Vor Prozessbeginn - Avan Anson - E-Book

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Avan Anson

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Beschreibung

Ein Richter, ein Sachverständiger und der Angeklagte bereiten sich auf die Eröffnung des Strafprozesses vor. Grundlage ist das forensisch-psychologische Gutachten zur Schuldfähigkeit des Angeklagten Ünsal, das den Tathergang und die Hintergründe des Beziehungsdramas zwischen Ünsal und Jari (Opfer) beleuchtet. Krumer, der Richter, erwartet von dem Gutachten Hinweise auf urteilsrelevante Fragen und Antworten. Ein Tötungsvorsatz lässt sich nicht finden. Weder aus den Umständen noch aus der Art der Tötung kann eine verminderte Schuldfähigkeit noch gar eine fehlende Schuld abgeleitet werden. Ünsal stellt bei der Lektüre des über ihn erstatteten Gutachtens fest, dass er seine Erwartungen an einem Daueraufenthalt in Deutschland, seine familiären Beziehungen und das Verhältnis zu seinem Arbeitgeber auf der Grundlage von Illusionen realisiert hatte. Er bekennt sich, Jari in dessen Auto erwürgt zu haben, weil dieser Garantien für die Rückzahlung eines erstattlichen Darlehens haben wollte. Ünsal war weder bereit, dieser Garantieforderung nachzukommen, noch hätte er gar Möglichkeiten gehabt, das Geld zurückzuzahlen. Ein homophiles Beziehungsverhältnis zwischen ihm und seinem Opfer wird von Ünsal nicht in Abrede gestellt. Die Vorbereitungen des Sachverständigen beziehen sich auf die Rekonstruktion der psychologischen Untersuchungsbefunde und -bedingungen. Aus diesen Informationen eröffnet sich Ünsals Persönlichkeitsentwicklung vor dem Hintergrund seiner familiären und kulturellen Besonderheiten. Diese Reflexionen machen deutlich, dass Ünsal kein eiskalter Täter ist, sondern einerseits emotionale Wärme sucht und andererseits einen komfortablen Lebensstil zu verwirklichen sucht. Dieser Konflikt wird Ünsal letztlich zum Verhängnis, weil er dafür weder die materiellen Voraussetzungen hat noch die Aufrichtigkeit gegenüber seinen Bezugspersonen aufbringt.

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© 2017 Avan Anson

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-9648-3

Hardcover:

978-3-7345-9649-0

e-Book:

978-3-7345-9650-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Avan Anson

Vor Prozessbeginn

Gründe und Hintergründe - ein Psychogramm

Dies ist der Bericht über die Vorbereitungen dreier Männer auf einen Gerichtsprozess. Er soll morgen eröffnet werden. Angeklagt wird der türkische Gelegenheitsarbeiter Arco Ünsal Duyan. Ihm wird vorgeworfen, seinen Freund, den Universitätsprofessor, Jari Ben Maubesor, getötet zu haben. Die Prozessführung wurde dem achtunddreißig Jahre alten Richter Dirk Krumer übertragen. Der Angeklagte ist zwar der Tat geständig, dem Richter aber kamen Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten. Deshalb ließ er über ihn zusätzlich zu dem psychiatrischen Gutachten ein forensisch-psychologisches Gutachten erstatten. Zum Sachverständigen wurde der siebenundfünfzig Jahre alte Akademische Oberrat, Dr. Moritz Staller, bestellt. Der Inhalt des Gutachtens ist dem Richter ebenso wie dem Angeklagten bekannt.

Der Richter: Die Übernahme des Sachverhaltes

Am Sonntagvormittag, zwischen dem Besuch der Messe und dem Mittagessen waren noch etwa anderthalb Stunden Zeit, hatte Krumer damit begonnen, sich auf den Prozess vorzubereiten. Den Ablauf der Sitzung wollte er sich vergegenwärtigen und insbesondere einen Katalog von Fragen erarbeiten, die er dem Angeklagten stellen wollte. Die ersten beiden Aktenbände waren bereits durchgearbeitet. Vernehmungsprotokolle des Angeklagten, von der Kripo in herkömmlicher Weise erstellt, und die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft - beides hatte er mit der gebührenden Routine ein weiteres Mal durchgesehen. Ebenso hatte er die Ergebnisse der Aufzeichnungen über die Zeugenvernehmungen und seine dazu notwendig zu stellenden Fragen bereits zu Papier gebracht. Er wollte, nein: er musste diese Fragen den Zeugen stellen. Aber würden seine Fragen erschöpfend genug sein, um sich am Ende ein gerichtsfestes Urteil bilden zu können?

Den zweiten Band, in dem die Fotos vom Tatort und von der Leiche niedergelegt waren, hatte sich Krumer nur kurz vorgenommen. Kurz wohl gerade deshalb, weil bei der Ansicht der Bilddokumente ein Wust ungeordneter Eindrücke und Überlegungen wachgerufen worden war. Wie hatte es nur kommen können, dass Duyan sich dazu hinreißen ließ, Maubesor zu töten? Weswegen hatte er es vorgezogen, zusätzlich zu seinen vielen Irrwegen einen weiteren zu gehen, einen über die Maßen verhängnisvollen? Weswegen lebte Duyan in der Grauzone zwischen Legalem und Illegalität, zwischen Wahrhaftigkeit und Verlogenheit, zwischen Weltbürger und Habnichts, zwischen liebendem Familienvater und triebhaften Egoisten? Weshalb spielte Duyan mit den Gefühlen seiner Gegenüber und war zugleich feige genug, für die Konsequenzen seiner Inszenierungen einzustehen? Duyan, der alles in der Welt den Prinzipien Lust und Wohlstand unterordnete? - Krumer verglich das, was in ihm vorging, in seiner Mächtigkeit mit einer Schneelawine, die von den Bergen eines Hochgebirges ins Tal hinabstürzt. Durch nichts und von niemanden ist sie aufzuhalten. So kam es dem Richter denn gelegen, dieses Wirrwarr aus prozessualen Überlegungen und persönlicher Anteilnahme sowohl für den Täter als auch für dessen Opfer vorerst auf sich beruhen zu lassen, als sein Sohn ihn zum Mittagessen zurück zur Familie rief. Er überließ also die Akten sich selbst, allerdings war er noch gedanklich mit dem kriminellen Geschehen befasst, so dass er bei Tische nur sehr oberflächlich an den Unterhaltungen seiner Familie beteiligt war.

Mittagsruhe, Kaffeetrinken - derweil war es schon gegen 17 Uhr geworden. Wie schnell doch die Zeit dahin eilt! Krumer wurde es wiederum klar, dass wir sonntags in einer Zeit des eiligen Müßiggangs leben, während in der Woche die Eile zur Hast wird. Viele tun dennoch nichts, aber das in Eile. Krumer saß nun wiederum in seinem Arbeitszimmer hinter seinem Schreibtisch. Dieser war - in der Mitte des Zimmers stehend und den Raum weitgehend ausfüllend - eines der wenigen Stücke aus seiner Studentenzeit. Vor nun schon fünfzehn Jahren hatte er das stattliche Möbel aus dem Nachlass eines Industriekaufmanns für billiges Geld erstanden.

Hinter ihm prasselte der Regen an das Fenster und rann in breiten Streifen die Scheiben hinab. Es war kalt draußen, kälter als man es in der ersten Dekade des November erwarten durfte. Vorgestern Nacht hatte es erstmals gefroren. Die Stengel der Geranien auf dem Balkon hingen abgeknickt herunter, und die Blüten wirkten wie schwere Gewichte. Die Pflanzen offenbarten die Wirkungen des Nachtfrostes der beiden zurückliegenden Nächte. Die Farben der Blüten waren vergangen.

Krumer fühlte sich irgendwie unbehaglich, dass ausgerechnet seine Kammer diesen Fall übertragen bekommen hatte. War doch auch in diesem Falle eine politische Dimension nicht zu leugnen! Er hoffte, dass die Presse, die morgen mit Sicherheit zugegen sein würde, diesen Gesichtspunkt nicht besonders herausstellen würde. Nein, das war ganz klar: Politische Motive lagen der Tötung nun wahrlich nicht zu Grunde. Immerhin aber stand es mit den deutsch-türkischen Beziehungen derzeit nicht zum besten. So hatte er dafür, dass er diesen Vorgang zur Entscheidung übertragen bekommen hatte, lediglich eine Reihe nicht besonders vernünftiger Erklärungen, nämlich die, dass er im Alter dem des Angeklagten annähernd gleich war, dass er verwandtschaftliche Beziehungen zu jenem Land hatte, in das die familiären Wurzeln des Dr. Maubesor reichten. Er war gelegentlich in dienstlichen Angelegenheiten dort tätig gewesen. Überdies pflegte Richter Krumer beste persönliche Beziehungen zu dem Ordinarius für Strafrecht an der Universität zu Istanbul. Sie beide gehörten der Gesellschaft für deutsch-türkische Beziehungen an. Es war gerichtsbekannt, dass Krumer - nicht nur von Berufs wegen - ein Freund der türkischen Kultur war.

Nun endlich - der Nachmittag war schon im Vergehen - wollte sich Krumer dem psychologischen Gutachten widmen, das er in Auftrag gegeben hatte. Er sah die Expertise als folgenschwer für den Ausgang des Verfahrens an, obgleich er sie bisher noch nicht eingehend durchgegangen war. Sie war als Routinevorgang zu den Akten gelegt worden. Krumer pflegte ohnehin die Gewohnheit, dass er die Vorbereitungen auf seine Prozesse möglichst nahe an den Beginn der Verhandlungen rückte. Auch in diesem Falle erwartete er Hinweise für Fragen, die er Ünsal Duyan zur Person und zum Tatgeschehen zu stellen hatte. Deswegen blätterte er in dem vom häufigen Gebrauch schon ziemlich abgegriffenen dritten Band der Akte. Er suchte darinnen das Gutachten, um es sich nunmehr gezielt vorzunehmen.

Der Sachverständige war ihm aus der Literatur, nicht aber persönlich bekannt. Diesen Umstand wertete Krumer als einen Vorteil. Es dünkte ihn indessen, dass seine Wahl für Dr. Staller eine gute gewesen war, denn er schien - soweit er es an der formalen Aufmachung des dreiundsiebzig Seiten umfassenden Gutachtens entnehmen konnte - ein Routinier zu sein. Das Aktenzeichen mit der Nummer 37/Ks41 Js 199/98 (11/98) stimmte. Ebenso stimmte die Fragestellung, nämlich

Auf Beschluss des Landgerichts Essen vom 29. August 1998 wird zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten Arco Üsnal Duyan ein psychologisches Gutachten erstattet, "insbesondere darüber, ob der Angeschuldigte bei Begehung der Tat wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, oder ob die Steuerungsfähigkeit des Angeschuldigten aus einem der genannten Gründe erheblich vermindert war".

Ebenso lag dem Gutachten eine Gliederung zugrunde, die das rasche Nachschlagen sehr erleichterte. Staller schien sein Geschäft zu beherrschen. Jedenfalls erinnerte Krumer die äußere Aufmachung des Gutachtens eher an einen wissenschaftlichen Traktat als an eine Expertise, die für gewöhnlich durch seine Hände geht.

Im folgenden werden zunächst die wesentlichen Inhalte der Strafakte wiedergegeben, die im Gutachten herangezogen werden bzw. zum Verständnis des Gutachtens erforderlich sind. Anschließend werden die einzelnen Ergebnisse der psychologischen Untersuchungen dargestellt. Im dritten Teil des Gutachtens werden diese Ergebnisse zum psychologischen Befund integriert. Im letzten Teil werden wir auf dieser Grundlage zu den Fragen des Gerichts Stellung nehmen.

»Wen er wohl mit ‚wir’ meint?«, fragt sich Krumer etwas voreingenommen. Schließlich ist ein Sachverständiger eine Person, der es nicht besonders gut ansteht, im Pluralis majestaticus zu schreiben. Dennoch: Die Gliederung half Krumer, seine Fragen an den Beschuldigten nicht nur zu formulieren, sondern sogleich zu ordnen. Dazu wollte Krumer sich zunächst den letzten Teil vornehmen, um davon ausgehend im zweiten Teil des Gutachtens die Belege aufzusuchen und zu bedenken. Doch es blieb zunächst bei dieser Absicht. Der Text las sich so flüssig, dass Krummer aufpassen musste, das Gutachten nicht wie eine Geschichte zu lesen.

Der Angeklagte: Die Vorgeschichte

Etwa zur selben Zeit lag Arco Ünsal Duyan in der Justizvollzugsanstalt zu Köln auf seinem Bett und vertiefte sich in das Gutachten. Eigentlich wäre es treffender festzustellen, dass Ünsal dies versuchte. Sein Pflichtverteidiger hatte ihm das Gutachten auf sein Verlangen als Kopie hinterlassen. Die Änderung der eigenen Misere von anderen zu verlangen, ist ebenso einfach wie unwirksam. Jedenfalls war das Duyans Standpunkt. Ausführlich waren er und sein Rechtsanwalt in der vergangenen Woche das Gutachten durchgegangen. Das Vertrauensverhältnis beider zueinander war jedoch nicht das beste. Das war der Grund, weshalb Duyan das Gutachten nochmals Zeile für Zeile las. Er zweifelte daran, dass sein Rechtsanwalt für ihn wirklich eintrat. Wohl deshalb befolgte er sicherheitshalber dessen Rat, das Gutachten nochmals durchzusehen und herauszufinden, welche Passagen aus Sicht des Angeschuldigten nicht den Tatsachen entsprachen und welche Passagen Duyan aus prozesstaktischen Gründen in Frage stellen könnte. Aber Ünsal zog es vor, das Gutachten so durchzugehen, als ob er sich allein zu verteidigen habe. »Selbst ist der Mann!«, das war seine Devise, so lange er handeln konnte. Schließlich hatte er sich seinen Verteidiger weder gesucht noch hatte er ihm den Auftrag erteilt, ihn zu verteidigen. Nachdem er im Wörterbuch gelesen hatte, was eigentlich Mandat bedeutet – dieses Wort führte der Verteidiger immer wieder an - hatte Duyan nur noch ein herablassendes Lächeln übrig. Nein! Wenn es irgendwas zu verteidigen gäbe, dann sei es seine Ehre. In den Vorgesprächen zwischen Duyan und seinem Rechtsanwalt hatte das, worauf Ünsal so stolz war, jedoch keine Bedeutung gewonnen. Deswegen argwöhnte er und fühlte sich doch zugleich immer wieder darin bestätigt, dass der Rechtsanwalt für die Paragraphen, er selbst jedoch für die Sache zuständig sei. Wie noch allenthalben deutlich werden wird: Zuviel Vertrauen ist häufig eine Dummheit. Zuviel Misstrauen ist immer ein Unglück.

Duyans Blick fing sich an jener Stelle der gegenüber liegenden Wand, an der irgendwer vor seiner Zeit in der Untersuchungshaft ein Poster geklebt hatte. Wie oft war er die vier Schritte längs und die drei Schritte quer der ihm zugewiesenen Zelle in der Haftanstalt abgeschritten? Ein Tisch, ein Stuhl aus Kiefernholz, ein heruntergekommener Metallspind und das durchgelegene Bett - das war seit zehn Wochen seine Welt geworden. Links neben der Tür waren das Waschbecken und die Toilette durch einen dunklen, unansehnlichen Plastikvorhang von der übrigen Zelle abgetrennt. Duyan hatte den Vorhang stets zugezogen gehalten, damit er nicht den Spiegel sehen konnte, der eigentlich lediglich eine Platte glänzenden Metalls war – unzerbrechlich, nicht zertrümmerbar. Im Laufe der Zeit waren diesem Spiegel verschiedene Dellen und Beulen zugefügt worden. Ünsal mochte sein Gesicht nicht sehen. Zu oft höhnte ihm Abscheu entgegen, wenn er sich im Spiegel betrachtete. Und so sah er nicht – nein, wusste er nicht wie er in den letzten Wochen an äußerlicher Attraktivität verloren hatte. Unwissenheit gebiert Misstrauen, Feindseligkeit und Abscheu. Unwissenheit ist auch die Mutter der Angst.

Das Fenster hielt Ünsal Tag und Nacht gekippt. Und dennoch hätte ein Eintretender die Luft in der Zelle als übel riechend wahrgenommen. Der Zellengeruch wurde nicht allein durch die Transpiration von Ünsals Füßen verursacht. Der Rauch der Zigaretten, die sich Ünsal zwischenzeitlich zu drehen gelernt hatte, war für die schlechte Luft in dem kleinen Raum ebenso maßgeblich wie ausschlaggebend. Und es kam seiner Erniedrigung gleich, als Ünsal lernen musste, Zigaretten selbst zu drehen. Er verachtete dies, wenn er seinem Verlangen gehorchen und rauchen wollte. Hass und Verachtung trug Ünsal allenthalben mit sich herum. Sie lagen auf ihm wie ein Briefbeschwerer auf einem Blatt Seidenpapier. Sein Atem ging schwer. Er hatte nicht das Geld, um sich Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen. Dafür hätte er täglich mindestens fünf Mark zur Verfügung haben müssen. Er hatte sich kaum jemals darum gekümmert, wie er sich einschränken konnte; nein er wollte es gar nicht lernen. Dass er es nun musste – und nicht nur im Hinblick auf seine Rauchgewohnheiten – kränkte Duyan; und das verschmähte er an sich. Denn entgegen jeglicher Voraussetzung war es ihm bisher immer wieder möglich gewesen, auf großem Fuß zu leben.

Im Allgemeinen war tagsüber die Zellentür geöffnet, so dass Ünsal in den Fernsehraum gehen konnte, der für ihn und seine Mitgefangenen verfügbar war, um sich abzulenken und Gemeinschaft mit den ebenfalls einsitzenden Untersuchungshäftlingen zu pflegen. Er mied indessen weitgehend den Kontakt zu ihnen. Wenn er hörte oder aus seinem Fenster zu sehen bekam, wie sich die Mitinsassen aus verschiedenen Zellen ihre materiellen Zuwendungen übergaben, wie sie handelten und sich gegenseitig betrogen, dann empfand er tiefe Aversion, als einer von ihnen gelten zu müssen. Nicht ohne Geringschätzung bezeichnete er seine Mitgefangenen distanziert als Kriminelle.

Kurz nach dem Mittagessen hatte Ünsal den diensthabenden Beamten darum gebeten, seine Tür zu verschließen, damit er seine Unterlagen ungestört und für sich allein durchsehen konnte. Der diensthabende Beamte erfüllt ihm diesen Wunsch. Ünsal gingen tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Viermal hatte er nach Hause geschrieben, doch es war keiner seiner Briefe beantwortet worden. Ob wohl Adnan, sein nun schon zwanzig Monate alter Sohn, jetzt schon deutlicher sprechen konnte als im Sommer? Wie viele Worte oder gar ganze Sätze würde er von sich geben können? Würde er auch ein paar Brocken deutsch sprechen? Und wie ist es überhaupt mit seinem deutschen und türkischen Sprachverständnis? Was wird ihm Fulya, Ünsals Frau, wohl geantwortet haben, falls Adnan sie nach seines Vaters Abwesenheit fragte?

Einmal hatte Ünsal Besuch bekommen - von Oktay. Schwer zu sagen, welchen Charakter das Verhältnis zwischen Ünsal und Oktay hatte. Offiziell bezeichneten sie sich als Freunde. Eigentlich aber war Ünsal ein Angestellter, ein Bediensteter von Oktay, seinem Geldgeber. Beide waren gleichaltrig und hatten das beiderseits verbindende Bedürfnis, möglichst auf leichte Art und Weise zu viel Geld zu kommen. Es gehörte zu ihren Grundeinstellungen, auf möglichst großem Fuße zu leben. Aus dem Blickwinkel eines Dritten lebten sowohl Ünsal als auch Oktay über ihre Verhältnisse. Während aber Oktay eine finanziell und sozial einflussreiche Großfamilie stützend im Hintergrund hatte, war Ünsal mit seiner Familie auf Oktay weitgehend angewiesen. Fulya wollte wegen Adnan nicht arbeiten. Offiziell lebten die Duyans lange Zeit von Arbeitslosengeld. Oktay, der sein schweres, sportliches Motorrad über alles liebte, überließ es Ünsal, Aufträge für sein Transportunternehmen anzuheuern, Aufgaben des Dispatchers zu übernehmen und bei Bedarf sich auch selbst hinter das Steuereines der LKWs zu setzen. Dafür bekam Ünsal ein Mehrfaches an Verdienst als für Arbeitslosengeld oder für seine gelegentliche Arbeit als fliegender Verkäufer.

Während des knapp eine halbe Stunde dauernden Besuches hatte Oktay Ünsal davon berichtet, dass in seiner Ehe der Haussegen schief hinge, denn bei Oktays Frau sei nun doch ein bösartiger Knochenkrebs festgestellt worden. Ünsal war von dieser Nachricht sehr betroffen, so dass er gar nicht Oktays Bitte um Verständnis um sein geringes Engagement mitbekommen hatte, in Ünsals Angelegenheit irgendwie zu helfen.

Während Oktay redete, war Ünsal vornehmlich mit sich selbst beschäftigt. Ganz vage spürte er aber doch, dass Oktay mit seinem Besuch eine Pflicht zu erfüllen beabsichtigte, derer sich Oktay eher gezwungenermaßen als gern entledigte. Von wirklicher Anteilnahme an seinem Ergehen konnte Ünsal nichts spüren. Das Gespräch blieb an der Oberfläche. Auf jene anteilnehmende, tragfähige Männerfreundschaft, die Solidarität schafft und selbst die auswegloseste Lage erleichtert, hatte Ünsal während der ersten Wochen seiner Untersuchungshaft gehofft. Selbst die bittersten Worte, die zwei Freunde einander sagen, wirken nicht annähernd so trennend wie die unausgesprochenen, die der eine vom anderen vergeblich erhofft. Überhaupt hob sich allmählich Ünsals Schleier, den er unwissend und gutwillig über den Charakter seines Verhältnisses zu Oktay gelegt hatte: Ünsal konnte sich dessen nicht erwehren, dass Jari vielleicht doch die Sache besser durchschaut zu haben schien, wenn er Ünsal von Zeit zu Zeit riet, nicht all zu viel im Spiel seines Lebens auf die Karte Oktay zu setzen. Letztlich reiche es nicht aus, lediglich Landsleute zu sein. Für gegenseitiges Einstehen, stabile Freundschaft und helfendes Miteinander ist zwischenmenschliche Zuverlässigkeit die alles entscheidende Grundlage. Eine solche Zuverlässigkeit ist nicht nur wie eine wertvolle Münze in der Hand. Sie ist gleichsam eine Garantie dafür, dass der Andere im guten Glauben handelt – auch in der Zukunft.

Als Ünsal wieder mit sich allein in der Zelle war und Oktays Besuch in seiner Erinnerung wieder wach werden ließ, wurde ihm der Hintergrund dessen einigermaßen deutlich, was Oktay ihm hatte eigentlich sagen wollen: Er habe Ünsal schlechterdings nicht helfen können. Finanziell stünde es bei ihm gegenwärtig nämlich nicht zum Besten. Und Ünsal spielte einmal mehr mit dem Gedanken, dass er nicht hätte hier sein müssen, wenn Oktays Frau ihm das Geld zurückgegeben hätte, das er für das gemeinsame Unternehmen hatte aufbringen müssen. Es ging um den Erwerb von LKWs und den Profit, der damit am Finanzamt vorbei zu machen sei. Oktays Frau war gegenüber dem Finanzamt die Besitzerin der vier LKWs des Fuhrparks, den Ünsal gern als Teilhaber und nicht als Schwarzarbeiter von Oktays Gnaden verwaltet und daran verdient hätte. Ja, Ünsal wollte Teilhaber werden an diesem Unternehmen, nicht mehr nur Angestellter ohne Arbeitsvertrag sein.

Um jeden Preis wollte Ünsal ein Wer werden; ihn verlangte es nach Freiheit und Unabhängigkeit wie schon vor zehn Jahren, als er sich gegen den entschiedenen Willen seines Vaters nach Deutschland absetzte, ohne jede Garantie für seine Zukunft. Aber von dieser seiner großen Sehnsucht hatte er niemals Oktay auch nur ein Wort anvertraut. Denn beide verband schließlich der unbedingte Wille zum Besitz. Und da beide dafür wenig Voraussetzungen mitbrachten, waren sie bereit, nicht nur legale Mittel zu gebrauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Im Grunde genommen hätte Ünsal mit Oktay darüber gern reden wollen – sozusagen das Ausgangskapital und die Bilanz der gegenseitigen Verbindung aus seiner Sicht darlegen wollen. Aber Ünsal brachte dazu den Mut nicht auf. Er blieb mit sich und diesen Problemen allein.

So war er es denn zufrieden, dass die dreißig Minuten seines Besuches recht bald vorbei gewesen waren, als er wieder in seine Zelle zurückgeführt wurde. Wie oft schon hatte er über diesen Besuch gegrübelt! Er hatte sich die Begegnung im Knast ganz anders vorgestellt, aufbauend. Er hatte sich Beistand gewünscht. Wer denn, wenn nicht Oktay, sollte für Adnan Vaterersatz übernehmen können? – Mit dieser bangen Frage bemühte sich Ünsal, seine Aufmerksamkeit wieder dem Gutachten zuzuwenden. Er las aber mehr über die Zeilen hinweg. Doch als Ünsal zu den Ausführungen gelangt war, die die Überschrift „Aktenauszug“ trugen, war er plötzlich hell wach. Er las:

Arco Ünsal Duyan, geboren am 1. Januar 1964 in Antakya, tötete in der Nacht des 27. August 1998 den 57;1 Jahre alten Dr. Jari Ben Maubesor in dessen PKW auf dem Parkplatz an der B 27 zwischen Langenfulda und Meihingen. Der Tod durch Erwürgen trat laut Obduktionsbericht gegen 23 Uhr ein (Blatt 61 ff.). Herr Duyan bekennt sich, der Täter zu sein. Er wird wegen Totschlages angeklagt.

Der Angeklagte verständigte am Morgen des 28.8. gegen acht Uhr die Polizei, nachdem er kurz vorher noch seinen Geschäftsführer, Herrn Oktay Kuru, aufgesucht und ihm mitgeteilt hatte, dass er seinen Partner getötet habe. Die Polizei fand die mit weißem Oberhemd, Binder und dunkler Anzugshose bekleidete Leiche von Dr. Jari Ben Maubesor in seinem Auto. Weitere Verletzungen, Spuren eines Kampfes oder Gegenwehr konnten nicht festgestellt werden. Ein lokaler Rundfunksender war im Auto des Getöteten noch eingeschaltet (Blatt 11).

Laut Auskunft von Herrn Duyan in der polizeilichen Vernehmung (Blatt 23 - 32) bestand die Bekanntschaft zu Dr. Maubesor seit etwa sieben Monaten. Der Angeklagte bezeichnete das Opfer als »seinen Partner«. Ein homophiles Beziehungsverhältnis zwischen ihm und seinem Opfer wird von Herrn Duyan nicht in Abrede gestellt.

Herr Duyan habe am 29.04.98 im Anschluss an einen Restaurantbesuch und anschließender intimer Begegnung im Büro des Oktay Kuru seinen Freund, Dr. Jari Ben Maubesor, gebeten, ihm zwanzigtausend MARKzu leihen. Er wolle sich einen gebrauchten BMW 500 kaufen. Am 01.05.98 hat Dr. Maubesor einen Scheck in Höhe von elftausend MARKausgestellt und Herrn Duyan mit einem Begleitschreiben durch die Post zustellen lassen. Dem Schreiben des Dr. Maubesor (Blatt 20) ist zu entnehmen, dass er von Herrn Duyan den Kfz-Brief des Autos als Pfand für das Darlehen einforderte. Der Scheck ist am 05.05.98 eingelöst worden.

In seiner Vernehmung vom 2. September 1998 bestritt Herr Duyan die Existenz eines Begleitschreibens (Blatt 26). Die elftausend Mark habe er nämlich von Dr. Maubesor wegen seiner sexuellen Dienste für Herrn Dr. Maubesor bekommen. Dabei verwickelte sich Herr Duyan in Widersprüche. Gemäß Blatt 147 der Akte sagt der Zeuge Dr. Dahrenwald aus, dass Dr. Maubesor ihn am Morgen des 1. Mai 1998 angerufen und ihn gebeten habe, im Laufe des Nachmittags bei ihm vorbei zu kommen. Dr. Dahrenwald war ein langjähriger und befreundeter Mitarbeiter von Dr. Maubesor. Ihm sei der Charakter von Dr. Maubesors Beziehung zu Herrn Duyan nicht unbekannt gewesen. Er und Dr. Maubesor verabredeten sich für denselben Nachmittag in einem Restaurant. Dort zeigte Dr. Maubesor – so die Aussage des Zeugen Dr. Dahrenwald – ihm einen Scheck in Höhe von elftausend Mark und das Begleitschreiben. In seiner Anwesenheit habe Dr. Maubesor beides in einen frankierten Briefumschlag gesteckt und zugeklebt. Beide seien dann gemeinsam zu einem Briefkasten gegangen, der sich unmittelbar in der Nähe des parkenden Autos von Dr. Maubesor befand. In diesen Briefkasten habe Dr. Maubesor den Brief geworfen und sich dann bei Dr. Dahrenwald nochmals für dessen Zeugenschaft bedankt und verabschiedet.

Aus dem Begleitschreiben (vgl. Blatt 21) geht hervor, dass über die Rückzahlungsbedingungen ausführlich während eines verlängerten Wochenendes in Österreich gesprochen werden solle. Beide hatten nämlich vor, Anfang Juni 98 in die Ferienwohnung des Opfers zu fahren, um dort einige Tage - entfernt von beruflichen und familiären Verpflichtungen - gemeinsam zu verbringen. Das Ergebnis dieser Vereinbarungen ist in einem Brief dokumentiert, den Dr Maubesor per Fax in das Geschäft des Oktay Kuru geschickt hatte (Blatt 45).

Herr Duyan sah sich finanziell nicht in der Lage, diese Vereinbarung einzuhalten, weswegen Dr. Maubesor mit Schreiben vom 28.06.98 (Blatt 46) einen zum Vorteil für den Schuldner verbesserten Rückzahlungsmodus anbot. In diesem Schreiben verlangte Dr. Maubesor allerdings, dass Herr Duyan den geänderten Vorschlag durch seine Unterschrift nebst Angabe seiner Passnummer bestätigen möge. Während eines Treffens am 05.07.98 in einer Kölner Gaststätte weigerte sich Herr Duyan, der Forderung seines Gläubigers zu entsprechen. Beide Partner trennten sich im Streit.

Am 12.07.98, dem Tag vor Antritt des Sommerurlaubs der Familie Maubesor, rief Dr. Maubesor Herrn Duyan an und nahm ihm das Versprechen ab, wenigstens einen symbolischen Betrag des Darlehens auf das Konto des Dr. Maubesor einzuzahlen. Herr Duyan versprach, dieser Bitte seines Freundes nachzukommen. Das Telefonat wurde von der Ehefrau des Opfers mitgehört (Blatt 55). Frau Uta Maubesor, geb. Müller, hat das Telefonat sinngemäß zu Protokoll gegeben (Blatt 56).

Da bis zum 05.08.98 seitens des Herrn Duyan keine Einzahlung geleistet worden war, rief Dr. Maubesor abermals seinen Schuldner an und setzte ihm eine Frist von drei Wochen. Sollte bis zu diesem Termin keine Einzahlung erfolgt sein, werde ein Rechtsanwalt mit der Angelegenheit befasst werden. Weil Herr Duyan auch diese Frist nicht einhielt, wurde ihm mit Datum vom 25.08.98 ein Schriftsatz des Rechtsanwaltes seines späteren Opfers zugestellt, aus dem hervorgeht, dass das Darlehen zum 30.11.98 gekündigt werde und bei Nichtbeachtung durch Herrn Duyan Strafanzeige wegen Betruges gestellt werde.

Zu dem Kauf eines Autos durch den Angeklagten ist es niemals gekommen. Herr Duyan fährt für dienstliche und für private Zwecke den Geschäftswagen des Herrn Kuru. Aus Herrn Duyans Einlassungen geht hervor, dass er mit Herrn Kuru einen Kauf dieses Geschäftswagens plante. Offensichtlich ist dieser Kauf nicht erforderlich geworden, denn der PKW Mercedes Kombi mit dem polizeilichen Kennzeichen KGQ-999 wurde nach dem 15.05.98 mit einer Werbeaufschrift versehen, was ihn als Geschäftswagen ausweist. Nach dem gemeinsamen Wochenende in Österreich musste das spätere Opfer feststellen, dass es offensichtlich hintergangen worden war. Dr. Maubesor schien nunmehr mit großer Zähigkeit einen Rückzahlungsmodus des Darlehns erreichen zu wollen. Jedenfalls habe Herr Duyan gemerkt, dass sich etwas in Dr. Maubesors Verhalten ihm gegenüber geändert habe.

Vermutlich unmittelbar im Anschluss an den Besuch des Dr. Maubesor bei seinem Rechtsanwalt vereinbarte er mit Herrn Duyan ein Treffen auf dem vorgenannten Parkplatz. Nach Aussagen des Angeklagten fanden sich beide am 27.08.98 gegen 20:30 Uhr dort ein. Gemäß diesen Einlassungen seien beide etwa eine reichliche Stunde im Wald spazieren gegangen. Während des Spazierengehens sei nicht nur die Rückzahlungsangelegenheit besprochen worden. Viel wichtiger sei für Herrn Duyan ein Gespräch darüber gewesen (Blatt 32 ff), weshalb Dr. Maubesor tatsächlich einen Rechtsanwalt eingeschaltet habe. Während dieser Unterredung, die anfangs noch nicht affektgeladen verlaufen sei, habe Dr. Maubesor auch mitgeteilt, dass er gedenke, Herrn Duyans Frau von den homosexuellen Aktivitäten ihres Mannes zu informieren. Schließlich wollte - so die Aussage des Herrn Duyan (Blatt 33) – Dr. Maubesor auch nicht zögern, das Gericht über die verschiedenen illegalen Verdienste des Herrn Duyan zu informieren. Während des Spazierganges habe Einigkeit darüber bestanden, zurück zu den Autos zu gehen und im Wagen des Dr. Maubesor das Gespräch fortzusetzen. Es sei Herrn Duyans Ziel gewesen, gegenüber Dr. Maubesor keinerlei Zusagen zu machen. Vielmehr wollte er, Duyan, erreichen, dass Dr. Maubesor das Mandat von seinem Rechtsanwalt zurückverlange. Unter Freunden müsse man sich vertrauen.

Entgegen der beiderseitigen Erwartungen sei es im Auto zu einer heftigen verbalen Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf Herr Duyan seinen Freund erwürgte. Duyan habe ihn nicht töten wollen und könne sich die Tat nur so erklären, dass er die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannt und plötzlich rot gesehen habe.

Unmittelbar vor der Tat, als beide auf dem Rücksitz im Auto des späteren Opfers saßen, habe Dr. Maubesor den Angeklagten schlagen wollen. Herr Duyan sei erst etwa drei Minuten nach der Tat zu sich gekommen, als er mit beiden Händen seines Freundes Hals hielt und er schon tot war (Blatt 31).