnen gehören beispielsweise die Überreste des Turms von Babylon, Etemenanki, der als biblischer Mythos die Phantasie der Maler und Literaten inspiriert hat, und Antinoopolis – jene Stadt, die einst Kaiser Hadrian der Erinnerung an seinen jugendlichen Geliebten geweiht hat, der allzu früh ein geheimnisumwittertes Ende fand. Doch wenn wir uns bei diesen Plätzen noch auf halbwegs vertrautem Terrain bewegen, so wird es vollends seltsam, wenn wir die Hunde der Göttin Gula im altorientalischen Isin besuchen oder das Piratennest Olympos im lykischen Gebirge. Regelrecht verstörend sind schließlich Orte wie die Gemonische Treppe, die Augustus anlegen ließ, um die Leichen ganz besonderer Feinde schänden zu lassen, oder die keltische Siedlung Entremont, deren Bewohner einen eigentümlichen Schädelkult mit den Köpfen ihrer erschlagenen Gegner pflegten. Aber auch Plätze wie die Porta Triumphalis in Rom, durch die Sieger wie Besiegte ihrem Schicksal entgegengingen, oder die Umgebung des Kolosseums, wo die Käfige jener Tiere standen, die am folgenden Tag auf ihre Opfer trafen oder selbst Opfer wurden, führen uns vor Augen wie fremd uns diese Welt ist.

Zu diesen und vielen weiteren seltsamen Orten begleitet uns Martin Zimmermann, einer der besten Kenner des Altertums, in seinem ebenso klugen wie unterhaltsamen Buch. Er erhellt Aspekte der Vergangenheit, die meist unbeachtet bleiben und doch viel über das Leben der Menschen verraten. So legt er mit diesem Buch zugleich auch eine andere Kultur- und Mentalitätsgeschichte einer in Wahrheit nur scheinbar vertrauten Antike vor.

Über den Autor

Martin Zimmermann ist Professor für Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von demselben Autor sind im Verlag C. H.Beck lieferbar: Kaiser und Ereignis (Vestigia, 1999); Pergamon (2011); Divus Augustus. Der erste römische Kaiser und seine Welt (zusammen mit W. Stroh und R. von den Hoff, 2014)

Der Illustrator

Lukas Wossagk ist als freiberuflicher Illustrator tätig, unter anderem auch für Projekte der Stadt München.

Inhalt

Einleitung

1.: Die Anfänge und die Mittelpunkte der Welt

Eridu – Urstadt der Menschheit – 30° 49ʹ 33.77ʺ nördlicher Breite; 45° 59ʹ 41.11ʺ östlicher Länge

Hisarlık – eine Ruine wird Troia – 39° 57ʹ 26.56ʺ nördlicher Breite; 26° 14ʹ 19.73ʺ östlicher Länge

Das Adyton in Delphi – der Nabel der Welt – 38° 28ʹ 56.23ʺ nördlicher Breite; 22° 30ʹ 4.42ʺ östlicher Länge

Eine kleine Erdgrube in Rom – 41° 53ʹ 33.9ʺ nördlicher Breite; 12° 29ʹ 04.5ʺ östlicher Länge

2.: Geisterstädte

Etemenanki – ein Teich in Babylon – 32° 32ʹ 10.49ʺ nördlicher Breite; 44° 25ʹ 15.07ʺ östlicher Länge

Helike – die Stadt im Meer – 38° 13ʹ 17.54ʺ nördlicher Breite; 22° 8ʹ 39.40ʺ östlicher Länge

Atarneus – im Schatten einer Königsresidenz – 39° 4ʹ 55.16ʺ nördlicher Breite; 26° 57ʹ 40.26ʺ östlicher Länge

Olympos – das Piratennest – 36° 21ʹ 8.83ʺ nördlicher Breite; 30° 29ʹ 18.01ʺ östlicher Länge

3.: Orte der Sieger

Medinet Habu – das Millionenjahrhaus Ramses’ III. – 25° 43ʹ 10.41ʺ nördlicher Breite; 32° 36ʹ 2.92ʺ östlicher Länge

Das Siegesmal des Pompeius – 42° 27ʹ 18.13ʺ nördlicher Breite; 2° 51ʹ 15.81ʺ östlicher Länge

Die Porta Triumphalis – das Tor der Sieger – 41° 53ʹ 33.20ʺ nördlicher Breite; 12° 28ʹ 41.89ʺ östlicher Länge

Ein Tropaion in München – Mahnmal des Sieges – 48° 8ʹ 42.13ʺ nördlicher Breite; 11° 33ʹ 53.76ʺ östlicher Länge

4.: Orte der Liebe

Der Hängende Garten – eine babylonische Liebe

Das Grab der Kleopatra

Antinoopolis – die Stadt des Geliebten – 27° 47ʹ 45.98ʺ nördlicher Breite; 30° 53ʹ 45.45ʺ östlicher Länge

Ein Altar für römische Ehepaare – 41° 53ʹ 26.76ʺ nördlicher Breite; 12° 29ʹ 24.46ʺ östlicher Länge

5.: Jenseits des Alltags

Das Handelsschiff

Die ältere Akademie Platons – 37° 59ʹ 32.84ʺ nördlicher Breite; 23° 42ʹ 20.73ʺ östlicher Länge

Ein Festpavillon

Hölzerne Tierkäfige – 41° 53ʹ 24.76ʺ nördlicher Breite; 12° 29ʹ 32.03ʺ östlicher Länge

6.: Orte des Krieges

Feindesland in Rom – 41° 53ʹ 32.20ʺ nördlicher Breite; 12° 28ʹ 47.66ʺ östlicher Länge

Apameia-am-Axios – die Stadt der Elefanten – 35° 25ʹ 10.90ʺ nördlicher Breite; 36° 24ʹ 6.58ʺ östlicher Länge

Mazaka – eine Stadt als Feldlager? – 38° 42ʹ 17.90ʺ nördlicher Breite; 35° 29ʹ 28.64ʺ östlicher Länge

Vindolanda – Alltagsleben soldatischer Brüder – 54° 59ʹ 28.12ʺ nördlicher Breite; 2° 21ʹ 39.05ʺ westlicher Länge

7.: Mythische Orte und Orte des Göttlichen

Der Schwesternbalken – ein unverstandener Kultort – 41° 53ʹ 33.27ʺ nördlicher Breite; 12° 29ʹ 23.57ʺ östlicher Länge

Die Hunde der Gula in Isin – 31° 53ʹ 6ʺ nördlicher Breite; 45° 16ʹ 7ʺ östlicher Länge

Das Serapeion bei Saqqara (Memphis) – der Einsiedler und sein Zwillingspaar – 29° 52ʹ 30.05ʺ nördlicher Breite; 31° 12ʹ 42.60ʺ östlicher Länge

Ionopolis (Abonuteichos) – das betrügerische Orakel – 41° 58ʹ 32.94ʺ nördlicher Breite; 33° 45ʹ 27.87ʺ östlicher Länge

8.: Orte des Wissens

Die Bibliothek Assurbanipals in Ninive – 36° 21ʹ 57.4ʺ nördlicher Breite; 43° 09ʹ 32.1ʺ östlicher Länge

Skepsis – die seltsamste Bibliothek für die bedeutendsten Denker – 39° 49ʹ 31.9ʺ nördlicher Breite; 26° 41ʹ 16.8ʺ östlicher Länge

Die goldene Nilelle im Serapeion Alexandrias – 31° 10ʹ 54.88ʺ nördlicher Breite; 29° 53ʹ 47.46ʺ östlicher Länge

Eine Latrine in Salamis auf Zypern – ein seltsamer Ort der besseren Gesellschaft – 35° 11ʹ 10.26ʺ nördlicher Breite; 33° 54ʹ 8.82ʺ östlicher Länge

9.: Orte des Grauens und des Todes

Das Gespensterhaus in Athen

Die Gemonische Treppe – im Schatten Achills – 41° 53ʹ 34.79ʺ nördlicher Breite; 12° 29ʹ 4.01ʺ östlicher Länge

Entremont – keltische Kopftrophäen – 43° 33ʹ 7.18ʺ nördlicher Breite; 5° 26ʹ 21.11ʺ östlicher Länge

Anchiale – das Grab des Sardanapal – 36° 48ʹ 4.30ʺ nördlicher Breite; 34° 36ʹ 14.84ʺ östlicher Länge

10.: Die Enden der Welt

Alexandria Eschate – Stadtgründung am Rande der Welt – 40° 16ʹ 40.81ʺ nördlicher Breite; 69° 38ʹ 27.66ʺ östlicher Länge

Thule – die Insel im Nordmeer

Tore zum Hades

Das Heilige Vorgebirge – letzter Fels am Atlantik – 37° 1ʹ 22.49ʺ nördlicher Breite; 8° 59ʹ 44.08ʺ westlicher Länge

Epilog

Literatur

Danksagung

Für Max, Jannis, Jakob, Helene, Antonia, Francesca, Caterina und Viola

Einleitung

Die Antike war eine Blütezeit von Siedlungen unterschiedlicher Art. Ihre Zahl scheint beinahe grenzenlos gewesen zu sein. Als vor einigen Jahren Wissenschaftler an den Universitäten in New York und Chapel Hill in North Carolina gemeinsam begannen, diese in einer digitalen Karte zu markieren, benannten sie das Projekt nach dem Sternbild Pleiades. Der Name bezeichnet treffend, was man bei einem Blick auf die Karte mit mittlerweile nahezu 36.000 Orten – deren Zahl aber täglich weiterwächst – vor Augen zu haben glaubt: einen Sternenhimmel, bestehend aus unzähligen Punkten.

Wenn man sich der digitalen Karte nähert, erscheinen wie bei einem Blick durch ein Teleskop in den Nachthimmel immer mehr Punkte und Orte. Solch eine Annäherung an einzelne Landschaften etwa Griechenlands oder Italiens ist angesichts der Dichte der Städte, Städtchen und Dörfer überwältigend. Und dabei sind in der digitalen Karte nur die größeren Siedlungen berücksichtigt. Es fehlen all die Weiler und Gutshöfe, die bei einer Kartierung nicht mehr ein Sternbild, sondern gewissermaßen Sternennebel wie in fernen Galaxien ergäben.

Noch spektakulärer wäre gleichwohl der Eindruck, wenn man diachron durch die Zeiten gleiten könnte. Gründung, Entstehung, Zerstörung und Aufgabe von Orten waren in der Antike allgegenwärtig. Statt eines Nachthimmels mit festen Sternbildern sähe man ein Glitzern und Blinken von laufend neu entstehenden und verschwindenden Orten. Da es archäologische Zeugnisse und schriftliche Nachrichten darüber gibt, wann sie entstanden und wieder untergingen, könnten wir dieses Blinken und Glitzern recht gut rekonstruieren.

Man sollte sich das Bild der zahllosen Orte zudem vielfarbig vorstellen – genauso bunt wie man den echten Sternenhimmel in starker Vergrößerung etwa durch das Hubble-Teleskop sieht. So verschiedenfarbig sind in der Nahsicht antike Orte. Keiner gleicht dem anderen, alle haben sie ihre eigene, unverwechselbare Farbe, die durch den Naturraum, die Bewohner und ihre Geschichte geprägt ist. Natürlich gab es Gemeinsamkeiten. Daher vermochten die Menschen, andere Städte und Orte zu verstehen und sich in ihnen zu orientieren. So fand sich ein syrischer Seemann im 1. Jahrhundert n. Chr. problemlos in Massalia (dem heutigen Marseille) in Südgallien zurecht. Dennoch fielen ihm selbstverständlich die Besonderheiten in Stadtbild, Architektur oder Kleidung der Bewohner auf. Und diese Einzigartigkeit ist charakteristisch: Die antike Welt der Städte und Orte war in erster Linie eine Welt der überwältigenden Unterschiedlichkeit, Diversität und Variation.

Diese vielfältige Lebens- und Erfahrungswelt und ihre zeitgenössische Wahrnehmung sind Gegenstand dieses Buches. Es geht dabei um die gesamte antike Welt. Wir reisen in den Hindukusch, nach Indien, Mesopotamien, in die Türkei, nach Nordafrika, durch Europa, weit in den Norden jenseits der Shetland-Inseln und selbst in die Unterwelt. In dieser weiten antiken Welt kann man sich immer wieder von unbekannten und unerwarteten Orten überraschen lassen. Jenseits der prominenten Städte und Orte, die heute oft in Büchern vorgestellt werden und für eine recht homogene antike Stadtkultur stehen, gibt es zahllose, aus unserer Sicht sehr eigenartige Plätze. Sie weisen überraschende, bisweilen irritierende Besonderheiten auf, die sie markant vom vielfach Bekannten unterscheiden und ihnen eine individuelle Signatur verleihen, sie einzigartig und seltsam erscheinen lassen. Wer sie besucht, kann eine antike Kultur jenseits der gängigen Vorstellungen studieren und eine antike Welt bereisen, von der mitunter selbst Fachleute nicht wissen, dass sie existierte. Wir nehmen sie als merkwürdig wahr, da sie uns auf ganz ungewöhnliche Weise wie in einem Brennspiegel die andere Seite der Antike zeigen. Über diese Orte wissen wir aus Quellen, die uns einen tiefen Einblick in den Kosmos antiken Lebens gewähren und uns Zugänge in ferne Lebenswelten eröffnen, wie sie sich andernorts nicht finden.

Die Faszination, die von diesen seltsamsten Orten der Antike ausgeht, korrespondiert mit dem Interesse an seltsamen Orten in heutigen Städten und Landschaften. Die Neugierde auf Besonderes teile ich mit vielen Zeitgenossen, die mehr sehen und verstehen wollen, als ihnen handelsübliche Reiseführer und städtische Hinweisschilder über gängige Sehenswürdigkeiten verraten. Mir geht es darum, über den Alltag uniformer Stadtbilder hinauszugelangen. Mich locken Randzonen, Gegenwelten und kreative Räume, die zwar fester Bestandteil unserer Kultur, aber jenseits der eintönigen Fußgängerzonen heutiger Innenstädte mit der immer gleichen Ansammlung von Flagship-Stores zu finden sind.

Man kann versuchen, seinen Blick für das Besondere zu schulen – nicht nur, um wunderbare Erfahrungen zu machen, sondern um ein besseres Verständnis unserer Welt zu erlangen, wie es etwa Roger Willemsen in seinem Buch Die Enden der Welt oder Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes gelungen ist. Man kann in seiner eigenen Umgebung und im Kleinen beginnen oder den Blick zurück in die Geschichte wenden. Dies hat in faszinierender Weise immer wieder der Osteuropahistoriker Karl Schlögel getan – als ein Beispiel sei nur auf sein Buch mit dem programmatischen Titel Im Raume lesen wir die Zeit verwiesen.

Seltsame Orte haben etwas mit der Eigenart von Denkmälern in Städten gemeinsam, wie der österreichische Schriftsteller Robert Musil 1935 in seinem Nachlaß zu Lebzeiten bemerkte: «Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.» Die Aufmerksamkeit «rinnt Wassertropfen-auf Ölbezug-artig an ihnen ab». Während wir jedes Geldstück auf der Straße sofort sähen, falle uns eine bronzene Erinnerungstafel an eine bedeutende Person erst auf, wenn wir «eines Tages nach einem hübschen Stubenmädchen ins erste Stockwerk schielt(en)». Überlebensgroße Standbilder dienten uns zur Orientierung im Raum, ohne dass wir sagen könnten, wen sie darstellen. Denkmäler, so der Schriftsteller zuspitzend, «verscheuchen geradezu das, was sie anziehen sollten».

Auch dem Fachmann fällt es nicht leicht, für seltsame Orte in den alltäglichen Welten der Antike ein spezielles Sensorium zu entwickeln. Auch wir haben uns an die Bildbände zu antiken Orten oder Kompendien zu antiken Städten gewöhnt, die immer das Gleiche zeigen. Wie sehr diese Bücher, Bilder und Postkartenmotive unser aller Blick und Wahrnehmung lenken und beherrschen, lässt sich sehr schön in Rom, Athen oder den Ruinen von Pompeii beobachten. Man muss nur jene Orte identifizieren, wo sich größere Ansammlungen von Touristen mit Selfie-Sticks finden lassen: Solche Bilder, die man ‹Ich und die allseits bekannten Orte› nennen kann, sind im jährlich wachsenden Stadttourismus die visuellen Trophäen des Urlaubs und beliebte Posts in den sozialen Netzwerken.

Mich interessiert demgegenüber das ‹scharf gestochene Fragment› und die ‹tückische Einzelheit›, wie der Autor und Filmemacher Alexander Kluge es einmal ausgedrückt hat. Diese stehen im Zentrum auch dieses Buches. Das können kleine Plätze in einer Stadt sein, aber auch historische Phasen mit eigentümlichen Entwicklungen einzelner Städte, die es schaffen, unseren Blick auf allgemeine Merkmale antiker Kulturgeschichte zu weiten. Es können mitunter Plätze sein, welche die antiken Zeitgenossen alles andere als seltsam erlebten, und solche, die nie existierten, aber für sehr real gehalten wurden.

Die Suche nach dem Besonderen und Seltsamen ist beileibe kein Kulturmerkmal der Moderne. Menschen in der Antike haben ebenfalls, und zwar selbst im Alltag, den ‹besonderen› Ort gesucht. Man hat sich von solchen Orten erzählt, hat sie als interessierter Tourist besichtigt oder, wenn man ihm eine besondere Nähe zu einer mächtigen Gottheit zuschrieb, ihn als verzweifelter Hilfesuchender und Kranker aufgesucht. In der Einheit und vielleicht auch Gleichförmigkeit des Alltags hat man dem Besonderen, dem Außergewöhnlichen und Mysteriösen geradezu nachgespürt, um sich die ganze Vielfalt der Welt und des Götterhimmels zu erschließen. Die antike Literatur über berühmte und besondere Orte, von der uns nur wenige Fragmente erhalten geblieben sind, war entsprechend umfangreich.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die antiken Menschen von seltsamen Orten und Gegenwelten geradezu besessen waren. Überall in den Städten und Landschaften sah man in Gräbern, an Felsen, in Grotten und Wäldern das Wirken von Göttern, Geistern und Dämonen. Die Werke der sogenannten Paradoxographen, die von Eigentümlichkeiten der Tierwelt, des Wassers und fremder Länder kündeten, waren eine begehrte Lektüre. Das Gleiche galt für die geographische Literatur, der man Verstörendes über Gegenwelten am Rande der bekannten Welt entnahm, wo angeblich Fabelwesen und Monster lebten, vor denen es den Leser gruselte und die ihn die Behaglichkeit der eigenen Existenz in seiner Heimat umso nachdrücklicher fühlen ließen. Die Zeitgenossen imaginierten sich in ihrer vertrauten Landschaft, in Quellen und in den Wäldern allerlei Mythen und ließen selbstverständlich in ihren Städten Heldentaten der Heroen einer fernen Vergangenheit spielen – noch heute können wir die Heiligtümer sehen, die sie ihnen dort errichteten. Oder man ließ sich über ferne Orte erzählen, deren exquisite Güter, die man vor allem bei festlichen Anlässen genoss, auf den Märkten von fremdländischen Händlern zu erwerben waren und deren Ursprung man sich am Ende der Welt vorstellte.

Belustigt las man Geschichten wie jene aus der kleinasiatischen Stadt Kyme oder Abdera, deren angeblich ganz besonders dumme Bewohner für gebildete Griechen und Römer so etwas wie bei uns die Bürger Schildas oder die Ostfriesen waren. Einzelne Statthalter, wie zum Beispiel Gaius Licinius Mucianus, nutzten um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. die Zeit, in der sie in verschiedenen Teilen des Römischen Reiches stationiert waren, um in ihrem Verwaltungsalltag seltsame Orte zu suchen und zu beschreiben – vorzugsweise solche, welche die gängige geographische Literatur noch nicht kannte. Autoren wie ihm half es, dass jede Stadt irgendwelche seltsamen Plätze, Bauten und Orte hatte, deren Bedeutung zwar zunächst einmal nur den Einheimischen bekannt und Gegenstand ihrer Plaudereien war, die aber von Fremdenführern dann durchaus stolz den Besuchern und Durchreisenden gezeigt wurden. Literarisch ambitionierte Statthalter waren ausgezeichnete Kunden für solche Führungen. Der Universalgelehrte Plinius der Ältere hat, als er für seine Naturgeschichte Phänomene aus Flora und Fauna der gesamten antiken Welt sammelte, solche Bücher exzerpiert und damit für uns zumindest in Teilen bewahrt.

Mit dem Hinweis auf die Vielfalt und Buntheit der Quellen habe ich etwas angedeutet, das mir bei der Arbeit an diesem Buch sehr geholfen und außerdem den akademischen Alltag versüßt hat: War doch die antike Geographie eine Disziplin, die sehr auf das systematische Sammeln, Kategorisieren und Ordnen der Welt angelegt war. Die Autoren solcher geographischen Überblickswerke verstanden sich jedoch jenseits aller Gelehrsamkeit als Literaten, die ihre Leser für ihren Stoff auch begeistern wollten. Die monumentalen Werke eines Strabon oder eines Plinius waren ebenso wie die Schriften vieler anderer bedeutender Autoren im besten Sinne literarische Texte, geprägt von einem ausgefeilten Stil, rhetorischen Kniffen und der Lust am Erzählen. Deshalb macht es noch heute Freude, sie zu lesen, einzutauchen in eine wahre Wunderwelt literarischer Bilder und unter kundiger Führung so manchen garden of delight zu betreten – wie der bedeutende Kollege Sir Ronald Syme einen solchen antiken Text einmal genannt hat.

Solche Texte zu den Wundern der Vergangenheit und ihren außerordentlichen Orten sind bisweilen in dieses Buch eingegangen. Und doch geht es mir nicht darum, die Literatur über wundersame Orte, die mirabilia, ab- oder weiterzuschreiben. Ich verstehe mein Buch als Einladung zu einer Rundreise durch die ganze antike Welt, auf der die heutigen Leser eine neuartige und faszinierende Orientierung in der Kulturgeschichte der Antike gewinnen können.

1.

Die Anfänge und die Mittelpunkte der Welt

Alles hat einen Anfang. Das eigene Leben, ja selbst die Welt hat eine Geschichte, die irgendwo beginnt. Am Ausgangspunkt aller seltsamen Orte sollen daher jene stehen, an denen in antiken Kulturen Anfänge lokalisiert wurden. Es sind Orte, an denen man Ursprünge fand und Mittelpunkte der Zivilisation konstruierte, auf die alles zu beziehen war.

So erzählen alle Religionen von der Entstehung der Welt und ihren ersten Bewohnern. Vertraut sind die Schöpfungsgeschichte in der Bibel, die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und die dunklen Ursprünge der Menschen bis zu ihrer fast vollständigen Vernichtung durch die Sintflut. Doch dies ist nur eine von zahllosen Geschichten – und sie ist nicht einmal originell. Das Paradies als Urbild der eigenen Geschichte war Traumbild auch anderer Kulturen – ebenso wie die Strafe der Götter, die Menschheit für ihr sündhaftes Verhalten zu ersäufen.

Auch erzählte man sich überall auf der Welt von Helden und Göttern, die einst gegen Monster kämpften, um die Welt der Menschen entstehen zu lassen. Der nordische Riese Ymir oder die japanischen Schöpfungsgötter Izanagi und Izanami seien stellvertretend für die zahllosen Fabelwesen und Götter genannt, die man allenthalben erfand, um über die Entstehung der Welt und eine verbindliche Ordnung menschlicher Gemeinschaften zu dichten. Die guten Götter, die man verehrte, mussten sich überall in solchen Mythen gegen Schreckensgestalten durchsetzen, um dem Menschen einen verlässlichen Rahmen für seine Existenz zu schaffen. So erstritten sich etwa Zeus gegen die Giganten oder der orientalische Gott Marduk, der das Ungeheuer Tiamat besiegte, ihren Platz im Pantheon, indem sie dramatische und wahrhaft gewaltige Kämpfe ausfochten.

Man beließ es aber nicht allein dabei, den Ursprung der Welt oder des Kosmos in solche Kampfszenen zu kleiden. Alle Kulturen der Welt konstruierten auch sich selbst eine über viele Jahrhunderte, sogar über Jahrtausende verlaufende Geschichte, die bis in ihre legendenumwobenen und mythischen Anfänge zurückführte. So reiht sich wie an einer Perlenschnur Episode um Episode zurück bis zur Entstehung der Welt oder wenigstens bis zur Gründung einer Gemeinschaft oder einer Stadt. Diese Geschichten halfen den Menschen, ihren eigenen Platz in einer unübersichtlichen Welt mit langer und weitgehend unbekannter Vorgeschichte zu finden und besser zu verstehen.

Interessanterweise beließ man es aber in der Antike nicht bei großen Werken der Dichtkunst und eindringlichen Erzählungen. Die Bilder, welche solche mythischen Geschichten von den Anfängen der Welt und der Gründung von Gemeinschaften vor dem inneren Auge entstehen ließen, wollte man ganz konkret und wirklich sehen. Schon antike Zeitgenossen brauchten für die Gründungslegenden einen Platz im Hier und Jetzt. Das Wort wurde Substanz und materialisierte sich in der Welt. Die Orte, die auf diese Weise entstanden, beglaubigten gewissermaßen die Schöpfungs- und Gründungsmythen. So hat man sie nicht nur mit beachtlichem erzählerischem, sondern bisweilen auch mit erstaunlichem architektonischem Aufwand gestaltet und ausgemalt. In Heiligtümern, die man an Ort und Stelle errichtete, wurden auch ganz und gar handgreifliche Zeugnisse von Göttern und Halbgöttern gezeigt, die an Schöpfung und Gründungsakten beteiligt waren – beispielsweise Werkzeuge, Kriegsrüstungen und Kleidung. Sie erinnern an die Reliquien in unseren Kirchen, und wir werden ihnen fortan öfter begegnen.

Noch heute kann man einige dieser Orte, in denen die Alten den eigenen Ursprung lokalisierten, bestaunen. Am Anfang soll eine Stadt stehen, die nur noch wenigen Spezialisten bekannt ist und deren Ruinen weitab aller Touristenpfade liegen – ein Siedlungsplatz im Südirak, ein in vielerlei Hinsicht wirklich seltsamer Ort.

Eridu – Urstadt der Menschheit

30° 49ʹ 33.77ʺ nördlicher Breite; 45° 59ʹ 41.11ʺ östlicher Länge

Am Montag, dem 14. April 2008, flog John Curtis, seinerzeit zuständig für die Altertümer des Nahen Ostens im British Museum in London, in Begleitung von Soldaten und Offizieren mit einem Merlin-Helikopter von der britischen Air Base in Basra Richtung Norden. Hier im Süden des Irak lagen die von den Briten im Irakkrieg 2003 kontrollierten Provinzen. Wegen dieser politischen Verantwortung und einer bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden archäologischen Forschungstradition startete das British Museum 2007 eine Initiative, deren Ziel es war, die alten Ruinen der Region zu schützen. Nicht zuletzt sollte festgestellt werden, welche antiken Plätze durch den Irakkrieg und die damit einhergehenden Plünderungen besonders gelitten hatten. Auf einer Konferenz in London präsentierten die Fachleute 2008 erste Bilder und Berichte. Sie empfahlen eine wissenschaftliche Expedition unter militärischem Schutz. So startete im Juni desselben Jahres von Basra aus ein 25-köpfiges internationales Team, unter ihnen auch Mitglieder des Deutschen Archäologischen Instituts zusammen mit irakischen Wissenschaftlern und Museumsdirektoren. Ziel der Gruppe waren am 5. Juni 2008 die 24 Kilometer voneinander entfernt liegenden antiken Städte Ur und Eridu. Die Wissenschaftler registrierten erleichtert, dass die antiken Stätten keine rezente Zerstörung oder Spuren von Raubgrabungen aufwiesen.

Die Fotos, die das British Museum von diesem Besuch in Eridu auf seiner Webseite veröffentlichte, zeigen einen von Erosion gezeichneten, im heutigen Zustand ziemlich trostlosen Siedlungshügel inmitten einer weiten, ausgedörrten Wüstenlandschaft. Nur einige Fahrwege liefern Hinweise darauf, dass von Zeit zu Zeit Menschen diese verlassene Gegend passieren. Dieser Anblick erfordert einige Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie die antike Siedlung und die umgebende Landschaft einst aussahen. Dabei muss man gar nicht so weit in der Zeit zurückgehen, um sich ein anderes Landschaftsbild auszumalen. Eridu liegt nämlich zwischen dem See von Hammar im Nordwesten und den großen Marschlandschaften im Süden des Irak, unweit des Zusammenflusses von Euphrat und Tigris in der Nähe des Persischen Golfes. Diese Landschaft war bis 1991 eine äußerst wasserreiche und fruchtbare Region. Und das war sie schon in der Antike: Seit vielen tausend Jahren war sie Sinnbild der Fruchtbarkeit und galt als Vorbild für den in der Bibel geschilderten Garten in Eden. Diese Welt üppiger Vegetation und reicher Tierwelt erschien einst buchstäblich paradiesisch.

Erst seit den letzten Jahrzehnten leidet das Gebiet darunter, dass der Wasserstand des Euphrat wegen der neuen türkischen, syrischen und irakischen Staudämme, die gigantische Bewässerungsareale versorgen, immer weiter gesunken ist – mit unabsehbaren ökologischen Folgen. Wirklich dramatisch verschlechtert hat sich die Situation zudem infolge des ersten Irakkrieges, als die Bewohner der zahllosen Inseln in der Wasserlandschaft der Marschen einen Aufstand gegen die Regierung wagten. Doch die Unterstützung der westlichen Invasoren blieb aus, und das Regime schlug mit ungeheurer Brutalität zurück. Schreckliche Massaker an der Bevölkerung und eine gezielte Entwässerung des Marschlandes sollten die Schiiten vertreiben. «Das Paradies ist hier nicht mehr» titelte am 26. 11. 2014 die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nur ein Bruchteil der früheren Bevölkerung ist seit 2003 zurückgekehrt. Weder Flora noch Fauna haben die alte Artenvielfalt wieder hervorbringen können.

Die einstmals hydrologisch vorteilhafte Situation und die Anlage ausgeklügelter Bewässerungskanäle hatten im Zweistromland von Euphrat und Tigris seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. die erste bedeutende Stadtkultur der Welt entstehen lassen, in der einige Städte, wie Uruk, besonders herausragten.

Unter den vielen sumerischen Städten dieser reichen Landschaft nahm die Siedlung von Eridu allerdings stets eine Sonderrolle ein – ein seltsamer und schon für die Zeitgenossen wahrlich außerordentlicher Platz. Dies lag zunächst daran, dass dieser Ort außergewöhnlich alt war und auch schon damals so wahrgenommen wurde. Bei verschiedenen Ausgrabungen im 19. und 20. Jahrhundert konnte man die früheste Besiedlung in die Zeit um 5400 v. Chr. datieren. Aber nicht nur sein hohes Alter machte diesen Platz zu etwas Besonderem. Für die Alten war und für heutige Archäologen ist der in Eridu errichtete Tempel für den Gott Enki ein Faszinosum. Achtzehn verschiedene, übereinander gebaute Schichten und Bauphasen mit immer aufwendigeren Architekturen lassen sich rekonstruieren und müssen die Menschen über die Jahrtausende hinweg beeindruckt haben.

Wir können seine Entwicklung von einer kleinen Kultstätte des 6. Jahrtausends hin zu einem großen, überregional bekannten Tempel der sogenannten Ur-III-Zeit (um 2000 v. Chr.) rekonstruieren. Die Struktur dieses Kultbaus, der wegen der ständigen Aufstockungen als beeindruckende Zikkurat (Stufenturm) im Marschland weithin sichtbar war, lässt uns verstehen, weshalb Eridu auch in den Texten einer fernen Vergangenheit bereits eine prominente Rolle spielte.

Enki, der Herr des Heiligtums, galt als Gott der Weisheit, der einst Abzu, den Gott des Süßwassers, besiegt und so die Macht über das Wasser erlangt hatte, das man sich als gigantischen unterirdischen See vorstellte. In bildlichen Darstellungen des Gottes entspringen aus seinen Schultern der Euphrat und der Tigris. Nach anderen Varianten des Mythos soll Enki masturbiert haben, um mit seinem Sperma den Tigris entstehen zu lassen – ein drastisches Sinnbild der ungeheuren Fruchtbarkeit des Zweistromlandes. Im Tempelgebiet fanden sich Unmengen von Gräten, da man dem Gott ganz offensichtlich Fische aus den umliegenden Gewässern opferte. Wegen der überragenden Bedeutung des Wassers, vor allem aber wegen seiner unendlichen Weisheit stellte man sich Enki (gemeinsam mit den Göttern Anu und Enlil) zeitweise sogar als Gründer der Welt und als den Schöpfer der Menschen vor.

Dieser großen Bedeutung Enkis im sumerischen Pantheon verdankt Eridu seinen einst glänzenden Ruf: In Texten galt die Stadt mit Enkis Abzu-Tempel, wie man die Kultstätte in Erinnerung an seinen Sieg nannte, als erste und älteste Stadt der Menschheit. Jede städtische Zivilisation hatte nach sumerischer Vorstellung hier ihren Ursprung. Da der Ort die erste Stadt der Menschheit war, führten die dort regierenden Könige auch die sumerische Königsliste an. Laut den ersten Zeilen der im späten 3. Jahrtausend aufgezeichneten Liste soll überhaupt das Königtum, als es vom Himmel auf die Erde gegeben wurde, zuerst nach Eridu gekommen sein. Der erste König Alulim regierte daselbst 28.800 Jahre lang, sein Nachfolger Alalngar 36.000 Jahre und ihre drei Nachfolger brachten es gemeinsam auf stattliche 108.000 Jahre – Ären, mit denen man versuchte, die lange Periode der göttlichen Frühgeschichte bis in die eigene Zeit zu überbrücken. Unter dem ersten König, so weiß die Überlieferung, lebte zudem ein Wesen namens Adapa. Jener galt als Sohn Enkis, war zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Gott. Er war es, welcher der Stadt Eridu die Zivilisation gebracht hat. Die abenteuerlichen und offenbar beliebten Erzählungen um Adapa spiegeln den Wasserreichtum der Region und spielen auf die Lage der Hafenstadt am Persischen Golf an. Mit Adapa verbindet sich interessanterweise auch die Suche nach der Unsterblichkeit des Menschen. Dieses große Thema der altorientalischen Literatur kennen wir nicht zuletzt aus dem berühmten Gilgamesch-Epos.

Die Texte zur mythischen Geschichte Eridus sind beeindruckend. Ihre Schöpfer versuchen konsequent, die Fäden in den Werken über die Entstehung der Welt mit jenen der Frühgeschichte der Städte zu verknüpfen. Eridu hat der sumerischen Königsliste und diesen Erzählungen zufolge bereits vor der großen Flut existiert, von der man in altorientalischen Religionen bereits lange vor ihrer Erwähnung im Alten Testament erzählte:

Die Götter hatten auf Initiative des Gottes Enlil beschlossen, die lärmenden, göttliche Sphären störenden Menschen wieder von der Erde zu vertilgen und deshalb eine Flut geschickt.

Ins späte 2. Jahrtausend datiert ein Text, die sogenannte Eridu Genesis, die als älteste Erwähnung der sumerischen Flutgeschichte gilt. Diese haben nur Auserwählte überlebt, von denen ein Mensch namens Ziusudra (akkadisch: Upnapishtim) in Eridu lebte. Ihm gab der Gott Enki, ein Freund der Menschen, vor der Flut den Auftrag, sich ein Boot zu bauen, um so die Überschwemmungskatastrophe mit seiner Familie und ausgewählten Tieren zu überleben.

Ein anderer Keilschrifttext lässt in Eridu bereits die Geschichte vom Garten in Eden spielen: Ein Weber oder Gärtner namens Tagtug wird von Enki dafür bestraft, dass er vom verbotenen Baum eine Frucht gegessen hat, was ihm ausdrücklich untersagt war.

Viele Mythen der Frühzeit, die später in das Alte Testament eingingen, wurden demnach mit der Urstadt Eridu in Verbindung gebracht. Manche moderne Wissenschaftler haben gar vorgeschlagen, auch den Turmbau zu Babel in dieser Stadt zu verorten, was aber unter Fachleuten zu Recht keinen Anklang fand. Die Zeitgenossen haben, wie die Mythen andeuten, durchaus realistisch gesehen, dass sich die politischen Gewichte im Zweistromland weiter nach Norden verlagerten. Es verwundert angesichts dieser Entwicklung nicht, dass im Mythos andere Stadtgötter, wie beispielsweise Inanna, die Hauptgöttin in Uruk, nach Eridu kamen, um das Wissen über die Zivilisation zu erlangen. Um diesen Vorgang, der den Aufstieg anderer Städte in anderen Regionen erklären sollte, den Zeitgenossen nahezubringen und plausibel zu machen, ersann man einprägsame Geschichten. Eine erzählt davon, dass Inanna bei einem Besuch in Eridu Enki so betrunken gemacht haben soll, dass es ihr ein Leichtes war, ihm die Tontafeln zu stehlen, auf denen die Geheimnisse der Zivilisation aufgezeichnet waren. Die Geschichte um Inanna ist also ein Reflex der tatsächlichen Entstehung städtischer Kultur in diesem Jahrtausend mit den neuen Zentren nördlich von Eridu, allen voran der Metropole Uruk.

Der Anfang der altorientalischen Zivilisation aber lag nach der Vorstellung der Alten auf einem heute öden und verlassenen Hügel in einer staubigen, wüsten und von den modernen Zeitläufen besonders gequälten Region. Eridu wurde in einer komplexen Verflechtung von Architektur, die der Besucher sehen konnte, und dichterischer Imagination, die man ihm in Erzählungen nahebrachte, zum uralten Zentrum und Ursprung der altorientalischen Hochkulturen.

Doch wann verschwanden Eridu und die Mythen, die sich um diese Stadt rankten? Warum ist sie aus unserer Erinnerung fast völlig verschwunden? Als die dritte Dynastie von Ur, deren Könige ihre Stadt prächtig ausgestalteten, die Herrschaft an die Könige von Isin und Larsa (um 2000–1800 v. Chr.) verloren, wurde in Eridu kaum noch gebaut. Kult und mythische Bedeutung wanderten in einem Akt der Geschichts- und Erinnerungspolitik weiter Richtung Norden, wo sich neue Zentren etablierten. Eridu aber geriet im 1. Jahrtausend zunehmend in Vergessenheit und wurde nur noch gelegentlich erwähnt. Eine Nennung des Ortes unter Nebukadnezar II., König von Babylon, in der Zeit um 600 v. Chr. und ein Ziegel mit seinem Namen aus der Stadt selbst scheinen die letzten Schriftzeugnisse zu sein, die von diesem alten Platz künden. Während der Herrschaft der Perser und der nachfolgenden hellenistischen und römischen Reiche verschwindet der Ort schließlich ganz aus der Erinnerung. Griechische und römische Autoren kennen an der Mündung des Euphrat eine Siedlung, die bei einigen Teredon, bei anderen Iridotis oder Diridotis genannt wird. Es handelte sich um einen kleinen Handelsplatz für indische und orientalische Waren, die über den Persischen Golf verschifft wurden. Man wusste, dass Händler die Gewürze, Stoffe und Spezereien von diesem kleinen Stapelplatz weiter nach Norden und bis in das westliche Mittelmeer transportierten. Verschiedentlich wollten Experten für antike Geographie in dieser kleinen Niederlassung die alte und – wenn man sich ihren Überlegungen anschließen mag – demnach später noch einmal wiederbelebte Ruine von Eridu identifizieren. Das aber scheint mehr als zweifelhaft, da die Ausgräber noch im 20. Jahrhundert an dieser Stelle keinerlei Funde der jüngeren antiken Epochen fanden. Die Spuren der alten Urstadt der Menschheit verlieren sich also um 600 v. Chr. im Wüstensand. Neue Zentren waren entstanden, und vermutlich hat die Verlandung der Region ihren endgültigen Niedergang befördert und sie der Vergessenheit anheimfallen lassen.

Hisarlık – eine Ruine wird Troia

39° 57ʹ 26.56ʺ nördlicher Breite; 26° 14ʹ 19.73ʺ östlicher Länge

Im späten 8. Jahrhundert v. Chr. war die Spätzeit Eridus gekommen. Kurz vor dem Verlöschen dieser alten Stadt machte sich im westlichen Kleinasien, unweit des heutigen türkischen Izmir, ein Dichter namens Homer daran, verschiedene alte mythische Stoffe, die mündlich überliefert und von Rhapsoden – wandernden Sängern – vorgetragen wurden, in ein großes Epos zu gießen. Im Zentrum stand eine Geschichte, die im späten 2. Jahrtausend v. Chr. spielte. Sie erzählte von der Entführung Helenas, der Gattin des griechischen Königs Menelaos von Sparta, durch den jungen Paris, der sie in die Burg des Königs Priamos, seines Vaters, nach Kleinasien brachte. Die Folge war ein zehn Jahre währender Krieg, den die Achäer, wie Homer die aus Griechenland angreifende Allianz nannte, und die Untertanen und Kampfgefährten des Priamos miteinander um die geraubte Helena führten. Am Ende des Krieges stand die Zerstörung der Burg, die den Namen Ilios trug. Die Überlebenden flohen und die siegreichen Helden kehrten in ihre Heimat zurück. Einige von ihnen wie der Held Odysseus hatten auf ihrer Heimkehr lange Irrfahrten und Abenteuer zu überstehen.

Der Dichter, den die Griechen später Homer nannten, erzählte aber nicht einfach die aus späteren Texten zu rekonstruierende Geschichte und die daran anschließenden Mythen. Er konzentrierte sich auf 51 Tage des Krieges. In diesen Tagen hatte sich ein schwerer Konflikt zwischen Agamemnon, dem Anführer der Achäer, und Achill, einem der anderen am Kriegszug beteiligten Helden, entzündet. Indem Homer diesen Konflikt ins Zentrum seiner Darstellung rückte, zog er alle Register, um seine Dichtkunst zu entfalten. Nicht nur furchtlose Kämpfer werden in todesmutigen, endlos erzählten Kämpfen gezeigt. Auch allgemeine Aspekte der menschlichen Existenz, des gesellschaftlichen Miteinanders, des archaischen Adelsethos, der Rolle der Götter, des Verhältnisses zwischen Mann und Frau und vieles mehr werden thematisiert.

In diesem Kapitel aber soll es mit Blick auf seltsame Orte um etwas anderes gehen: Als Homer sein Epos verfasste, konnte er in der Westtürkei an vielen Plätzen uralte Ruinen sehen, die glänzend zu seiner Dichtung zu passen schienen. Tausende Jahre zuvor waren in der Region an verschiedenen Plätzen stark befestigte Siedlungen entstanden, deren Geschichte die Zeitgenossen des Dichters nicht mehr kannten. Die alten Siedlungen waren um 1200 v. Chr. zerstört worden und zu einem guten Teil in Vergessenheit geraten. Die Ruinen aber regten einige Jahrhunderte später zweifellos die Phantasie an. Mit ein wenig Vorstellungskraft konnte man sich ausmalen, wie vor den alten, halb verfallenen Mauern dramatische Kämpfe und Konflikte zwischen Helden ausgetragen worden waren. Die Bauwerke erinnern auch heute noch an mittelalterliche Burgen, wie man sie aus dem Auto oder dem Zugfenster und bei Wanderungen in vielen Regionen Europas vorüberziehen sieht, ohne genau zu wissen, welche Geschichte sie haben. Die antiken Burgen der Bronzezeit wurden jedenfalls schon von Dichtern vor Homer zu Schauplätzen abenteuerlicher Ereignisse gemacht, die sie den Zuhörern bei Festen in leuchtenden Farben vor Augen stellten.

Homer hätte sich wohl nicht träumen lassen, welche Folgen seine Dichtung in der abendländischen Geschichte und Literatur haben sollte. Die Wirkung der homerischen Epen ist über mehr als 2500 Jahre hinweg beachtlich. Wie mit einem Paukenschlag beginnt die europäische Literaturgeschichte unvermittelt mit einem mehr als 15.000 Verse umfassenden Werk, der Ilias, dem bald darauf die Odyssee mit über 12.000 Versen folgte. In beiden Epen wird eine großartige Welt von Göttern, vor allem aber Helden entworfen. Diese grandiosen Schöpfungen schenkten den Griechen ab 700 v. Chr. mit einem Mal eine bis in die Zeit des 2. Jahrtausends v. Chr. zurückreichende Vergangenheit. Der Kampf um die Burg Ilios erschien den Zuhörern in dieser sogenannten archaischen Epoche wie die Urgeschichte der eigenen, der griechischen Welt. Da Homer zudem in seinem Schiffskatalog, der sich in der Ilias findet und in dem er die am Kriegszug Beteiligten auflistete, nahezu 200 griechische Poleis (Stadtstaaten) nannte, konnten die Bewohner nahezu der gesamten griechischen Welt in den Epen ihre Vorfahren finden und ‹identifizieren›. So wurden die Werke Homers damals zum Referenzpunkt aller Literatur und jeder Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt und mit der ‹Geschichte›. Statt von Ilios, wie Homer, sprach man nun von Troia. Homer hatte aber mit diesem Wort (oder der Form Troie) nicht die Burg, sondern die Landschaft gemeint, in der seine Erzählungen spielten – ein durchaus wichtiges Detail.

Alle Griechen wollten fortan an diesem neuen Troia-Mythos teilhaben und dort ihren Ursprung verorten. Auf der sicheren Seite in dieser mythographischen Konstruktion der Frühgeschichte waren die von Homer genannten griechischen Städte – fanden sie sich doch namentlich im Schiffskatalog erwähnt. Die anderen, die Homer nicht nannte, behaupteten, dass sie später durch Helden des Epos nach Beendigung des Krieges gegründet worden seien. So gelang es auch ihnen, sich in die homerische Tradition nachträglich einzuschreiben.

Da man in der Regel die Frühgeschichte einer Gemeinschaft nicht rekonstruieren konnte, stellten die Epen somit ein glänzendes Angebot auf dem Markt für Gründungslegenden dar. Am Beispiel Roms kann man sehen, dass auch andere Kulturen und neue Mächte in diese Konstruktion eines die bewohnte Welt umspannenden Netzwerks von Troianern, die aus der zerstörten Heimat geflohen sein sollten, eingeflochten wurden. Die Römer nahmen dieses zunächst von griechischen Geschichtsschreibern formulierte Angebot gern an und erhoben es zur wirkmächtigen Staatsideologie. Der Stadtgründer Romulus galt als Nachfahre des aus Ilios geflohenen Helden Aeneas. Der römische Dichter Vergil schuf zu diesem Mythos das 19 v. Chr. posthum veröffentlichte Nationalepos, die Aeneis. Die Lektüre dieses lateinischen Epos und viele Neudichtungen veranlassten dann selbst im Mittelalter noch ganze Adelsgeschlechter, ihre Abstammung auf die homerischen Helden zurückzuführen. So wurde eine gut-troianische Herkunft zu einem Gemeinplatz europäischer und schließlich auch wahrhaft interkontinentaler Geistesgeschichte: Alle europäischen Königshäuser, alle Länder und selbst das gerade entdeckte Amerika führte man auf diese Heroen zurück. Selbst die intellektuelle Kaderschmiede der Universität Oxford verband ihre Gründung im 13. Jahrhundert mit Philosophen, die einst gemeinsam mit troianischen Flüchtlingen auf die Insel gekommen waren …

Die ungeheure Wirkung des Troia-Mythos bis in die Neuzeit aber lässt sich vor allem damit erklären, dass bereits die Griechen die Ereignisse, über die Homer dichtete, für historische Wahrheit hielten. Dies galt auch für die Orte, die der Urvater aller europäischen Dichter beschrieben und gewissermaßen in einer historischen Landkarte eingezeichnet hatte. Noch für Strabon, einen Geographen des frühen 1. Jahrhunderts n. Chr., war es selbstverständlich, Homer als ältesten Vorgänger dieser Wissenschaft zu würdigen und seine Angaben zu Orten und ihrer Lage ernstlich zu prüfen und zu diskutieren. Sehr früh, schon im 7. Jahrhundert v. Chr. hat man sich auf die Suche nach den Orten gemacht, die Homer nennt. Besonders wichtig war selbstverständlich die Lokalisierung jener Burg Ilios, in der angeblich Priamos geherrscht und welche die Griechen zehn Jahre lang belagert hatten, bis sie mit der von Odysseus ersonnenen List des hölzernen Pferdes erobert werden konnte.

Wohlgemerkt: Der Ort war dichterische Fiktion und existierte ebenso wenig wie die Stelle am Rhein, wo der Schatz der Nibelungen versenkt wurde oder wo die Lorelei mit einem goldenen Kamm ihr Haar geglättet und dabei so schön gesungen haben soll, dass die Rheinschiffer gleich reihenweise gegen die Klippen im Strom fuhren. Und dennoch war es für die Zeitgenossen im 7. Jahrhundert v. Chr. oberstes Ziel, eine Ruine zu identifizieren, die historischer Schauplatz der homerischen Dichtung sein konnte. Wie wir am Beispiel von Eridu gesehen haben, benötigte man für die Gründungsmythen einen konkreten Ort, den man sehen, besuchen und im wahrsten Sinne des Wortes anfassen konnte. In Eridu hatte man mit dem Tempel Enkis den Platz gefunden, der als Ausgangspunkt für die Ausgestaltung der mythischen Dichtungen und die Entfaltung der Erzählung dienen konnte. In der griechischen Welt musste man jedoch für die Dichtung überhaupt erst einen solchen Ort als Referenzpunkt finden. Eine zweifellos kuriose Situation!

Die Dichter, welche die Geschichten um Troia vortrugen, haben sich von alten Ruinen inspirieren lassen. Die Griechen identifizierten Ilios mithilfe der homerischen Dichtung. Die Landschaft, in der die Burg lag, hatten doch offenbar die Helden und Dichter einst wirklich gesehen, sodass ihre topographischen Eigenarten in den Versen beschrieben werden konnten. So wurde eine alte, bis in die Zeit um 3000 v. Chr. zurückreichende Ruine bei dem heutigen türkischen Ort Hisarlık zum Favoriten für den Schauplatz der Kämpfe zwischen Achill und Hektor, Menelaos und Priamos und wie all die anderen Helden geheißen hatten. Die homerische Burg des Priamos, so schien es, war gefunden. Seit ungefähr 1000 v. Chr. hatten sich dort tatsächlich Griechen niedergelassen. Im Zusammenspiel mit dem Dichter oder nach Entstehung der Ilias (das lässt sich nicht exakt rekonstruieren) gaben diese Bewohner entsprechend dem mythischen Namen, den sie der alten Burg beigelegt hatten, offenbar auch ihrem Ort den Namen Ilion. Sie behaupteten in der Folgezeit – und angesichts des literarischen Erfolgs des Epos sicherlich sehr engagiert und recht erfolgreich –, dass ihre Stadt Schauplatz der von Homer beschriebenen Ereignisse war.

Eine gezielte Visualisierung mythischer Traditionen war allen Städten gemeinsam, welche die Gründung durch troianische Krieger behaupteten oder im Epos genannt wurden. Sie errichteten allesamt den fiktiven Helden Gräber, Kultstätten und zeigten interessierten Besuchern Waffen und Gegenstände, die den Heroen einst angeblich gehört hatten. So präsentierte man beispielsweise in verschiedenen Orten die Werkzeuge, die der Schreiner Epeius benutzt hatte, um das Troianische Pferd zu zimmern. In Ilion bzw. Troia wurden in der Folgezeit weitere Antiquaria – Sammlungen von Altertümern – eingerichtet, um einfachen Touristen und bedeutenden Politikern oder gar Königen bei Besichtigungen etwas präsentieren zu können. So zeigte man beispielsweise die Lyra, auf der einst Paris gespielt haben soll, ein steinernes Brett, an dem die Krieger sich in Kampfpausen angeblich beim Spiel erholten, oder den Stein, an den man einst Kassandra gefesselt hatte, die ihre Mitbürger nervte, weil sie dauernd den Untergang der Heimatstadt vorhersagte. Auch konnten Fremdenführer den Spalt zeigen, in den die Schlangen verschwunden waren, nachdem sie Laokoon und seine Söhne getötet hatten, weil der Apollon-Priester die List der Griechen mit dem hölzernen Pferd durchschaut hatte. Doch damit der seltsamen Orte nicht genug: Im Umland konnte man gar «Soldatenunterkünfte, Stellungen der Schlachtreihen, Lageranlagen (…), Altäre, die dort errichtet wurden» (Artemidor, Traumbuch 4,47), vorweisen und anderes mehr. Man schüttete sogar Grabhügel für die Helden auf, die die Reisenden besonders rührten. Dass man für Achill und Patrokles, die laut Homer in einem Grab bestattet waren, versehentlich zwei getrennte Hügel errichtete, konnte einem im eifrigen Bemühen um ein ordentliches Touristenprogramm schon mal passieren.

Beim heutigen Hisarlık entstand mithin ein wahrlich seltsamer Ort, der einzig dazu diente, dichterische Imagination und mythische Tradition zu visualisieren. So wurde das fiktive Zentrum griechischer und römischer Kultur, das einst Schauplatz eines großen, aber eben doch mythischen Krieges war, zum real erfahrbaren Ort mit musealem Charakter. Der Ort Troia konnte dank dieser lokalen Initiativen von Politikern, Feldherren, Königen und römischen Kaisern in der Folgezeit instrumentalisiert werden, um Politik und strategische Ziele unterschiedlicher Art ideologisch zu unterfüttern. Einige Beispiele mögen genügen: Der Perserkönig Xerxes stilisierte sich zu Beginn des Perserkrieges (480 v. Chr.) mit einem Opfer von 1000 Rindern für die Stadtgöttin Athena Ilias angeblich zum Troianer, der sich an den Achäern, den Griechen, rächen wollte. Athen erklärte sich nach den Perserkriegen zum neuen Sieger über die Troianer und beanspruchte, im Attisch-Delischen Seebund Führungsmacht unter den Griechen zu sein. Alexander der Große drehte zu Beginn seines gewaltigen Eroberungszugs im Jahr 334 v. Chr. gewissermaßen den von Xerxes aufgenommenen Spieß einfach um und zog mit den Waffen Achills gen Osten. Wie nachhaltig und wirkmächtig der Troiamythos war, beweist, dass die Römer ihrerseits eine Abstammung von den Troianern behaupteten, und Caesar sowie der erste römische Kaiser Augustus ihr Geschlecht über den Troianer Aeneas auf Venus zurückführten, was letztlich ihre Personen überhöhen und so ihre außerordentliche Machtstellung in Rom legitimieren sollte.

Was nun aber die berühmte Burg selbst und den Schauplatz des Krieges betraf, so waren die Besucher Ilions doch regelmäßig enttäuscht von dem, was da zu sehen war. Da konnten sich die wortgewandten Fremdenführer noch so anstrengen. Das bescheidene Städtchen passte schlecht zu den Bildern, die viele nach der Lektüre Homers und anderer Texte über den Untergang Troias im Kopf hatten und die sie sich vor Ort in natura wollten bestätigen lassen. Das geht übrigens heutigen Touristen vor Troia meist nicht anders – zumal sie auch noch die grandiosen Kulissen der Hollywoodproduktionen wie etwa Troy von Wolfgang Petersen aus dem Jahr 2004 vor ihrem geistigen Auge haben. Der griechische Autor Lukian (etwa 120–180) brachte diese enttäuschende Erfahrung in seinem satirischen Text Charon oder die Weltbeschauer auf den Punkt: Der berühmte Fährmann der Unterwelt, Charon, besichtigt unter Führung des weitgereisten Götterboten Hermes die berühmtesten Orte der Welt und bittet seinen Führer, ihn nach Troia zu begleiten. Hermes zeigt sich jedoch zögerlich. Er begründet dies mit der Furcht, Charon könnte angesichts der spärlichen Überreste nach Rückkehr in die Unterwelt Homer erdrosseln, da er in seinem Epos so maßlos übertreibe (Lukian, Charon oder die Weltbeschauer 1–7,23).

Andere Autoren und Zeitzeugen erfreuten sich gerade an den Trümmern, den zerfallenen Mauern Troias und den versiegten Flüssen der homerischen Epen. Mit regelrechter Ruinenromantik schwelgten sie in zerfallenem Gemäuer und sannen über Vergänglichkeit und die Vorzüge der Dichtung nach. Für antike Autoren wie Lukan (39–65) und Arrian (etwa 85–146) war das verfallene Troia Anlass, ihr eigenes literarisches Können hervorzuheben wie überhaupt die führende Rolle der Dichtung zu betonen. Nur Texte seien wirklich in der Lage, Vergangenheit zu schaffen und die Erinnerung daran zu bewahren. Ohne die Dichter verschwänden Städte ebenso wie bedeutende Männer, denn die verwesenden Körper und zerfallenen Mauern blieben ohne Worte stumm.

Die Ratsherren von Ilion haben sicherlich immer wieder über die Erweiterung der musealen Objekte und den Ausbau angeblich mythischer Plätze beraten. Sie mögen solchen Einwänden von Dichtern entgegnet haben, ohne die Beglaubigung der schriftstellerischen Überlieferung durch Verdinglichung fehle ihnen die letzte Wahrheit. Fragen nach Authentizität der Objekte wurden wohl bisweilen gestellt, aber letztlich war den Besuchern und Gläubigen, die Reliquien bestaunten, ihre Beantwortung nebensächlich. Man wollte einfach den Mythen im konkreten Objekt einen realen Bezugspunkt geben, sie in der erfahrbaren Wirklichkeit verankern und ihnen so unmittelbare Präsenz verleihen.

Trotzdem war schon in der Antike die Gleichsetzung der Burg bei Hisarlık mit Troia vielen suspekt. Der bereits erwähnte Geograph Strabon, der selbst aus Kleinasien stammte, hat diese kritischen Stimmen in seinem Werk zu Wort kommen lassen. Andere antike Autoren wie Demetrios aus dem Ort Skepsis bringen einfach die eigene Stadt ins Spiel als den ‹wahren› Schauplatz des troianischen Krieges. Wieder andere Schriftsteller bezweifelten die Lokalisierung mit dem Argument, Homer und andere Autoren hätten doch gesagt, das Troia komplett zerstört worden sei – wie könnten denn dann noch in Ilion Reste erhalten sein und Menschen wohnen? Wieder andere Orte nahmen aus Prestigegründen und in Konkurrenz zu Ilion für sich in Anspruch, das echte Troia zu sein. Strabon selbst lokalisierte das echte Ilion ca. 5,5 Kilometer (30 Stadien) von dem Ort entfernt, den man zu seiner Zeit Troia nannte. Die Bewohner des heutigen Ilion hätten aus reiner «Ruhmsucht, weil sie wollten, dass ihre Stadt die alte sei, denen, die von den homerischen Gedichten ausgehen, viel Kopfzerbrechen bereitet, denn diese Stadt ist offensichtlich nicht die homerische» (Strabon, Geographie, 13,1,25).