Kanada - Ankunft und Rückkehr - Avan Anson - E-Book

Kanada - Ankunft und Rückkehr E-Book

Avan Anson

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Beschreibung

Der Westen Kanadas in all seiner kapitalen Vielfalt ist Siegfrieds und Milos Urlaubsziel. Die Aufzeichnungen des Reiseverlaufs machen den Leser zum Mitreisenden durch diese atemberaubende Landschaft - aber auch zum Mitwisser um die ungelösten Probleme ihrer Freundschaft und Liebe dieser so ganz und gar unterschiedlichen Männer. Vancouver wird Ausgang und Endpunkt des Urlaubs und ihrer Beziehung, die keine Wunscherfüllung mehr finden konnte. Bindung und Freisein, Treue und Eifersucht, Liebe und Sex sind stetige Gesprächsthemen dieser beiden. Nach Deutschland zurückgekehrt, liest Milo die Geschichte, die Siegfried ihm einige Tage vor der Heimreise schrieb; eine Metapher für Wesen und Wirkung ihrer eigenen Partnerschaft und endend mit dem Satz: Du bist doch mein Freund.

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Inhaltsverzeichnis

Im Flugzeug nach Kanada, 1. August 2007

Vancouver, 2. August 2007

Vancouver, 3. August 2007

Harrison Hot Springs, 4. August 2007

Harrison Hot Springs, 5. August 2007

Arm, 6. August 2007

Canmore, 7. August 2007

Canmore, 8. August 2007

Jasper, 9. August 2007

Jasper, 10. August 2007

Prince George, 11. August 2007

Smithers, 12. August 2007

Prince Rupert, 13. August 2007

Prince Rupert, 14. August 2007

Prince Rupert und Port Hardy, 15. August 2007

Port Hardy, 16. August 2007

Campbell River, 17. August 2007

Tofino, 18. August 2007

Tofino, 19. August 2007

Victoria, 20. August 2007

Vancouver, 21. August 2007

Vancouver, 22. August 2007

Vancouver, am 23. August 2007

Vancouver, am 24. August 2011

Frankfurt, am 25. August 2007

Zwischen Totensonntag und erstem Advent

Im Flugzeug nach Kanada, 1. August 2007

Ihr Start in den Urlaub begann turbulent. Nicht, dass sie schlecht geschlafen hätten, zu spät oder unsanft aufgewacht wären! Eher wäre das Gegenteil zu vermelden. Gegen acht Uhr weckte nämlich das Radio mit einer französischen Musik die beiden. Sie umarmten sich vor dem Aufstehen innig. Eine große, seit zwei Monaten vorbereitete Reise begann nun für sie Wirklichkeit zu werden.

»Weißt du, Milo, was ich gestern als Letztes gemacht habe?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Ich habe die Hände gefaltet und dir und uns alles Gute für die Reise gewünscht.«

(Erstaunt): »Du betest wohl manchmal?«

(Etwas verschämt): »Wenn man es so nennen kann, ja. Das ist wohl eher so etwas wie Meditation … Mir gingen dann auch deine vielen großen und guten Seiten im Kopf herum.«

»Und …?«

»Mir fielen auch deine anstrengenden Seiten und Unvollkommenheiten ein … Aber da habe ich wirklich nur wenige gefunden … Ich hab ja auch so meine Macken.«

Siegfried entging aber nicht, dass Milo ebenso verschlafen wie abschätzig grinste; denn für Meditatives, gar Religiöses ist er absolut nicht zu haben. Er hält es für feinsinnige Schwärmerei, die er esoterisch zu nennen pflegt. Darauf hatte Siegfrieds Vorgänger, der ein evangelischer Pfarrer ist, keinen nennenswerten einstellungsändernden Einfluss nehmen können. Toleranz in Glaubensfragen war und blieb bei Milo der kümmerliche Rest eines überzogenen Ideals.

An dem sonnigen, frischen Morgen schien ein Gewitter zwischen den beiden heraufzuziehen. Langsam, doch unausweichlich. Und das ausgerechnet am Beginn ihrer Reise in den Urlaub. Es begann damit, dass Milo fragte, was zum Frühstück gegessen werden solle, denn Brot sei keines da. Also fuhr er mit dem Rad, schnell ein paar Brötchen zu holen. Nachdem er wieder zurück war, gab ihm Siegfried zu wissen, dass Milo vergessen hatte, gestern Abend Brot aus seinem Domizil mitzubringen.

»Das Brot wird nun verderben während der drei Wochen … Und – noch schlimmer – das viele Obst, das in deinem Kühlschrank bzw. im Obstkorb vor sich hin gammelt.«

(Milo redete bärbeißig vor sich hin): »Ich hätte daran denken können, aber in der Hektik habe ich es glattweg vergessen … Rollos herunterlassen, elektrische Geräte ausschalten, Sicherungskasten …« (Nun deutlich und zuversichtlich): »Weißt du, ich schicke Wilfried eine SMS und bitte ihn, das Zeug an sich zu nehmen. Er hat ja eh meine Schlüssel und guckt zweimal pro Woche in den Briefkasten.«

Beim Frühstück stellte sich Siegfried die Frage, was passieren würde, wenn die Fluglotsen oder irgendeine andere für den Flug von Köln nach Vancouver zuständige Berufsgruppe streike. An Milo gewandt drückte er seine Resignation darüber aus, dass heutzutage manche Arbeitskämpfe ziemlich ungerecht ablaufen. Die Leidtragenden in der Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern seien letztendlich die an der Sache nicht Beteiligten.

Siegfried sprach von einer Art Geiselhaft, in die die vielen Unbeteiligten genommen würden. Man müsse sich – so seine Schlussfolgerung – andere, neue Formen der Mitsprache und des Mitleitens in großen Unternehmen ausdenken. Vor allem gelte das für solche, die von hohem öffentlichem Interesse sind, insbesondere für die mit überwiegendem Dienstleistungscharakter.

Das sah Milo ganz anders.

»Bei solchen Auseinandersetzungen geht es doch hauptsächlich um Geld in der Lohntüte. Weshalb sollen die Unternehmen Gewinne über Gewinne einfahren auf dem Rücken ihrer Beschäftigten?«

»Der Fakt mag ja stimmen. Man muss sich halt andere Formen der Mitbestimmung ausdenken, damit nicht Dritte geschädigt werden. Das, was die da Streik nennen, kommt doch fast einem Stellvertreterkrieg gleich.«

»Wenn die da oben nicht auf die berechtigten Forderungen der Arbeitnehmer eingehen, dann muss man halt streiken, damit die eigenen Interessen durchgesetzt werden können. Das geht nun mal nicht anders, als dass die Öffentlichkeit, also die Fluggäste, auf die da oben Druck ausüben. Ich halte das für ganz in Ordnung.«

»Aber was sagst du, wenn wir heute nicht fliegen können? Dann ist unsere gesamte Urlaubsplanung im Eimer …, das Auto abholen; die verschiedenen Übernachtungen, die bereits gebucht und angezahlt worden sind …«

»Ach, du hörst mal wieder das Gras wachsen! Bei einem Streik ist es doch so, dass der kleine Mann gar keine andere Wahl hat, als sich zu verweigern.«

»Das ist mir auch klar. Aber wer sind die Geschädigten in einer solchen Auseinandersetzung? Das scheinst du nicht begreifen zu wollen. In dem Streik geht es doch nicht nur um Interessengegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Der andere Interessengegensatz ist der zwischen Fluggästen und Flugpersonal. Dabei ist es doch ganz egal, ob das Flugpersonal am Schreibtisch sitzt oder den Flieger begleitet.«

»Wenn die Arbeitgeber ordentlich bezahlen, dann haben die Fluggäste auch keine Unannehmlichkeiten – so einfach ist das.«

»Keine Unannehmlichkeiten! Was das wohl konkret heißt! … Du denkst nur von zwölf bis Mittag … Wenn die Fluggäste streiken würden und sich verweigerten zu fliegen, dann … Na ja, die beiden Kontrahenten müssen das Problem unter sich lösen und die Fluggäste nicht in Geiselhaft nehmen … So ähnlich war es doch auch bei den Kindergärtnerinnen-Streiks. Die Eltern der Kinder mussten Urlaub nehmen – unfreiwillig und notgedrungen. Hältst du das für eine soziale Gesinnung? Und dasselbe in Grün ist, wenn wir unseren Urlaub nicht wie gebucht antreten können wegen eines Streiks? Ich wollte mal hören und sehen, was du dann sagst!«

Ein Wort gab das andere; beide schienen nicht mehr aufeinander zu hören. Milo konzentrierte sich während des Schlagabtauschs auf das extreme Missverhältnis im Verdienst einer Handvoll Unternehmer gegenüber ihren Angestellten. Er vermochte nicht mit Zahlen aufzuwarten und blieb im Allgemeinen.

Siegfried fand es nicht in Ordnung, wenn in dieser Auseinandersetzung Personengruppen hineingezogen werden, die mit der Sache selbst nicht das Geringste zu tun haben. Verlust an Lebensqualität, das haben die Fluggäste wie die Eltern ganz unmittelbar zu ertragen, während die anderen – er bezog sich auf das Flugpersonal oder die Kindergärtnerinnen – über ihre Lebensbedingungen verhandeln können.

Milo sagte nichts mehr. Ein Unbeteiligter hätte seinen Groll daran erkennen können, dass er sich die Brötchen besonders dick bestrich und sie hastig hinunterschlang.

Rechthabenwollen und Beleidigtsein, Siegermentalität und Altklugheit charakterisieren allzu oft solche Debatten. Wir brauchen unser Gegenüber nur in den seltensten Fällen um die eigene Position zu hinterfragen. Wir benutzen unseren Gesprächspartner vielmehr als Spiegel unserer selbst und nehmen unsere Argumente als Kosmetik, die eigenen Schwachstellen zu überdecken. Siegfried ging diesem Kampf aus dem Weg, indem er sich die Zähne putzte und letzte Anstalten für den Reiseantritt erledigte. Milo verfolgte auf der Couch sitzend, was alles noch zu richten war. Kein Wort fiel! Es blieb stumm, bis Milo aufstand und Siegfried in seine Arme nahm. Das tat ohne Zweifel beiden von Herzen gut, denn jeder wünschte dem Anderen erlebnis- und erholungsreiche Urlaubswochen miteinander.

Im Zug, der die zwei Urlauber zum Flughafen nach Frankfurt bringen sollte, passierte das Theater mit der Bahncard. Die Bahnverwaltung hatte es seit März noch immer nicht fertiggebracht, Siegfried eine gültige Bahncard zukommen zu lassen, trotz wiederholter Intervention seinerseits. Er fuhr sozusagen mit ungültiger Fahrkarte, obschon die Kosten für die Bahncard längst abgebucht worden waren. Mehrere Telefonate des leitenden Zugbegleiters mit dem für die Angelegenheit zuständigen Büro irgendwo in Deutschland ergaben dann, dass Siegfried umgehend eine gültige Bahncard per Post zugestellt bekomme. Es sei nun allerdings schon die zweite. Was mit der ersten Bahncard passiert war, das konnte im Zug nicht geklärt werden. Aber das ließ Siegfried kalt.

Am Flughafen vertiefte sich Milo in einer der überregionalen Tageszeitungen. Nicht wenig überrascht war er zu lesen, dass die Bahn mit dem Geschäft der Bahncard größere Schwierigkeiten habe, seit sie eine andere Firma mit dem Vertrieb beauftragt habe. Er las die am meisten informierenden Passagen vor. Milo und Siegfried sahen sich an, lächelten sich zu und wussten, warum.

Doch aller guten Dinge sind drei! Gilt das auch für die weniger guten Dinge? Es wollte zumindest so scheinen. Die dritte Kröte, die Siegfried zu schlucken hatte, bestand in der Wiedergabe eines Telefonats, das er soeben mit Pia, seiner älteren Tochter, geführt hatte. Sie wünschte beiden einen erlebnisreichen Urlaub und fügte hinzu, dass Siegfried und Milo nicht den Ehrgeiz entwickeln möchten, alles zu sehen und zu bestaunen, was es während der weiten Reise zu sehen und zu bestaunen gebe. Diese mahnenden Worte ließ er Milo wissen. Seine Reaktion kam ebenso spontan wie unerwartet.

(Herablassend): »Pia scheint ganz schön von sich überzeugt zu sein.«

»Wie kommst du denn darauf. Sie meint es doch nur gut mit uns.«

»Das gehört sich doch nicht von so einem jungen Ding.«

(Verteidigend): »Immerhin denkt sie an uns und ist in Gedanken bei uns. Das kann man von deinen Leuten nicht sagen. Die melden sich nicht mal … Und moralisierend war das nun gerade nicht, was Pia uns mit auf dem Weg gegeben hat.«

»Weißt du: Du hast recht und ich habe meine Ruhe!«

War da Milo eine Laus über die Leber gelaufen? Was drängte ihn zu derartig moralisierendem Sarkasmus. Er ist nun wahrlich kein Mensch, der sich zwanghaft an Konventionen hält. Der wahrscheinliche Hintergrund für seinen bissigen Kommentar war dies:

Fast alle Kontrollen waren schon passiert. Jetzt die letzte Passkontrolle. Milo sollte in einer weitaus längeren Befragung, als es einer Routinebefragung entspricht, Auskunft über sich und Siegfried geben. Wie die vielen Mitfliegenden, die vor und nach ihm alle Überprüfungen hinter sich hatten und in ihren Sesseln auf die Durchsage warteten ›Das Flugzeug ist jetzt startbereit. Sie können einsteigen‹, so beabsichtigten auch sie, sich in die Wartezelle des Gates 43 zu begeben und der Dinge zu harren, die sogleich Gegenwart werden.

Siegfried brauchte für die letzte Kontrolle lediglich Flugticket und Pass vorzulegen. Nicht so Milo! Eine der unnötig vielen Aufsichtspersonen in diesem Teil der Musterung fragte ihn in unbilliger Weise über Zweck, Art und Anlass seiner Reise nach Kanada aus. Auslöser dieser dämlichen Befragung war ganz gewiss Milos italienischer Pass. Das empfand er als Ausdruck offener Willkür. Kein Wunder, darüber sauer zu sein!

Was den Anlass der Reise betrifft, so ist er für Milo und Siegfried offensichtlich: Urlaub! Im Mai hatten sie beschlossen, ihre Urlaubszeit gemeinsam zu verbringen. Ihre Absicht, miteinander zu reisen, stand damals noch auf wackeligen Füßen. Beide trauten nicht der Festigkeit ihrer Beziehung zueinander. Immerhin waren sie erst seit ein paar Monaten einander bekannt und ineinander verliebt. Als die Idee des gemeinsamen Urlaubsabenteuers nicht nur geboren war, sondern gar heranreifte, wurde die Frage relevant, wohin die Reise gehen und wie der Urlaub gestaltet werden sollte. Irland oder Kanada waren alsbald die Alternativen. Wann sie ihre freien Tage antraten, das sollte abhängig werden von den Geschäften, die auf Milo zukamen. Vermutlich würde der Urlaub in den August fallen können, denn da sei für die Aufträge und Projekte eine Saure-Gurken-Zeit. Wenn es aber anders käme, stünde der Oktober zur Verfügung. Spätestens dann würde Milo sich auf jeden Fall von beruflichen Aufgaben freihalten. Wie sich nun aber doch herausstellte, war die Zeit im August gut gewählt.

Ob der Oktober für die Reise nach Kanada ein Wonnemonat sei, darüber meldeten beide ihre Zweifel an. So war die Entscheidung über das Wo, Wann und Wie bald gefallen! Ab Juli begannen die konkreten Reisevorbereitungen: Flug buchen, Auto für die Fahrt durch Kanadas Weiten leasen, Routen abstecken, die wichtigsten Unterkünfte vorbestellen. Dem Zufall sei dank, dass Milo im Juli kaum Arbeitsaufträge bekam. Und für den August hielt er sich rar, was die Akquise von Projekten betraf.

Sehr viel später unterrichtete Milo seinen Kompagnon, dass er in wenigen Wochen in Urlaub zu fahren gedenke. Das traf den Partner, wie der Blitz aus heiterem Himmel. Zum einen hatte er für die Sommermonate einige Arbeitsaufträge eingeholt. Er war letztlich verantwortlich für Termineinhaltung und Qualität der abzuliefernden Erzeugnisse. Ihre von gegenseitiger Abhängigkeit getragene Arbeit geriet in eine handfeste Krise. Milo hatte einen vermeidbaren Konflikt aufgebaut. Die Aufkündigung der weiteren Zusammenarbeit schwebte im Raum. Nicht zuletzt waren beim Partner familiäre Entscheidungen zu berücksichtigen. Was Wunder, dass dieser Dissens monatelang schwelte, nur weil Milo nicht zu unterscheiden vermochte, unter welchen Umständen er selbst, sein Arbeitskollege allein und unter welchen Gegebenheiten beide eine gemeinsame Entscheidung treffen mussten.

Während des Fluges schrieb Siegfried über diesen ersten Urlaubstag. Beschlossen war es lange vorher, die Erlebnisse und Eindrücke der gemeinsamen Reise schriftlich festzuhalten. Milo verfolgte Satz für Satz auf dem Monitor.

(Neugierig und von oben herab): »Aber mach aus dem Tagebuch keine Chronologie der Ereignisse. Jeder Tag hat nicht nur Wesentliches. Er hat auch seinen ganz eigenen Sinn.«

»Was ist denn der Unterschied zwischen Wesen und Sinn?«

»Ob eine Angelegenheit wesentlich ist, das hängt von vielen Belangen ab – auch vom zeitlichen Verlauf dieser Belange, aber eben doch nicht von diesen allein. Das Wesentliche während unserer Urlaubstage wird sowohl von dir als auch von mir, aber vor allem auch von Zufällen bestimmt werden, auf die wir beide kaum Einfluss nehmen können.«

(Gelangweilt): »Na, ja; wie das halt so ist im Leben!«

»Was einem Tag Sinn gibt, das kann sich doch wohl erst dann erschließen, wenn der Tag zu Ende gegangen ist.«

(Das Thema abschließend): »Also sollte ich im Tagebuch auch Reflexionen festhalten, die den Sinn unserer Erlebnisse während des Tages offenlegen – wenigstens annäherungsweise? Dann würde ich auch das niederschreiben, worüber wir uns unterhalten … wenn es wert ist, festgehalten zu werden?«

»Ja, so meinte ich es. Dann könnten wir später immer mal darauf zurückkommen … Aber jetzt schreib mal weiter. Ich will dich nicht davon abhalten.«

Der Flug sollte länger als zehn Stunden dauern. Eine nicht enden wollende Zeit, sie in den beengten Sesseln zuzubringen! Den beiden Passagieren war ein Platz in der Mitte der 40. Reihe des Fliegers zugewiesen worden. Man musste schon seinen Hals gehörig verrenken, wenn man sehen wollte, was sich einem da draußen in eiskalten Höhen und da unten in schwindelnder Tiefe bot.

Grönland! Jetzt überflogen sie die größte Insel dieser Erde. Nuuk ist vermutlich die Stadt mit den meisten Einwohnern. Aber davon war nichts auszumachen. Hier gibt es eine Universität, in der nicht einmal zweihundert Studierende dort eingeschrieben sind. Verglichen mit deutschen Studies haben sie offenbar ideal zu nennende Studienbedingungen. Die Grönländer noch weitere Weltrekorde aufzuweisen haben, wenngleich ausgesprochen negative: Dort ist die größte Selbstmordrate der Welt von Kindern und Jugendlichen festzustellen. Woran es liegt, weiß keiner. Mit den langen Wintermonaten wird es vermutlich kaum zusammenhängen.

Anders liegen die Dinge beim sexuellen Missbrauch. Jede dritte Frau soll angeblich bis zu ihrem 15. Lebensjahr sexuell missbraucht worden sein, wobei nicht herauszufinden ist, was alles in die Liste dieser fiesen Taten eingetragen ist. Im Lande selbst wird diese Tatsache nicht derart sittenstreng an den Pranger gestellt wie beispielsweise in Deutschland. Der Grund für diese Bewertung wird nicht unter christlich-moralischen Maßstäben gesehen, sondern mit der Tradition der Eingeborenen entschuldigt. Sie hatten ein anderes Verhältnis zum Sex und zu partnerschaftlichen intimen Beziehungen. Wie auch immer!

Von dem Fünftel an eisfreier Fläche und damit von jenen Gebieten, in denen Selbstmord und sexueller Missbrauch eine wesentliche Rolle zu spielen scheinen, war aus dem Flugzeug nichts zu sehen – gut so!

Würde das gesamte Eis dieser Insel schmelzen, so käme es zu einem Wasseranstieg um mehr als fünf Metern auf der kompletten Erde. Kaum auszudenken, was davon die Folge wäre. Also ist es doch Gebot unserer Zeit, nicht nur Überlegungen darüber anzustellen, was in der Zukunft auf uns zukommt. Unser Gewissen sollte uns beunruhigen, damit endlich das unternommen wird, was getan werden kann. Und das ist im Moment der Erhalt des weißen Grönlands in all seiner Grandiosität, die beim Blick aus den Luken so sehr beeindruckt. In der untergehenden Sommersonne blitzt der Schnee golden gleich einem Juwel.

Milo hatte sich den ersten Roman seiner Urlaubslektüre vorgenommen. Irgendwann ließ er Siegfried eine Stelle daraus lesen. Ihm stand während dessen eine neugierig-provozierende Mine unverkennbar im Gesicht. Entsprechend dem, was in dem Absatz zu lesen war, sei beim Sex der Sechzigjährigen Anstrengung und Langmut charakteristisch. Das sei eine Folge ihres Alters. Sie hätten mithin mehr mit sich selbst als mit ihrem Sexualpartner zu tun, nur dass die in die Jahre Gekommenen das für sich behalten würden. Langmut! Was damit wohl gemeint ist, bebrütete Siegfried. – Langmut, das ist doch ein anderes Wort für Gelassenheit, Ruhe, Geduld oder Güte. – Sechzigjährige, das waren für Milo Alte. Also fragte Siegfried im Flüsterton:

»Dir ist wohl nicht bekannt, dass Sexualität im Alter in der Anti-Aging-Medizin einen ziemlich hohen Stellenwert hat? Die Vertreter dieser ziemlich jungen Disziplin kümmern sich nämlich nicht nur um das Älterwerden. Ihnen geht es mindestens genauso um den Erhalt der Lebensqualität. Auch bei Menschen jenseits der zweiten Lebenshälfte übt die Sexualität einen gewichtigen Einfluss auf ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden aus.

Dass Lust in Rente geht, ist ein Mythos, den vor allem Männer in deinem Alter pflegen. Eine Studie des britischen Gesundheitsdienstes bewertet sexuelle Aktivität unter gesundheitlichen Aspekten höher als Sport. Demnach macht regelmäßiger Sex natürlich froh und zufrieden. Aber Senioren wollen mehr Sex, bei dem sie Geborgenheit fühlen, als jüngere Männer. Der bloße Lustsex steht nicht mehr oft im Vordergrund wie bei solchen in deinem Alter oder Jüngeren. In deiner Romanpassage ist das ziemlich vorurteilsvoll und sarkastisch formuliert worden.«

(Versöhnlich): »Das leuchtet ohne Weiteres ein, weil beim Orgasmus die berühmten Glückshormone freigesetzt werden, die sogar auch das Immunsystem stärken. Selbst die Herzfunktion soll sich angeblich verbessern und Verschiedenes mehr … Also, lass uns viel und guten Sex haben! Das kommt dir zugute. Bei mir kannst du dich geborgen fühlen.«

Als Milo das von sich gab, trat er seinem Partner auf dessen Fuß, sacht und ebenso eindeutig. Dabei zwinkerte er solidarisierend mit dem rechten Auge. Siegfrieds Überlegungen entfernten sich indessen in eine andere Richtung. Er brachte sie sogleich zur Sprache.

»Ich muss noch mal nachfassen, was unsere Altersdifferenz betrifft. Ich könnte gut und gern dein Vater sein … Weshalb finde ich gerade bei Dir Interesse? … Warum gefällt dir angeblich mein Äußeres und meine Art, so wie ich bin? … Meine Art zu reden, zu schreiben, mit dir umzugehen, das können auch Männer in deinem Alter.«

(Ausweichend): »Ist es nicht schön, von den Älteren zu lernen? …«

(Milo unterbrechend): »Nun hör aber mal auf, so rum zu spinnen. Du gehst doch kein Verhältnis mit mir ein, um von mir zu lernen. Das kannst du jemandem erzählen, der sich die Hosen mit der Beißzange anzieht.«

»Ja doch! Ich will so jung oder so alt sein, wie ich nun mal bin. Ich habe keine Lust, meine Flausen und meine Gegenwart aufzugeben … Andererseits bin ich nicht mehr der Jungspund schlechthin. Statistisch gesehen habe ich die Hälfte meines Lebens bereits hinter mir. Das heißt andernteils, dass ich die Hälfte noch vor mir habe …, und die will ich genießen!

(Hinterfragend): »In vollen Zügen … von Genuss zu Genuss taumeln…?«

(Ausweichend, seine Botschaft lediglich andeutend): »Ja … mit dir … Ich halte nichts vom Altersunterschied, was zeigt der an, wenn man versteht? Wahrscheinlich zieht es einen Jüngeren deshalb zu einem Dad, weil sich der Senior nach Wärme und Beständigkeit sehnt. Die kann der Jüngere ihm geben. Denn dem Jüngeren ist Körperlichkeit, oft nur Sex sehr wichtig. Das ergibt sich aus der Biologie der beiden. Der Jüngere will seine Gegenwart nicht ganz aufgeben, was heißt: ’Ich lebe überwiegend mein eigenes Leben und ein Stück davon widme ich dir` … Werden diese Erwartungen irgendwann nicht mehr befriedigend verwirklicht, sucht sich der Jüngere einen neuen. Der Senior zieht sich auf sich selbst zurück. Das heißt, der Jüngere wandert und der Senior wird einsam … Das muss aber nicht so sein … Jedenfalls nicht bei mir.«

Siegfried hatte betont kritisch zugehört. Versteckte Milo seine eigenen Einstellungen hinter den Jüngeren und wollte vermitteln, dass sich seine von solchen Haltungen unterschied?

»Da gibt es aber noch einen weiteren Grund.«

»Und der ist …?«

»Senioren haben zumeist einen etablierten Lebensstandard in hinlänglich gesicherten Verhältnissen – im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Davon profitiert der Jüngere. Profitieren heißt, Geben und Nehmen sind aufs Ganze gesehen nicht ausgeglichen. Der Senior kann und will geben, weil er dem gibt, den er liebhat. Der Jüngere hat das, was er braucht, aber die Ausgeglichenheit von Geben und Nehmen bleibt auf der Strecke. Das Geben des Jüngeren könnte doch auch darin zum Ausdruck kommen, dass er seinen älteren Partner mit sich nimmt; sozusagen ihn teilhaben lässt an seinem Leben. Aber – wie du sagtest, will der Jüngere überwiegend sein eigenes Leben leben … Ich weiß nicht, wie so etwas kompensiert werden kann. Und ich will nicht so verstanden werden, dass Geben und Nehmen in einem Eins-zu-Eins-Verhältnis stehen sollte. Beides bedenkend halten es viele Senioren für ratsam, vorsichtig und achtsam mit Jüngeren umzugehen. Ein gewisses Misstrauen haben die Älteren fast immer, wenn sie einen Jüngeren zum Partner haben. Bei vielen ist es Eifersucht, bei anderen ist es das Verstecken ihrer finanziellen Rücklagen oder was weiß ich.«

(Bestimmt): »Und genau das ist es, was die Jüngeren so nervt, wenn sie diese Absicherung zu spüren bekommen. Dann schauen sie sich nach einem anderen um.«

(Resignierend): »Also ist wieder mal der Alte der Übeltäter, der die Beziehung zerbrechen lässt, weil ihm das Hemd näher ist als der Rock?«

Was beide bei dieser Thematik aber nicht bedachten: Indem man alt wird, muss man sich erst dazu entschließen, alt zu sein. Diese Freiheit gilt für Milo dann ebenso, wenn er von einem Zwanzigjährigen als alt angesehen wird. Und das trifft gleichermaßen für Siegfried zu, wenn er von dem um fünfundzwanzig Jahre Jüngeren als alt bezeichnet wird.

Milo hüllte sich in Schweigen. – Was eigentlich war die Absicht, mit der Textstelle in der Urlaubslektüre seinem Partner zu signalisieren? Was in aller Welt wollte er mit seinen Äußerungen zum Altersunterschied zwischen ihm und Siegfried bezwecken? Was gelüstete ihn, dies durch die Blume mitzuteilen?

In Wahrheit ist der Altersdifferenz zwischen beiden beträchtlich. Diesen Umstand hielt Siegfried für ein größeres Problem als Milo, was Siegfried immer wieder thematisierte. Milo hingegen wehrte es ab, so gut er es vermochte. Ihm wurde es mehr und mehr lästig, darüber zu sprechen – eigentlich zwei ungleiche Partner, die füreinander eine große Anziehungskraft haben.

Was tief unter dem Flugzeug mittlerweile zu sehen war, könnte Labrador sein. Wenig später meinte Milo, Neufundland zu erkennen. Hier etwa fließen der wärmende Golfstrom und der kalte Labrador-Strom zusammen. Eisberge waren auszumachen, die wie kleine Sahnehäubchen wirkten. Vielleicht ist einer von ihnen jener Eisberg, gegen den 1912 die »Titanic« fuhr und dort unterging.

Das Flugzeug hatte den Luftraum von Kanada erreicht. Beeindruckt sprach Milo mehr zu sich selbst:

»Das sind ja Ausmaße! Und alles scheint so ruhig zu sein da unten, so, als ob die Zeit stille zu stehen scheint.«

Dann schloss er seine Augen. Das dumpfe gleichförmige Dröhnen der Flugzeugmotoren war wie ein Sog, der ihn in eine Art Halbschlaf brachte. Seine Eltern fielen ihm ein. Was sie jetzt womöglich machten? Hatte er ihnen gesagt, dass er heute seinen Urlaub antreten würde und wohin die Reise geht? Er hatte ihnen verschwiegen, dass es der erste gemeinsame Urlaub mit Siegfried war. Dessen Existenz und seine brandneue Partnerschaft hatte er unlängst beiläufig erwähnt … Wie würden sie reagieren, wenn sie wüssten, dass sein Neuer eines Alters mit seinem Vater ist? Sie vermuteten zwar, dass Milo schwul ist und schon im Verlaufe seiner Pubertät Kontakte zu Männern hatte, die mindestens doppelt so alt waren wie er selbst. Es ging sogar das Gerücht um, dass Milo als junger Erwachsener eine sexuelle Affäre mit einem seiner Onkels hatte. Über sein Schwulsein wurde allerdings nie gesprochen. Der Mantel des Schweigens wurde über jegliche Themen ausgebreitet, die einen emotionalen Hintergrund haben. Der Meister von allen in der gesamten Familie war Milo selbst. Er beherrschte die Kultur des Schweigens wie kaum ein anderer.

Milos Verhältnis zu seinen Eltern war genau betrachtet gar kein Verhältnis, jedenfalls kein förderliches. Er besucht sie im Jahr drei, vier Mal, wenn es hochkommt. Sie sind recht schlichte Menschen aus dem Süden Italiens. Und wohl deshalb distanzierte er sich von ihnen, sprach eher herablassend über sie, wenn die Rede auf seine Eltern kam. Er mochte ihnen nicht verzeihen, dass sie ihn nicht studieren ließen. So bewarb er sich als Zwanzigjähriger ohne das Einverständnis seiner Eltern für ein Studium als Designer, kam an und verdiente sich in einer Druckerei für Pornografie den wesentlichen Teil seines Lebensunterhaltes. Den anderen Teil hatte ihm sein Vater zu zahlen, nachdem Milo erfolgreich gegen ihn geklagt hatte. Darin mag begründet sein, dass deshalb die Atmosphäre zwischen ihm und seinen Eltern zerrüttet ist. Milo sagte sich, dass es nichts zu klären gebe, sondern zu entscheiden und zu handeln. Wie eine Facette aus einem Mosaik von Pubertätserinnerungen fiel ihm ein, mit welch starker Selbstbehauptung er bereits als Kind den eigenen Willen gegen seine Eltern durchgesetzt hatte.

Da war dieses fromme Bild, das seine Mutter ihm über das Bett in seinem Zimmer aufgehängt hatte. Ein goldener Rahmen verzierte die vom Glauben erfüllt dreinblickende Madonna – wahrlich kein Beispiel für Kunst und Kreativität. Milo hängte das Bild ab und stellte es in den Korridor vor die Wohnzimmertür. Es sei nichts weiter als scheußlich. Von solch einem Kitsch wolle er in seinem Zimmer nicht umgeben sein. Dann lieber kein Bild als so etwas. Die Mutter hängte das Bild ohne Wenn und Aber wieder in Milos Zimmer auf, derweil er in der Schule war. Dasselbe ging in diesem Ritual etwa drei Mal in gleicher Weise vonstatten. Dann nahm Milo rote Acrylfarbe – ein aggressives Rot – und überpinselte das Bild. Triumphierend sprach er davon immer wieder, wenn er ein Beispiel dafür brachte, wie er unzweideutig festlegt, was läuft und was nicht läuft – gegen wen auch immer.

In der Zwischenzeit war das erste Essen während des Fluges gereicht worden. Auf der Menükarte klang das Angebot eindeutig komfortabler, als es dann auf dem kleinen Tablett übereinandergestapelt serviert wurde.

Vancouver, 2. August 2007

Der erste Tag, vom Aufgang der Sonne bis zum Anbruch der Nacht, in Kanada! Gegen halb acht Ortszeit wurde Siegfried sanft geweckt. Milo kam zu ihm unter die Decke gekrochen. Sein Kuscheln bestand darin, dass er sich auf die rechte Seite drehte und mit seinem Arm Siegfrieds Bauch umfasste. Sein Becken schob er leicht nach vorn, so dass Siegfried die Wärme und manchmal auch das Volumen dessen wahrnahm, was zwischen Milos Nabel und seinen Oberschenkeln zu spüren war. Bis zum Aufstehen alternierten Kuscheln mit Schlummern. Keine Worte, denn sie zu wechseln, war um diese Tageszeit für beide zu anstrengend. Sie waren ohnedies überflüssig. Es schien ihnen nämlich so, als ob ihre Verlangen Wirklichkeit würde.

Was ist die Tiefste aller Sehnsüchte? Ist es nicht die Sehnsucht nach ihrer Erfüllung? Weder Siegfried noch Milo hätten darüber Auskunft geben können, was sich jetzt hätte erfüllen können, gar sollen; es bis zur Neige auszukosten, war Erleben ohne jedes Bemühen.

Das Bad ist an Enge schwerlich zu unterbieten. Die zwei hätten sich zusammen dort nicht aufhalten können. Sie benutzten es hübsch nacheinander. Der Eine brauchte länger als der Andere – Kooperation war gefordert … Das Einzige, was ihnen im Bad gefiel, war der Duft des Haarshampoos. Ansonsten stellte das Hotel ein Stückchen Seife und Hairconditioner zur Verfügung, das von ihnen allerdings nicht genutzt wurde ob der wenigen Kopfhaare, die jeder vorzuweisen hat.

In jeglicher Hinsicht wirkte das Hotelzimmer reichlich spartanisch und – man muss es festhalten – ungepflegt. In seiner Begrenztheit glich es eher einem luxuriösen Hühnerkäfig. Da gab es keine Möglichkeit, den Schreibtisch zu nutzen, der überflüssig das Zimmerchen füllte. Ihm zweckentfremdet, waren darauf der Fernseher, der Icecrasher, der Kaffeeautomat mit allen möglichen Arrangements und letztlich die Waschutensilien der beiden deponiert.

Anfang Juli hatten Siegfried und Milo das Hotelzimmer von Deutschland aus reservieren lassen. Es sollte die Anlaufstelle nach ihrem vielstündigen Flug werden. Ein Taxi hatte sie vom Flughafen zum Hotel gebracht. Von dort wiederum sollte die Entfernung nicht allzu weit zum Stadtzentrum sein.

Vorsorglich hatten Milo und Siegfried tags zuvor Coupons für das Frühstück gekauft, fünf Dollar pro Person. Die leere Geschäftigkeit der drei Mitarbeiter vor und hinter der Theke, die etwa zwanzig Gäste zum Morgenessen zu bewirten hatten, fiel allenthalben auf. Als Mitteleuropäer erwartet man, dass nach Abgabe des Frühstückscoupons der Gast am Buffet das aussucht, wonach man besonders Appetit hat. Fehlanzeige! Zuerst hatten die Hotelgäste mitzuteilen, ob man das bekannte Continental breakfast oder das American breakfast einnehmen wolle. Dann wurden sie darauf hingewiesen, wovon man auswählen durfte als Gegenwert für den Coupon. Hier darf noch lange nicht jeder essen, was ihm gefällt.

Milo und Siegfried aßen zwei Buttertoasts, zwei kleine Würstchen, zwei Spiegeleier und frittierte Kartoffeln. Sie tranken ihren für amerikanische Verhältnisse schmackhaften Kaffee und schauten dabei gelegentlich begehrlich auf die Melonenstücke oder den Orangensaft. Wenn sie dies oder etwas davon Abweichendes hätten essen wollen, so wäre eine Sonderzahlung fällig geworden. Das galt ebenso für den Kaffee. Jede Tasse wurde gesondert in Rechnung gestellt. Es hatte den Anschein, als ob wenigstens eine der drei Personen des Personals darauf acht gab, dass die Gäste bloß nichts anderes vom Büfett nahmen als das, was gemäß den Vorauszahlungen vorgesehen war.

Die Ausstrahlung des Raumes war eine Mischung aus miefiger Bar-Atmosphäre und aus DDR-Zeiten hinübergerettetem Mobiliar. Dazu passte die auf fein getrimmte asiatische Bedienung wie die Faust aufs Auge. Billiger Brokat, viele ondulierte Löckchen und eine Geschäftigkeit sondergleichen. Eine andere, in die Jahre gekommene und auf jugendlich gepolt Frau schien die zweite Nachkommastelle ebenso wichtig zu nehmen wie die dritte Vorkommastelle. Sie eilte immer wieder von Tisch zu Tisch und notierte irgendetwas auf ihrem Wust von Zetteln. Die Gäste kamen sich durchweg beobachtet und von ihr kontrolliert vor. Im Kontrast dazu ein Südamerikaner im speckigen schwarzen Anzug. Er dirigierte das Unternehmen. Aber es half nichts: Die nicht eben frisch aussehende Kaffeetasse und die aufzubringende Geduld, bis die Bediensteten sich endlich nach Milos und Siegfrieds Wünschen erkundigten, waren Grund genug, für den Rest der Tage in Vancouver auf das Frühstücken in dieser Hoteleinrichtung zu verzichten. Milo brachte die Sache auf den Punkt.

»Ich weiß nicht, mir gefällt es hier nicht. Zuerst die Enttäuschung über das Zimmer, dann das Frühstück.«

(Betroffen): »Das alles muss ich auf meine Kappe nehmen.«

»Wieso denn das?«

»Weil ich das Hotel ausgesucht habe … Ich hatte im Internet ein Hotel gesucht, das nicht allzu weit entfernt ist vom Flughafen und eine gute Anbindung an die Stadt hat. Damit wir nicht so weit und so lange bis ins Zentrum brauchen; vielleicht sogar zu Fuß Downtown erreichen. Aber da habe ich mich geirrt und wohl den Maßstab nicht beachtet, als ich Zuhause bei Google das Hotel inspizierte.«

»Ach, lass mal, wir sind doch bloß die paar Tage hier. Zum Eingewöhnen reicht es alle Male.«

Milo und Siegfried beschlossen deshalb, in der Nähe des Hotels Ausschau zu halten nach einem der Breakfast-Lokale, die in dieser Gegend ihre Dienste zuhauf anboten. Wie sich in den kommenden Tagen immer wieder zeigte, aß man in den breakfast-Shops abwechslungsreicher, preislich vortrefflich vergleichbar und atmosphärisch unterhaltsamer als im Hotel.

Wenn die Geschäfte im Frühstücksraum asiatisch kleinlich waren, so waren sie im Bus mindestens großzügig zu nennen. Die beiden Neuen in Vancouver suchten die Haltestelle des Busses, der sie in die City bringen sollte, was nicht hinlänglich leicht war. In den Bus eingestiegen, hielten sie Ausschau nach den Ticketmodalitäten. Wie meistens Touristen am Beginn ihrer Auslandsreise, hatten sowohl Milo als auch Siegfried ausschließlich Geldscheine in der Tasche, kein Kleingeld. Die Fahrscheine im Bus waren allerdings uneingeschränkt mit Münzen zu begleichen. Milo drängte sich in dem mit Fahrgästen vollen Bus vor zum Fahrer. Zuvor hatte Siegfried mit einem Zehndollar-Schein wedelnd einige Passagiere vergeblich gefragt, ob sie das Geld wechseln könnten. Der Buschauffeur winkte mit einer großzügigen Handbewegung ab. Milo solle nahe bei ihm bleiben, falls Kontrolle käme. Er rief gestikulierend Siegfried aus dem Gequirle der Mitfahrenden zu sich. Als beide in visueller Obhut des Buskapitäns waren, bedeutete er mit breitem Lächeln, dass Kanadier gegenüber ausländischen Touristen großzügig seien. In dieser Gewissheit fuhren sie etwa zwanzig Minuten dank freundlicher Unterstützung der Community Vancouver unentgeltlich, stiegen im Herzen von Downtown aus und waren umgeben von nicht gezählten Türmen, die mal Büros, mal Wohngebäude waren.

Wie in Köln oder Düsseldorf, so wurde auch hier eine U-Bahn gebaut, deren am meisten imposanter Bauabschnitt ganz in der Nähe des Harbor Centres im Entstehen begriffen war. Dichtes Gedränge an den Straßenübergängen. Der Menschenstrom wurde über eng aneinandergelegte Holzbalken geführt, die manchmal wackelten und vor allem ältere Passanten verunsicherten. Da und dort war der Blick frei, hinab in die Tiefe zu gucken und einen Eindruck vom Vorhaben der Bauplaner und von der Geschäftigkeit der Arbeitenden mitnehmen.

Das Hafenzentrum ist wie ein Magnet, der Touristen aus aller Welt anzieht. Siegfried und Milo hatten Mühe, sich nicht aus den Augen zu verlieren. Die Straßenkarte von Vancouver leistete momentan keine Dienste, denn auf den vorgezeichneten Wegen kurze Zeit zu verweilen. Umleitungen noch und noch.

Unweit von hier kann man das imposant gebaute Zentrum von Electronic Arts bestaunen. Ungezählte schwarze Fenster bilden einen lebhaften Kontrast zu dem weißen Gebäuderahmen. Electronics Arts – das ist, wie Milo ausführlich zu berichten wusste, das Weltzentrum für Computerspiele. Und er wäre der glücklichste Mensch unter der Sonne, wenn er hier einen Job hätte.

Purer Sonnenschein, wolkenloser Himmel und das Bergpanorama hinter den Wassern von Vancouver bildeten einen bewundernswerten Rahmen, dem das Flair einer Metropole zufällt, die zugleich ungeahnte Möglichkeiten bietet, Freizeit mannigfaltig zu genießen und Erholung zu finden. Klar doch, dass Milo zahlreiche Fotos schoss.

(Vorsichtig): »Milo, was ist so überaus faszinierend an dem Gebäude, dass du es so viele Male fotografierst?«

»Vielleicht will ich die pics Frank zeigen. Er hat nämlich immer mal wieder davon geschwärmt, hier zu arbeiten. Es wird schon so sein, dass man für sein Leben ausgesorgt hat, wenn man in diesem Gebäude einen Dauerjob auf einer der höheren Etagen hat … Jetzt kann ich sagen: ›Ich war wenigstens Mal hier direkt vor Ort.‹ Frank träumt nur davon.«

»Sagst du nicht immer, Frank ist dein Freund von Jugend auf? Mir kommt es so vor, als wolltest du mit ihm konkurrieren.«

»Was gibt es da zu konkurrieren? Wenn irgendwann das Gespräch wieder mal auf das Thema ›Electronic Arts‹ kommt, kann ich ihm ja mal die pics zeigen und ihm von ein paar Einzelheiten berichten.«

»Das macht dann aber den Kohl nicht fett, egal ob du ihm drei oder zehn Fotos von dem Gebäude zeigen kannst«

»Ist schon so. Doch man kann nie wissen, wofür man dieselbe Sache, aus verschiedenen Perspektiven fotografiert, noch gebrauchen kann.«

(Noch immer vorsichtig): »Meinst du wirklich, dass Frank sich hier mal bewerben will … oder du? Franks Partner würde doch nie mit hierherziehen.«

»Ach, weißt du, die Erfahrung lehrt, dass Wichtigtuerei, selbstgefällige Arroganz und dümmliche Selbstsicherheit den Blick für das Wirkliche und Wichtige verstellen.«

»Was du mir damit auch immer sagen willst, aber es klingt weise und klug.«

»Hast du noch nicht meinen Tic registriert? Wenn ich von einer Sache beeindruckt bin, dann will ich dieses Gefühl konservieren, indem ich das, was es auslöst, im Foto festhalte … So bin ich nun mal.«

War es Schlendern, war es Getriebensein durch die Gassen und Straßen Vancouvers, so wie es Touristen immer und überall zu tun pflegen? Eindrücke in sich aufsaugen und im Gedächtnis behalten, das war es, was nun auch für Milo und Siegfried zutraf.

Ein Muss war der Spaziergang durch die Waterstreet in Gastown. Die alte Dampfuhr an der Ecke ist ein sorgsam gepflegtes Relikt aus längst vergangenen Tagen von Kanadas kurzer Historie. Ihr Zischen und Pfeifen ist selbst in den Räumen jenes Geschäftes zu vernehmen, in dem Idianerkultur ausgestellt war und käuflich erworben werden kann. Das Angebot scheint ein Beispiel für die moderne Volkskunst der Kanadier zu sein. Ob die einzelnen Exponate je in der Hand eines Indianers gewesen waren?

Bewunderungswürdig die Unmengen an Blumenampeln, deren Vielfalt und Gepflegtheit den Stil der Straße prägten. Wie ein Vogel verdrehte Siegfried immer wieder seinen Kopf, um die Arrangements zu betrachten, von denen keines dem anderen zu gleichen schien. Ihm fiel jene Geschichte ein, die dem belgischen Ordenspriester Phil Bosmans zugeschrieben wird. Er erzählte sie Milo, während sich ihre Schritte verlangsamten.

Irgendwann verweilten zwei Bienen am Eingang ihres Bienenkorbs in der Sonne. Kurz zuvor hatte ein heftiger Sturm gewütet. Seine Wucht und Stärke hatten ihren Lebensraum verwüstet. Alle Blumen waren dahin. ›Was soll ich noch fliegen‹, klagte eine der beiden Bienen. ›Überall herrscht Chaos, die Hölle, die sich bereits im Diesseits auftut … Was vermag ich da fortan auszurichten!‹ Traurig blieb sie in sich versunken sitzen. ›Blumen sind stärker als der Sturm; selbst das wüsteste Durcheinander wird sie auf Dauer nicht auslöschen können‹, entgegnete die andere Biene. ›Irgendwo müssen noch Blumen sein. Da bin ich sicher. Sie brauchen uns, sie bedürfen unser. Keine Frage, dass wir sie aufsuchen. Ich fliege los.‹

Milo schwieg, als Siegfried mit der Geschichte fertig war. Er hätte gern erfahren, was Milo dieses Gleichnis zu sagen hatte. Er behielt es indessen für.

Wenn man von der Waterstreet zweimal rechts abbiegt, gelangt man – fast wörtlich zu nehmen – hinter die Kulissen der geschäftigen Touristenstadt. Hier riecht es nach Haschisch; Penner schlafen in einer Hausnische. Die Polizeiautos kurven herum, während Siegfried und Milo auch dieses Vancouver kennenlernen. In jeder Weltstadt kann man solche Gegenden finden. Unversehens aber waren sie in diese Straßenzüge gekommen, die dicht an den Flaniermeilen der Touristen liegen. Dieser Ausflug in einen von Vancouvers Hinterhöfen war nur kurz. Ein wenig unbehaglich fühlten sie sich hier. Kontaktiert, gar angemacht wollten sie nicht von den Typen werden, die hier anscheinend zuhause sind. So zogen sie es vor, das sehenswerte Vancouver weiterhin kennenzulernen.

Der Lunch in einem kleinen, kultivierten Gartenrestaurant mit einem Hauch des Französischen war nicht nur eine verdiente körperliche Stärkung, desgleichen eine Rast für die müden Beine. Wenn Musik das beste Labsal für einen betrübten Menschen ist, so ist eine bequeme Sitzmöglichkeit, ein Getränk und etwas zu essen Wohltat für den müden Fußgänger. Genussvoll nahmen sie eine französische Pastete zu sich. Sie wurde vom Servierpersonal ausdrücklich empfohlen und hielt, was versprochen worden war. Nette Gespräche, ein paar liebe Worte füreinander, Wohlfühlatmosphäre und körperliche Regeneration in diesem Straßenlokal!

An und für sich wäre eingedenk der sommerlichen Temperaturen eine Siesta fällig gewesen. Hätten sie ihrem Bedürfnis nachgegeben, wären ihnen die vielfältigen Erlebnisse im Stanleypark entgangen. Der vollbesetzte Bus Nummer 19 fuhr entlang einer langen, nicht enden wollende Straße. Rechts und links hoch aufstrebende Gebäude zuhauf. Die erste Begegnung mit wild umherlaufenden Waschbären im Park. In einem Becken drei weiße Wale, ebenso Seelöwen, sozusagen als »Lockvögel« für den Besuch des Zoos.

Ohne Ziel schlenderten die zwei durch die verschlungenen Wege im Park. Schattige Pfade wechselten mit sonnenüberfluteten. Einmal erinnerte sie die Gegend an Regenwald; ein anderes Mal an englische Parks. Eine spezielle Attraktion waren die übermannsgroßen Totems, die frei auf Grünflächen herum standen und trotz Wind und Wetter kaum von ihrer kräftigen Bemalung verloren hatten. Wahrscheinlich werden sie in regelmäßigen Abständen aufgehübscht. Immer wieder gaben die vielfach verzweigten Wege den Blick frei. Über die Wasser zu den Bergen, vorbei an Hochseeschiffen, die mit riesigen Kränen entladen wurden; das Wassern und Starten eines Wasserflugzeuges – alle diese Eindrücke möchten Siegfried und Milo lange erhalten bleiben. Wie sie sich hin und wieder anlächelten, vollendete den Urlaubsbeginn in diesem unermesslich weiten und beeindruckendem Land. Das Gedächtnis ist der Spiegel, in dem wir Vergangenes gegenwärtig werden lassen, und der Gesichtsausdruck ist die Sprache, die nur Eingeweihte verstehen. Sie waren solche Eingeweihte, denn die Weihe der Verbundenheit umgab sie. Das war ihnen Gewissheit, ohne dass sie davon hätten erzählen wollen.

Wie bewältigt man die Last, wenn man kaum noch zu laufen vermag?, Siegfried hatte sich eine Blase an der Fußsohle gelaufen. Das war Anlass genug, ins Hotel zurückzukehren und sich ein wenig aufs Ohr zu legen. Milo und Siegfried mochten etwa eine Stunde tief und fest geschlafen haben. Ihr allmähliches Wachwerden ging über in intensives Kuscheln. Viel reden, das war nicht zu erwarten bei Milo. Mehr mit Gesten als mit Worten drückte er aus, worum es ihm ging. Er sah sein Gegenüber lange in dessen braune Augen. Ihm fiel wieder ein, was er vor wenigen Monaten Siegfried in einer E-Mail geschrieben hatte; sagen hätte er es nicht fertiggebracht:

»Ich mag es sehr, dich in meinen Armen zu halten und Geborgenheit, Wärme und Liebe zu spüren (in dieser Intensität habe ich es bis jetzt noch niemals gespürt, bei Keinem bisher!). Ich liebe es, wie du mich manchmal mit deinen großen Augen anschaust oder mit deinem umwerfenden Lächeln mich zum Schmelzen bringst. Und ich mag die Vorstellung, bei dir ganz einzuziehen und mit dir zusammenzuleben, denn ich möchte endlich auch einmal ein richtiges Zuhause haben.«

Diese Wortwahl kam Siegfried damals leidlich schwulstig vor, denn – das hatte er wieder und wieder in Erfahrung gebracht – solche Worte wären niemals über Milos Lippen gekommen. Seine Gefühle verbindet er mit Erwartungen, die Siegfried häufig genug durcheinanderbringen. Hofft Milo wirklich, dass er seinen Wunsch, zusammenzuziehen erfüllen würde, oder war es damals in der Mail nur ein Testballon gewesen? Hatte Milo seine Zukunftserwartung mit einem Gemisch aus Wunsch und Hoffnung verquickt? Und ob es gleich Milos ganze Wahrheit war, die er mit diesen drei Sätzen niedergelegt hatte, so war sie doch nicht ohne handfestes Eigeninteresse formuliert worden.

Als wenn über Milos Geständnis ein hochsensibler Geigerzähler gelegt worden sei, mit dieser Liebeserklärung erwachten in Siegfried, dem Ausbund an Misstrauen, allerlei Zweifel. Je größer die Lüge – so sagte er bei sich – umso glaubhafter wirkt sie. Und er hatte Einblick, wie arg er Milo verletzt hätte, wäre diese seine Überzeugung über seine Lippen gekommen.

Ins Internet kann man in diesem Hotel nur gegen Bezahlung gelangen. Das zur Kenntnis nehmen zu müssen, war eine Kröte, die Milo wider Willen schlucken musste. Bereits in Deutschland hatte er nämlich prophezeit, dass die Nutzung des Internets im Ausland für Hotelgäste prinzipiell unentgeltlich sei. Für derartige Neuerungen seien die Deutschen viel zu kleinkariert.

Obwohl Milo als Sohn italienischer Eltern im Rheinland geboren worden war und ganze zwei Jahre als Kind in Italien gelebt hatte, gibt er sich stets als Italiener aus. Das würde entsprechend seinen Erfahrungen größere Sympathien einbringen, als wenn er sich als Deutscher bezeichnete. Richtig ist, dass Milo gemäß seinem Reisepass italienischer Staatsbürger ist und dass sein Herz primär für das Land schlägt, in dem die Zitronen blühen. Allerdings spricht er ziemlich mäßig Italienisch und vermeidet es folglich, in der Sprache seiner Vorfahren zu sprechen. Land und Leute von Italien kennt er gleichfalls wenig. Das hindert ihn freilich nicht, Unzulänglichkeiten und Eigenheiten von Deutschen durch ein Vergrößerungsglas zu sehen und abschätzig zu beurteilen. Jeder hat die unbändige Sehnsucht, etwas Besonderes zu sein. In ausgeprägtem Maße scheint das für Milo zu gelten. Unumwunden räumt er ein, dass er ebenso wie seine Landsleute tatsächlich über ein solches Charakteristikum verfügt.

An der erwähnten Internet-Kleinigkeit aber erwies sich, dass auch die Kanadier wissen, wie man Geld verdient. Siegfried weigerte sich, die Hoteleinnahmen dadurch aufzubessern, dass er sich eine Verbindung zur Welt mit seinem Laptop herstellen ließ. Vorerst verzichtete er auf das Surfen und damit auf Informationen darüber, was es in Vancouver aktuell zu verlauten gab. Milo hingegen startete wiederholt Versuche, dieses Manko dadurch auszugleichen, dass er sich in eines von mehreren der angezeigten Netze illegal einloggen wollte. Das misslang. So blieb der PC vorerst ausschließlich dem Aufschreiben all der vielen Eindrücke vorbehalten, die die beiden Urlauber in Vancouver sammelten.

Der Abend war gekommen. Was gibt es Neues im Fernsehen? Sind die Nachrichten ebenso oberflächlich wie in den USA? Hier in Vancouver ist tatsächlich ein Nachrichtenkanal fast ohne Werbung angeboten. Die Meldung des Tages bestand darin, dass in den USA eine Brücke eingestürzt war, die in Minnesota über den Mississippi führt. Ein großes Unglück, über das ausführlich in vielen Berichten und Bildern berichtet wurde! Was wäre wohl passiert, wenn Milo und Siegfried im Augenblick des Einsturzes über diese Brücke gefahren und eines der vielen Opfer geworden wären? In solchen phantasierten Grenzsituationen wachsen einem ungeahnten Kräfte zu, die Kreativität ist unermesslich, wenn Existentielles zur Debatte steht.

Milo, der die Nachrichten auf dem Bett liegend verfolgte, kehrte sich ab vom Bildschirm. Es wurde sonst nichts Aufsehen Erregendes berichtet. Nicht lange, dann war er eingeschlafen. Die Zeitumstellung forderte ihren Tribut. Siegfried sah derweil durch das Fenster und nahm den goldenen Abendhimmel über einem Teil der Stadt in sich auf. Stille wie bei einer Andacht breitete sich in ihm aus. Das Gedicht »Im Abendrot« fiel ihm ein, dessen Text er als Schüler der 8. Klasse gelernt hatte. Er war noch immer aus seinem Gedächtnis abrufbar, zumal Siegfried Franz Schuberts Vertonung des Textes im Verlaufe seines Gesangsunterrichtes mühselig eingepaukt bekam – damals als Vierundzwanzigjähriger. Ein sonderbares Gefühl überkam ihn beim Anblick von Milos schlafendem Gesicht. In sich ruhend und friedlich lag er neben Siegfried, als er die einzelnen Zeilen tonlos vor sich hinsprach:

Oh, wie schön ist deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet! Wenn dein Glanz herniederfällt und den Staub mit Schimmer malet. Wenn das Rot, das in der Wolke blinkt, in mein stilles Fenster sinkt! Könnt ich klagen, könnt ich zagen? Irre sein an dir und mir? Nein, ich will im Busen tragen Deinen Himmel schon allhier. Und dies Herz, eh‹ es zusammenbricht, trinkt noch Glut und schlürft noch Licht.

Warum nur in aller Welt kamen wieder diese Gedanken an die Endlichkeit der Beziehung zu Milo? Wer würde wen halten, wenn ihr Miteinander früher oder später einmal in eine tiefe Krise schlitterte? Da waren sie wieder, diese bescheuerten Zweifel. Sie überkamen ihn wie das Verlangen eines Süchtigen, seine Gier zu stillen, wissend, dass er selbst daran Schaden nimmt, eher mehr als weniger. Er könnte sich doch damit begnügen, im Augenblick zu leben. Mag sein, dass Milo jener Stoff ist, den er begierig einverleibt und dafür einen hohen Preis bezahlt. Der Zweifel, die Ungewissheit dessen, wie er verlässlich auf Milo bauen konnte, das eben war Siegfrieds Preis.

Der Jetlag forderte von Siegfried desgleichen seinen Tribut! Sich dagegen wehrend, erhob er sich so forsch aus dem Bett, dass Milo ebenfalls wach wurde. Es wird nun nicht mehr lange dauern, dann stellt sich Hunger ein. Irgendwo frühstücken, aber nicht hier im Hotel.

Vancouver, 3. August 2007

Der Tag gestern ging um einiges anders zu Ende, als es an und für sich geplant war. Nachdem Siegfried die Highlights des Tages in das Notebook getippt hatte, legte er sich zu Milo, um wie er auszuruhen von den Anstrengungen, die sie während des vergangenen Tages auf sich genommen hatten. Wie viele Kilometer sie zu Fuß zurückgelegt hatte, das hatte keiner gezählt. Milo war wieder in einen leichten Halbschlaf gefallen, in jenen Bewusstseinszustand, in dem Gedanken zu Bildern werden, ohne dass man weder die Bilder noch die Gedanken kontrollieren kann. Die Nacht über Vancouver war bereits eingebrochen, als sie sich aus den Umarmungen des Anderen zu lösten. Und so versuchte jeder für sich, in den neuen Tag hineinzuschlafen. Irgendwann in der Nacht wanderte Milo in sein Bett.

Es kam selten vor, dass Milo gegen ausbleibenden Schlaf kämpfen musste. Gestern Nacht aber war das eingetreten, dass er so gar nicht von sich kannte. Überflüssige Gedanken kreisten in seinem Hirn.

War es wirklich anständig, dass ich mich von Dieter wegen Siegfried lossagte? Ich hatte bei ihm alles, was ich brauchte. Er kümmerte sich um Essen und Wäsche. Wöchentlich sorgte eine Putzfrau für Ordnung in der Wohnung. Wenn wir ausgingen, war es für ihn von Vorteil, dass er stets und ständig bezahlte. Ebenso für das Wohnen und Essen habe ich weitaus weniger finanziellen Aufwand gehabt, als wenn ich allein leben würde. Nun gut, sexuell war und blieb ich unzufrieden. Ich hielt mich von ihm zurück und erfand jedes Mal eine neue Ausrede, mochte sie noch so wenig glaubhaft sein. Stattdessen habe ich zielsicher Gelegenheiten gesucht und gehabt, mich mit anderen Männern zu vergnügen – ohne dass Dieter die geringste aller Ahnungen davon gehabt hätte …

Und nun Siegfried! Kann ich, will ich dem Genüge tun, was er von mir als seinem Partner erwartet? Er meint, dass jeder von uns beiden Verantwortung für unsere Beziehung übernehmen müsse. Es geht nicht, dass sich einer aus der Partnerschaft heraus hält und nur sein Veto anmeldet, wenn ihm etwas nicht passt. Was bedeutet das für mich in meinem Alltag? Wohin soll das führen? Worin in aller Welt soll meine Verantwortlichkeit für unsere Beziehung zum Ausdruck kommen? Inwieweit ist Verantwortung ein Killerargument, mit dem mich Siegfried an die Fessel zu legen versucht – mit unterschiedlichem Erfolg? … Ich mag das Wort Verantwortung schon nicht mehr hören, vor allem, wenn es aus seinem Munde kommt. Verlangt er am Ende gar von mir, dass ich einen großen Teil meiner Selbständigkeit und Freiheit aufgebe? Was habe ich davon?

Siegfried kann sich auf mich verlassen – wenigstens im Prinzip! Aber heute vermag ich nicht zu sagen, was in einem Jahr sein wird, ob wir dann noch zusammen sind … Und Gelegenheit macht Diebe. Ich bin bedeutend jünger als er, und für mich hat Sex allein schon aus biologischen Gründen einen höheren Stellenwert als für Siegfried. Ich kann eigentlich immer. Das ist das Eine. Wenn ich andererseits darüber nachdenke, wie unter sehr vielen Schwulen Sex in seiner Ausschließlichkeit praktiziert und beurteilt wird, warum sollte ich nicht auch in diesem Strom schwimmen? Wenigstens hin und wieder mal. Einerseits wird die Statistik bemüht: So machen es doch die meisten. Anderseits will man alles, bloß nicht statistischer Durchschnitt sein. Bedenke ich, was man von Sex hält und wie man damit umgeht, was man für einen Preis für Sex zu zahlen bereit ist, was man alles zur Disposition stellt und welches Leid man anderen zumutet und auch erträgt, dann wird mir ganz anders zu Mute. Kenne ich denn jemanden, der mal sich selbst in die Schranken weist, wenn es um Sex geht?

So konzentriert Milo überlegte, da war niemand in seinem Freundes- und Bekanntenkreis – er selbst mit hinzugezählt.

Und Siegfried? Ist er in Wirklichkeit dieser Tugendbold, für den er sich ausgibt? Kann er letztlich solch eine Gesinnung und solch ein Verhalten von mir verlangen, die er nicht müde wird, mir ins Gewissen zu reden? … Manchmal übertreibt er es gehörig mit seinen Erwartungen an unsere Partnerschaft. Ich soll die von ihm aufgestellten Regeln befolgen, die zwar berechtigt sein mögen, aber seine Kontrolle! Wie ein Sittenrichter kommt er mir manchmal vor. Das geht mir gehörig auf den Keks. Ich will nicht so tugendhaft sein wie er. Es ist nur allzu logisch und konsequent, dass ich die Regeln unterlaufe. Was bringen sie mir denn? Den Nutzen für mich müsste ich erst noch finden … Er gibt mir ja auch keine Zeit, in unsere Beziehung hineinzuwachsen …

Im Verlaufe dieses plan- und ziellosen Hin und Her seiner Grübeleien kam Milo zu dem Schluss, dass er bei Siegfried vom Regen in die Traufe gekommen war:

Er und ebenso Dieter hatten im Großen und Ganzen die gleichen moralischen Prinzipien im Hinblick auf eine Partnerschaft. Er war verheiratet und führte eine offene Beziehung. Seine Frau tolerierte das. Leicht hatte sie es damit nicht, denn sie verloren das aus den Augen, was sie sich am Traualter versprochen hatten: für den Rest ihres Lebens zusammenzubleiben.

Im Laufe der Jahre konfrontierte sich Dieter wiederholt mit diesem Sachverhalt: Einen Menschen zu lieben – einen! Ist das möglich in einem langen Leben? Allmählich holte sie die Wirklichkeit ein, zumindest galt das für Dieter. Vermag ich mein Gegenüber über Jahre hinweg zu lieben? Bin ich dazu Manns genug? Oder habe ich gar Angst davor, geliebt zu werden?

Diesbezüglich sitze ich mit Dieter im selben Boot. Gewiss, Siegfried ist ob meiner Vergangenheit ein gebranntes Kind. Ich habe ja seinetwegen die Pferde sozusagen im Galopp gewechselt. Seine Sorge ist nicht umsonst, dass ich ihn irgendwann ebenso wie Dieter gleich einer heißen Kartoffel fallen lasse … Nein, das habe ich nicht vor, wenigstens ist das meine Absicht. Wiederholt habe ich es ihm beschwörend gesagt. Aber er glaubt es nicht. Er glaubt es nicht! Mit allen Mitteln will er das Fiasko verhindern, dass ich ihn ebenso hintergehe, wie ich es mit Dieter gemacht habe. Sex mit einem Anderen das ist für ihn eine Katastrophe … Ich will dieses oder ein ähnliches Debakel eigentlich auch nicht, aber wer kann wissen, wie unsere Partnerschaft in einem halben Jahr sein wird. Mit seiner Art der Kritik, der Kontrolle überfordert er mich. Und damit erreicht er mit ziemlicher Sicherheit das Gegenteil von dem, was wir beide wollen. Ich möchte in einer festen, gesicherten Partnerschaft mit Siegfried leben, aber er macht es mir schwer! … Und ist es allen Ernstes der Weltuntergang, wenn ich mal Sex mit einem Anderen hätte? Das ändert doch nichts an meinem Verhältnis zu Siegfried.

Mit dieser Gewissheit versank Milo nun endlich in seinen Schlaf.

Auch Siegfried schlief nicht. Möglicherweise war es doch die Umstellung des biologischen Rhythmus oder ein Gespräch mit Milo, an das er sich allerdings nicht mehr in allen Einzelheiten erinnerter. Mag sein, dass es auch einen ganz anderen Grund gab; Siegfried jedenfalls bekam nicht in den Griff, weiter zu schlafen, so sehr ihm danach auch zu Mute war.

Seine Gedanken gingen in eine ähnliche Richtung wie die von Milo. Die Überschrift seiner inneren Auseinandersetzung hätte lauten können: Was beschwert mich an meinem Freund, obgleich wir doch so glücklich miteinander sein könnten?

Womit Siegfried am wenigsten zurechtkam, das war Milos Mangel, sich mitzuteilen. Was er ihm gegenüber fühlte; was er von ihm erwartete, was er freudig erhoffte oder mit Bangem entgegensah, das blieb stets und ständig sein Geheimnis. War er unfähig, dem Ausdruck zu verleihen, oder war er nicht bereit, sich zu öffnen? Wenn er darauf ermutigend angesprochen wurde, waren Schweigen, der Wechsel zu einem belanglosen Gesprächsinhalt oder ein knapper, sarkastisch-aggressiver Kommentar am meisten gebrauchte Reaktion. Welches Register Milo auch zog, stets wuchs Siegfrieds Unsicherheit, ob er solche Themen lieber aus seiner Partnerschaft Stand jetzt heraus halten wollte. Ist nicht Befangenheit unter Menschen ein Garant für die Destabilisierung ihrer Beziehung zueinander?

»Bei ihm muss ich aufpassen, dass er mich nicht über den Tisch zieht.«

Obwohl sich Milo unter seinesgleichen als schwul ausgibt, will er auf keinen Fall, dass seine Arbeitskollegen von seinem Verhältnis zu Siegfried erfahren.

»Die wissen nicht, dass ich schwul bin. Das sollen sie auch nicht. Das würde meinem beruflichen Fortkommen nur hinderlich sein. Und meine Karriere ist mir letztlich doch wichtiger als eine Beziehung!«

Siegfried hatte nicht mehr vergessen, dass Milo irgendwann mal beim Abendessen unmissverständlich kundtat, dass auf jeden Fall zuerst seine Karriere und die Zunahme seines Lebensstandards Vorrang hätten. Das habe Siegfried zu akzeptieren und sich dem unterzuordnen. Damals schloss Milo das Gespräch in drohendem Unterton ab:

»Wenn du das nicht akzeptieren magst, sollten wir uns trennen.«

Einer von Milos Vorgängern habe ihn gelegentlich als Levantiner bezeichnet. Das habe ihm missfallen, weil – wie er später im Lexikon herausfand – er kein Feilscher, Korrupter, Hinterhältiger und Mafiosi sein wollte. Siegfried war auf Milos Seite, als er davon während eines Samstageinkaufes beiläufig erzählte. Und doch fand er beim genauen Nachdenken gewisse Zusammenhänge zwischen Milos Charakterisierung als levantinisch und seinem Verhältnis zu ihm. Seine Rangordnung zuerst Karriere, dann Beruf, zuletzt Partner – diese Selbstbezogenheit ist wie ein Stachel für das Miteinander. Die Reihung Vorwärtskommen, Vermögensaufbau, Lebensgefährte gehe von einer untauglichen Voraussetzung aus. Partnerschaft ist wie das Funktionieren eines Orchesters, in dem die drei Lebensinhalte zwar ihre Eigenständigkeit haben, aber dennoch aufeinander bezogen sind. Sie sind für das persönliche Wohlergehen unumgänglich, doch jedes zu seiner Zeit, sonst lässt sich das Konzert seines Lebens nicht spielen.

Milo hatte darauf nichts zu erwidern; allein, überzeugt war er nicht davon, was durchaus nichts Ungewöhnliches war. Bei solchen Themen galt Milos Meinung in der Regel als unumstößlich.

Je länger Siegfried darüber nachsann, umso schläfriger wurde er.

Schien tags zuvor die Sonne über Vancouver, so war es heute um geschätzte zehn Grad kühler als am gestrigen Tag. Mit der Jacke auf dem Balg zogen beide los auf ein Frühstück, denn der Magen begann allmählich zu knurren. In einem relativ neuen Jugend- und Künstlerviertel – das in den Fremdenverkehrsbüchern interessanter dargestellt als es der Wirklichkeit entsprach – fanden sie nach einigem Suchen einen Laden, der ihnen zusagte. Die Preise hier waren üppig, das Publikum individualistisch, überwiegend in den Dreißigern, und das Angebot ausgesprochen einfallsreich.

Der erste Kontakt zwischen den Touristen und Kanadiern wurde über zwei vierjährige Kinder hergestellt. Sie hatten mit ihren Eltern am Nachbartisch gefrühstückt und waren im Begriff, den Laden zu verlassen. Die Gören fingen unvermittelt ein Gespräch mit Milo an. Ihre Aussprache, vielleicht auch ihr Slang waren aber von jener Art, dass er sie nicht verstand. Das wiederum war den Eltern Anlass, ihren Kindern einige Erklärungen abzugeben und sich dabei an Siegfried zu wenden. Belanglosigkeiten wurden ausgetauscht. Woher man kam, seit wann man in Vancouver sei und was im Urlaub weiterhin geplant sei. Man wünschte sich gegenseitig einen schönen Tag und zudem alles Gute.

Die Sicht auf das Beziehungsverhältnis von Siegfried und Milo wäre schräg, sollte jetzt schon wieder von einem Dissens der beiden geschrieben werden. San Francisco, Francis, Silicon Valley, der Individualismus derer, die in der IT-Branche tätig sind – das waren in den letzten Tagen immer wieder mal Themen, die Milo ins Gespräch brachte. Die Reise nach Vancouver erinnerte ihn daran, dass er als Vierundreißigjähriger in die Staaten geflogen war, allerdings eben in südwestliche Richtung. Er hatte Francis, einen bildenden Künstler, in Köln kennengelernt, der die jährliche Kunstmesse besuchte. Seine Einladung, ihn in San Francisco zu besuchen, hatte Milo gern angenommen und alsbald in die Tat umgesetzt. Er war während zweier Jahre viermal zu ihm geflogen. Francis sei der richtige Typ für ihn gewesen.

»Da war eben alles dran, was mir gefällt.«

Damals überlegte Milo ernsthaft, ob er in die USA auswandern könne. Möglicherweise ließen sich über Francis Kontakte zur amerikanischen IT-Branche knüpfen; idealerweise sogar zum Silicon Valey. Dort einen Job zu bekommen, das sei der Gipfel seiner Wünsche. Francis – so vermutete Milo – habe wohl auf sich zukommen sehen, dass er bei Milos Inkulturation einen ziemlichen organisatorischen, finanziellen und zeitlichen Aufwand haben würde. In Milos Kopf schwirrte die Absicht, Francis als Steigbügelhalter für die Umsetzung seiner Ideen zu benutzen. Das blieb jedoch Siegfried gegenüber ungesagt. Allmählich sei der Kontakt zwischen ihm und Milo eingeschlafen. Aber gute Erinnerungen an »die schöne schwule Stadt« und an Francis seien noch immer in seinem Gedächtnis.

Siegfried hat während eines Kalifornienurlaubs mit seiner Ex-Familie gleichfalls mehrere Tage in San Fran zugebracht. Er habe – anders als Milo – diese Großstadt nicht als »schöne schwule Stadt«, sondern als eine Versammlung von aufgeschlossenen Bürgern, mehr oder weniger bekannten Künstlern, vielen Sehenswürdigkeiten und vor allem von internationalem Flair kennengelernt. Das wollte Milo so nicht stehen lassen. Bei solchen im Grunde belanglosen Themen wussten beide stets besser, wovon sie redeten; und es war nicht besonders entgegenkommend, wenn Siegfried dann demonstrativ nicht mehr zuhörte.

Solche Diskussionen, die keinen Schuss Pulver wert sind, trübten regelmäßig ihre Stimmung. Und doch sind beide hernach gleichermaßen bemüht, wieder zusammenzufinden, wenn sie schon mal über Kreuz liegen. Wie bereits der alte Goethe sagte, gehört der Tag dem Irrtum und dem Fehler; die Zeit hingegen dem Erfolg und dem Gelingen. Doch fürs Gelingen ist Engagement der Motor.

Mit dem Vorsatz, sich füreinander zu engagieren und Harmonie walten zu lassen, zogen sie nun durch Vancouvers Chinatown hin zum Touristenzentrum. Dort buchten sie ein Hotel für die letzte Nacht des gemeinsamen Urlaubs in British Columbia direkt in Downtown. Sie wollten sozusagen auf Nummer Sicher gehen und einen anderen Eindruck mit nach Hause nehmen als die Bleibe, in der sie derzeit kampieren. Ein Beobachter hätte registrieren können, dass Milo der Angestellten hinter dem Tresen genaue Informationen gab, wo das Hotel liegen, welche Ausstattung es haben und was es kosten sollte. Als dann die Kreditkarte zum Zuge kam, blätterte Milo in herumliegenden Prospekten.