Die Signatur des Kain - Avan Anson - E-Book

Die Signatur des Kain E-Book

Avan Anson

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Beschreibung

In der biblischen Legende von Kain und Abel geht die Bedeutung des Kainsmals über den eigentlichen Brudermord hinaus. Aber was genau ist dieses Zeichen? - Kains Strafe für sein Verbrechen ist hart: Er wird aus dem Land vertrieben und zu einem Leben auf der Wanderschaft verurteilt. Doch dieses Zeichen wird auch zu einer Signatur, die ihn vor seinem existentiellen Verlust bewahrt. Gekonnt holt der Autor diese alte Erzählung in die Gegenwart und entwirft ein biografisches Psychogramm Kains vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden deutschen Staaten. Während Abel aufgrund seiner unerschütterlichen politischen Loyalität einen bemerkenswerten beruflichen Aufstieg erfährt, stößt Kain in seinem Streben nach einer Promotion auf zahlreiche Hindernisse. Diese Hindernisse gipfeln schließlich in einer gewalttätigen Auseinandersetzung, die Abel zu einem längeren Krankenhausaufenthalt zwingt. Kain wird in einem Gerichtsverfahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Während seiner Inhaftierung reift in ihm der Gedanke seiner Flucht in den Westen. Er hält seine Pläne streng geheim, zumal die Stasi ein großes Interesse an ihm hat. Er unternimmt mehrere Versuche, sein Ziel, die Flucht, zu erreichen. In der Bundesrepublik angekommen, zerbricht Kains Beziehung zu seiner Freundin, und er findet niemanden mehr, an den er sich wenden kann. Dies führt ihn in ein Notaufnahmelager. Oberflächliche Begegnungen stempeln ihn als "Ossi" ab, aber er trifft auch auf echtes Mitgefühl von Menschen, die ihm Hilfe und Zuspruch geben. Ein Gespräch mit einem Pfarrer verändert letztlich seine Lage. Von diesem Moment an geht es für Kain beruflich steil bergauf, bis er schließlich zum Universitätsprofessor berufen wird. An seinem achtzigsten Geburtstag überdenkt er die wichtigsten Meilensteine seines Lebens. Er erinnert sich an seine Erfolge, aber auch an sein Versagen im Dienst, an seine gescheiterte Ehe und die Auseinandersetzungen mit seinen Kindern. Diese Episoden und viele weitere ziehen reflektierend an ihm vorbei, so dass er sagen kann: Mein ganzes Leben lang war ich ein ruheloser Geist, ein getriebener Mann. Ich bin nie wirklich angekommen. Und doch: Ich habe allen Grund, mit mir selbst zufrieden zu sein. Es ist faszinierend zu erfahren, wie Kain trotz seiner Unrast letztendlich bei sich selbst angekommen ist. Die Geschichte lädt dazu ein, über die eigene Lebensreise nachzudenken und sich mit den eigenen Erfahrungen und Entscheidungen auseinanderzusetzen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Warum ergrimmst du? Und warum verstellt sich deine Gebärde?

Da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot

Und verflucht seist du auf der Erde

Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden

Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande

Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge

Prolog

„Warum sie nur keine Übereinkunft, kein Miteinander finden?“, rätselte die Sonne bei sich.

Und schon meldete sich der Tag. „Ach, ich kann die Nacht nicht verstehen. Sie will es nur immer dunkel haben. Das mache ich aber nicht mit! Alle Welt freut sich, wenn es hell ist.“

„Du nimmst stets nur Deine Position lautstark und entschieden ein und bedenkst nicht, dass alles Leben auch Zeiten der Erholung und Entspannung nötig hat. Das geht aber nicht ohne Dunkelheit!“ Entgegnete die Nacht.

„So unversöhnlich auch eure Standpunkte sind; jeder ist auf seine Weise vertretbar. Was jeder von euch will, das hat durchaus eine positive Absicht. Darüber könnt ihr mal nachdenken ... Weshalb könnt ihr nicht miteinander einvernehmlich umgehen? ... Das geht allerdings nur, wenn ihr die Sichtweise des Anderen berücksichtigt.“

Ermahnte die Sonne Tag und Nacht.

„Wer je einen anderen kränkt oder gar beleidigt, einerlei, ob dabei Unrecht oder Recht im Spiel ist, der ist töricht, selbst wenn er durch Bitten oder Tränen Verzeihung zu erhalten glaubt. Also solltet ihr eure Unvereinbarkeiten zu Grabe tragen!“

Alle guten Worte, sich einander anzupassen, zu akzeptieren und sich miteinander abzustimmen, halfen indessen nichts. Jeder meinte, der Andere sei im Unrecht und berücksichtige die Gegenseite entweder gar nicht oder versuche, zu Kompromissen zu kommen, die ein Außenstehender sogleich als faul bewerten würde. Es war kein Weiterkommen!

Also beschloss die Sonne, sowohl mit dem Hellen als auch mit dem Dunklen Gespräche getrennt zu führen.

„Sag mal, Nacht, was kümmert und sorgt dich eigentlich?“

„Och“, seufzte die Nacht, „es regt mich doch mächtig auf, dass die Helligkeit gar nicht daran denkt, mich einzubeziehen, sich nicht um mich schert. Es wär‘ doch nur gerecht und billig, wenn das Licht auch mal dafür sorgen würde, dass es mir gut geht. Nicht, dass ich die Dunkelheit komplett verleugnen möchte. Nein, es sind vielmehr die vielen Lebewesen, die nur im Dunkeln existieren können und dort ihr Glück finden. Betrachte nur all die zauberhaften Nachtfalter. Sie sind auf mich angewiesen. Aber das Helle verhindert, dass sie fröhlich und ausgeglichen sein dürfen.“

„Und was ist es genau, dass Du Dich daran so ärgerst?“

„Keine Pflanze, kein Tier und auch kein Mensch - alles, was tagsüber aktiv ist - muss mich liebhaben!“, fiel es der Nacht ein. „Manchmal bin ich unfreundlich, bestimmend. Ich verbreite Kälte. Und dann ist die Atmosphäre wahrlich nicht sehr behaglich, wenn es dunkel ist. Aber der Tag sollte schon akzeptieren, dass ich schlecht Kompromisse eingehen kann. Entweder ist es hell oder es ist dunkel.“

„Selbsteinschätzung bedeutet, sich gedanklich neben sich selbst zu stellen und von dort aus sich zu beurteilen. Gibt es nicht eine subtile Unterscheidung zwischen Geliebt werden und Fürsorge füreinander tragen? Ähnlich verhält es sich bei Eltern und ihren Kindern. Unabhängig davon, was und wie viel die Kinder an Vater und Mutter lieben, wie intensiv ihre Liebe ist: Eltern tragen für ihre Kinder Fürsorge - jedenfalls ist das bei den meisten so …“

Eine Weile verging. Dann ermutigte die Sonne die Nacht, davon zu berichten, was ihre unmittelbare Absicht ist, weshalb sie so denkt und fühlt; was sie eigentlich will.

„Es kostet mich große Mühe, meine letzten Stunden bis zum Tagesanbruch auch anheimelnd dunkel zu gestalten. Wohl kaum hat das Helle mal daran gedacht, dass es selbstverständlich sein sollte, sich gegenseitig zu unterstützen ... Und während der Nacht ist es zuweilen anstrengend, im Lichterglanz der Auslagen in den Straßen Dunkelheit zu bewahren ... Wäre es nicht wohltuend, wenn die Helligkeit hin und wieder mal dafür sorgen wollte, dass es mir gut geht; dass dunkel wahrhaft dunkel ist, dass meine Dunkelheit auch zum Behagen für jene ist, denen das Helle des Tages gut gefällt? Der Tag täte gut daran, nicht nur darauf bedacht zu sein, was ist - was Tatsache ist - sondern er sollte unser beider Beziehungen pflegen - genauso wie er das von mir erwartet.“

„Okay! Das mag nicht allzu schwer nachzuvollziehen sein. Nur lass mal wissen, was für ein Ziel du damit eigentlich verfolgst? Was ist Deine unmittelbare Absicht?“, wiederholte die Sonne ihre Frage.

„Gar nicht so leicht in Worte zu fassen! Absicht? Das ist ein Kind des Wollens, denn Absicht bestimmt die Sicht.“

Nach einigem Überlegen kam jedes Wort langsam und sorgsam über die Lippen der Nacht:

„Eigentlich möchte ich mit dem Tag brechen; nichts mehr mit ihm zu tun zu haben; die Helligkeit aus meinem Handeln, Überlegen, Grübeln und Fühlen herausschneiden. Einfach Nacht sein! Denn immer nur aufpassen müssen, dass das, was ich zu sagen habe, auch wirklich so wie geankommt - davon will ich mich befreien. Bloß keinen Widerspruch aufkommen lassen! Jede Opposition ist der Anfang einer Trennung.“

„Und was willst du damit erreichen?“, fragte die Sonne wohlmeinend.

„Gelassen betrachtet, stimme ich durchaus zu, dass der Lauf der Zeit sich selbst um seine Belange kümmere, wenngleich im Schatten des aufsteigenden Lichts auch Unkraut gedeiht, dessen Dornen den Weg der Helligkeit durchkreuzen. Es ist nämlich nicht alles Edelmetall, welches im Glanz erstrahlt. Eine gewisse Raffinesse braucht es, um den subtilen Nuancen des Daseins gerecht zu werden.

Zusammengefasst möchte ich sagen: Wenn wir den Puls der Zeit näher betrachten, finden wir eine Mischung aus Erhabenheit und Verstrickung; eine Kollision von Schönheit und Schatten, die uns daran erinnert, dass unsere Reise durch die Zeiten nicht ohne Stolpersteine ist. Wir sind, obgleich in unserer Beschränktheit gefangen, dennoch in der Lage, den Tanz der Stunden mit einer gewissen Eleganz zu begleiten. Es ist eben jene Bewegung, die uns letztlich formt und uns zu dem macht, was wir sind – eine Melodie aus Licht und Dunkelheit, die den inneren Kern unserer Existenz durchdringt.

„Das willst du erreichen - mehr nicht?“

„Du kannst es auch so auffassen, dass ich Ich sein will. Ich will nicht abhängig sein – von niemandem! Aber ich möchte beachtet, anerkannt und geschätzt werden ... Das hat zwar auch Nachteile zur Folge. Aber ist etwas je ohne Bürde? ... Ich werde mich um mich selbst kümmern wie ich es von je her tat. Wenn es nur möglich wäre, dem Hellen den Garaus zu machen. Dann wäre ich unumschränkt existent ... Nicht mehr erwarten, dass das Helle hilft, dunkel zu werden. Es wäre überflüssig geworden ... Doch jedes Ding hat seinen Preis!“

„Ja, ist das so? Willst Du das wirklich? Welche Konsequenzen mag Dein Wollen mit sich bringen?“, fragte die Sonne vor allem sich selbst als das Dunkle.

„Zöge ich solch einen Trennungsstrich, dann brauchte es nicht mehr der Abhängigkeit. Soll alles das, was in und mit dem Tag seine Erfüllung findet, sich wohl befinden und voller Zuversicht in den neuen Tag gehen. Aber das alles in einer anderen Welt, die ich nicht mit ihm teilen muss ... Die Stille der Nacht löst manche Probleme.“

Langes Schweigen, das die Sonne brauchte, um sich das, was die Nacht soeben dargetan hatte, zu verarbeiten.

„Ob das realistisch ist, liebe Nacht, wer mag das wissen!

Und wer vermag zu ahnen, wie gut du dein Ziel erreichst.

Auf jeden Fall ist es eine Vision. Alle Beziehungen aber beginnen mit einer Vision. Du kannst es auch Hoffnung oder Erwartung nennen. Sie haben ihren Ursprung in einer Vision, müssen dann auch noch ins Werk umgesetzt werden ... Würde das jemals möglich werden, dann entzögest Du dem Tag jegliche Grundlage ... Und nun will ich den Tag, das Helle, nach seiner Sichtweise befragen, beschloss die Sonne die Unterredung.“

„Tag, lass mal hören, was für Probleme du mit der Nacht und ihrer Dunkelheit hast? Was magst du nicht an dem, wie die Dinge nun mal sind?“

„Heißt es nicht, wenn jeder sein Tagwerk gewissenhaft erledigt, dann hat er keine Zeit, sich um die Belange anderer zu kümmern. Je länger es hell ist, um so mehr ist mein Tagwerk ein Schutz gegen die Schatten der Nacht. Es verlangt mich nicht danach, mich um die Belange der Nacht zu kümmern, geschweige denn, mich darum zu sorgen. Ich habe genügend Anderes zu ermöglichen und zu tun. Jeder sorge für das Seine. Alles ist endlich, und jeder hat sein Bündel zu tragen, aber diese eindeutige Gewissheit lässt mich schier ohnmächtig werden.“

„Das klingt wie eine Rechtfertigung, ist wohl aber nicht so gemeint von Dir ... Was treibt dich an, so eingestellt zu sein gegenüber der Dunkelheit?“, fragte die Sonne.

Das Licht brauchte einige Zeit, um darauf verbindlich zu antworten.

„Ganz ehrlich, Sonne, nicht alles, was tagsüber passiert, tickt für mich. Da heißt es klug agieren, mal 'nen Kompromiss finden und flexibel sein. Wenn der Druck steigt, stell ich mich halt neben die, von denen ich Rückendeckung erwarte.“

„Oh, ja! Das ist verständlich, was du mir da anvertraust. - Aber lass doch mal wissen, was ist denn Deine unmittelbare Absicht, wenn Du diese Deine Einstellung zur Realität werden lässt?“

„Ganz einfach! Ich mache mich frei von allerlei Verpflichtungen, die an mir so kleben als sei dafür eine volle Tube Leim verwendet worden.“

„Und fühlst du dich dann auch frei? Verpflichtungen und Verantwortungen beeinflussen unser Wohlbefinden so oder so. So oder so damit umzugehen, ist wie Freisein von Lasten.“

So ähnlich hatte die Sonne schon die Nacht gefragt. Sie war neugierig, die Differenzen kennenzulernen und zu erfahren, inwieweit die Gegensätze beide voneinander trennen.

„Am liebsten ist es mir, wenn ich so ausgefüllt bin, dass ich meine Tagesgeschäfte zu meinen Bedingungen gestalten könnte. Danach trachte ich. - Ist das anstößig oder gar unwürdig?“, fragte das Licht. „Und wenn ich andere Tage ... vielleicht sogar andere Zeiträume - miteinander vergleiche, dann fühle ich mich sehr bestärkt. Sie sehen das nämlich genauso wie ich. Also fühle ich mich in meiner Einstellung durchaus bestätigt.“

„Ich finde es am besten, wenn mein Tag so erfüllend ist, dass ich meine Pflichten nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten kann. Das ist mein Ziel. Ist das etwa anstößig oder unangemessen? Und wenn ich andere Tage - vielleicht sogar ganze Zeitspannen - miteinander vergleiche, fühle ich mich darin bestätigt. Denn es ist offensichtlich, dass andere genauso denken wie ich. Das stärkt mich in meiner Haltung."

„Wenn ich dich recht verstehe, lieber Tag, willst du nicht in der Hektik unterschiedlicher Bedürfnisse untergehen; willst du nicht im Fadenkreuz gegeneinander wirkender Kräfte sein. Du möchtest in die Turbulenzen des Alltags immerfort mit dem Glanz deines Lichtes hineingezogen werden. Ist das so?“

Mit einem entschiedenen Ja bestätigte der Tag das, was die Sonne verstanden hatte. Was er aber nicht verriet, ist, dass er in Abhängigkeit von der Jahreszeit am liebsten mal ganz im Norden und mal ganz im Süden unserer Erde sein möchte - und zwar dann, wenn die Sonne nie untergeht.

„Wenn die Nacht nicht mehr ist, wäre das Problem gelöst. Gut, ich hätte das Problem nicht gelöst. Und doch wäre eine Lösung Wirklichkeit geworden.“

Zeit war vergangen, bis die Sonne den Tag und die Nacht zu sich rief. Wolken umhingen sie, und Klarheit war auf ihrem Antlitz nicht zu erkennen.

„Eure Positionen scheinen für jeden von Euch derart fruchtbar und den Rücken stärkend zu sein, dass Ihr damit auf Dauer zufrieden sein könnt. Diese Zufriedenheit wird umso ausgeprägter sein, je klarer euch wird, dass der Preis für das Akzeptieren Eurer Gegensätzlichkeiten ein beträchtliches Maß an Schmerz enthält, mit dem Ihr leben müsst. Oder um es unmissverständlich auszudrücken: Mit den Vorteilen geht stets auch der Kauf von Nachteilen einher. Und noch mehr: Was für den einen siegreich ist, bedeutet in Eurem Falle Verlust für den anderen. Ihr werdet sowohl Täter als auch Opfer sein."

"Und worin liegt mein Triumph, der mich - deiner Äußerung zufolge - zur Täterin macht?", erkundigte sich die Nacht.

„Es sind nicht die Angelegenheiten an sich, die uns in die Knie zwingen oder aufrichten“, sprach die Sonne mehr zu sich selbst als zu ihren Kindern, dem Tag und der Nacht. „Es ist die Bedeutung, die wir den Angelegenheiten zuerkennen ... Dir, lieber Tag, bringt es Genugtuung, wenn du dich von Fall zu Fall entscheidest und dich dem Zuspruch der Mehrheit sicher weißt. Du wirst mit der Last leben wollen, Bindungen gelöst zu haben, die nun nicht mehr geknüpft werden können. Um den Preis Deiner Freiheit wirst Du verachtet werden, denn wer will mit einem solchen schuldig Gewordenen Kontakt haben? Mag Dir dieses Freisein nicht zur Verachtung werden! ... Du, liebe Nacht, bist dabei zu lernen, dass die Freiheit des Tages Dir die Gewissheit bringt, Deine Geschicke nach eigenem Belieben zu gestalten. Sei unbesorgt: Dir wird geholfen werden, wenn du in deiner Dunkelheit zu straucheln drohst. Warum solltest Du mehr von dir und dem Tag erwarten? Entfaltet sich nicht in der Stille der Nacht und in den Strahlen des Tages jene Zuversicht, derer jeder von Euch bedarf, um einander loszulassen? Ein Zusammenkommen halte ich für unmöglich, weil jeder auf Kosten des Anderen um Aufmerksamkeit und Ansehen buhlt.“

Warum ergrimmst du? Und warum verstellt sich deine Gebärde?

Abel hatte sich ein Glas chinesischen Tees aus der Küche geholt und es auf den Couchtisch gestellt. Im Vorübergehen warf er einen Blick aus seinem Fenster. Er bewohnte erst seit einem halben Jahr eine Neubauwohnung im sechsten Stock der Leipziger Straße. Einiges war immer noch vorläufig arrangiert. Durch die Fensterscheibe eröffnete sich ein weites Panorama. Das matte Licht des späten Nachmittagshimmels breitete sich über eine beachtliche Anzahl von freien Flächen in Berlin-Mitte aus, besonders hier in der Leipziger Straße, wo Dutzende Kräne den Bau hoch aufragender Stadthäuser unterstützten. Doch dieser weite Blick über den Stadtteil, nahe der Sektorengrenze, würde bald von zahlreichen Neubauten beschränkt sein.

Er ließ sich in den Sessel fallen und griff nach dem „Neuen Deutschland“. Die ersten drei Seiten las er aufmerksam durch. Seit Willi Brandt einige Wochen zuvor seine viel beachtete Visite in Erfurt absolviert hatte, schien sich der Ton der offiziellen Sichtweise auf die Bundesrepublik nuanciert verändert zu haben. Es galt, auf diese feinen Nuancen zu achten. Morgen in der alltäglichen Zeitungsschau wollte er gewiss kein unbedachtes Wort fallen lassen. Egal welchen Artikel er las, das Thema der beiden deutschen Staaten schien momentan nicht im Fokus zu stehen.

Es klingelte. Abel sprang zur Sprechanlage in der Erwartung, dass Kirsten früher als verabredet Einlass verlangte. Stattdessen wartete Kain darauf, eingelassen zu werden.

„Grüß Dich, Bruder. Was verschafft mir die Ehre? ... Komm aber erstmal hoch.“

Abel bereitete für Kain ein Glas Tee. Bis er durchgezogen war, rauchten sie auf dem Balkon eine f6.

Kain blickte in die Runde und stellte erstaunt fest:

„Was hier alles gebaut wird! Hoffentlich fällt ihnen auch mal was anderes ein als der Einheitsstandard.“

„Bei der Wohnungsknappheit können wir es uns nicht leisten, aufwändig zu bauen, wenigstens im Moment nicht. Selbstverständlich weißt Du das! Du hast Dir doch das Baumodell angesehen, wie rings um den Alex gebaut werden soll.“

„Das sagt einer, der in einer Luxuswohnung wohnt mit drei Zimmern und das als Lediger.“

„Da spricht mal wieder der pure Neid aus Dir, Kain.“

„Wir können gern tauschen. Dann habe ich ein vernünftiges Bad und brauch nicht eine halbe Treppe tiefer zu wandeln, wenn ich mal aufs Klo muss.“

„Ist das so unerträglich schlimm? ... Irgendwann ...“

Kain fiel seinem Bruder ins Wort.

„Wohn Du mal in der Mulackenritze. Dann redest Du nicht mehr so von oben herab.“

„Du weißt aber auch, dass die Mulackstraße und überhaupt die Gegend um den Rosenthaler Platz weit vorn steht auf dem Städtebauplan. Du wirst mal sehen, dass das gesamte Scheunenviertel bald eine überaus gefragte Wohngegend wird. Die Zeiten, wo die Mulackstraße ein Eldorado für krumme Hunde – ich meine Nutten, Kleinkriminelle, aber auch politisch Extreme von links und rechts - waren, sind dann nur noch für Stadthistoriker von Bedeutung. Deine Mulackenritze ist alsbald Vergangenheit.“

„Ach, lassen wir das Thema lieber ... Ich hab’s gut und Du noch besser ... Na, ja, als persönlicher Referent des Ministers brauchst Du ein standesgemäßes Zuhause.“

„Standesgemäß – das kannst Du Dir sparen ... Tief in Dir verwurzelt ist noch immer die Gedankenwelt von vorgestern.“

„Aber Du wirst doch nicht in Abrede stellen wollen, dass Du die Wohnung nur bekommen hast, weil der Herr Landwirtschaftsminister für Dich ein gutes Wort eingelegt hat beim Wohnungsamt.“

„Wir haben mal kurz über meine Wohnsituation gesprochen, als ich damals in der Bergstraße wohnte. Er hat sich das angehört und mir geraten, einen Antrag auf eine Ein-Zimmer-Neubauwohnung zu stellen. Mehr nicht ... Das habe ich dann gemacht ...“

Abrupt wechselte Abel das Thema.

"Erinnerst du dich noch an unsere Zeit in Freiberg, bei Muttern am Mühlgraben? Die Wohnküche war auch manchmal unser Schlafzimmer. Ein kleiner Raum, ohne Flur, und ein winzi- ger Keller, der an das Mittelalter erinnerte. Unsere Toilette war das Plumpsklo im Treppenhaus. Im Schlafzimmer teil- ten wir uns zu dritt das Ehebett. Hätte Vater noch bei uns gewohnt, wären wir wohl zu zweit in einem Bett gelandet oder jemand hätte auf dem Küchensofa geschlafen ... Du hast die Betten gemacht, während ich den Abwasch erle- digte, damit Zuhause wenigstens ein gewisser Grad an Ord- nung herrschte, wenn Mutter abends von der Spinnerei heimkam. Das waren unsere Pflichten, und wehe uns, wenn wir sie nicht einhielten. Der Ochsenziemer hing gleich neben der Tür, wie du sicherlich noch in Erinnerung hast."

"Ich habe dir oft bei den Schulaufgaben geholfen. In Mathe warst du stets eine Niete. Ich vergesse nicht, wie ich dir die Textaufgaben gerechnet habe, wenn du nicht weiterkamst. Die Jungs vom Untermarkt warteten bereits auf uns. Dann begann das Bolzen. Und für den Fall, dass sich ein Auto

verirrte, rannten wir schnell zur Seite."

"... oder wenn ein Polizist auftauchte ..."

"Die Unterbrechung nutzten wir, um unseren aus Socken gefertigten Ball wieder in eine halbwegs runde Form zu bringen."

"Beim Fußballspiel waren die Unterschiede zwischen uns nicht geringer. Ich war meistens der Mannschaftskapitän, und du warst oft nur Verteidiger, weil du Angst hattest, offensiv zu spielen ... Wie sich die Zeiten gewandelt haben: Heute bist du der angesehene Abel, hast dich hochgearbeitet und zweifelsohne viel erreicht. Ich hingegen bin bisher nicht über die Position eines Mitarbeiters in der Kulturabteilung des Magistrats hinausgekommen."

Abel überging die Bemerkung. Genüsslich trank er seinen Tee aus. Dann bot er ihm erneut eine Zigarette an, die sie in den frischen Abendwind qualmten.

Im Dienst rauchte Abel die teuren Club. Kain hingegen blieb seit eh und je bei seiner Stammmarke Torf oval. Sie hatte keinen Filter, dafür einen natürlichen Geschmack ohne Zusätze, wie ihre Getreuen behaupteten.

„Du liest am Feierabend die Zeitung? Hast Du nichts Besseres zu tun? Du müsstest doch in Deiner Wohnung den allerbesten Empfang des Westfernsehens haben.“

Abels Bruder stellte ihm damit eine herausfordernde Frage, die ihn erst einmal ins Grübeln brachte. War es eine Prüfung seiner staatspolitischen Gesinnung? Abel ignorierte sie abermals und bereitete sich stattdessen erneut einen Tee zu. Kain lehnte höflich ab. Er blätterte stattdessen in der Zeitung, las mit Interesse den Sportteil und fand seine Freude an den Aufstellungen des kommenden Wochenendes.

„Ich bereite mich für morgen auf die Zeitungsschau vor – mehr nicht.“

„Habt Ihr nichts Wichtigeres im Ministerium zu tun, als Euch auszutauschen, was in der Presse steht? Das müssten wir uns mal leisten können.“

Kain mochte sich ein verächtliches Lächeln nicht verbergen. Er wandte sein Gesicht ab von seinem Bruder. Gleichgültig hörte er auf das, was Abel vorbrachte. Weshalb sollte er sich dieses Themas wegen mit ihm anlegen?

„Wir nennen es nur Zeitungsschau. Im Grunde genommen geht es darum, die Argumentationslinien für die im Moment aktuellen Themen festzulegen. Der Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik ist das Hauptthema. Das Transitabkommen und vor allem die völkerrechtliche Anerkennung der DDR werden als Erfolg herausgestellt. Die vom Westen geforderte Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten sind heikle Gesichtspunkte, die eine überzeugende Argumentation verlangen. Das ist nicht einfach, unseren Standpunkt der Bevölkerung undogmatisch zu vermitteln ... und auch der Partei. Dabei ist wichtig, die Stichworte zu formulieren, die wir den Journalisten für ihre Arbeit mitgeben. Und diese Festlegungen sind ebenso grundlegend für die Redenschreiber des Ministers.“

Kain lächelte wiederum in sich hinein. Dieser überflüssige Arbeitsaufwand von hochbezahlten Mitarbeitern des Ministeriums! Das aber behielt er für sich. Schweigen sei Gold und Reden schlicht und ergreifend Silber. Einerseits ist Abel absolut linientreu. Da würde jedwede Agitation ins Leere laufen. Andererseits ist es sein jüngerer Bruder, dem Kain gewissen Welpenschutz gewährt. Zweieinhalb Jahre trennten sie voneinander. Und nicht zuletzt ist er zu Abel gekommen, weil er ihm ein Anliegen vortragen will.

Gegen Ende seines Studiums wurden Kain zwei Anstellungen angeboten. Der eine Arbeitsplatz sollte in einer psychiatrischen Klinik in der Tundra sein, wie man die ländlichen Gegenden in der DDR abschätzig zu benennen pflegt. Der andere war in Bernau in einer Reha-Einrichtung. Kain entschied sich für die zweite Stelle. So blieb er näher an Berlin und konnte seine Studentenbude in der Mulackstraße behalten um den Preis, dass er täglich einen Fahrtweg mit der S-Bahn von einer dreiviertel Stunde in Kauf nahm. Im Übrigen mochte er sich in Bernau nicht so recht mit den Arbeitsbedingungen anfreunden.

Gerne wäre er an der Uni geblieben und sich dort auf seinen Doktorgrad vorzubereiten. Statt seiner erhielt ein Kommi- litone die vakante Stelle. Sein Vorteil: Er hatte sich bereits als Student um das rote Parteibuch beworben. Kain hinge- gen hatte gelegentlich die eine und andere gesellschaftliche Aufgabe - wie es im offiziellen Parteideutsch heißt – über- tragen bekommen. In seinem Studienjahr war er per Akklamation als Verantwortlicher für Kultur und Sport am Institut gewählt worden. Bald begleitete er diese Funktion für das gesamte Institut. Es oblag ihm, jährlich eine Jahresabschlussfeier und einen Karnevalsabend zu organisieren.

Mit größerem Engagement bereitete er allerdings die Ausscheidungsspiele für Fußball innerhalb des Instituts und am Beginn des neuen Studienjahres die Wettkämpfe auf Fakultätsebene vor.

Einem Wink des Zufalls folgend, hatte er sich auf eine frei gewordene Stelle im Kulturreferat des Magistrats beworben. Er wollte keine weitere Chance verpassen, sich als parteiloser Anwärter zu bewerben, vor allem bei einer so hoch angesehenen Behörde. Also entschied sich Kain, ohne zu zögern, für die Aufnahme in die SED.

Mit dem Genossenstatus hatte er sein Ziel erreicht. Er erhielt die Stelle. Hin und wieder stellte er sich allerdings die Frage: Hatte die Parteimitgliedschaft geholfen, war sie am Ende gar ausschlaggebend gewesen? Diese Gedanken schüttelte er jedoch von sich ab. Schließlich könne man Parteimitglied sein und dennoch locker durch den Alltag gehen, ohne seine wahren Beweggründe jedem auf die Nase zu binden.

Im Kulturdezernat des Magistrats arbeitete Kain mit fünf Kolleginnen und acht Kollegen zusammen. Er war dem Dezernenten Richter unterstellt. Eines Morgens wurde das Arbeitskollektiv zusammengerufen, um die spektakuläre Neuigkeit zu erfahren, dass Richter sich am Vortag erschossen hatte. Es wurde gemunkelt, dass er ein höherer Stasi-Mitarbeiter gewesen sei. Woher sonst sollte er eine Schusswaffe haben? Außerdem sei er Agent eines westlichen Geheimdienstes gewesen, so hieß es.

Bald schon bauten sich im Dienst mancherlei Hindernisse auf, die zunehmend einschränkender wurden. Sein Vorgesetzter bestand nämlich stets darauf, die volle Kontrolle über die Projektrichtlinien zu haben und verlangte Auskünfte selbst über spezielle Details. Andererseits bekam er von ihm kaum Vorschläge, in welche Richtung anstehende Projekte vorangetrieben werden sollten. Dies brachte Kain in eine schwierige Lage, denn er wusste nicht, wie es Richter haben wollte. Er war nicht vorhersehbar.

Von oben kam die Anweisung, zu prüfen, inwieweit psychiatrisch Erkrankte allmählich in das gesellschaftliche Leben der Stadt integriert werden könnten. Die Organisation dieses sozialpsychiatrischen Projekts lag beim Kulturdezernat des Magistrates, und Kains Arbeitsgruppe wurde mit der Umsetzung beauftragt. Um die Gegebenheiten zu sondieren, ließ er sich für ein paar Monate als Hospitant in das psychiatrische Krankenhaus Herzberge delegieren.

Er hatte mitbekommen, dass an Pfingsten die geriatrischen Patienten für einige Tage zu ihren Angehörigen geschickt worden waren, um Platz für vermeintliche Störenfriede des Weltjugendtreffens zu schaffen. Sie wurden von der Volkspolizei dort untergebracht.

Im Krankenhaus absolvierten Offiziere Teile ihre Facharztausbildung. Sie waren vom Ministerium des Inneren delegiert worden - offiziell als Hospitanten. Kain wunderte sich, dass sie sich oft von anderen Klinikmitarbeitern isolierten und sich kaum um persönlichen Kontakt zu Patienten und Pflegepersonal bemühten. Kain aber fühlte sich als Gleicher unter Gleichen und hätte gerne gelegentlich an den Besprechungen der Offiziere teilgenommen, wurde jedoch abgewiesen. Sie hätten ausschließlich ärztliche Themen zu diskutieren, Kain sei hingegen ein Psychologe.

Abel kann im Kontrast zu seinem Bruder auf eine kontinuierliche, steile Entwicklung zu einem Staatsbürger mit sozialistischer Gesinnung zurückblicken. Konfliktanfälligkeit, vergleichbar mit Kain, kannte er nicht. Eine Woche nach seinem achtzehnten Geburtstag trat er aus der Kirche aus, wurde FDJ-Sekretär der Polytechnischen Oberschule „Geschwister Scholl“ in Freiberg und kandidierte als Mitglied der SED ohne Umwege. Er bewarb sich auf einen Studienplatz an der Humboldt-Universität und schrieb sich für das Fach Philosophie ein. Vom Parteiaktiv des Instituts wurde er als Verbindungsmann zur Bezirksparteileitung bestellt. Sein studentisches Praktikum absolvierte er im Landwirtschaftsministerium. Abel machte schon bald wegen seiner motivierten Arbeitshaltung und seiner staatsbürgerlichen Treue auf sich aufmerksam. Was Wunder, dass er eine Anstellung am Ministerium angeboten bekam. Stolz wie ein Schwan berichtete er seinem Bruder von dieser Offerte.

Missgunst ist es nicht, die angesichts dieses ungewöhnlichen Berufsstarts bei Kain aufkam:

„Wieso wird ihm der Weg ins Leben so leicht gemacht? Er wird vom Glück verwöhnt. Und ich? Obwohl ich mindestens Vergleichbares zu leisten in der Lage bin, sind meine Chancen, ebenso erfolgreich zu sein und anerkannt zu werden, viel geringer als die Seinen ... Fortuna ist beständig auf seiner Seite - auch bei den Frauen. Na ja, dabei gönne ich ihm den Erfolg. Aber, dass er das alles in solch kurzer Zeit auf die Reihe kriegt, wer vermag das nachvollziehen können.“

Mit argwöhnischem Stirnrunzeln betrachtete Kain den außergewöhnlichen Start in Abels Berufslaufbahn: „Wie zum Teufel wird ihm der Weg ins Leben so mühelos geebnet? Das Glück scheint ihn geradezu zu umschwärmen. Und ich? Obwohl ich zweifellos fähig bin, Ähnliches zu leisten, sind meine Aussichten auf Erfolg und Anerkennung deutlich geringer als sein... Fortuna hat eindeutig ein Faible für ihn - das betrifft sogar die Damenwelt. Nun ja, ich gönne ihm seinen Triumph. Aber wie um alles in der Welt schafft er es, all das innerhalb kürzester Zeit auf die Reihe zu bekommen? Das ist schwer nachvollziehbar.“

Hätte jemand Kain auf seine scheinbare Unterlegenheit gegenüber Abel angesprochen, so hätte er vehement dagegengehalten. Entschlossen hätte er verkündet, dass jeder seinen eigenen Lebenspfad beschreite. Äußerlich würde er Abel gegenüber Anerkennung zeigen, sich hinter einer Fassade verbergen, wie ein meisterhaftes Potemkin’sches Dorf.

Wer nämlich Neid in sich aufkeimen lässt, schädigt sich selbst - gleich doppelt: Er ist neidisch, weil er nicht besitzt, was der andere sein Eigen nennt. Manchmal hätte Kain nichts lieber getan, als so geschmeidig wie sein Bruder zu sein, ohne jegliches Zögern. Als Zweites verschleiert der Neider seine eigene Unzulänglichkeit. Daher war es für Kain von höchster Bedeutung, niemals Anzeichen von Schwäche zu zeigen - vor allem nicht gegenüber Abel. Offensichtlicher Neid, der sich bei anderen bemerkbar macht und ausdrückt, ist immer nachteilig; man sollte jedoch besonders vor dem verborgenen Neid auf der Hut sein, vor allem dann, wenn er einem selbst schaden könnte.

Beide kamen ins Plaudern. Das sei – wie Kain annahm – ein wirkungsvolles Vorrundenspiel für das Eigentliche, weswegen er seinen Bruder besucht.

Kain erzählte Abel davon, dass er und die Kollegen seines Sozialistischen Kollektivs letzte Woche gemeinsam einen vergnüglichen Abend beim Kegeln verbracht hatten. Herzlich hätten sie darüber gelacht, dass ausgerechnet ihre Reinigungskraft Siegerin des Abends wurde. Sie hatte eine Reihe von Witzen auf Lager gehabt, besonders über Bananen. Abel hörte sich das gelangweilt an und widmete sich seiner Aufgabe des Staubwischens.

Abel hängte einen Opernbesuch des Kollektivs in der Staatsoper an die große Glocke. Der Stellvertreter des Ministers habe die Karten besorgt und die gesamte dritte Reihe im Parkett für sie reservieren lassen. Kain fragte nach, welche Oper sie gesehen hatten und wer gesungen habe. Abel habe wenig Interesse an der Veranstaltung gehabt.

„Du weißt doch, dass mich das Zeug recht wenig interessiert. Mit dabei sein, das wird erwartet. Also tat ich wieder mal, was ich nicht lassen konnte.“

Später diskutierten sie über Rivalitäten innerhalb des Kollektivs im Ministerium und darüber, dass einige Mitglieder zur Reisedelegation gehörten, obwohl sie wenig Ahnung von der Landwirtschaft in Bulgarien hatten. Kain wiederum räumte ein, dass sozialistische Moral in ihrem Kollektiv nicht immer großgeschrieben werde, aber er betonte, dass sie dennoch solidarisch miteinander umgehen und einander helfen, falls einer mal in Not ist.

Abel stand der Ärger ins Gesicht geschrieben. Insgeheim warf er sich vor, seinem Bruder gegenüber allzu offen gewesen zu sein, was die Interna des Ministeriums betrifft. Er kam sich vor, als habe er einen Fleck auf seiner Krawatte.

Einen Pluspunkt hatte er an Kain abgegeben.

„Kommen nicht solche Kämpfchen unter der Oberfläche auch manchmal bei Euch im Magistrat vor? Das ist doch normal ... Der Minister und auch sein Stellvertreter bekommen davon nichts mit. Sie halten alle Stücke auf uns im engsten Mitarbeiterkreis, und sie sind mit uns mehr als zufrieden. Was ihr Verhältnis zu mir betrifft, habe ich den Eindruck, dass sie ganz gern mit mir auch privat verkehren möchten. Jedenfalls hat der Minister zu mir gesagt, dass ich zum nächsten Grillfest auf dessen Datscha eingeladen werde. Ob ich allein oder zu zweit kommen wolle? Ich habe ihm abgewinkt und ihn wissen lassen, dass meine Beziehung nicht so fest und konsolidiert ist, als dass ich meine andere Hälfte der Öffentlichkeit vorstelle. Das hat er lächelnd zur Kenntnis genommen. Ebenso wie im Dienst, so hätte ich auch im Privaten alle Freiheiten – hat er zu mir gesagt. Und falls ich mal irgendwelche Schwierigkeiten habe, könne ich mich vertrauensvoll an ihn wenden.“

Es klingelte. Kirsten meldete sich vom Etagentelefon. Abel nahm sie am Fahrstuhl in Empfang und flüsterte ihr zu, dass Kain spontan vorbeigekommen sei. Ihr reflexhaftes Stirnrunzeln bemerkte er nicht.

„N’Abend Kain! Schön, Dich wieder mal zu sehen. Was gibt’s Neues? ... Ich komme gerade von der Markthalle. Dein Brüderchen hat ja angeblich zu wenig Zeit, seinen Kühlschrank aufzufüllen. Wenigstens eine Woche schon gibt es keine Flasche Bier mehr im Haus. Da hängt es an mir, für die Dinge seines täglichen Bedarfs zu sorgen ... Zufällig standen ein paar Flaschen griechischer Wein im Regal. Da habe ich gleich zwei in den Korb gelegt. Mehr Geld hatte ich nicht im Portemonnaie.“

„Es muss ja nicht der Teure aus Griechenland sein. Der Katarka aus Ungarn – ich glaube, er kommt vom Balaton – schmeckt mir genauso gut, wenn nicht gar besser.“ Warf Abel abwiegelnd ein. „Es ist eben mal was anderes, sozusagen zur Feier des Tages.“

„Was wird denn heute gefeiert?“, fragte Kain.

„Ach nur so! Man sagt das bei uns so ...“

Kirsten entledigte sich ihrer Absatzschuhe, die sie stets im Dienst trug. Automatisch ordnete sie ihr schulterlanges Haar. Sie hatte es kess zu einem Zopf geflochten. Er hing über dem Ohr herab und wirkte wie ein Hinweis, einen Blick auf ihre straffen Brüste zu werfen. Eine tadellose Figur blieb den Männern ihres Alters nicht verborgen. Hauteng trug sie weiße Hosen und darüber einen dunkelblauen, leichten Strickpulli. Die Augenlider hatte sie dunkelbraun tuschiert. Die Striche der Wimpern betonten das tiefe Braun der Augen. Auf den Fingernägeln war ein dezenter Lack zu erkennen, falls Kirsten gestikulierte, was ein häufig gebrauchter Automatismus bei ihr ist. Auffallend daran, dass die Nägel ziemlich kurz geschnitten sind. Beim Schreiben auf der Schreibmaschine wären lange ein Hindernis.

Kain hatte Kirsten wenige Male getroffen, stets in Abels Wohnung. Sie schien sich hier auszukennen und sich bereits verhältnismäßig eingerichtet zu haben. Im Bad hing ein Damenrasierer an der Wand. Zwei Regalfächer waren vollgestopft mit allerlei Gesichts- und Körperkosmetik. Ein paar Teile Damenunterwäsche lagen vom Vorabend ungeordnet auf der Waschmaschine. Sie sollten offensichtlich alsbald gewaschen werden.

Kain war es gewohnt, dass diese Art der Badeinrichtung sich von Zeit zu Zeit verändert. Abel wechselt gelegentlich die Partnerin, weil sie vorgeblich nichts auf Dauer sei. Er hält Ausschau nach einer äußerlich überdurchschnittlich erotischen Frau. Sie soll selbstbewusst, staatsbürgerlich eine bekennende DDR-Bürgerin und im Bett unbedingt variationsreich sein.

In der Welt von Kirsten schien es, als gäbe es nichts Wichtigeres als das Wohlbefinden von Abel. Sie jonglierte geschickt mit Putzutensilien, hatte wöchentlich ein Date mit der Waschmaschine und brachte Abels weiße Hemden perfekt gebügelt auf Vordermann - während im Hintergrund der Fernseher plärrte und „ihr Männlein“ sich bequem auf der Couch räkelte.

Doch Kain konnte den Eindruck nicht abschütteln, dass Kirsten eine regelrechte Dauermüdigkeit zelebrierte. Sie schien wie ein Energievampir, der von ihrer anstrengenden Doppelhaushaltsführung – Abels und ihrem eigenen - zehrte und dafür Anteilnahme und Mitleid erwartete. Kain zweifelte daran, dass dieser vermeintliche Erschöpfungszustand der Realität gerecht wurde. Gleichzeitig schien Kirsten sich in ihrer Opferrolle zu suhlen. Möglicherweise hoffte sie, auf diese Weise Abels Eheversprechen wie eine Trophäe einzufordern. Sie setzte die Themen der Gespräche, und ihre Meinung war stets die einzig wahre. Kain hatte Schwierigkeiten damit, dass sie ihm unaufhörlich ins Wort fiel, ihn nicht ausreden ließ, wenn er mal eine abweichende Auffassung äußerte.

Abel hatte sich längst daran gewöhnt und schien in dieser Hinsicht aufgegeben zu haben – eine typische Schwäche, wie Kain es sah. Warum schwieg Abel zu Kirstens Vorwürfen und Schuldzuweisungen, wenn die Dinge im Alltag nicht nach Plan liefen? Konnte er nicht erkennen, wie sie ihn emotional erpresste und behauptete, dass es für Abel am besten sei, ihren Ratschlägen zu folgen?

Doch das, was Kain am meisten störte, war, dass die Genossin sich offiziell als „Hundertprozentige“ verkaufte. Das hinderte sie freilich nicht daran, ausführlich von den neuesten Filmen im Westfernsehen zu schwärmen. Für Kain war sie – trotz ihrer äußeren Anziehungskraft – gefährlich, leicht einfältig und überaus bestimmend. Er kämpfte darum, seine Meinung über Kirsten und ihre Beziehung zu Abel nicht allzu offensichtlich zur Schau zu stellen.

„Du siehst aber braun aus!“, stellte Kain fest. „Ist das Schminke oder hast Du Dich der Sonne ausgesetzt?“ Damit gab er unumwunden sein Erstaunen über Kirstens Äußeres kund.

„Wir waren am Samstag und Sonntag draußen am Müggelsee. Bei der Hitze hatten wir keine bessere Idee, als unsere Körper in das kühle Nass zu hängen. Momentan aber blüht der See. Er sieht richtiggehend grün aus, und das Wasser ist trübe. Da macht es wenig Spaß zu schwimmen ... Die meiste Zeit haben wir in der Sonne gelegen – daher die Bräune.“

„Und mein Bruder hat tatsächlich Muse und Zeit gefunden, zwei Tage hintereinander nichts Besseres zu tun als sich der Sonnenscheibe auszusetzen?“ fragte Kain, gespannt, wie Kirsten über seines Bruders Alltag sprach.

Abel wurde unruhig. Er mag es nicht, wenn in dieser Machart über sein Tagesgeschehen gesprochen wird.

„Schön wäre es gewesen, wenn er“ – dabei blickte Kirsten mit dem Ausdruck eines leichten Vorwurfs zu Abel hinüber – „wenn er nicht schon am Sonntagnachmittag ins Ministerium gefahren wäre. Sein Auto hatte irgendwelche Startprobleme. Da ist er nervös geworden, weil man im Ministerium angeblich auf ihn warte ... Nicht wahr Belli?“

Abel nickte beiläufig.

„Als wir vor dem Ministerium ankamen, da hat er zu mir gesagt, ich solle es mir in seinem Wartburg bequem machen.“

Zu Abel gewandt:

„Du wolltest spätestens nach einer halben Stunde wieder zurück sein. Daraus sind schließlich zwei Stunden geworden ...“

Jetzt beklagte sie sich bei Kain über den verdorbenen Sonntag.

„Ich war stinksauer ... Aber er hat mich am Abend in das Achteck auf ne Weiße eingeladen - gegessen haben wir selbstverständlich auch ... Apropos Essen: Es wird Zeit, dass ich mich deshalb in die Küche begebe ... Komm doch mit rüber. In Gemeinschaft lässt es sich das Abendbrot besser anrichten ... Willst Du mit uns essen? Es gibt nichts Besonderes – Bratkartoffeln mit Spiegelei. Als Beigabe zaubere ich einen Weißkohlsalat. Nicht wahr, der Herr des Hauses mag ihn, vor allem, wenn er süßsauer angerichtet ist.“

Abel nickte und sah zu Kain hinüber.

„Vielen Dank! Ich will gleich losziehen. Hunger habe ich keinen mehr. Doch in meiner Bude bin ich für ein, zwei Bierchen noch zu haben ... Unlängst hab ich einen Kasten Radeberger erstanden. Den hatte die Verkäuferin für mich reserviert. Ich solle in den Hauseingang kommen und ihn mir dort abholen.“

Kirsten begab sich in die Küche. Die Männer folgten ihr und setzten sich an den kleinen Küchentisch, während sie die Kartoffeln vom Vortage pellte und in Scheiben schnitt.

„Ich gebe zu den Bratkartoffeln gern Kümmel und Majoran hinzu. Das schmeckt dann so wie bei Muttern ... Abel, hast Du die Gewürze da?“

Abel verneinte. „Ich wüsste nicht, wofür ich das Zeug sonst noch brauche.“

Kirsten zu Kain: „Erzähl mal, wie bist Du eigentlich Psychologe geworden?“

Überrascht von dieser Frage, starrte Kain zur Decke, als ob dort die Antwort geschrieben steht.

„Was ist dabei von Interesse für sie? Weshalb will sie das wissen? Würde ich sie danach fragen, dann käme sie ohnehin mit der eigentlichen Motivation nicht heraus und mir ein Ding vom Pferd erzählen. Also achtsam sein!“

Allmählich fand Kain die rechten Worte und begann seine Überlegungen auszubreiten.

„Na ja, Psychologie, das ist ja so eine Wissenschaft, von der jeder meint, er sei psychologisch bewandert. Richtig ist es, da geht es ums Verstehen. Das steht in gewisser Weise im Gegensatz zur Diktatur des Proletariats, die für unseren Staat beansprucht wird. Lass mich das Problem der Psychologie bei uns am Beispiel der Freiheit erläutern: Freiheit heißt bei uns – frei nach Marx, Engels und Lenin – Einsicht in die Notwendigkeit und konsequenterweise danach zu handeln. In sogenannten demokratischen Strukturen bedeutet Freiheit individuelle Autonomie und Rechte, die durch Gesetze und Verfassung geschützt sind. Bei uns ist also Führung angesagt ... hauptsächlich. Die Gemeinsamkeiten im Erleben und Verhalten haben mich von jeher interessiert. Deshalb also Studium der Psychologie ...“

„Und warum hast Du in Berlin studiert? Von Freiberg wäre Dresden näher für Dich gewesen?“

„Die in Dresden machen nur Arbeitspsychologie ... Leipzig, dort wird eine relativ altmodische Psychologie vermittelt ... Ja, und in Jena, wird eine stramm sozialistische Sozialpsychologie gelehrt. Ich wollte meine Aufmerksamkeit auf nervale Prozesse des Erlebens und Verhaltens richten. Da ist Berlin ... das war sozusagen das Mekka.“

Kirsten bohrte nach:

„Wieso hast ausgerechnet Du in Berlin einen Studienplatz bekommen? Psychologie, so hab ich mir sagen lassen, wird stark nachgefragt. Und dann auch noch in der Hauptstadt studieren. Da hat man doch zahlreiche Mitbewerber.“

„Ich hatte an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät mein Abitur abgelegt in Potsdam. Wir sollten alle Lehrer werden. Ich merkte bald schon: ‚Also, das kannst du nicht dein Leben lang!‘ und wollte stattdessen Medizin studieren. Ich habe aber geglaubt, ich bin zu dumm dafür, und weil mich Nerven interessieren – wie ich bereits erwähnte – habe ich mir gesagt: ‚Versuch's mal mit Psychologie! Das hat ebenso etwas mit Nerven zu tun.‘

Immatrikuliert wurden zehn Studierende; acht Studienplätze waren längst vergeben worden, darunter an Töchter und Söhne von Nationalpreisträgern und anderen hohen Würdenträgern unseres Staates. Eine Kommilitonin, die schon sieben Jahre berufstätig war, und ich, wir füllten die Zulassungsrate auf ... Ich hatte ein relativ gutes Abitur abgelegt. Das und meine Herkunft von der Arbeiterklasse und der ABF waren für die Auswahl ausschlaggebend ... Wir haben drei Vorlesungen gehört beim damaligen Institutsdirektor. Dann ist er für alle überraschend in den Westen abgehauen - und dann war erst einmal ein Semester lang quasi nichts mit Studium. Wie es damit weitergehen sollte, konnte niemand vorhersagen. Ich überlegte, ob ich sicherheitshalber rüber zur Medizin wechseln sollte. Das ging aber nicht. Ihr wisst schon: der Plan! Ich musste weiterhin als Psychologiestudent immatrikuliert bleiben.“

Abel, der bisher an dem Frage-und-Antwort-Spiel unbeteiligt blieb, horchte auf.

„Das hast Du mir gegenüber niemals mit einem einzigen Wort erwähnt ... Ist ja hochinteressant, dass ich das jetzt erst nach so vielen Jahren höre! Wir hätten damals Deine ungewisse Lage besprechen sollen. Vielleicht hätte ich etwas für Dich tun können. Ich hätte die Parteigruppe gefragt, ob man Dir so oder anders unter die Arme greifen könnte. Aber Du behältst ja alles immer in Deinem starren Hirn. Bloß nicht helfen lassen und ja nichts anderen anvertrauen! Immer cool bleiben! ... Und wie ging es dann weiter?“

„Der neue Institutsdirektor kam nach zwei Studienjahren. So lange wurde für uns ein Studienplan übergangsweise mehr recht als schlecht zusammengezimmert. Der brandneue Chef war ein überaus fähiger. Der war sogar mal Präsident der Internationalen Vereinigung der Psychologen. Das war für die Anerkennung unseres Staates und darüber hinaus für unser Fach enorm positiv ... Also, der hatte in facto was auf dem Kasten ... Und dann haben wir studiert! Aber wie – kann ich Euch versichern! Neben der Psychologie mussten wir höhere Mathematik belegen. Wir haben Medizin bis zum Physikum gemacht, Propädeutik der Inneren, selbstverständlich Psychiatrie und Neurologie, das alles gehörte zum Curriculum, darüber wurden wir nach Abschluss der Seminareinheit meistens sogar geprüft.“

Kirsten platzierte je zwei Spiegeleier und die Bratkartoffeln auf die Teller.

„Willst Du nicht doch mit uns essen?“

Kain lehnte wiederum dankend ab. Abel holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und ebenso die Essbestecke aus dem Besteckkasten. Er und seine Freundin nahmen die Teller und stellten sie im Wohnzimmer auf dem Couchtisch ab.

Kurz entschlossen und ohne allzu großes Aufsehen verabschiedete sich Kain.

Ich komme in den nächsten Tagen noch mal vorbei.

Da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot

Tags darauf am späten Vormittag rief Kain seinen Bruder an. Dessen Sekretärin nahm den Anruf entgegen.

„Hier ist Höhne, der Bruder Ihres Chefs. Bitte, verbinden Sie mich mal mit ihm.“

„Tut mir leid. Er ist in einer Besprechung. Darf ich ihm etwas ausrichten?“

„Danke, aber es geht um eine Terminvereinbarung.“

„Ach so! Da will ich mal versuchen, ob ich ihn erreiche. Moment bitte.“

Abel saß allein in seinem Dienstzimmer. Falls er ungestört sein wollte, hatte seine Sekretärin die Order, ihn für abwesend zu erklären.

„Was gibt es Wichtiges, dass Du mich vom Dienst aus anrufst?“

„Wie sollte ich Dich sonst anrufen? Von der Telefonzelle aus? Ich gehöre, anders als Du, nicht zu den Privilegierten, die Zuhause ein Telefon haben.“

Abel überging diesen versteckten Sarkasmus.

„Also was gibt es? Du warst doch gestern erst bei mir. Da bist Du wohl unverrichteter Dinge von dannen gezogen?“

„Ja, das stimmt! ... Hast Du am Sonntag mal Zeit für mich. Ich habe zwei Anliegen und möchte Dich unter vier Augen sprechen.“

„Das muss offensichtlich etwas Bedeutsames sein, dass mein großer Bruder mich ins Vertrauen ziehen will ... Am frühen Nachmittag, da bin ich allein. Kirsten will nach dem Mittagessen zu ihrer Mutter fahren. Da war sie schon lange nicht. Wir sind dann zu zweit und können uns ungestört unterhalten.“

Kain versicherte Abel, dass er zwischen zwei und halb drei bei ihm sein werde.

„Ich will mal gleich zur Sache kommen. Am besten ist es, wenn ich ganz vom Anfang an beginne: Vor etwa einem Vierteljahr, so um Ostern herum, klingelte es eines Abends bei mir. Ein Mann, etwas älter als ich, fragte, ob er mich mal sprechen dürfe. Er wollte deswegen reinkommen zu mir in die Wohnung ... Auf dem Parkplatz, dort wo die Mulackstraße in die Rosthaler Straße mündet, werden in letzter Zeit wiederholt Autoscheiben zerschlagen. Ob ich diesbezüglich irgendetwas bemerkt habe oder mir zu Ohren gekommen sei. Er fragte mich anschließend nach Hausbewohnern. Ich hab ihm gesagt, dass wir uns zwar grüßen, wenn wir uns begegnen. Doch ich könnte die Namen an den Türschildern nicht treffsicher den Personen zuordnen, falls ich jemandem im Treppenhaus über den Weg laufe. Ich kennte nur meine unmittelbare Nachbarin. Das sei halt so in der Großstadt ...

Mir kam das alles ziemlich spanisch vor, und ich hatte ein komisches Gefühl. Deshalb konfrontierte ich ihn damit, dass er vermutlich nicht wegen der beiden Angelegenheiten zu mir komme. ‚Da haben Sie recht!‘, war seine Antwort, ‚aber das besprechen wir beim nächsten Mal.‘ ... Abel, mir war die Begegnung richtiggehend unangenehm und bedrohlich.

Etwa drei Wochen später kam er schon wieder und teilte mir auf meine Frage hin mit, dass er vom Ministerium für Staatssicherheit kommt. Er wolle mich als Mitarbeiter der Stasi gewinnen ... Ich habe das strikt abgelehnt. Das kann ich nicht und will es nicht; denn mein Gewissen würde mich allzu oft plagen, falls ich andere bespitzeln und verzinken müsste. Mich selbst verteidigend, habe ich ihm gesagt: ‚Ich arbeite für unseren Staat, aber eben auf dem Gebiet, wofür ich ausgebildet worden bin. Und nichts sonst.‘ Es würde mein Fehler sein, denn ich würde als Reisekader oft ins Ausland zu Fachtagungen und Kongressen fahren ...“

Abel betrachtete seine Fingernägel und hörte sich die Darstellung mit derselben Gelassenheit an, wie er die Berichte seiner Mitarbeiter entgegennimmt.