Gewalt - Martin Zimmermann - E-Book

Gewalt E-Book

Martin Zimmermann

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Beschreibung

Die Rolle von Gewalt in den antiken Gesellschaften

In der Rückschau erscheint uns die Antike oft als helle, aufgeklärte Epoche, ein Lichtblick der Menschheitsgeschichte. Dabei vergessen wir jedoch, dass auch die antiken Hochkulturen von Gewalt durchdrungen waren, dass ihre Zeugnisse in Bild und Schrift von Schlachten, Morden und Misshandlungen sprechen. Im Mittelpunkt dieses Buches stehen daher nicht edle Körper, die strahlende Marmorarchitektur und die literarische Hochkultur, sondern die schrecklichen Gewaltexzesse, die diese Epoche ebenfalls prägten. Wie grausam regierten die Herrscher der Antike? Wie und zu welchem Zweck wurde Gewalt dargestellt?

Martin Zimmermann widmet sich erstmals der bisher wenig beachteten Schattenseite der Antike und zeigt, welche Schlüsse wir aus den blutrünstigen Überlieferungen des Altertums ziehen müssen.

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Seitenzahl: 542

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Martin Zimmermann

GEWALT

DIE DUNKLE SEITE DER ANTIKE

Deutsche Verlags-Anstalt

1. Auflage

Copyright © 2013 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Typographie und Satz: Brigitte Müller/DVA

Gesetzt aus der Chaparral

ISBN 978-3-641-04622-4www.dva.de

Für Nadine

Inhalt

PROLOG Wie über Gewalt sprechen und schreiben?

KAPITEL 1 Blick in antike Abgründe: Mensch, Gewalt, Kultur

Im Sog der Gewalt

Reines Grauen und schierer Schrecken

Abscheu und Ekel

Die alltägliche Gegenwart von Tod und Leid

Gute Gewalt, schlechte Gewalt

Gewaltbilder als Medium der Verständigung

Geschichte als zivilisatorischer Fortschritt

Neue Bilder vom Menschen

Neurobiologie, Gewalt und Geschichte

KAPITEL 2 Brutale Könige im Alten Orient

Gewalt als Ursprung jeder Ordnung

Gilgamesch: Gewalt in der frühen Dichtung

Der assyrische König im Rausch des Mordens

Neue Bilder der Perser

KAPITEL 3 Griechische Götter und der Kampf um Troia

Anleihen aus dem Orient mit neuen Akzenten

Die Entstehung des Pantheons bei Hesiod

Göttliche Gewalt und kosmische Ordnung

Homers archaische Krieger im Blutrausch

Helden als Vorfahren

Politische Instrumentalisierung und Zweifel am Erzählten

Bilder der Gewalt: Hoch lebe der Sieger!

KAPITEL 4 »Bring mir ein männermordendes Beil, aber schnell!«: Tragödie und Gewalt

Mythen im Theater

Aristoteles zur tragischen Gewalt

Unsichtbares Morden als gegenwärtiger Schrecken

Gewalt und menschliche Ordnung

KAPITEL 5 Von der mythischen zur erlebten Geschichte: Herodot und Thukydides

Mythen in der frühen Geschichtsschreibung

Herodot: Die Erkundung der dunklen Seite der Welt

Thukydides: Das Ende mythischer Gewaltexzesse

KAPITEL 6 Gewalt in der Politik: Neue Debatten im Hellenismus

Die Erben der klassischen Geschichtsschreibung

Für und wider die Gewalt

Polybios: Die politische Dimension der Gewaltbilder

Die wahren Schrecken der Massaker und Bürger als Helden

Wie also den Tyrannen mit Blut besudeln?

Literarische Topik und die Fratze der Tyrannis

Hellenistische Opferrollen und frühe Märtyrer

KAPITEL 7 Römische Gewaltexzesse: Eine neue Weltmacht betritt die Bühne

Gelehrsame Kopisten griechischer Standards

Exemplarische Gewalterfahrungen

Die Entstehung einer blutigen Legende: Atilius Regulus

Gewaltrhetorik mit Dementi

KAPITEL 8 Unbesiegbare Soldaten in Strömen von Blut

Buchhalter des Todes

Römische Massaker als Bilder des Krieges

Aufrechte Feinde und militärische Disziplin

Wie die Niederlage eingestehen?

Das Großmaul und die Wirklichkeit

KAPITEL 9 Die Schrecken des Bürgerkriegs und das Vergessen

Selbstzerfleischungen

Proskriptionen und die Traumata des Bürgerkriegs

Öffentliche Inszenierung von Gewalt

Politischer Neuanfang durch Auslöschung der Erinnerung

KAPITEL 10 Der Kaiser als Tyrann: Neue Gewaltexzesse in alten Kleidern

Gefährliche Konstruktionen mit neuen Gefahren

Senatorische Opfer und alte Bilder

Das Vergnügen mit dem Tod

Das Dilemma der Gewaltrhetorik

Pagane Märtyrerbilder in der Selbstinszenierung

Gegenstimmen

KAPITEL 11 Die Bühne des Schreckens, die Inszenierung des Todes

Kampf auf Leben und Tod

Die Inszenierung von Grausamkeiten

Die Kulmination literarischer Schreckensbilder

Theater, Literatur, Dissidenz und Tod

Weiter, immer weiter: Gewalt und kein Ende

Körperliches Leid als Ehre und Erlösung: Neue Bilder der Christen

EPILOG Die Gewalt jenseits des Alltags

Dank

Anhang

Deutsche Übersetzungen antiker Texte

Textsammlungen

Verwendete und weiterführende Literatur in kleiner Auswahl

Stellenverzeichnis

Personenregister

Register der mythologischen Figuren

Bildnachweis

PROLOG Wie über Gewalt sprechen und schreiben?

O Pein! Unseliger! Doch ich ertrag’Es nicht, dich zu sehn, und möchte dich dochViel fragen, erfahren und wissen viel:Solch Schaudern und Grauen erregst du.

Sophokles, Oidipus Tyrannos

Sophokles wusste schon im 5. Jahrhundert v. Chr., dass Gewalt fasziniert, anlockt, neugierig macht. Und dass sie gleichzeitig schauderhaft und abstoßend ist. Wir scheinen vor ihr zu kapitulieren und sie doch bändigen zu wollen. Hinzu kommt eine zweite Schwierigkeit sehr grundsätzlicher Natur: Wie das Schreckliche sagen? Wie kann man mitteilen, was Menschen einander antun? Mit welchen Worten wird man dem entsetzlichen Leid gerecht, das Menschen in Kriegen oder bei brutalen Gewaltakten erdulden müssen?

Die körperlichen wie seelischen Folgen physischer Gewalt lassen sich kaum angemessen erzählen. Den Opfern wie den Augenzeugen verschlägt es schlicht die Sprache. Für das Entsetzen sind keine Worte zu finden, denen man zutrauen kann, dass andere verstehen und nachvollziehen können, was man erlebte, was man sah, wovon man hörte. Opfer bleiben daher oft stumm. Zuschauer wenden sich entsetzt ab und schweigen traumatisiert. Und Dritten mag man angesichts des Schrecklichen nicht unbesehen glauben. Sind sie sich ihrer Sache sicher? Übertreiben sie auch nicht?

Dies gilt besonders für Gewaltexzesse. Gemeint sind Taten, bei denen jegliche Grenzen, die Menschen einander gesetzt haben, und alle Regeln menschenwürdigen Verhaltens aufgehoben zu sein scheinen. Gewalt wird hier in Formen ausgeübt, die so fürchterlich sind, dass sie unsere Vorstellungskraft übersteigen. Die Akteure dieser Exzesse wirken völlig entmenschlicht, sie scheinen sich in Tiere zu verwandeln.

Besonders verstörend ist, dass sich solche extremen Gewaltakte immer wieder ereignen. Die Menschheitsgeschichte scheint eine endlose Kette von Gewaltexzessen zu sein. Man kann in der Geschichte zurückschauen oder einfach die Tageszeitungen aufschlagen, man findet sich stets mit diesen Gräueln konfrontiert. Zugleich verspürt man das oben angedeutete Unbehagen: Wird das, was geschehen ist, angemessen erzählt? Wird es auch zuverlässig überliefert?

Bei einer Stichprobe wird diese Nachricht zutage gefördert: Am 30. Mai 2012 sprach Richter Richard Lussek am UN-Tribunal in Den Haag das Urteil über den Diktator Charles Taylor. Dieser hatte zwischen 1991 und 2001 Massaker und Morde in Sierra Leone zu verantworten. Lussek befand ihn der »abscheulichsten und brutalsten Verbrechen in der Geschichte« für schuldig. Doch wie kann man das Leid der rund 120 000 Menschen, die in diesen Jahren den Tod fanden, so vor Augen führen, dass der Zuhörer versteht, worum es geht? Der Richter versuchte, den Schrecken zu vergegenwärtigen, indem er zum Schluss seines Urteils ein Schicksal heraushob. Er erinnerte an die Zeugin, die berichtet hatte, wie die Soldaten Taylors sie gequält hatten. Sie musste einen Sack hinter sich herziehen, in dem sich abgeschlagene Köpfe befanden, und dabei laut lachen. Schließlich zeigten ihr die Soldaten den Inhalt. Es handelte sich um die abgehackten Köpfe ihrer eigenen Kinder.

Wenige Tage vor der Urteilsverkündung in Den Haag massakrierten die Regierungstruppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad angeblich die Bewohner der kleinen Ortschaft Hula. 150 Menschen fanden den Tod, darunter 50 Kinder. Diese wurden in weiße Leinentücher gewickelt, wobei man die von Bajonetten und Gewehrkugeln verwundeten Köpfe unverhüllt ließ. So zeigte man sie der entsetzten Weltöffentlichkeit, trug die Bilder in jedes Haus. Interviews mit Überlebenden, die zu keiner Gefühlsregung mehr fähig schienen, unterstrichen das traumatische Ausmaß dieses entsetzlichen Massakers.

Diese Episoden sind fürchterlich, aber repräsentativ für eine unendliche Reihe von Gräueltaten, die Menschen an Menschen verübten und verüben. Sie sind zugleich aber auch Beispiele dafür, wie Erzählungen über die Untaten in Gefahr geraten, sich aufzulösen und alles Konkrete zu verlieren. Kaum sind die Gräueltaten berichtet, wird versucht, sie zu relativieren, eine klare Trennung von Täter und Opfer zu unterminieren oder die Gewaltakte schlicht zu bestreiten. Je genauer man hinschaut, desto unklarer wird, was wirklich geschehen ist.

Die Verteidiger Charles Taylors bezweifelten die Zuverlässigkeit der Zeugin und sahen es zumindest als nicht bewiesen an, dass ihr Mandant für diese Tat verantwortlich zu machen war. Afrikanische Politiker bewerteten die Verurteilung des Diktators gar als Klassenjustiz der Ersten Welt. Während ihre Politiker sich einem Verfahren stellen müssten, kämen westliche Gehilfen wie der amerikanische Präsident George W. Bush, der Taylor lange mit Geld und Waffen unterstützt habe, ungeschoren davon. Das Urteil wurde sogar von etlichen kritischen Kommentatoren der internationalen Presse negativ bewertet, da in dem Gerichtsverfahren wenig stichhaltige Belege erbracht worden seien und viele Zweifel blieben. Und schon steht die Zeugin aus Sierra Leone ganz allein da mit ihrer fürchterlichen Geschichte und ihrem grausamen Schicksal.

Auch auf die Nachrichten über die Massaker in Hula fiel rasch ein Schatten. Die BBC hatte zur Illustration des Geschehens ein Foto auf ihre Internetseite gestellt, das in weiße Leinen gewickelte Kinderleichen zeigt, über die ein kleiner Junge hinwegspringt. Das Bild bildete freilich nicht die Toten in Hula ab, sondern die Opfer eines Massakers, das viele Jahre zurücklag und andernorts geschehen war. Als der Fotograf gegen die Verwendung seines Bildes protestierte, bedauerte man das Versehen. Leider waren damit aber schon Zweifel an dem Bild und der Verlässlichkeit der Berichte gesät. Und es sollte noch schlimmer kommen: Eine Woche nach den Taten deckte eine zur Klärung der Hintergründe eingesetzte UN-Kommission angeblich Ungeheuerliches auf. Die Syrer, welche die Toten gefilmt und die Bilder ihrer toten Mitbürger der entsetzten Öffentlichkeit gezeigt hatten, waren in Wirklichkeit selbst die Täter. Sie hatten einfach Mitbürger, die der gleichen muslimischen Glaubensrichtung wie das Unrechtsregime angehörten, abgeschlachtet. Anschließend präsentierten sie die Toten ihres eigenen Massakers als Opfer der feindlichen Regierungstruppen. Mit Schrecken musste die Weltöffentlichkeit registrieren, dass ihr jegliche Koordinaten für eine Parteinahme im syrischen Bürgerkrieg entglitten waren. Als wiederum wenige Wochen später bekannt wurde, dass es die syrischen Regierungstruppen waren, welche die angebliche Entlarvung der wahren Täter lanciert hatten, herrschte angesichts der undurchsichtigen Verhältnisse weltweit bereits Resignation, in den internationalen Medien wie in der Öffentlichkeit.

Beide Episoden zeigen sehr deutlich ein grundlegendes Dilemma auf. Um das Entsetzliche einer Tat zu vermitteln und buchstäblich vor Augen zu führen, bedarf es der Nahsicht, des Einzelschicksals und der Unmittelbarkeit des Bildes. Zugleich erscheint es sofort verdächtig und wirkt angreifbar, wenn man genauer hinschaut. Die Verteidiger des Despoten Taylor und die Bildredakteure der BBC verbindet paradoxerweise ein ähnlicher Zweifel an der Zuverlässigkeit von Bericht und Bild. Die Verteidiger bleiben einfach ihrer zynischen Strategie treu, während die Redakteure der BBC vielleicht die scheinbare Austauschbarkeit solcher Bilder von Massakern hat skrupellos werden lassen. Während Erstere Berichte über Gräueltaten jederzeit anzweifeln können, scheinen Letztere darauf gesetzt zu haben, dass die Wirkung des Bildes davon abhalten wird, nach der Echtheit zu fragen – ein Versuch, der ja auch aufgegangen wäre, hätte nicht der Fotograf selbst dagegen protestiert. Der Bericht der UN-Kommission erübrigte schließlich jede Diskussion über die Pressefotografie und ihre Verlässlichkeit in diesem Fall.

Die Zumutung der Nahsicht wirkt immer verdächtig, da sie den Betrachter tief gehend verstört und ihm die distanzierte Urteilskraft zu rauben scheint. Die Erregung elementarer Affekte führt zu einer Abwehrhaltung, provoziert den Wunsch, die grauenvollen Bilder wieder loszuwerden. Zudem steht sie im Verdacht, die Würde der Opfer ein zweites Mal zu verletzen. Als etwa Daniel Goldhagen 1996 in Hitlers willige Vollstrecker seine Thesen zu den Tätern des Holocaust und ihren Motiven veröffentlichte, kritisierte man nicht nur seinen Umgang mit den Primärquellen. Man warf ihm auch regelrechte Gewaltpornographie vor. Er hatte über Seiten detailliert die Ermordung der Juden beschrieben und damit den Unwillen seiner Leser provoziert. Man lastete dem Autor an, er habe Effekthascherei an die Stelle wissenschaftlicher Analyse gesetzt. Statt den Leser durch solide Interpretation zu überzeugen, habe er ihn mit entsetzlichen Grausamkeiten fesseln wollen.

Gerade die immer wieder gezeigten Fotografien des Holocaust werden mittlerweile von der Forschung daraufhin befragt, ob sie überhaupt in der Lage sind, die Schrecken der Shoa zu zeigen. Bewirkt nicht die Medialisierung, dass das eigentlich Unsagbare eher verborgen wird? Man möchte solche Exzesse nicht sehen oder darüber lesen. Filme, die mit Smartphones von der Ermordung des libyschen Staatsoberhauptes Muammar al-Gaddafi gedreht wurden, fanden in vielen Ländern eine beachtlich geringe Resonanz; zu grausam erschienen die Hinrichtung und die letzten, erbärmlichen Lebensminuten des Diktators. Als verschiedene Boulevardzeitungen den blutigen Kopf des toten Gewaltherrschers auf ihren Titelseiten abbildeten, änderte dies an der skizzierten Haltung nichts.

Es gilt mithin als unstatthaft, Gewaltexzesse in ihren Einzelheiten zu schildern oder zu zeigen. Man verbindet damit billige Schockeffekte, eine Beeinflussung des Lesers und mangelnden Respekt vor den Opfern. Die Schilderungen geraten rasch unter Ideologieverdacht und lassen politische Intentionen vermuten. Dennoch suchen Zeitgenossen authentische Bilder. Als der Leichnam Gaddafis notdürftig gereinigt in der Kühlkammer eines Einkaufszentrums im libyschen Misrata präsentiert wurde, bildete sich rasch eine Schlange von Schaulustigen. Sie gingen diszipliniert an dem toten Diktator vorbei, um sich persönlich von seinem Tod zu überzeugen. Fast alle zogen ein Handy aus der Tasche, um ein Bild von der Leiche zu machen. Sicherlich spielte der Schauder hierbei eine Rolle. Wichtiger scheint aber gewesen zu sein, ein eigenes und daher verlässliches Zeugnis seines Todes zu besitzen.

Dieser Wunsch nach Trophäe und Authentizität, nach Echtheit wirft zugleich ein bezeichnendes Licht auf die Bilder, die man sonst aus zweiter Hand erhält. Ihnen mag man nicht recht trauen – was angesichts der ungeheuren Zahl solcher Fotos überraschend ist. Schaut man sich die Kriegsfotografie des letzten Jahrhunderts an, dann zeigt sich eine ungeheure Zunahme von Bildern, die Opfer physischer Gewalt zeigen. In digitalen Zeiten, in denen jeder filmen und veröffentlichen kann, sind diese nicht mehr zu zählen. Für preiswürdig hält man vor allem jene Fotografen, die nah am Geschehen sind, die den ganzen Schrecken dokumentieren. Je mehr man von den grauenvollen Einzelheiten des Krieges aber zu sehen bekommt, desto fremder und beliebiger erscheinen sie. Das Übermaß an Nähe produziert demnach eine gewisse Ferne. Dem Echtheitsversprechen, das allen Bildern innewohnt, traut man nicht mehr, da man ihre Authentizität nach vielen entlarvten Fälschungen für bloßen Effekt und schlichte Suggestion des Echten und Wahren hält.

Das hier angedeutete Unbehagen an Gewaltbildern hat also ganz unterschiedliche Gründe. Neben einem allgemeinen Abscheu, den tote oder übel zugerichtete Körper verursachen, provozieren Affekte, die Schreckensbilder hervorrufen, Zweifel an ihrer Echtheit und stehen unter Ideologieverdacht. Diese Zweifel scheinen ein probates Mittel zu sein, die Bilder wieder los zu werden, sie zumindest zu relativieren. Es entsteht demnach eine komplizierte Verbindung unterschiedlicher Wirkungen, Neugier, Entsetzen, Abwendung und die tatsächliche oder unterstellte Instrumentalisierung für andere Zwecke greifen ineinander. Das eigentliche Geschehen rückt dabei weitgehend in den Hintergrund, ja verschwindet geradezu aus der Wahrnehmung. Die Bilder verstellen paradoxerweise den Blick auf das, was tatsächlich passiert ist. So ergibt sich ein echtes Dilemma: Einer unendlichen Geschichte von grausamen Gewaltakten steht ein anhaltendes Unvermögen gegenüber, sich darüber adäquat auszutauschen.

Das Wechselspiel von Schaulust, Faszination und dem vielschichtigen Unbehagen, das Gewaltbilder hervorrufen, steht freilich nicht für eine besondere psychische Konstante des Menschen. Es hat seine Wurzeln vielmehr in einer langen Kulturgeschichte der Gewalt. Schon in den Texten der frühen Hochkulturen, vor allem aber in jenen der griechischen und römischen Antike wurden bereits viele Aspekte, die mit der Wiedergabe von Gewalttaten verbunden sind, erprobt, reflektiert und weiterentwickelt. Die Art, wie über Gewalt zu sprechen ist, was man sagen darf und was nicht, was als abscheulich empfunden wird und was nicht, ist ebenso Teil davon wie die Frage, auf welche Weise Gewaltschilderungen dazu dienen können, Regeln der Gesellschaft zu vermitteln. Auch die politische Instrumentalisierung der Gewaltberichte bis hin zur Erfindung von Gräueltaten hat eine breite Spur in der abendländischen Literaturgeschichte hinterlassen. Immer wieder nutzte man Gewaltakte für politische Ziele.

Unsere zwiespältige Wahrnehmung, das Bedürfnis nach Bildern und Authentizität, ihre Ablehnung und Instrumentalisierung stehen folglich am Ende einer langen Geschichte von Gewaltbildern, sie gründen auf einem kulturellen Gedächtnis, das ungeheure Wirksamkeit zu besitzen scheint. Die Kommentare, die man heute zu Berichten über Gewaltexzesse lesen kann, sind daher nicht originell und schon gar nicht innovativ. Die antiken Kulturen haben bereits vieles gesichtet und bis heute wirksame, wenn nicht gültige Muster geschaffen, die zahllos rezipiert und wiederholt wurden und werden.

Entstehung, Geschichte, Weiterentwicklung und vielfach erprobte Erzählung solcher Muster ist Thema dieses Buches. Ein Blick in die Vergangenheit wird uns verständlich machen, wie wir auf Gewalt reagieren, wie wir sie erzählen und worauf das genannte Unbehagen an Gewaltdarstellungen gründet. Susan Sontag hat in ihrem Essay Regarding the Pain of Others zu Recht darauf bestanden, dass wir ungeachtet aller Bedenken gegenüber den Bildern verpflichtet bleiben hinzuschauen, um der Gewalt entgegenzutreten. Die Grausamkeit des Menschen zu leugnen oder auszublenden, indem man auf der Unzuverlässigkeit der Zeugen besteht oder Theorien von Medialität bemüht, sei schlicht psychologisch und moralisch unreif. Vielleicht ist es möglich, bei oder, besser: nach diesem Gang durch die Geschichte antiker Gewaltdarstellungen auch darüber nachzudenken, ob es nicht doch einen Weg gibt, das Grauen so wiederzugeben, dass wir uns wenigstens darüber austauschen können.

KAPITEL 1 Blick in antike Abgründe: Mensch, Gewalt, Kultur

Im Sog der Gewalt

Im Mittelpunkt dieses Buches werden nicht die positiven und hellen Kulturtraditionen stehen, die man seit der Renaissance und dem Humanismus gemeinhin mit der Antike verbindet, sondern ihre dunklen Schattenseiten. Nicht strahlende Marmorarchitektur, edle Körper, faszinierende Vasenbilder und literarische Hochkultur, sondern allein schreckliche Gewaltexzesse und deren Repräsentation.

Bereits seit dem 19. Jahrhundert hat man immer wieder auf die »andere«, die »dunkle« Seite der Antike aufmerksam gemacht, die zuvor in Klassik und Humanismus ausgeblendet worden war. Jacob Burckhardt etwa widmete in seiner Griechischen Kulturgeschichte, die von 1898 bis 1902 aus seinem Nachlass publiziert wurde, ein ganzes Kapitel der Gewalt, welche die Griechen einander antaten. Er war darüber ungehalten, dass die antiken Zeitgenossen auf der einen Seite literarische Hochkultur sowie Architektur und Kunst höchster Vollendung schufen, auf der anderen Seite diese »Zeit der höchsten Kulturblüte« aber von den »greulichsten Exekutionen« begleitet gewesen sei. Die vielfach bewunderten Griechen hinterließen, schaute man genau hin, angesichts »von Ausrottung im Kleinen und in der Nähe (…) einen ganz besonders empörenden Eindruck«.

Seither wurde diese Seite der Antike immer wieder thematisiert. Es fehlt nicht an wortreichen Anklagen, in denen detailliert die Massaker gesammelt, die Toten aufgelistet und die Gefangenen, Versklavten und Kriegsversehrten vorgeführt wurden. Ganz im Sinne Burckhardts erscheint das antike Leben geprägt von gewaltsamem Tod und Verstümmelung. Der Krieg sei zumindest bis zur Friedenszeit im Römischen Reich allgegenwärtig gewesen, habe das Lebensgefühl des Menschen bestimmt und sei Nährboden steter Angst gewesen. Da antike Geschichtsschreibung in erster Linie Kriegsgeschichtsschreibung ist, kann man dahin gehend mühelos ein entsprechendes Kompendium füllen.

Aber auch Verteidiger meldeten sich zu Wort. Sie wiesen darauf hin, dass die Gewaltberichte eben auch moralische Urteile enthielten. Man habe die Gewalt nicht einfach hingenommen oder gar begrüßt, sondern zugleich bewertet. Die dahinterstehenden ethischen Maßstäbe, die griechische Gelehrte und Philosophen formuliert und grundlegend durchdacht hätten, besäßen bis heute Gültigkeit, ihre moralischen Grundsätze könnten noch immer in aktuellen Debatten gewinnbringend zitiert werden. Gerade hierin liege ungeachtet aller Brutalität das unbestreitbar positive Erbe der Antike.

Man erkennt unschwer, was in dieser Diskussion um die antike Gewaltbereitschaft mitschwingt. Die Ankläger versuchen, sich von einer als verstaubt empfundenen humanistischen Gelehrtentradition zu befreien, indem sie die positive Substanz der antiken Traditionen bestreiten. Die Verteidiger wehren sich gegen diese Vorwürfe und relativieren die Gewalt durch kulturelle Verdienste. Die zuverlässige Rekonstruktion antiker Gewalt tritt in dieser ideologisch aufgeladenen Diskussion eher in den Hintergrund.

Das gilt auch für einen weiteren Fragenkomplex, dessen Beantwortung ähnlich kontrovers ausfällt. War die Antike gewalttätiger als die moderne Zeit? Gab es seitdem einen zivilisatorischen Fortschritt? Haben die Menschen gelernt, die Gewalt einzudämmen und erkennbar zu reduzieren?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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