Die siebente Großmacht - Alfred Schirokauer - E-Book

Die siebente Großmacht E-Book

Alfred Schirokauer

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Beschreibung

Den vorliegenden Roman verfasste Schirokauer direkt nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Er schildert eine deutsch-türkische Liebe vor dem Hintergrund des bald ausbrechenden Krieges und des Versuchs russischer staatlicher Akteure, durch Bestechung Einfluss auf die Berichterstattung einer deutschen Zeitung zu nehmen und so die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Historisch interessant sind das klare Freund-Feind-Schema, das den Kriegsparteien entspricht, ein zum Ende hin immer stärker werdender Hurrapatriotismus in pathetischer Sprache und auch die Ansicht, der Krieg sei vor allem von England und Russland dem unschuldigen Deutschland aufgezwungen worden. So hat es damals ein Großteil der deutschen Bevölkerung sicher gerne glauben wollen.

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Inhalt

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

NACHBEMERKUNG

I.

Am 19. September 1913 tagte eine Konferenz der Pressekommission in der russischen Botschaft zu Berlin.

Der Agent Wasmibratow fuhr in seinem Bericht fort: „... und so kann ich Eurer Exzellenz zu meinem Bedauern nur erklären, dass mein Auftrag gescheitert ist. Ich habe mit der Leitung sämtlicher großen Zeitungen Berlins in der diskretesten Weise Fühlung genommen, mir aber überall eine Abfuhr geholt.“

„Unmöglich!“, rief der Botschaftsrat. Seine Augen wanderten in ratlosem Ärger um den Kreis seiner Beamten.

Der Militärattaché versuchte einen matten Trost. „Es ist wie in meinem Ressort, Exzellenz. Zu meiner Verzweiflung muss ich täglich die gleiche Wahrnehmung machen. Trotz meiner eifrigsten Bemühungen gelingt es mir nicht, die Wünsche Seiner Exzellenz des Herrn Kriegsministers zu erfüllen. Diese deutschen Offiziere sind einfach nicht zu bestechen.“

Ein allgemeines Nicken zorniger Missbilligung lief um das Rund des grünen Tisches.

Der Botschaftsrat zupfte ungeduldig an der Seide seiner Krawatte.

„Ja, aber meine Herren“, klagte er eindringlich, „es muss etwas geschehen. Wir können uns doch unmöglich das Armutszeugnis ausstellen, dass es uns allein nicht gelingt. Noch überall hat der russische Rubel gesiegt. Ich brauche es Ihnen nicht zu wiederholen. Sie alle wissen, dass die halbe Pariser Presse in unserem Solde steht, dass wir in Fleet-Street zwei der größten Blätter beherrschen, dass wir in Belgien die öffentliche Meinung nach Belieben beeinflussen. Unsere Kollegen in Bukarest, in Sofia — ja, was soll ich aufzählen? Sie wissen es ja selbst. Denken Sie an die österreichische Monarchie. In Prag haben wir unsere Organe, in Sarajewo, auch in Wien. Und nur hier soll uns nichts gelingen! Meine Herren, kein Mensch in Petersburg wird uns glauben, dass unsere Mühen an der Ehrenhaftigkeit dieses deutschen Volkes zerschellt sind. Sie wissen, für solche Beteuerungen hat man bei uns nur ein fatales Lächeln. Auf uns wird es zurückfallen, uns wird man für Tölpel halten.“

Er faltete die Hände in hilfloser Verzweiflung auf dem Tische.

In bedrücktem Schweigen senkten sich die Stirnen der eleganten Slawen.

„Wie wäre es denn“, fragte unsicher ein junger Sekretär, „wenn wir eine eigene große Zeitung hier gründeten?“

Der Botschaftsrat hob den intelligenten Kopf.

„Hm, eine Idee, Pawel Michaelowitsch. Immerhin eine Idee.“

Die andern nickten eifrig.

Der Botschaftsrat überlegte. „Sie meinen es so, Pawel Michaelowitsch: Wir geben das Kapital, stellen einen gewiegten deutschen Journalisten mit großem Namen an — den wird man finden — und übertragen diesem, unter unserer Ägide natürlich, die Leitung der Zeitung. Eine Idee, meine Herren, nicht wahr?“

Alles beeilte sich, Zustimmung zu bekunden.

Seine Exzellenz wandte sich an den Finanzmann der Kommission. „Iwan Iwanowitsch, wie hoch schätzen Sie die Kosten eines solchen Unternehmens?“

Der Mann mit den feinen Schläfen des Gelehrten sann einige Augenblicke, nahm einen Notizblock vom Tische und rechnete.

Tiefe Stille schwang durch das Zimmer, man hörte das Knarren der Lackstiefel unter dem Tische.

Der Finanzmann riss einen energischen Strich aus dem Papier und verkündete sein Ergebnis.

„Es handelt sich, wenn ich recht verstehe, um eine große Zeitung von Ruf. Sie müsste mit Elan eingeführt werden, müsste sich mit Verve einen großen Leserkreis werben und müsste zu diesem Ende erstklassig redigiert werden. Ich schätze die Kosten der Einführung des Organs auf etwa eine Million Rubel.“

„Na nu!“, rief der Botschaftsrat. Auch die andern verrieten bestürztes ungläubiges Erstaunen.

„Das ist das mindeste“, erhärtete der Finanzmann seinen Überschlag. „Dabei berechne ich natürlich nur die Einführung des Blattes. Ehe es sich rentiert, können Jahre vergehen.“

Da entfuhr es dem Botschaftsrat: „Aber dann ist der Plan unausführbar. Wir würden ja sonst die Mittel verbrauchen, die uns für diesen Zweck zur Verfügung gestellt sind.“

Ein Augurenlächeln rieselte um den Tisch.

Exzellenz erkannte seine unbedachte Offenherzigkeit, lächelte aber auch, halb gnädig, halb listig — man war ja unter sich — ward dann aber gleich wieder ernst und rückte gequält auf seinem Lehnsessel einher.

„Ja, meine Herren“, stellte er kläglich das Ergebnis der Sitzung fest, „dann sind wir ja wieder so weit wie vorher. Ich bin in der allergrößten Verlegenheit. Seine Exzellenz, der Herr Botschafter, verlangt unbedingt, dass wir zu einem positiven Beschlusse kommen. Ich“ — er zog die Uhr, seine Stirn durchfurchten tausend Fältchen — „ich habe um ein Uhr Bericht zu erstatten. Meine Herren, es ist halb eins!“

Peinliches Schweigen. Da hob der Agent Wasmibratow sein durchtriebenes Tatarengesicht. „Wenn ich mir ein Wort gestatten darf, Eure Exzellenz.“

Der Botschaftsrat machte eine gewährende Geste mit der Hand, sein goldenes Kettenarmband klirrte klingend.

„Ich würde mir folgenden Vorschlag gestatten“, begann Wasmibratow. „Die großen Zeitungen sind unzugänglich, auch die mittleren. Es gibt in Berlin aber einige kleine Blätter, die von der Sensationslust der Menge leben. Diese Presse wäre natürlich zugänglich. Ich denke da in erster Linie an die ‚Tagespost‘ und den ‚Argus‘.“

Ein Murren raunte auf. Alles redete durcheinander:

„Das ist doch unmöglich, mit diesen Skandalblättern können wir uns doch nicht einlassen, wir wollen doch Einfluss haben.“

Der Botschaftsrat hob die weiße gepflegte Hand. Langsam verebbte der Aufruhr.

„Sie haben ganz recht, meine Herren, die Vereinigung mit einem solchen anrüchigen Blatte würde den Zwecken unserer Regierung schlecht dienen.“

Wasmibratow lächelte ein unterwürfiges, hündisches Lächeln und erwiderte: „Die Einwendungen dieser hohen Versammlung habe ich mir selbstgemacht. Ich habe mir aber gesagt, dass wenig mehr ist als nichts. Es ist eine Art mittlerer Linie, mit der wir uns, wie ich glaube, zunächst begnügen müssen. Einen ähnlichen Ausweg hat ja auch der Herr Militärattaché gewählt.“

Der Major schleuderte dem Agenten einen wütenden Blick zu, knurrte halblaut „Tölpel“, sah sich aber doch zu einer Aufklärung genötigt, da sein Spion seine Geschäftspraktiken verraten hatte. Er drehte an seinem Schnurrbart, dachte: „Ich muss ihm in Zukunft mehr abgeben, diesem Halunken“, und erläuterte:

„Der Agent hat insofern recht, als ich mich allerdings bescheiden musste. Viel ist hier nicht zu erfahren, wie ich Ihnen ja bereits bemerkt habe. Um nun aber nicht mit ganz leeren Händen vor Seiner Exzellenz, dem Herrn Kriegsminister zu stehen, übersende ich wenigstens geringfügigere“ —— er suchte nach dem Ausdruck — „Ergebnisse: Modelle eines neuen Geschützes, Pläne eines Forts, einer geheimgehaltenen Eisenbahnlinie usw.“

Der Botschaftsrat lächelte fein. „Ich verstehe, Arkad Nikolaijewitsch, ut aliquid fieri videatur, wie wir auf dem Gymnasium sagten. Damit es den Anschein hat, dass etwas geschieht.“

Alles lachte, denn jeder wusste, dass etwas „geschehen“ musste, damit die Rubel, die für den bestimmten Zweck ausgeworfen waren, ins Rollen kamen. In welche Taschen sie dann rollten, auch das wusste jeder Eingeweihte.

Der Botschaftsrat zog wieder die Uhr. „Meine Herren, wir müssen zum Ziele kommen. Dieses Vorgehen auf der mittleren Linie scheint mir bei näherer Überlegung vielleicht doch das Vernunftgemäße. Es ist nicht zu leugnen, dass wenig mehr ist als nichts.“

Er wandte sich dem Agenten zu: „Wenn ich Sie recht verstehe, so meinen Sie Folgendes: Man setzt sich mit einem dieser Blätter — der Ausdruck Revolverpresse ist hier natürlich nicht gefallen“ — er lächelte schelmisch —

Ein vorwitziger kleiner Attaché rief: „Skandalblätter wurde gesagt!“

„Auch das habe ich nicht gehört“, sagte Seine Exzellenz mit Nachdruck. „Wir setzen uns also mit der ‚Tagespost‘ oder dem ‚Argus‘ in Verbindung und besprechen die Sache mit ihnen. Was Sie zu sagen haben, wissen Sie wohl?“

Wasmibratow verbeugte sich bejahend.

„Natürlich so billig wie möglich. Die Sensationsgeschichten müssen aufhören, dagegen müsste“ — er zog wieder die Uhr — „aber das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, Sie wissen Bescheid.“

„Vollkommen, Exzellenz.“

Der Botschaftsrat holte tief Atem, dass sich die weiße Pikeeweste über dem breiten Brustkasten dehnte:

„Dann darf ich wohl, meine Herren, dem Herrn Botschafter berichten, dass die Verhandlungen auf das beste stehen und dass wir wahrscheinlich schon in den allernächsten Tagen einen Erfolg verzeichnen werden?“

Alles verneigte sich lächelnd.

„Dann hebe ich hiermit die Sitzung auf, meine Herren, und danke Ihnen vielmals für Ihre Bemühungen.“

———————————————

Herdal, der Besitzer und Herausgeber des „Argus“, marschierte in der Redaktion auf und nieder.

Die „Redaktion“ war ein kleiner viereckiger Parterreraum, dessen Fensterscheiben auf den Hof eines großen Fabrikgebäudes hinausblickten. Wegen der Schmutzschicht, die filzig die Scheiben überzog, war es freilich ein recht getrübter Ausblick.

Es war kaum drei Uhr. In dem kleinen Bureau aber dunkelte eine schummrige Abenddämmerung. Nur die schwarzstaubigen Lichtreflektoren draußen vor den Fenstern warfen ein fahles bleiweißes Licht gegen die Decke des Zimmers.

Herdal sprach erregt auf den jungen Fedor Ryß ein, der in ungezogen lässiger Haltung am Schreibtische lümmelte. Ryß verkörperte den „Stab“ der Zeitung.

„Also, ich sage Ihnen“, rief Herdal und bückte sich, denn er kam gerade unter dem Brett hindurch, das oben unterhalb der Decke den Raum durchquerte. Dort harrten in rauchgeschwärzten Kästen die Skripturen der Zeitung des Ablaufs der gesetzlichen zehn Jahre, der ihre Vernichtung gestattete. Jedes Mal, wenn Herdal unter dem Brett hindurchschritt, musste er sich tief bücken. Er war ein Hüne. Doch langjährige Gewohnheit knickte ihn schon ganz maschinenhaft im richtigen Augenblick zusammen.

„Also ich sage Ihnen, ich sehe keinen Ausweg. Ich muss die Bude schließen.“

Dabei kämmte er mit zwei speckigen kleinen Bürsten seinen zu beiden Seiten des Kinnes eitel herausgesträubten langen rotblonden Bart.

Ryß blickte schamlos unerschüttert drein und spielte anmutig mit seinem Federhalter.

„Sitzen Sie nicht so teilnahmslos da“, brüllte Herdal und keilte in seiner Wut die Bürsten ineinander, dass sie unlöslich zusammenklebten.

Ryß schaukelte auf dem Stuhle hintenüber, hob den hübschen Kopf und beteuerte frech: „Meine Tränen fließen nach innen.“

„Sie sind ein ganz unverschämter Patron“, schrie Herdal.

„Deswegen bin ich hier angestellt“, belehrte Ryß gelassen und schwang ruhig nach vorn über.

Herdal stand einen Augenblick unschlüssig da, wollte etwas entgegnen, öffnete die Lippen, entschied sich aber anders, riss die Bürsten aus ihrer fettigen Verbrüderung, begann wieder seinen Bart zu strählen und durch das Zimmer zu laufen.

„Ich weiß nicht, wie es kommt“, klagte er, „man gibt sich die allergrößte Mühe. Sensationellere Sachen als wir bringt doch keine Zeitung. Auch die ‚Tagespost‘ nicht. Wer brachte den Skandal des Kaufhauses Gundelmeyer? Wer hat die Schweinerei mit dem Grafen Axhausen ausgebuddelt? Wir! — Wir! Alles wir! Dazu Ihr Stil. Diese diabolische Frechheit Ihrer Feder. Denn das muss Ihnen der Teufel lassen, schreiben können Sie. Und doch — und doch!“

Er hielt die beiden Bürsten weit hinaus in die Luft. Dann ließ er verzagt die Hände niederfallen.

„Kein Erfolg, kein Erfolg. Jetzt drucke ich nur noch 10000. Ich gebe den Straßenverkäufern schon fast den ganzen Verdienst, und 6000 kommen mir zurück. Gestern blieben sogar 7000 bei mir hängen.“

„Ja, ja“, meinte Ryß, „etwas bleibt immer hängen — bei jeder Verleumdung.“

„Lassen Sie die Witze!“, gebot Herdal nervös.

„Das darf ich nicht“, wandte Ryß bescheiden ein, „ich bin zum Witzereißen engagiert.“

Jetzt pumpte Herdal Luft.

„Mein lieber Ryß“, begann er ausholend, voll Wut, „Sie sehen, ich bin in der größten Not. Sie sehen, ich zerbreche mir den Kopf, wie ich morgen früh die beiden Wechsel bezahlen soll. Sie sehen, ich weiß nicht, wo ich übermorgen das Geld für den Drucker hernehmen soll. Und Sie sitzen da und — und — statt mir zu raten, was ich tun soll——“

„Tja“, bedachte Ryß, „da ist guter Rat teuer.“

Der Zeitungsmann sah seinen Chefredakteur unsicher an.

„Wie meinen Sie das?“, fragte er gemartert. „Bei Ihnen weiß man ja nie. Zitieren Sie nur oder wissen Sie einen Rat? Ich bezahle ihn, wenn er auch noch so teuer ist.“

„Ich zitiere nur“, gestand Ryß.

„Dann strengen Sie sich an!“, wetterte Herdal enttäuscht. „Es handelt sich auch um Ihr Wohl. Wenn ich morgen kaputt gehe, liegen Sie wieder auf der Straße.“

„An die Lage bin ich gewöhnt, mein hoher Herr.“

„Sagen Sie nicht immer hoher Herr zu mir“, ergrimmte Herdal.

„Sie sind es doch aber“, lächelte Ryß und ließ seine Blicke langsam an der Riesengestalt des Chefs hinaufgleiten.

Herdal wandte sich entrüstet ab. Plötzlich machte er kehrt und fragte zwischen den Zähnen: „Sie haben wohl nichts mehr?“

Da lachte Ryß herzhaft heraus. „Ihre Naivität ist herzerquickend. Glauben Sie wirklich, wenn ich noch einen Pfennig von meinem Erbteil hätte, würde ich hier in dieser Spelunke sitzen und für Sie Gemeinheiten schreiben?“

„Na, na, tun Sie nicht so“, verwies Herdal. „Das liegt Ihnen. Die Tätigkeit hier entspricht Ihrem innersten Wesen. Jedes Wort von Ihnen ist eine Bosheit und eine Perfidie.“

„Sie irren“, beteuerte Ryß, „ich zwinge mich dazu aus Verehrung und Liebe für Sie.“

Entnervt zuckte Herdal die Schultern und lief wieder auf und nieder. Plötzlich fragte er schüchtern:

„Ihr Bruder hat doch noch seinen Erbteil?“

„Tja“, meinte Ryß, „der hat wohl noch seine paar Kröten.“

„Könnten Sie nicht mit ihm sprechen?“, wagte Herdal sehr sanftmütig.

„Nee“, rief Ryß, „könnte ich nicht. Erstens habe ich ihn schon genug gekostet, zweitens ist er Gift und Galle, dass ich an Ihrem Schundblatt mitarbeite, und drittens bin ich kein solcher Verbrecher, ihn dazu zu animieren, seine paar Groschen in Ihre Pleite zu stecken.“

Herdal warf zorneswütend die Bürsten auf den Tisch. Sie hüpften zu Ryß hinüber, der sie mit behutsamem Ekel mittels des Federhalters aus seiner Nähe schnippte.

Herdal tat, als sähe er nichts.

„Wenn ich nun mal mit Ihrem Bruder spräche“, versuchte er vorsichtig. „Wenn ich ihm vorstelle — ich weiß mir wirklich keinen Rat mehr — wenn ich ihm nun vorstelle, dass Sie doch bei mir ein gutes Unterkommen gefunden haben, dass sein Geld gut verzinst wird — das wird es nämlich. Grinsen Sie nicht so niederträchtig! Wir müssen uns dann eben kolossal zusammenreißen. Sie haben es ja unmittelbar in der Hand, für Ihren Bruder zu sorgen. Ja, was meinen Sie?“

Ryß starrte seinen Chef zuerst ungläubig an. Er meinte, der Mann wolle ihn narren. Dann erkannte er den verzweifelten Ernst. Rasch legte er die Hand über den bartlosen Mund, das schabernacksrohe Lächeln zu verbergen. Ihn ritt wieder einmal der Teufel. Mit gutgespielter Aufrichtigkeit erwog er: „Hm, wenn ich es ernsthaft bedenke — schließlich ist Ihr Blatt ja auch nicht so schlecht. Ich entsinne mich jetzt auch, dass Herbert mir vor längerer Zeit einmal sagte, er wolle sein Geld nutzbringender anlegen. Hohe Zinsen freilich—“

„Aber das würde ich! Zwanzig Prozent, wenn er will. Not kennt kein Gebot.“

„Doch. Machen Sie ihm eins!“

„Was?“, fragte Herdal.

„Na, ein Gebot. Gehen Sie zu ihm. Jetzt treffen Sie ihn sicher zu Hause. Sagen Sie ihm, ich bäte ihn auch. Sie haben ja eine gewisse Überredungskunst. Was haben Sie mir alles vorgeredet, als Sie mich in diese Lasterhöhle lockten! Übrigens, Sie haben meinem Bruder ausgezeichnet gefallen, als er Sie neulich hier kennenlernte. Er hat es mir gleich damals gebeichtet.“

Herdal stolperte in die Falle. Die Not blendete ihn. Er sah einen Weg, den nahm er blindlings. „Sie meinen also wirklich?“, fragte er misstrauisch, aber doch hoffnungsvoll.

„Natürlich meine ich———“

Fünf Minuten später war Herdal unterwegs.

Ryß aber hatte sich in den Lehnstuhl seines Brotherrn geworfen und lachte, dass die ramponierten Federn stöhnten.

Das war sein kapitalster Streich. Herdal bei seinem Bruder! Bei Herbert, der seine paar Groschen wie ein Geizhals hütete. Der neulich gekommen war, ihn mit tausend Bitten zu bestürmen, diese Verbrecherhöhle — das war der Ehrentitel, den er brauchte — zu verlassen, den guten ehrlichen Namen der Familie nicht durch dieses Erpresserblatt zu besudeln. — Zu dem ging Herdal. Und auf Herdal — Ryß wippte vor Lachen — auf Herdal hatte er gesagt: „Dieser Kerl, der von Verleumdung lebt, wagt, mir die Hand anzubieten. Die hätte kein Wasser wieder rein gewaschen!“

Er lehnte sich in den Sessel zurück und lachte und lachte und bedauerte schmerzlich, dass er dieser grotesken Begegnung nicht beiwohnen konnte.

Da klopfte es. Herein trat Wasmibratow, der Agent.

II.

Bald stand Herdal vor dem Hause in der Schaperstraße, in dem Herbert Ryß wohnte.

Der Bursche öffnete.

„Ist Herr Oberleutnant Ryß zu sprechen?“, fragte der Verleger und entnahm einer dunkelspeckigen Ledertasche eine vergilbte Visitenkarte.

Der Bursche zog ein bedenkliches Gesicht.

„Der Herr Oberleutnant ist man eben von der Generalstabsreise zurückgekommen. Wird wohl nicht zu sprechen sein.“

Herdal steckte die Finger in die Seitentasche seines Rockes und zog vier Nickel hervor.

„Melden Sie mich nur“, ermunterte er und gab dem Burschen das Geld. Das heißt, er wollte es ihm geben. Beim Aufzählen in die große, bereit gehaltene Tatze besann er sich indessen eines Besseren und hielt zwei Nickel zurück. Zwanzig Pfennig taten es schließlich auch.

Der Bursche ging, kam aber sehr bald zurück und meldete:

„Der Herr Oberleutnant ist nicht zu sprechen.“

Herr Herdal besann sich eine kurze Weile, dann sagte er:

„Gehen Sie noch einmal hinein und sagen Sie Herrn Ryß, es handelt sich um eine wichtige Mitteilung über seinen Bruder.“

Und als der Bursche zögernd dem Gebot gehorchte, rief er ihm noch nach:

„Sagen Sie, eine äußerst wichtige Mitteilung über seinen Bruder!“

Diesmal erschien der Bursche aus einer anderen Tür, hielt sie einladend auf und verkündete:

„Herr Oberleutnant lassen bitten.“

Mit einem Lächeln befriedigter Schlauheit trat Herdal ein.

Es war ein geschmackvoll möbliertes Herrenzimmer. Durch die angelehnte Tür der Seitenwand drang das Geräusch hastigen Ankleidens. Bald darauf trat Herbert Ryß ein.

Die Ähnlichkeit mit dem Bruder war überraschend — im ersten Augenblick. Dieselbe Struktur des braunen Kopfes, die gleichen Züge intelligenter Energie, dieselbe schlanke sportgestählte Gestalt. Doch die Verschiedenheit des Charakters verriet sich bei näherer Prüfung: bei dem Jüngeren böse Hohnlinien um den Mund und ein Flackern im Blick, hier Gradheit in den blauen Augen und mannhafte Herbheit um den ernsten Mund.

Herdal machte eine tiefe Verbeugung und schwenkte seinen grauen weichen Hut in einer eigentümlich theatralischen Weise, dass die Krempe aufschlug wie ein Deckel.

»Ich gehe wohl nicht fehl, Herr Oberleutnant“, hob er gespreizt an, „in der Vermutung, dass ich nicht als ein Unbekannter vor Ihnen stehe.“

Ryß zeigte auf einen Stuhl.

„Was ist mit meinem Bruder?“, fragte er, und es gelang ihm nicht, die Angst und Unruhe ganz zu meistern, die in seiner Stimme zitterte.

Der Verleger hatte Platz genommen. „Ich will Ihre kostbare Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Ich höre, Sie sind eben von einer Generalstabsreise zurückgekehrt. Da darf man wohl gratulieren?“

Ryß setzte sich. „Ich bitte Sie, mir mitzuteilen, was Sie mir über meinen Bruder zu sagen haben. Einer Einleitung bedarf es nicht.“

Herdal puffte die Röllchen zurück, die ihm über die Hände gefallen waren.

„Die Sache ist die“, holte er aus, „Sie wissen, Herr Oberleutnant, dass Ihr Bruder bei mir, ich darf wohl sagen, endlich ein anständiges Brot gefunden hat.“

Ryß klopfte ungeduldig mit der Sohle auf den Fußboden.

„Es ist ja leider eine Ihnen bekannte Tatsache, dass Ihr Bruder — ich will nicht gerade sagen ein Tunichtgut war, aber er hat Ihrer werten Familie und Ihnen doch früher recht große Sorge gemacht.“

„Ich weiß wirklich nicht——“ unterbrach Ryß.

„Sie werden es sofort wissen, es gehört zur Sache. Ihr Herr Bruder war sozusagen das schwarze Schaf der Familie. Sein medizinisches Studium hat er aus Scheu vor dem Examen abgebrochen—“

„Herr Herdal, meine Zeit ist gemessen.“

„Sofort, sofort, Herr Oberleutnant. Ich will nur resümieren. Er hat Ihnen nach dem Tode Ihrer werten Eltern arg auf der Tasche gelegen — sein Erbteil hatte er ja schnell verjuxt — seine Versuche auf dem Gebiet des Journalismus haben keine ersprießlichen Früchte gezeitigt, bis ich — Sie sehen, Herr Oberleutnant, ich bin schon am Ziele — mich seiner annahm.“

Ryß schlug ein Bein über das andere, dass der Steg die Hose straffte, und erklärte:

„Ich wiederhole, ich verstehe nicht, weshalb Sie diese alten Geschichten aufwärmen, die mir doch wahrhaftig schmerzlich genug bekannt sind.“

„Ich bin ja schon am Ziele, Herr Oberleutnant. Es ist Ihnen doch sicher daran gelegen, dass Ihr Herr Bruder diese gute Stellung behält. Dass er Ihnen morgen nicht wieder auf der Tasche liegt. Nicht als ob ich ihn entlassen wollte. Ich bin äußerst zufrieden mit ihm. Seine stärkste Seite ist ja die Ironie, die gerade mein Blatt nachdrücklichst pflegt. Aber — nicht als ob meine Zeitung schlechtstünde. Davon kann nicht die Rede sein. Nur die Konjunktur, Herr Oberleutnant, die Konjunktur! Diese leidige ewige Balkankrise. Sie wissen ja selbst, wie die Geschäftswelt darunter leidet. Das Geld ist knapp—“

Hier unterbrach Ryß jäh.

„Herr Herdal, ich ersuche Sie jetzt zum letzten Male, klipp und klar zu sagen, was Sie mir von meinem Bruder zu berichten haben.“

„Das tue ich doch fortwährend, Herr Oberleutnant.“

Wieder schob er die vorwitzigen Röllchen zurück. „Die Sache ist die: Geht mein Blatt ein, so ist Ihr Bruder stellungslos.“

Da sagte Ryß: „Ich würde es mit Freude begrüßen, wenn mein Bruder nicht mehr bei Ihnen tätig wäre.“

„Nanu!“, Herr Herdal ließ vor Staunen den Hut fallen. „Das verstehe ich nicht. Sie würden es begrüßen, wenn Ihr Bruder wieder zum Tagedieb würde! Wenn er Ihren ehrlichen Namen wieder durch den Schlamm schleifen würde, aus dem ich ihn gezogen habe?! Herr Oberleutnant!“

Ryß zog sich in sich zusammen und sagte fest: „Meiner Meinung nach kann er seinen guten Namen nicht tiefer durch den Schlamm schleifen, als wenn er an Ihrem Blatte mitarbeitet.“

Da schnellte Herr Herdal empor. Aus seiner gewaltigen Höhe wetterte er hernieder: „Wie, Herr Oberleutnant, soll ich diese Äußerung verstehen?“

„So, wie sie gemeint ist, Herr Herdal.“

„Darf ich Sie ersuchen, sich zu erklären, wie sie gemeint ist?“

„Wenn Ihnen daran liegt, dass ich noch deutlicher werde, so kann ich Ihnen ja bekennen, dass ich Ihr Blatt für eine Werkstätte der Verleumdung halte.“

Herr Herdal schluckte vor Wut, öffnete den Mund, beherrschte sich dann aber klüglich und sprach milde, indem er sich wieder setzte:

„Ah, Herr Oberleutnant, Sie sind leider, wie so viele, falsch unterrichtet. Eine Werkstätte der Verleumdung! Welch ein Hohn auf unsere Bestrebungen! Wissen Sie“ — er beugte seinen langen Oberkörper dem Offizier entgegen — „was wir in Wahrheit sind? Ein Kulturfaktor ersten Ranges.“

Diese Verkündigung schoss er hervor wie aus einer Kanone.

„Das ist keine Übertreibung. Wir decken die Fäulnis der Reichen auf, wir leuchten hinein in ihr Lotterbett, wir enthüllen die geheime Schande so manches scheinbar achtunggebietend dastehenden Hauses.“

„Ich weiß, ich weiß!“, Ryß sprang auf. „Und Sie schweigen, sobald der Beleuchtete Ihnen sein Schweigegeld entrichtet hat. Ihre Praktiken sind bekannt.“

„Auch darin sind Sie falsch berichtet“, entgegnete Herr Herdal voll Sanftmut. „Das ist böswillige Entstellung. Gewiss hat uns der eine oder andere, in dem wir die Reue geweckt haben, einen Beitrag für die Armen zur Verfügung gestellt. Merken Sie sich das, Herr Oberleutnant, für die Armen, sage ich.“ Er sprach groß und erhaben und stand da wie ein Prophet.

Ryß machte eine Bewegung mit der Hand durch die Luft. „Die Sache ist für mich erledigt. Meine Zeit ist um, Herr Herdal.“

„Es scheint, als habe ich Sie nicht überzeugt“, bemerkte Herr Herdal voller Bedauern.

„Nein, nicht ganz. Sie als Sittenrichter, Herr Herdal! Mein Bruder Fedor als Moralist! Zu solchen Scherzen fehlt mir der Humor.“

Da entsann sich Herr Herdal und rief: „Ich begreife Sie nicht, Herr Oberleutnant. Wie konnten Sie Ihre Meinung so schnell ändern! Es sind kaum sechs Wochen her, da waren Sie von mir entzückt.“

Ryß starrte ihn an. „Ich?!“

„Jawohl, Sie. Damals, als Sie mir die Ehre Ihres Besuches in meiner Redaktion erwiesen. Ihr Herr Bruder hat es mir noch vorhin verraten.“

Da konnte Ryß ein Lächeln nicht bezwingen.

„Ihr Mitarbeiter, Herr Herdal, ist ein boshafter Spötter.“

Jetzt staunte Herr Herdal. Doch Ryß unterbrach seine Verblüffung, indem er die Uhr zog, darauf niederblickte, sie wieder einsteckte und sagte:

„Herr Herdal, ich muss zu meinem Bedauern fortgehen.“

Da packte den Mann die Angst. „Bester, liebster Herr Oberleutnant“, rief er und faltete die Hände. „Nur noch zwei Minuten. Sie können mich nicht so gehen lassen. Es handelt sich um die Existenz Ihres einzigen Bruders. Ich will ganz ehrlich sein, es handelt sich auch um meine eigene Existenz. Mehr als hohe Zinsen können Sie doch auch von Ihrem Gelde wo anders nicht bekommen. Ich bin zu jedem Zinsfuß bereit. Es kann Ihnen doch gleich sein, ob Sie Ihr Geld zu 2 Prozent auf der Bank liegen haben oder ob es zwei Menschen das Leben rettet und Ihnen 20 Prozent bringt.“

Er hob die Hände immer höher. Die Ärmel der Jacke rutschten herauf, das wollene Hemd kam zwischen den Röllchen und den Rockärmeln zum Vorschein.

„Was?“, fragte Ryß und bog den Kopf vor.

„Es handelt sich nur um 4000 Mark. Eine Bagatelle. Ich muss sie heute haben. Sie besitzen doch noch Ihr ganzes Erbteil, Sie sind doch so wacker und so solide. Retten Sie einen braven Mann, dem das Schicksal Ihres Bruders — glauben Sie es mir“ — er legte die Hände flach in die Luft und schüttelte sie wie ein Derwisch — „innig am Herzen liegt.“ Dabei schlug er die Rechte auf die Brust, in der Herzgegend.

„Wenn ich Sie recht verstehe“, sagte Ryß kühl, „verlangen Sie von mir Geld für Ihre Zeitung.“

„So ist es“, rief Herdal verklärt und hoffnungsbestrahlt.

„Ich kann das nur für einen schlechten Scherz halten“, erklärte Ryß gelassen. „Ich muss aber offen gestehen, ich halte diesen Witz für eine — ja offen gesagt — für eine kolossale Arroganz.“

Jäh enttäuscht stammelte Herdal:

„Aber Ihr Bruder sagte doch, Sie würden sicher—“

„Ich habe Sie schon einmal darauf aufmerksam gemacht, Herr Herdal, dass mein Bruder ein boshafter Spötter ist. Und hiermit dürfen wir diese Unterredung wohl beschließen.“ Er machte einige Schritte auf die Tür zu.

Herdal wischte verzweifelt mit den Händen über das Gesicht. Nein, nein, das durfte nicht sein, dann war er ja verloren. Kläglich lief er hinter dem Oberleutnant drein und hob flehend die Hände zu ihm empor.

„Wenn Sie mir das Geld nicht geben, Herr Oberleutnant, bin ich ein verlorener Mann. Ich schwöre Ihnen, ich muss mich erschießen.“

Ryß schwieg und klopfte wieder ungeduldig mit den Sohlen auf den Fußboden.

„Ich will Ihnen ja jede Sicherheit geben, Sie sollen nicht einen Pfennig verlieren. Meinetwegen nehmen Sie 30 Prozent.“

„Meine Zeit ist zu Ende.“

Jetzt wurde Ryß zornig.

„Liebster, gutester Herr Oberleutnant!“

„Herr Herdal“, rief Ryß beherrscht, „wenn Sie jetzt nicht gehen, muss ich zu meinem Bedauern dem Burschen befehlen, Sie hinauszubegleiten.“

Hier reckte Herdal sich zu seiner imposanten Größe und drohte: „Was, Sie werden es wagen, einen Vertreter der Presse—“

Ryß öffnete die Tür.

Da überkam es Herdal noch einmal. „Sie werden nicht so unmenschlich gegen Ihren Bruder sein. Sie sind ein preußischer Offizier——“

Ryß war draußen im Korridor und sprach mit dem Burschen. Gleich darauf kam er zurück, der Bursche stand stramm im Türrahmen.

„Ich darf Sie wohl bitten—“ sagte Ryß mit einer leisen Drohung im Ton.

Da raffte Herr Herdal seinen Hut vom Boden und ging zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um.

„Es handelt sich doch nur um 4000 Mark.“

Ryß gab dem Burschen einen Wink. Der trat einen Schritt auf Herdal zu. Da stülpte der Besitzer des „Argus“ den Hut auf den Kopf und schleuderte pathetisch dem Burschen entgegen:

„Wagen Sie es, Sie Rekrut, einen Ehrenmann zu berühren!“ Dann hob er die Hand und rief Ryß kassandrahaft zu:

„Sie werden es bereuen. Die Presse ist eine Großmacht!“ Machte kehrt und marschierte hocherhobenen Hauptes hinaus.

Draußen aber knickte er sichtlich zusammen.

———————————————

Inzwischen hatte Fedor Ryß im „Redaktionsgebäude“ mit dem Agenten Wasmibratow wichtige Verhandlungen gepflogen.

Der Abgesandte der russischen Botschaft hatte zunächst nach dem Besitzer des „Argus“ gefragt. Als er erfuhr, dass Herr Herdal nicht anwesend sei, kam ihm der Gedanke, den Boden noch ein wenig zu sondieren. Auf Fedors freundliche Einladung nahm er Platz.

„Ich komme in einer sehr wichtigen Mission“, deutete er diskret an, „deren Zweck ich nur dem Herrn Chef persönlich angeben kann.“

„Der Herr Chef“, erwiderte Fedor mit Betonung, „ist zurzeit auf einem wichtigen Gange, man könnte fast sagen, auf einem lebensentscheidenden Gange.“

„So, so“, rief der Agent, „das ist ja sehr interessant. Natürlich ist der Zweck dieses Ganges ein Geschäftsgeheimnis?“

„Sie haben es erraten“, bestätigte Fedor.

Hier bog der Agent ab, um im ferneren Verlauf des Gespräches den jungen Mann weiter zu umgarnen. Zunächst lobte er:

„Die Artikel Ihrer Zeitung sind mir aufgefallen. Sie sind mit einer Schärfe des Witzes geschrieben, die geradezu etwas Geniales hat.“

„Sie sind Russe?“, fragte Fedor unvermittelt.

Wasmibratow stutzte und lächelte gefasst.

„Sie haben es an meinem Akzent unschwer erraten. Ich werde Ihnen beweisen, dass ich ebenso scharf urteile. An dem Akzent Ihrer Worte habe ich den Verfasser jener Artikel erraten.“

Fedor verbeugte sich halb höhnisch, halb geschmeichelt.

Der Agent hatte inzwischen erkannt, dass sich mit dem jungen Manne reden ließ. Er ging daher schnurgerade auf sein Ziel los:

„Sie flößen mir Vertrauen ein, Herr. Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen. Ich komme im Auftrage der russischen Botschaft.“

„Das weiß ich längst“, log Fedor.

Wasmibratow durchschaute die Lüge und lächelte demütig.

„Wenn ich das nicht gewusst hätte, wäre ich nicht so offen gewesen. Sie werden fraglos auch das bereits erwogen haben, dass meine Mission von höchster Bedeutung für Ihr Blatt ist.“

„Ich konnte mir allerdings denken“, entgegnete Fedor liebenswürdig, „dass ein Mann Ihres Ranges sich in einer unbedeutenden Angelegenheit nicht zu uns bemühen würde.“

Es ward ihm immer schwerer, diese ironische Kühle als bergenden Mantel um seine fiebernde Neugier und Spannung zu hüllen.

„Sie überschätzen meine geringe Person“, erwiderte Wasmibratow mit einer Bescheidenheit, die deutlich seine Wichtigkeit kundtat. „Aber da Sie schon alles erraten haben, kann ich mich ja kurzfassen. Wir brauchen in Berlin eine uns ergebene Zeitung.“

„Und da die großen Zeitungen nicht käuflich sind, wenden Sie sich an das hervorragende Organ ‚Argus, Zeitschrift für deutsche Kultur!‘“

„Sehr richtig“, bemerkte der Agent, „Ihr Geist ist durchdringend.“

Fedor antwortete nicht und wartete.

„Sie wissen sicher, dass wir in der ganzen Welt unsere Presse besitzen.“

„Natürlich“, warf Fedor nachlässig hin. Er hatte keine Ahnung.

„Es handelt sich also für uns darum, diesem glanzvollen Ringe auch Ihr Blatt einzufügen—“

„Als funkelnden Edelstein“, ergänzte Fedor.

Der Russe nickte höflich zustimmend.

„Die Tätigkeit, die ich mir für Ihr Blatt denke, ist eine ganz einfache. In jeder Nummer müsste ein russenfreundlicher Artikel erscheinen — am besten aus Ihrer geistvollen Feder. Zum Beispiel: Die andern Zeitungen berichten über Bedrückung in Finnland. Schon muss ein Leitartikel Ihres Blattes diese durchaus falsche Meldung bekämpfen. Es muss ausgeführt werden, dass Finnland in größter Zufriedenheit und Freiheit lebt und die russische Herrschaft dankbar als einen Segen empfindet. Das muss eindringlich in Einzelheiten dargestellt werden. Äußerungen, Briefe von Finnländern an deutsche Freunde müssen in authentischer Übersetzung gebracht werden usw. Das Material hierzu würden wir natürlich liefern.“

Fedors rascher Verstand hatte sofort begriffen. „Ihr Material würde, wenn ich recht verstehe“, sagte er prompt, „darin bestehen, dass Sie uns einige echte finnische Namen nennen.“

„Sehr richtig“, grinste der Tatar. „Wir geben Ihnen einige finnische Namen nach dem Helsingforser Telefonbuch, und Sie schreiben dazu die Äußerungen und Briefe dieser Leute. Oder irgendwo findet ein Pogrom statt — das heißt irrtümlich berichten die anderen Blätter darüber. — Dann würde es Ihre dankbare Ausgabe sein, die beeidigte Schilderung eines Augenzeugen zu bringen, der gesehen hat, dass es aus irgendeinem kleinlichen Anlass zwischen einem jüdischen und einem christlichen Bürger zu einer lächerlich geringfügigen Schlägerei gekommen ist und dass unser Militär und die Polizei sofort die Partei des Israeliten ergriffen und den Skandalmacher ins Gefängnis abgeführt hat. Sie verstehen doch?“

Fedors Mundwinkel zitterten. „Ich übersehe mein Arbeitsfeld bereits. Ich würde Ausflüge nach Sibirien machen müssen, um mich davon zu überzeugen, dass die Verbannten in Saus und Braus leben. Ich würde in die Gefängnisse wandern und sehen, wie die Gefangenen von Mütterchen Russland verhätschelt werden. Ich würde darüber zu berichten haben, wie die Kosaken in das Volk nur hineinreiten, um Gaben von Väterchen Zar zu verteilen. Ich würde———“

Wasmibratow hob die Hand. „Sie haben Ihre Aufgabe erkannt. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer schnellen Auffassungsgabe.“

Dann änderte er plötzlich den Ton und sprach geschäftlich.

„Natürlich müsste sich die Zeitung vollständig — sagen wir — häuten. Das“ — er schlug nachdenklich die Fingerspitzen zusammen — „hm, Sensationelle müsste aufhören, die Auflage müsste bedeutend erhöht werden, es müsste eine energische Propaganda einsetzen, das Blatt müsste in weitere Kreise dringen. Natürlich würden wir zu den Geldmitteln, die hierfür erforderlich wären, einiges beitragen. Apropos, da fällt mir ein, ein wichtiger Beruf der Zeitschrift wäre ihre Tätigkeit in einem Krieg, der, was ja allerdings kaum zu erwarten ist, zwischen Russland und einem anderen Staat ausbräche.“

„Mit uns zum Beispiel“, schlug Fedor entgegenkommend vor.

Der Russe wehrte ab: „Das ist doch ausgeschlossen.“

„Das Bündnis mit Frankreich und die Liebäugelei mit England sind eine Friedensversicherung für Deutschland.“

„Das sind sie“, beteuerte Wasmibratow. „Wir kennen unsere Schwäche viel zu gut, um mit Deutschland anzubinden.“

„Sie haben auch noch nicht alles ausspioniert“, fügte Fedor gefällig ein.

„Auch das“, gab der Russe zu. „Und aus all' diesen Gründen eben wirken wir durch unser Bündnis bremsend auf Frankreichs Revanchegelüste. Aber nehmen wir an, wir bekämen einen Krieg mit — meinetwegen mit der Türkei. Dann würde unsere Zeitung — will sagen Ihre Zeitung, allein unsere Siegesbulletins erhalten und sie zu verbreiten haben, während wir dafür sorgen würden, dass die Öffentlichkeit im Übrigen von den Nachrichten vom Kriegsschauplatz abgesperrt wird.“

„Auch dieses verstehe ich. Es würde mir die gewiss nicht leichte strategische Aufgabe zufallen, die russischen Niederlagen in Siege zu verwandeln.“

„Falls, was wir nicht hoffen wollen, an Ihr Feldherrntalent solche Ansprüche gestellt werden müssten, hätten Sie sie allerdings zu erfüllen. Doch wir können jetzt im einzelnen Ihre Aufgabe nicht erschöpfen. Kehren wir zu der wichtigen Frage zurück, die ich vorhin angeschnitten hatte. Wie groß, glauben Sie wohl, müsste der Zuschuss sein, den Ihr Blatt von uns erhielte, um den angedeuteten Aufgaben gerecht zu werden?“

„Hm“, brummte Fedor und fühlte, dass sich jetzt eine Gelegenheit bot, wie sie sich jedem Leben nur einmal bietet. Jetzt konnte er den Grundstein zu einem Reichtum legen. Jetzt oder nie. Langsam sagte er:

„Billig kann das nicht sein. Abgesehen von der Reklame, von der Kursänderung, von der Propaganda, die Sie verlangen, bedarf es für diese ungewöhnliche Art der Berichterstattung eines ungewöhnlichen dichterischen Genies.“

Der Russe verbeugte sich galant, deutete auf Fedor und sagte:

„Das uns zu Gebote steht.“

„Genie ist nicht billig“, erwog Fedor. „Auch gehört eine gewisse robuste Inspiration dazu, täglich Beispiele russischen Edelmuts zu erfinden.“

„Nennen Sie die Summe“, gebot der Russe ernst, „über die Schwierigkeiten sind wir uns klar.“

Da wich Fedor aus. „Das ist doch Sache meines Chefs“, erklärte er, „da kann ich gar nichts sagen.“

„Nun Ihr Chef“ — der Russe wagte jetzt einen Coup — „wird doch auf alles eingehen, denn es wird ihm nicht gelingen, das Geld aufzutreiben.“

„Welches Geld?“, fragte Fedor und nahm alle Verstellungskunst zusammen.

„Sie waren doch vorhin so liebenswürdig“, erläuterte Wasmibratow, „mir mitzuteilen, dass Ihr Herr Chef auf dem Wege ist, Geld aufzutreiben.“

„Ich?!“

„Sie brauchen nicht zu bereuen“, beruhigte ihn der Agent. „Ich bin informiert, ich weiß, wie Sie stehen. Also unter uns, wie viel, denken Sie, müssten wir jährlich zahlen?“

„Schlagen Sie vor“, befahl Fedor.

„Na, sagen wir“ — der Russe rechnete scheinbar eifrig — „vierzigtausend Mark.“

„Na, sagen wir“ — Fedor äffte seinen Tonfall nach — „hunderttausend Mark.“

„Ausgeschlossen!“, rief der Agent mit Emphase.

Da sagte Fedor und spielte interessiert mit dem Federhalter:

„Machen wir's kurz. Herr Herdal bekommt fünfzigtausend Mark, den Rest teilen wir beide.“

Wasmibratow blickte den jungen Mann streng an, dann begann es langsam über sein Tatarengesicht zu leuchten.

„Sie haben ein russisches Gemüt“, lachte er und hielt Fedor die Hand hin.

Fedor schlug ein und sagte:

„Tja, ich fange eben schon an, in Ihrem Sinne zu wirken.“

III.

Mit tiefen Kummerfalten in den Augenwinkeln schritt Herbert Ryß die Schaperstraße entlang. Das Gespräch mit Herdal bohrte in ihm. Seine Miene wurde immer finsterer.