Die Sonnenstürmerin - Jutta Winter - E-Book

Die Sonnenstürmerin E-Book

Jutta Winter

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Beschreibung

Anita Augspurg ist ein vielseitig begabtes Kind mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Von Haus aus ist sie mit einem messerscharfen Verstand gesegnet, mit einer klangvollen Stimme und reichlich rhetorischem Talent. Schon früh ergreift sie Partei für Schwächere und träumt von einer besseren Welt. Als Erwachsene beginnt sie, ihre Träume zu verwirklichen. Kraftvoll streitet sie für Frauenrechte, verbucht Erfolge und findet mit spektakulären Auftritten auch international Beachtung. Im 1. Weltkrieg setzt sie sich für einen dauerhaften Frieden ein und stößt erstaunliche Prozesse an, die einem Nobelpreis würdig erscheinen ...

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Schon früh entwickelt Anita Augspurg einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und ein waches Interesse für Politik. Von Haus aus ist sie mit einem messerscharfen Verstand gesegnet, mit einer klangvollen Stimme und kreativen Talenten. Als Kind ergreift sie Partei für Schwächere und träumt von einer besseren Welt.

Als Erwachsene beginnt sie, ihre Träume zu verwirklichen. Kraftvoll streitet sie für Frauenrechte, verbucht Erfolge und findet mit spektakulären Auftritten auch international Beachtung.

Mit Kriegsbeginn setzt sie sich für einen dauerhaften Frieden in der Welt ein und stößt erstaunliche Prozesse an, die einem Nobelpreis würdig erscheinen. ...

Jutta Winter (*1955) studierte Kunst, Erziehungswissenschaften und Psychologie. In Ostafrika sammelte sie Erfahrungen in der Entwicklungshilfe und verbrachte weitere Jahre in Mexiko. Danach arbeitete sie an einer Beratungsstelle und verschiedenen Schulen. Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer beruflichen Tätigkeiten war die Biographiearbeit. Seit einigen Jahren widmet sie sich diesem Gebiet literarisch.

Bei BoD sind u.a. erschienen: „Regen auf dem Jakobsweg“ und „Nie wieder Krieg – Constanze Hallgarten und die Friedensbewegung der Frauen“

Inhaltsverzeichnis

Ein Vorwort

Teil I: Stimmbildung Stimmungsbilder

Familienleben

Umzüge

Hertzigerie

Die Preußen kommen

Julius Cäsar und die Sixtinische Madonna

In der Warteschleife

Berliner Freiheit

Teil II: Sturmlauf für Gleichstellung und Frieden!

Theater

Puck und Elvira

Frauenbildung

Wo ist das Recht der Frau?

Lida

Haben wir eine Wahl?

Landleben

Pazifistinnen

Frieden und Unfrieden

Ein Nachwort

Aktivist*innen der Frauen- und der Friedensbewegung um Anita Augspurg

Anita Augspurgs wichtigste Vereinsaktivitäten

Quellen

Das Schild

Ein Vorwort

20. Juni 1989

Im Sitzungssaal des Verdener Rathauses ging es hoch her.

Angestoßen vom Verein „Frauen für ein Frauenzentrum“ beantragte die Grünenfraktion, den „Von-Einem-Platz“ in „Anita-Augspurg-Platz“ umzubenennen zu Ehren einer gebürtigen Verdener Persönlichkeit. Entschlossen stemmte sich die schwarzgelbe Ratsmehrheit gegen dieses ungewöhnliche Anliegen.

„Eine Garnisonsstadt wie unsere kann es sich nicht leisten, einen hochdekorierten Generaloberst und Kriegsminister, der hier stationiert war, zu degradieren“, rief einer von ihnen ärgerlich.

„Von Einem war erwiesenermaßen ein Kriegstreiber und ein Steigbügelhalter der Nazis“, warf der SPD-Fraktionsvorsitzende ein. „Leider hat die CDU-Fraktion die Vergangenheitsbewältigung bisher gründlich verschlafen. Wie blamabel für unsere …“

„Kommen Sie mir nicht ständig mit den bösen Nazis“, unterbrach ein Konservativer wütend. „Napoleon hat auch Millionen Menschen in den Tod getrieben. Davon redet heute keiner mehr!“

„Das ist ja unerträglich!“ Der SPDler konnte es nicht fassen. „Ich fordere eine Entschuldigung! Wir dulden hier keine Nazi-Töne!“

„Ich lasse mich doch von Ihnen nicht in die rechte Ecke drängen“, erregte sich sein Vorredner nun noch heftiger. „Von Einems Nachkommen haben sich bereits eingeschaltet und prangern die Liquidierung des Ansehens des Verstorbenen an. ‚Welcher Ungeist droht sich hier zu zeigen?‘, fragen sie zurecht.“

„Der Ungeist zeigt sich doch wohl eher in Von Einems eigenen Äußerungen“, erwiderte eine Grünen-Vertreterin mit sonorer Stimme. „Dieser General hat Hitlers Machtergreifung 1933 euphorisch begrüßt.“ Sie raschelte mit ihren Papieren. „Hier nur mal eine kleine Kostprobe seines Denkens; ich zitiere: ‚Die Hoffnung auf die ewigen Kräfte Deutschlands, die wir in der nationalen Bewegung verkörpert sehen, gab mir den Willen weiterzukämpfen für die Kräfte von morgen: Das Dritte Reich!‘ Die Demokratie hielt er für ‚eine Macht der Zerstörung‘‘, und er hetzte gegen die SPD, gegen Homosexuelle und andere Minderheiten. Diesen braunen Ungeist sollten wir schleunigst aus unserem Stadtbild verbannen! Andere Städte haben es längst vorgemacht.“

„Die Äußerungen aus seinen Memoiren darf man natürlich nicht auf die Goldwaage legen.“ Der CDU-Ratsherr geriet heftig ins Schwitzen. „Er war damals schon ein alter Mann. Möglicherweise wurden ihm die Hitler-freundlichen Aussprüche diktiert. Das ist alles nicht stichhaltig.“

„Im Gegensatz zu diesem Weltkriegs-Militaristen hat sich Anita Augspurg mutig gegen Hitler gestellt. Sie ist für Frieden und Menschenrechte eingetreten.“ Die Rednerin gestikulierte zornig in Richtung der Konservativen. “Noch dazu war sie die erste promovierte Juristin Deutschlands! Verden sollte stolz auf sie sein und sie ehren! Ein Straßenschild wäre da mal ein Anfang!“

„Nicht jeder Rat kann willkürlich Straßennamen ändern. Schließlich haben legitime Gremien sie beschlossen“, versuchte ein anderer Christdemokrat die aufgeheizte Stimmung abzukühlen. Begütigend wie ein Pastor hob er die Hände. „Man könnte doch eine andere Straße nach dieser Frau benennen. Es gibt da einige in den Neubaugebieten…“

„Sie verdient einen Platz mitten im Zentrum, nicht irgendwo am Ackerrand“, unterbrach ihn die Grünen-Vertreterin. „Der Ort am Lugenstein ist ideal, denn dort ist sie aufgewachsen.“

„Verweisen wir die Sache doch erst einmal zur weiteren Beratung an die Kulturausschüsse“, empfahl ein Ratsherr nach dem hitzigen Schlagabttausch und schaute auf die Uhr. Doch diesen Vorschlag lehnte eine Mehrheit des Verdener Stadtrats ab und hoffte, dass die Angelegenheit damit erledigt sei.

Im Januar 1990 landete der Antrag erneut auf der Tagesordnung des Stadtrats. Munter wurde darüber weitergestritten. Am Ende ereignete sich, womit kaum jemand gerechnet hatte bei den Mehrheitsverhältnissen im Rat: Ein Abweichler von der FDP stimmte für Anita Augspurg und verhalf ihr posthum zu einem Sieg über einen nationalistischen Weltkriegsgeneral.

Allerdings ging noch ein weiteres Jahr ins Land, bis der Platz endlich umbenannt werden konnte, denn zehn Anwohner klagten erst einmal dagegen. Der Prozess zog sich hin, bis die Klage am Ende vom Verwaltungsgericht abgewiesen wurde.

Pünktlich zum Internationalen Frauentag am 8. März 1991 war es dann so weit. Bauamtsmitarbeiter brachten das neue Schild an, und die „Frauen für ein Frauenzentrum“ ließen in der Gaststätte neben der Rats-Apotheke Sekt kaltstellen. Doch zuvor besichtigten sie ihre Errungenschaft.

„Da ist ja der Name falsch geschrieben!“, rief eine Lehrerin entgeistert. Tatsächlich! Nun sahen es alle: statt eines „p“ für Augspurg prangte Schwarz auf Weiß ein „b“ auf dem Metall.

„Die Leute vom Bauamt haben den Namen bestimmt noch nie gehört. Und schon gar nicht gelesen. So wie die meisten hier.“

Noch heute ist über die außergewöhnliche Frau in ihrer Geburtsstadt wenig bekannt. Nach einer Zeitungnotiz beschloss ich, das zu ändern. Fasziniert habe ich mich auf ihre Spur geheftet und nachgefragt: Was war Anita Augspurg eigentlich für ein Mensch? Wie waren die familiären und politischen Verhältnisse, die sie prägten? Was hat sie alles bewegt, und wie ist sie vorgegangen? Wer waren ihre Mitstreiterinnen? Und überhaupt: wie konnte sich ein Kind aus dem Bürgerhaus eines Provinzstädtchens zu einer kämpferischen Frontfrau in der internationalen Frauen- und Friedensbewegung entwickeln?

Teil I

Stimmbildung Stimmungsbilder

Inhalt

Familienleben

Umzüge

Hertzigerie

Die Preußen kommen

Julius Cäsar und die Sixtinische Madonna

In der Warteschleife

Berliner Freiheit

Familienleben

In Reih und Glied wie die Gardehusaren auf dem Exerzierplatz erwarteten die einhundertsechsunddreißig Linden im Park hinter dem Verdener Dom den letzten Septembertag des Jahres 1857. Als die ersten Sonnenstrahlen die Wipfel erreichten, schwangen sich Saatkrähen in die Lüfte, umrundeten in einer eleganten Schleife den mächtigen Dombau und segelten zur Aller hinunter.

Dort im Fischerviertel ging es längst betriebsam zu. Am Bollwerk, dem gemauerten Flussufer, beluden Schiffer ihre Kähne. Ein alter Mann reinigte Netze und Reusen. Kleine Kinder sprangen barfuß um ihn herum. Weiter oben in der großen Fischerstraße rumorte es aus offenen Werkstatttoren. Zusammen mit seinen zwei Gehilfen hämmerte ein Schmied im Dreiklang auf einen Amboss, verdichtete die glühenden Eisenstränge und zog sie in die Länge. Später würden die Werkstücke vom Stellmacher für die Wagenräder gebraucht. An der Ladentür eines Knopfmachers bimmelte ein Kunde den Meister ungeduldig von seiner Drehbank fort. Gegenüber in der Brauerei, gleich neben der Armenschule, wurden Fässer polternd auf die Ladefläche eines Fuhrwerks gerollt.

Mit Schwung beförderte unterdessen eine Hausfrau einen Eimer voll Schmutzwasser auf die Straße und erwischte einen Bauern, der einen leeren Handkarren hinter sich herzog. Erschreckt sprang er zur Seite. „Pat man op dor!“, polterte er los, grinste aber dazu. Seine Laune konnte auch ein nasses Hosenbein nicht erschüttern. Nachdem er seine Feldfrüchte am Bollwerk losgeworden war, erwartete ihn die Schenke an der Eitzer Chaussee.

Hinter dem Bauern klackerte ein junger Herr hoch zu Ross über das Kopfsteinpflaster. Ihm folgten gemächlich zwei Frauen. Sie trugen stramm sitzende Ausgehkostüme mit reichem Ausputz, Spitzen und Volants verziert, die Ältere in olivgrün, die Jüngere in altrosa. Biedermeierröcke schaukelten auf den Hüften und fegten mit dem Saum leicht über dem Boden. Auf dem Kopf und über den Haarknoten im Nacken trugen sie Schuten, deren breite Krempen sich trichterförmig zum Gesichtsfeld hin öffneten.

„Schon wieder haben wir ein Dienstmädchen verloren. Ein ehrliches zu finden, ist nicht einfach! Am besten wäre eins ohne ein allzu reizvolles Äußeres.“

Die Dame in Altrosa blickte erstaunt. „Da hat doch nicht etwa der Hausherr…?“

„Doch, leider“, klagte die Ältere. „Und das nicht zum ersten Mal. Was für ein Malheur!“

„Wohl auch für das arme Mädchen.“ Die Cousine zog ein bekümmertes Gesicht. „Die haben es wahrlich nicht leicht. Lange Arbeitstage für wenig Lohn. Manche arbeiten nur für Kost und Logis. Vermutlich hat sie sich ihm nicht freiwillig hingegeben?“

„Natürlich nicht, aber trotzdem musste ich sie fristlos entlassen. Ihre Familie wollte auch kein Gerede und hat die Tochter nicht aufgenommen.“ Die Dame in Olivgrün schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe sie dann in die Entbindungsanstalt nach Celle geschickt. Die ist allemal besser als eine Geburt im Straßengraben. Und das Waisenhaus ist gleich nebenan...“

Als links die Kirchstraße abzweigte, wechselte die Große Fischerstraße ihren Namen und wurde zum Mühlentor. Schon von weitem hörten die beiden Frauen das Geschrei eines Säuglings. Es drang aus dem geöffneten Fenster im Erdgeschoss eines ansehnlichen Hauses.

„Mir scheint, die Jüngste der Augspurgs ist mit einer kräftigen Stimme gesegnet“, bemerkte die Olivgrüne und schwenkte ihren bestickten Beutel. „Diese Herrschaften dort zerbrechen sich ihren Kopf jedenfalls nicht über ihr Personal. Sie haben nicht einmal ein Kindermädchen.“

Die Begleiterin staunte gebührend. „Nun, nicht alle können sich das leisten“, schlug sie als Erklärung vor.

„Ach was!“ antwortete die Ältere verächtlich. „Der Herr Advokat ist ein hohes Tier beim Obergericht. Herrschaften von diesem Schlag halten sich normalerweise ein ganzes Heer von Bediensteten. Aber die Augspurgs beschäftigen lediglich ein Hausfaktotum. Die meiste Arbeit in Haus und Garten erledigt die Dame des Hauses selbst. Man stelle sich das vor!“

„Unerhört!“ Die Cousine in Altrosa schüttelte entrüstet den Kopf. Rechterhand kam die Aller in Sicht. Wie Diamanten funkelten die Sonnenstrahlen in den träge dahindriftenden Fluten.

„Um ihre Kinder kümmert sich die Dame des Hauses herzlich wenig“, fuhr die Ältere fort. „Ihre Knaben streunen überall herum. Nein, es ist der pure Geiz! Juristen und Pastoren sind die allerschlimmsten.“

Ein Fuhrwerk mit Bierfässern rumpelte über das Kopfsteinpflaster an ihnen vorbei und übertönte vorübergehend das Kindergeschrei aus dem Haus der Augspurgs. Die Kaltblüter schnaubten unwillig und warfen die Köpfe in die Höhe. Die Frauen stolperten erschrocken zur Seite.

„Unmöglich, diese Bierkutscher!“, stöhnte die Dame in Grün und erhöhte ihr Tempo. “So rücksichtslos!“

Die Jüngste der Augspurgs ahnte noch nichts von den Existenzkämpfen der Welt draußen vor dem Fenster, auch wenn die Gespräche der Passanten zu ihr hereindrangen, das Hufgetrappel, das Poltern eisenbeschlagener Wagenräder, das Tuten der Hirten auf dem Weg zu den Ställen oder die Rufe des Nachtwächters.

Ihre Ankunft auf dieser Welt hatte bei ihrer Familie keinen Jubel ausgelöst. Doch nun war sie da und bestand auf ihren Platz. Damit mussten sich alle abfinden, ob sie wollten oder nicht.

Üblicherweise lag der Säugling fest verschnürt wie ein Postpaket in seiner Wiege, doch heute war alles anders. Etwas Luftiges aus steifer Spitze umhüllte den kleinen Körper, ein Festkleidchen, das schon vier Geschwister und etliche Säuglingsgenerationen zuvor getragen hatten. Darin genoss die Kleine Bewegungsfreiheit, und sie lag nicht, wie sonst, weitab von den anderen Familienmitgliedern, sondern bildete den Mittelpunkt eines feierlichen Spektakels.

Umringt von ihren Eltern, Geschwistern und Paten wurde sie plötzlich hochgehoben, durch die Straßen und in einen kühlen Raum getragen. Ihr Kleidchen raschelte. Worte hallten von steinernen Wänden.

„Lasset die Kindlein zu mir kommen“, predigte der Pastor und vollzog das geforderte Ritual, ohne sich lange mit Vorreden aufzuhalten. Unauffällig konsultierte er die Notiz in seiner Hand. „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes taufe ich dich auf den Namen Anita Theodora Johanna Sophie.“ Die nun nicht mehr Namenlose protestierte lautstark gegen die unerwartete Dusche, die folgte. Doch der Pastor ließ sich davon nicht beeindrucken, sprach seinen Segensspruch und gratulierte den Eltern. Rasch verabschiedete er sich und hastete davon zu einem Krankenbett.

Nach dem Gottesdienst begutachteten Verwandte und Paten den Neuzugang in ihrem Stubenwagen mit kritischem Blick.

„Kommt wohl auf uns Langenbecks“, konstatierte der Großvater, ein Obermedizinalrat aus Bremervörde. „Das erkennt man auf den ersten Blick. Im Gesicht zeigt sich schon der Ansatz eines markanten Zinkens.“

„Die Adlernase kommt auch bei den Augspurgs vor“, widersprach Wilhelm, sein Schwiegersohn, und hob das Glas auf die Zukunft seines fünften Sprösslings. Eingekreist von dunklen Eichenschränken hatte sich die Familie an einem langen Esstisch niedergelassen.

„Auf das neue Familienmitglied!“, prostete man sich zu und dachte schon einmal weiter. „Wer sie wohl eines Tages ehelicht?“

„Ein Gelehrter sollte es schon sein! Jurist oder Arzt würde am besten passen“, antwortete der Vater zuversichtlich und ließ sich eine Schüssel Krebssuppe servieren. „So, wie es der Familientradition entspricht.“

„Nicht alle Kinder richten sich nach den Wünschen der Familie“, gab sein Bruder Dietrich zu bedenken und füllte seinen Löffel mit Kalbfleischstücken. Davon schwammen erfreulich viele in seinem Suppenteller. „So manche Tochter vertritt ihre eigenen Ansichten heutzutage.“

„Papperlapapp! Kinder haben sich zu fügen!“, erklärte der Langenbeck‘sche Großvater. „Und Frauenzimmern darf man eh nichts durchgehen lassen.“

Der drahtige Mann war mit seinen dreiundachtzig Jahren der Älteste in der Runde. Nicht nur gegenüber der Weiblichkeit war er unnachgiebig, auch von sich selbst forderte er eiserne Disziplin. Noch immer fuhr der Arzt bei jedem Wind und Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit mit dem Einspänner über Land zu seinen Patienten. „Jeder dient an dem Platz, der ihm vom Schöpfer zugewiesen wird. Das war schon immer so und wird auch so bleiben!“

Die Kinder am Tisch löffelten wortlos vor sich hin. Von ihnen wurde erwartet, dass sie taten, als seien sie gar nicht vorhanden. Kinder am Tisch – stumm wie ein Fisch.

Nach dem Festessen, das mit schaumiger Zitronencreme endete, begaben sich die Herren durch die zweiflügelige Schiebetür in den Salon und griffen zu Pfeife und Tabaksbeutel.

Die Dame des Hauses schob die Tür zu. Während die Herren den Salon mit Qualm und Kommentaren zu der politischen Lage im Königreich Hannover füllten, machten es sich die Frauen in der Stube gemütlich und tauschten Rezepte aus.

„Köstlich die Zitronencreme, Auguste. So luftig. Was ist das Geheimnis dahinter?“

„Die vielen Eier, liebe Schwester. Dreißig an der Zahl. Und neben Zitronen, Zucker und Zimt gehört auch ein guter Weißwein mit hinein.“

In der Küche brühte die „alte Lise“, die Wirtschafterin den Kaffee und schichtete Mandelkuchenstücke auf einen Teller. Schließlich versammelten sich alle weiblichen Gäste noch einmal um den Stubenwagen.

„Die anderen vier Kinder des Hauses sind ja ganz prächtig gediehen“, lobte die Langenbeck’sche Großmutter großzügig. „Warum sollte es bei der Nachzüglerin anders sein. Schaut mal, wie aufmerksam das Kleine schon die Welt betrachtet!“

„Ach ja, die Zeit vergeht so schnell! Im Handumdrehen sind sie groß. Eure Älteste ist ja schon im heiratsfähigen Alter“, ergänzte eine der Patentanten.

„Ein wenig Zeit kann sie sich schon noch lassen. Auguste ist vierzehn“, korrigierte die Mutter, nach der sie benannt war, und griff zur silbernen Gebäckzange. „Sie will ein Lehrerinnenseminar besuchen. Darauf bereitet sie sich nun vor. Heutzutage dürfen junge Frauen vor ihrer Hochzeit finanziell ein wenig eigenständig werden.“

Diese neuen Sitten überraschten die Großmutter. „Zu meiner Zeit gab es so etwas nicht in unseren Kreisen.“

„In manchen Fällen mag es recht nützlich sein“, gab Anitas Mutter zu bedenken und schaufelte Zucker in ihren sahnigen Kaffee. „Es ist eine Absicherung für den Notfall.“

„Das halte ich für so verkehrt nicht“, erwiderte die Patentante, warf einen spitzen Blick zur Langenbeck’schen hinüber und ließ sich Kaffee einschenken. „Ehemänner soll es geben, die eine reiche Aussteuer ruck zuck verprasst haben. Den Zugriff darüber haben nur sie allein. Leider! Heutzutage treiben sich viel zu viele Herren in Kasinos herum. So manche Tochter aus gutem Haus stand schon über Nacht völlig mittellos da.“

Die Gastgeberin nickte. Sie nahm den Teller mit dem Backwerk zur Hand und griff zur Gebäckzange. „Gestatten, dass ich nachlege?“

Zum Fest stand das gute Biedermeier- Geschirr mit Goldrand auf der Kaffeetafel. Eine Heidenarbeit war es jedes Mal, das Tafelsilber auf Hochglanz zu polieren. Dazu kam noch der Hausputz, denn nicht nur Silber und Gläser mussten strahlen, doch Auguste Augspurg beschwerte sich nicht. Sie hielt nichts von Zimperlichkeit oder Sentimentalitäten, die in manchen Kreisen kultiviert wurden. Nein, in ihrem Hause lamentierte man nicht. Niemals! Da war sie ebenso eisern wie ihr Vater, der Obermedizinalrat. „Gelobt sei, was hart macht“, lautete die Familiendevise.

Außerhalb der Festtage war die kleine Anita auf sich allein gestellt. Die Mutter kam zu den Stillzeiten, wickelte sie und verschwand rasch wieder aus ihrem Gesichtsfeld. Die Geschwister ließen sich noch seltener blicken und der Vater überhaupt nicht. Die Kleine beschäftigte sich mit sich selbst, mit ihren Händen und den Troddeln des Wiegenschleiers.

Doch eines Tages schob sich ein haariger Kopf mit dunkelbraunen Augen und einer feuchten Nase über den Rand des Stubenwagens. Samtweich war das Fell, in das die Kleine mit ihren Fingern patschte. Sie gluckste zufrieden. Tell, der große braune Hund war zu ihr gekommen und gab einen zustimmenden Gähnlaut von sich. Auch er fand wenig Beachtung im Haus, doch nun hatte er seine Lebensaufgabe gefunden.

Tell wurde Anitas treuer Begleiter. Er wachte über die Kleine, als sie im nächsten Jahr ihre ersten wackeligen Schritte durch die Stube machte. Trost spendete er mit seiner rauen Zunge, wenn sie dabei hinfiel. Auf ihren Ausflügen in den Garten wich er nicht von ihrer Seite.

So war er auch mit von der Partie, als Auguste, die älteste der Augspurgkinder weitere drei Jahre später beschloss, die didaktischen Theorien vom Lehrerinnen-Vorbereitungsseminar an ihrer kleinen Schwester auszuprobieren. Allerdings konnte der Hund bei dieser Herausforderung nicht behilflich sein. So gähnte er nur herzhaft und streckte sich neben der Holzbank im Garten aus.

„Als erstes musst du das Stricken lernen!“, ordnete Auguste an. Ihr Ton war streng. Gehorsam war das A und O im Schuldienst. „Eine Widerrede verbitte ich mir!“

Die letzten Silben betonte sie im Stakkato. Danach überreichte sie ihrer Schwester eine lange Holznadel voller Schlingen aus grauer Wolle und versuchte die weiche Kinderhand zwischen Strickansatz und Faden ordnungsgemäß einzufügen.

Eine wahre Ewigkeit lang mühte sich die angehende Lehrerin ab. Vergeblich! Die kleinen Finger waren biegsam wie Weidenruten. Aber vor allem waren sie deutlich zu kurz für die Handarbeit. Immer wieder verrutschte der Faden, oder Maschen purzelten von der Nadel. Die Kleine betrachtete aufmerksam das wollige Durcheinander vor ihrem Gesicht und versuchte, eine Ordnung darin auszumachen. Viel Mühe gab sie sich, die große Schwester zufriedenzustellen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen.

„Heute üben wir erst einmal die korrekte Haltung der Hände“, bestimmte Auguste schließlich. „Nun streck um Himmels Willen den Zeigefinger in die Höhe! Nein, nicht diesen, den andern! Himmel und Hölle, das kann doch nicht so schwer sein! Jetzt reiß dich endlich zusammen!“

Schimpftiraden ergossen sich über die unfreiwillige Schülerin. Anita begann das Stricken mitsamt der großen Schwester zu hassen und schrie zurück.

Eine Gießkanne randvoll mit Brunnenwasser schleppte ihre Mutter in jeder Hand, als sie auf ihrem Weg zu den Stangenbohnen an der Schulbank vorbeikam. „Was ist denn das hier für ein Lärm?“, beschwerte sie sich. „Schluss damit! Sofort! Was sollen die Nachbarn denken!“ Ärgerlich verschwand sie in der Welt der Gemüsebeete.

Anitas erste Unterrichtsstunde endete damit, dass die Stricknadeln samt Maschendurcheinander in hohem Bogen in die Johannisbeersträucher flogen und das dazugehörige Wollknäuel in eine Pfütze rollte. Spatzen stoben davon. Der Hund fuhr aufgeschreckt in die Höhe und begann zu bellen.

„Damit machen wir morgen weiter“, ordnete Auguste hastig an, bemüht, ihre Beherrschung wiederzufinden. „Jetzt beginnen wir erst einmal mit dem Lesen!“ Sie atmete tief durch. Danach zog sie mit leidgeprüfter Miene Tafel, Kreide und einen zerlesenen Wälzer aus dem Korb an ihrer Seite.

Wie durch Zauberhand verrauchte Anitas Wut. Auf dem Tisch vor ihr lag ein Märchenbuch! Gewichtig, geheimnisvoll, verlockend. Unter den Buchstaben auf dem Einband war – etwas verwischt – ein Frosch inmitten eines Blütenkranzes zu erkennen. Die Krone oberhalb seiner Glupschaugen hatte einmal golden geglänzt. Inzwischen war das Buch durch viele Hände gegangen, und nur ein Rest vom edlen Glanz schimmerte noch in den Ritzen des Einbandstoffes. Vorsichtig strich Anita mit ihrem Zeigefinger über das Tier, um es nicht zu erschrecken. Womöglich hüpfte es sonst davon.

„Das Buch will ich lesen!“, verkündete sie.

Zu ihrem Erstaunen war die große Schwester einverstanden.

„Sehr gut! Das sollst du auch. Aber vorher musst du das Alphabet lernen. Das hier ist ein großes A!“

Sie malte den Buchstaben auf eine Schiefertafel und schrieb ein Wort daneben.

„Siehst du: Dein Name A- nita hat so ein großes A gleich am Anfang. Und dazu auch noch ein kleines a am Schluss. Versuch einmal, diesen Buchstaben zu schreiben!“

Den Stift korrekt zu halten, schaffte die Kleine beinahe sofort. Eifrig begann sie, spitze Berge und kleine Kringel auf die Tafel zu kritzeln. Der Griffel quietschte. Die Schreibgebilde gerieten recht wackelig und unterschiedlich groß, doch am Ende der Stunde gab sich die Schwester zufrieden.

„Das ist immerhin ein Anfang!“, seufzte sie. „Aber um das Stricken kommst du trotzdem nicht herum. Das üben wir morgen wieder. Von nun an sollst du jeden Tag vor dem Lesenlernen ein paar Reihen stricken. Später kommen noch das Sticken, Stopfen und Nähen dazu. Das ist für dich als Mädchen wichtig, denn schließlich willst du einmal eine gute Hausfrau werden.“

„Will ich nicht!“, beschloss Anita grimmig, hüpfte von der Bank und lief davon. Tell rappelte sich auf und sprang eilig hinterher.

Mit ihrer zweitältesten Schwester Amalie kam sie besser zurecht. Selten war sie ohne Papier und Zeichenstifte unterwegs. Neuerdings füllte sie ihre Blätter auch mit dicken Ölfarben.

„Die Kunst ist doch das höchste Glück“, schwärmte Amalie. „Wenn ich erwachsen bin, eröffne ich eine Malschule und fördere Talente. Am besten in einer Stadt mit prächtigen Galerien und mit vielen Künstlern, die sich in kulturellen Zirkeln treffen.“ Sie richtete ihren Blick gen Himmel, als wäre ihr Ziel dort oben zu besichtigen. „Aber vorher muss ich noch üben, üben, üben!“

Anita gefielen die bunten Werke ihrer Schwester.

„Ich will auch malen“, forderte sie, doch ihre Kinderbilder überzeugten Amalie nicht.

„Dafür bist du noch zu klein“, bestimmte sie und brachte rasch Farben, Pinsel und Papier vor der Jüngsten in Sicherheit.

Wie Anita es hasste, stets als klein und unfähig eingestuft zu werden! Aber eines Tages würde sie es allen zeigen! Das wusste die Vierjährige schon sehr genau.

Ihre beiden Brüder, Wilhelm und Dietrich, zeigten wenig Interesse an ihrer Schwester. Was sollten elf- und dreizehnjährige Kerle wie sie mit einem solchen Zwerg auch anfangen? Anita erkannte bald, dass die Brüder eigene Sorgen hatten. Unentwegt schimpfte der Vater mit ihnen. Als künftige Advokaten hätte er sie gern in seinen Fußstapfen gesehen, doch sie taten sich schwer mit Latein und Griechisch. Lieber stromerten sie nachmittags durch die Stadt und ihre Umgebung. Immerzu waren sie auf der Suche nach brauchbarem Bastelmaterial.

Wenn sie einmal im Garten anzutreffen waren, heftete sich sofort die kleine Schwester an ihre Fersen. Bei der Besichtigung des Geräteschuppens hinter dem Haus wurden sie wieder einmal fündig.

„Aus dem alten Kinderwagen dort drüben könnten wir doch eine Kutsche konstruieren“, überlegte Wilhelm und arbeitete sich durch das abgestellte Gerümpel vorwärts.

Mit vereinten Kräften zerrten die Brüder das Gerät hervor und untersuchten es eingehend. Neugierig trat Anita zu ihnen und beobachtete ihr Tun aufmerksam.

„Da lag ich mal drin, als ich klein war“, erklärte sie.

Wilhelm drehte sich nachdenklich zu ihr um. „Da setzen wir dich auch wieder hinein, wenn wir fertig sind, du Klette. Wir bauen dir daraus ein prachtvolles Kabriolett!“

„Genau! So machen wir das“, strahlte Dietrich und nahm das Untergestell des Wagens unter die Lupe. „Die Räder sind noch ganz in Ordnung. Sie haben nur wenig Rost angesetzt, aber den können wir leicht abschleifen.“

Im Wageninnern befestigten sie eine Art Sitz. Für die Seiten fanden sie zwei alte Laternen, die ein wenig zu groß ausfielen, dem Gefährt aber einen hochherrschaftlichen Glanz verliehen. Am Vorderteil schraubten sie Deichseln an und versahen sie mit Stricken und Riemen. Als Zugtier wurde der Hund auserkoren und auch gleich eingespannt.

„So Tell, nun zeig mal, was du kannst“, riefen sie, als die Schwester auf dem Kutschensitz thronte.

„Hüh hott!“ Begeistert griff Anita nach den Zügeln.

Dem Hund mangelte es weder an Kraft noch an gutem Willen. Mühelos preschte er mit dem Gefährt und seiner Herrin zum Gartentor hinaus und polterte über das Kopfsteinpflaster am Fluss entlang nach Süden. Die Jungen liefen lachend hinterher und dirigierten das Fuhrwerk vom Mühlentor weg in die Allerwiesen hinein. In einer scharfen Kurve kippte das Gefährt erst einmal um, und Anita kugelte heraus.

Doch sie presste die Zähne zusammen und verkniff sich das Weinen. Sofort kletterte sie in den wieder aufgerichteten Wagen. In ihrer Familie jammerte man nicht wegen ein paar Kratzern.

Nun ging es wieder im Galopp vorwärts, denn der Feldweg war gut ausgetreten und eben. Die Kleine vergaß den Schmerz und jauchzte.

„Schneller!“, schrie sie begeistert. „Noch schneller!

Die wilde Fahrt führte unter den mächtigen Mauerpfeilern der Eisenbahnbrücke hindurch und endete schließlich im Schwemmland.

„Da hinten am Ufer liegt vielleicht immer noch der alte Kahn. Damit könnten wir zurückfahren!“, schlug Wilhelm seinem Bruder vor. Die beiden liefen los. Ihre Schwester hatten sie auf der Stelle vergessen.

Interessiert sah sich Anita um, bereit für ein neues Abenteuer. Hier war sie noch nie gewesen. Sie befreite ihren tierischen Begleiter von seinen Stricken und wanderte mit ihm los. Ringsherum erstreckte sich ein Blumen- und Kräuterteppich.

Sie ließ sich platt auf den Boden fallen, betrachtete die Wolkengebilde oben am Himmel, die leicht wie Federn vorüberglitten, während Marienkäfer und Ameisen ihre Arme hinauf- und hinunter krabbelten. Der blühende Holunder und der Schwarzdorn schienen im Gesang der balzenden Vögel mitzuschwingen.

Wie ein Grashüpfer sprang das Kind wieder auf und lief über die Wiese bis zu den Tümpeln der Aller, die das Hochwasser zurückließ, wenn es das Land wieder freigab. Ungekrönte Frösche hechteten vom Ufer ins Wasser, wie aus dem Märchenbuch entsprungen.

Von nun an unternahm Anita auf eigene Faust Ausflüge in die Allerniederung. Häufig beobachtete sie dort Reiter, die im gestreckten Galopp vorüberpreschten, manchmal im Trupp und mit einer Hundemeute im Schlepptau. Unendlich bewunderte sie die Rösser, so kraftvoll, so elegant. Nichts wünschte sie sich mehr, als auf ihre Rücken zu klettern und wie der Wind über die Wiesen zu jagen.

„Wenn du groß bist, dann darfst du auch mal reiten“, vertrösteten sie die Großen der Familie stets, wenn sie ihre Wünsche äußerte, doch Ewigkeiten wollte sie nicht auf die Erfüllung warten. Sie musste sich selbst helfen.

Zuerst besorgte sie sich Reitkleidung. Sie schlich sich auf den Speicher, kramte in den Truhen mit der abgelegten Kleidung ihrer Brüder und suchte sich etwas Passendes heraus. Hosen waren allemal bequemer als lange Röcke, vor allem jene zum Ausgehen, die in mehreren Schichten übereinander lagen. Mit Beinkleidern ausstaffiert konnte sie nach Herzenslust herumtoben. Im Schuppen fand sie einen passenden Pferdeersatz, einen halb verrotteten Besenstiel. Den klemmte sie sich zwischen die Beine und galoppierte in weiten Sätzen durch den Garten.

Ein Jahr nach Augustes erstem Unterricht hatte sich Anita durch „Grimms Kinder- und Hausmärchen“ hindurchbuchstabiert. Zuerst kam sie nur wortweise voran, doch bald nahmen ihre Lesekünste an Fahrt auf.

Die Geschichten beflügelten ihre Fantasie und ließen sich ohne weiteres mit dem Reitvergnügen auf ihrem Steckenpferd verbinden. Im wilden Galopp stellte sich Anita den Herausforderungen ihrer Märchenwelt, verfolgte Hexen, Zauberinnen und Teufel über Wiesen und Schwemmland hinweg. Vom hölzernen Pferderücken aus stritt sie für Gerechtigkeit und gegen das Böse, das überall lauerte.

Nachdem die Märchen ausgelesen waren, schleppte Auguste neue Bücher für den Unterricht heran und konfrontierte ihre Schwester mit der Welt antiker Heldensagen. Die Geschichten waren in einer altertümlichen Sprache verfasst und schwieriger zu verstehen, aber sie katapultierten die Fantasie des Kindes in den Himmel der Heldentaten. Die kriegerischen Abenteuer ließen sich noch besser mit dem Steckenpferd zwischen den Beinen und einem Stock als Schwert in der Hand nachspielen. Dass die Helden, die in ihren Kriegen unermüdlich das Böse draußen in der Welt bekämpften, fast immer Männer waren, während die Frauen Heim und Herd hüteten, bemerkte Anita noch nicht. Stattdessen verwandelte sie sich in Odysseus, der auf seiner Irrfahrt übers Meer haarsträubende Monster bekämpfen musste, oder in den edlen König Artus, der zusammen mit seinen Rittern auf der Suche nach Ruhm, Ehre und einer wundertätigen Schale ständig in Kriege verwickelt war.

Als Anita Augustes Büchersammlung ausgelesen hatte, begann sie heimlich, das Regal ihres Vaters im Salon zu inspizieren.

Wilhelm Augspurg überraschte seine Tochter eines Tages dabei, wie die Fünfjährige ein Buch aus einem der oberen Borde zog. Sie hatte einen Stuhl herangezogen, war von dort auf ein Tischchen geklettert und betrachtete nachdenklich den Einband in ihrer Hand. Laut las sie vor: „Robinson Crus-o-e.“

„Komm da sofort herunter!“, polterte der Vater.

Seine Tochter erschrak so sehr, dass sie den Stuhl neben sich umwarf und beinahe vom Tisch gestürzt wäre. Vom Lärm angelockt, lugten ihre Brüder vorsichtig durch den Türspalt und grinsten. Das väterliche Donnerwetter würde sich ausnahmsweise einmal nicht über sie ergießen. Doch zu ihrem Erstaunen blieb es ganz aus.

„Was willst du denn mit einem Buch?“, fragte der Advokat mehr neugierig als ärgerlich. „Kannst du so etwas denn überhaupt schon lesen?“ Über seine Jüngste wusste er recht wenig.

„Das kann ich schon lange“, antwortete Anita und sprang vom Tisch. Zum Beweis schlug sie das Buch auf und schob ihren Zeigefinger Wort für Wort durch die Zeilen.

„…Als dritter Sohn der Familie und ohne nennenswerte Bildung wurde mein Herz schon sehr früh von der Wanderlust gepackt“, begann sie. Ihre Brüder horchten auf.

„… eine Laufbahn bei Gericht schwebte meinem Vater für mich vor, doch ich würde mit nichts anderem zufrieden sein, als zur See zu fahren. Meine Neigung dazu führte mich so stark gegen den Willen, ja gegen die Befehle meines Vaters, und gegen alles Bitten und Flehen meiner Mutter, dass es etwas Verhängnisvolles in dieser Neigung der Natur zu geben schien…“

Wilhelm Augspurg räusperte sich und betrachtete seine Jüngste verwundert. Dann drehte er sich zu seinen Söhnen um.

„An eurer Schwester könntet ihr euch ein Beispiel nehmen, was Lerneifer und Bildung betrifft!“

„Brauchen wir nicht“, traute sich sein Ältester zu widersprechen. „Wir fahren lieber zur See. Genauso wie dieser Robinson Crusoe.“

Der Vater schenkte seiner Tochter das Buch. Auf diese Weise trat ein einsamer Überlebenskünstler in Anitas Leben.

Umzüge

Das Frühjahr 1863 begann damit, dass die Aller über die Ufer trat. Zuvor war das Wetter von eisig kalt plötzlich auf frühlingswarm umgeschwenkt. Zwei Wochen lang regnete es wie aus Kübeln auf die Schneemassen, so dass die Reste des Winters rasch dahinschmolzen. Der Fluss trieb Eisschollen durch sein Bett und donnerte sie gegen das befestigte Ufer des Bollwerks im Fischerviertel. Einige davon schob er zu Wällen übereinander auf das Schwemmland. Hellbraun schäumten die Fluten und gebärdeten sich wie wild. Vom Werder, der Allerinsel gegenüber dem Bollwerk, ragten nur noch die Wipfel der Weißdornbüsche und der Weiden aus den Wasserstrudeln heraus. Die Bleichen, zu denen die Frauen vor kurzen noch zu Fuß über das Eis gewandert waren, versanken vollständig in den Fluten.

Für die Bewohner des Fischerviertels war dieser Anblick keine Seltenheit. Feuersbrünste oder Cholera-Epidemien, die sie ebenso häufig heimsuchten, wirkten sich weit verheerender aus, und so blieben sie gelassen. Wie schon in früheren Jahren dichteten sie ihre Türschwellen mit Sandsäcken ab, so gut es eben ging, und verfrachteten ihre Habseligkeiten ins Dachgeschoss.

Auch das Haus der Augspurgs lag im tieferen Bereich der Stadt. Das Wasser sickerte ins Erdgeschoss und flutete Esszimmer, Salon und Wirtschaftsräume. Die Frauen hatten die Teppiche vorsorglich zusammengerollt, die unhandlichen Stücke ächzend die Treppe hinaufgeschleppt und im oberen Stockwerk zwischengelagert, wo sie die Flure verstopften. Im Erdgeschoss wuchteten Handwerker die schweren Eichenmöbel auf Balken und Ziegelsteine, um sie vor Feuchtigkeit zu schützen. Wie schon drei Jahre zuvor wohnte die Familie wie auf einer Baustelle.

Vielleicht hatte Wilhelm Augspurg schließlich genug von dieser Prozedur, denn zu Anitas sechstem Geburtstag überraschte er seine Familie mit der Ankündigung, dass er ein Haus auf der anderen Seite des Doms in der Grünen Straße 19 erworben habe. Dorthin würden die Fluten ihnen nicht folgen. Deshalb war nun ein Umzug fällig, dessen Organisation er bei seiner Frau in fähigen Händen wusste.

Die Vorderansicht des neuen Domizils sah vielversprechend aus. Mit seinen klassizistischen Elementen und seiner strengen Symmetrie wirkte es beinahe so majestätisch wie das Rathaus. Das Gebäude war 1832 erbaut und damit viel moderner als die übrigen Gebäude in der Straße, die lange vor der Franzosenzeit errichtet worden waren. Einige stammten sogar noch aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Selbstverständlich war es wie jedes herrschaftliche Haus mit Ziegeln gedeckt – Strohdächer hatten nur die Armen, die Kötner, die Anbauern und Häuslinge auf den Dörfern.

Das neue Domizil der Familie Augspurg lag in einem gehobenen Viertel mit Juristen, einer Gräfin und einem Bürgermeister in der Nachbarschaft. Es verfügte über neun Stuben, sechs Kammern, Küche, Vorratsraum, Keller und Dachboden. Im zweistöckigen Nebengebäude war die Wagenremise, der Pferdestall mit Sattelkammer und der Feuerungsraum untergebracht, in dem Braunkohlebriketts, Torf und Holz lagerten.

Ihren Wasservorrat musste die Familie, wie alle anderen auch, aus einem steinernen Trinkwasserbrunnen auf dem Domhof gegenüber heraufpumpen und mit Eimern ins Haus schleppen. Hinten im Garten lag der Abort, weit genug vom Trinkwasserreservoir entfernt. Der Bremervörder Großvater vermutete schon lange, dass die Ausbrüche von Cholera, Ruhr und Typhus mit der Nähe von Brunnen und Fäkaliengruben zusammenhingen.

„Eine Kanalisation sollten sie endlich bauen, diese Geizhälse, und zwar in allen Orten“, wetterte er bei jeder Gelegenheit, die er bei den Augspurgs verbrachte. „So eine, wie sie die Großstädte schon haben: Wien, Hamburg, London und auch Berlin. Dort ist jetzt Schluss mit den Epidemien!“

„Gut wäre das“, bestätigte sein Schwiegersohn stets. „Aber so weit sind wir in Verden noch lange nicht. Zuerst soll das Rathaus prächtig ausgebaut werden, haben die Ratsherren beschlossen. Ein Turm soll es schmücken, der etwas hermacht. Und es gibt Pläne für große Gerichtsgebäude, eine größere Kaserne und einen Brückenneubau. Das Geld für die nächsten Jahrzehnte ist längst verplant. Aber wir haben immerhin steinerne Pumpen statt der maroden aus Holz. Außerdem beschäftigt die Stadt einen Pumpenmeister für Reinigung und Reparatur.“ Wilhelm Augspurg dachte angestrengt nach. Er mochte es nicht, wenn der Schwiegervater seine Stadt abkanzelte. „Außerdem laufen Verhandlungen für Straßenleuchten, die mit Gas betrieben werden. So ganz hinterm Mond leben wir hier nicht!“

Die Hausarbeit verringerte der Umzug nicht. Leider! Anita war alt genug, um zum Mithelfen verpflichtet zu werden, besonders, seit ihre älteren Schwestern aus dem Haus waren. Morgens gehörte es zu ihren Aufgaben, Waschschüsseln und Nachttöpfe in den Schlafkammern zu leeren, zu reinigen, Krüge und Petroleumlampen aufzufüllen und heruntergebrannte Kerzen zu ersetzen. Mittags musste sie sich in der Küche bei der alten Lise zum Geschirrspülen einfinden.

„Wat mokt dat weerte Frollein denn bloß för`n scheef Gesicht?“, neckte die Wirtschafterin und goss heißes Wasser aus dem Kessel in die Waschschüssel. „Wieberarbeit is handig, hett aver niemols een Enne. Doran lett sik nix ännern!“1

„Ja, ja, de Mann op’t Perd, de Fro an’n Herd.“ Ungeduldig schüttelte Anita den Kopf. „Hast du mir alles schon tausend Mal erzählt, aber gerechter wird es dadurch nicht.“

Die Köchin drückte dem Mädchen ein Geschirrtuch in die Hand und erzählte von ihren eigenen Ursprüngen in einer zugigen Kate. Geschirr aus Porzellan und Tafelsilber waren dort unbekannt gewesen. Gegessen wurde aus einem einzigen Topf mit Holzlöffeln. Der Hausherr hatte sich immer zuerst die fetten Stücke gesichert. Zuletzt bekamen die Mädchen die mageren Reste. Nach Gebrauch hatten dann alle ihre Löffel abgeleckt und zurück ins Löffelbrett gesteckt. „Wenn ick doron torüchtdenke!“ Was für ein Paradies dagegen in diesem Haushalt! Einen eigenen Teller voll guter Speisen und niemals Hunger…!

„Aber auf jeden Fall spart man sich ohne Geschirr eine Menge stumpfsinniger Arbeit“, murmelte Anita und griff nach einem tropfenden Teller.

Wenn sie sich nicht rechtzeitig aus dem Staub machte, bekam sie zudem Staubwedel, Stubenbesen oder Silberlappen in die Hand gedrückt. Nichts war ihrer Mutter so wichtig, als dass in der kurzen Zeit, wenn sich der Vater im Haus blicken ließ, alles hübsch ordentlich an seinem Platz stand und blitzte.

Ihre Brüder wurden dagegen nie für Hausarbeiten herangezogen. „Das ist Frauensache“, bestimmte die Mutter und schickte ihre Söhne stattdessen für Botengänge in der Stadt herum. „Wilhelm, richte dem Sattler an der Nagelschmiede einen Gruß aus. Er möge so bald wie möglich vorbeikommen und die Matratzen neu stopfen.“

Die Pflege der Kleidung und das Bleichen auf den Wiesen der Allerinsel erledigte eine Waschfrau, und zum Bügeln mit dem schweren Eisen kam eine Plätterin ins Haus. Die alte Lise, die Wirtschafterin war für Küche, Speise- und Räucherkammer zuständig. Ihr Arbeitstag begann damit, dass sie die Glut im Herd mit trockenen Tannen- oder Fichtenzweigen neu entfachte. Wenn das Feuer verlosch, nahm sie die Petroleumlampe zur Hilfe, die nachts zur Orientierung auf kleiner Flamme im Flur brannte, und setzte es wieder in Gang. Im Winter holte sie dafür Glut mit der Kohlenschaufel aus dem Kachelofen. Da ständig nachgefeuert werden musste, spielte sich ihr ganzes Leben zwischen Küche, Pumpe und dem Holzlager im Nebengebäude ab.

Sofort nach dem Umzug begann die Sechsjährige, die neue Umgebung zu erforschen. Auf der Straßenseite schräg gegenüber in einem Eckhaus entdeckte sie die Werkstatt des Buchbinders Dieter Mahnke. Ein höchst interessanter Laden war das! Bibeln und Gesangbücher reihten sich in seinen Regalen neben Gedichtbänden und Reisebeschreibungen. Mahnke erlaubte ihr, vorsichtig herumzustöbern. Gern blätterte sich Anita durch die Zeitschriften, die sich auf Tischen türmten. In den Ausgaben der „Neuen Gartenlaube“, der „Illustrierten Welt – Blätter aus Natur, Leben, Wissenschaft und Kunst zur Unterhaltung und Belehrung“ fand sie Spannendes über Tierbändiger, Wanderkünstler und Weltenbummler in Wüsten und Urwäldern. Schnell versank sie bei der Lektüre in einem fernen Universum und träumte von wilden Abenteuern.

Das meiste Geld verdiente Mahnke allerdings mit Schreibwaren, Druckbögen, Tuschkästen, Blei- und Stahlfedern, Tintenfässern, Siegellack, Rechentafeln und dergleichen. Dieses Geschäft hatte er sich hart erkämpft, wie er den Kunden gern erzählte. In dem Augspurg- Mädchen aus der Nachbarschaft fand er eine aufmerksame Zuhörerin.

„In den vierziger Jahren bin ich mit meinem Hundekarren oft auf der Landstraße nach Hannover unterwegs gewesen. Vier Tage hin, vier zurück. Das waren noch Zeiten, ach ja“, erinnerte er sich und stopfte gemächlich seine Pfeife. „Heute geht das mit der Eisenbahn in vier Stunden! Damals bestand das Krameramt2 noch auf ihren starren Verordnungen aus den Zeiten der Zünfte.“

Mit einem Span zündete er sich seine Pfeife an der Flamme der Petroleumlampe an. „Heutzutage sind die Zünfte aufgelöst, doch damals verboten mir die Amtsleute kurzerhand den Handel mit den Schreibwaren. Das gehöre nicht zu dem Handwerk eines Buchbinders, behaupteten sie. Aber das wollte ich mir natürlich nicht gefallen lassen. Ich bin vor Gericht gezogen und habe dagegen geklagt. Nicht immer sind die Gesetze auch richtig, weißt du?“

„Mein Vater ist Advokat“, informierte das Kind den Buchhändler. „Hat so einer vor Gericht geholfen?“ Mit einem Mal begriff sie, womit sich ihr Vater den ganzen Vormittag lang beschäftigte.

„Ja, aber leider hatte er keinen Erfolg. Damals habe ich viel Geld verloren und nichts gewonnen. Trotzdem.“ Eine dichte Rauchwolke entschwebte gen Zimmerdecke. „Ich fand es ungerecht, und Unrecht darf man nicht hinnehmen! Merk dir das, mein Kind! Dagegen muss man sich wehren!“

Seine Zuhörerin lauschte andächtig.

„Mit Geduld und Ausdauer findet sich dann meistens ein Ausweg“, fuhr er fort. „Mir hat die Märzrevolution von ‘48 geholfen. Die Gesetze wurden verändert, und ich durfte endlich Bücher und Schreibwaren verkaufen.“

Nachdenklich betrachtete er das Mädchen. „Dein Vater hat auch nicht alles hingenommen, habe ich gehört“, fuhr er nach einer Weile fort. „Hat dafür sogar im Kerker gebüßt. Ist aber mit dem Leben davongekommen. Hat Glück gehabt!“

Anita sah den Buchbinder verwundert an. Davon hatte ihr der Vater nie etwas erzählt. „Warum kam er denn in den Kerker?“

„Für Demokratie und Gerechtigkeit ist er eingetreten“, antwortete Dieter Mahnke und erzählte seiner kleinen Nachbarin davon, wie Bürger, Arbeiter und Bauern gemeinsam die Alleinherrschaft der adligen Herren beenden wollten, von der ersten Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche und dem Versuch eine gerechte Verfassung durchzusetzen, bis die Ladentür bimmelte und er sich der neuen Kundschaft widmen musste.

Nachdenklich machte sich das Mädchen auf den Heimweg. Offenbar war Wilhelm Augspurg mutig gewesen. Ein echter Freiheitsheld! Darauf durfte sie wohl stolz sein! Äußerlich erkennbar war sein Heldentum nicht. Ihr Vater kleidete sich altmodisch und schien oft ein wenig angestaubt, so wie die Truhen auf dem Dachboden.

Folgte man der Grünen Straße in die andere Richtung, gelangte man zum Lugenstein, dem Findling auf dem Domvorplatz. Vor unendlich langer Zeit war dort das Gericht abgehalten worden und nicht, wie heutzutage, im ersten Stock des Rathauses.

Nebenan lag die Rats-Apotheke. An einem Laternenmast vor ihrem Eingang hing der einzige Briefkasten der Stadt, groß und sperrig aus Holz gezimmert. Im Reich des Apothekers roch es intensiv nach Kräuterextrakten, die ein wenig benebelten, doch Anita schaute gern auf einen Sprung vorbei. Herr Lohmeyer wachte dort über seinen Schätzen wie Alberich über den Nibelungenhort. Neben Arzneien, Küchengewürzen und Alkohol gehörten auch Schokoladenkonfekt und Süßigkeiten zu seinem Sortiment.

Der freundliche Mann in der fleckigen Schürze ließ sich gern bei seiner Arbeit auf die Finger schauen. „Dort muss noch etwas Pimpernelle hinein!“, erklärte er und griff zielsicher zu einer der vielen kleinen Schubladen in einer Kommode, deren Deckplatte als Verkaufstresen diente. „Das hilft beim Entgiften und bei Blasensteinen und Blutungen.“

Neugierig blickte das Mädchen in die Tiefen des Mörsers, in dem sich allerhand trockene Kräuter und Samen versammelten. Verschiedene Waagen, Reibschalen, Pressen für Pflanzenteile und zahllose Gefäße in unterschiedlichen Größen aus Kupfer, Zinn, Messing, Glas, Ton standen auf den Tischchen und Regalen verteilt. Ein Brennofen und mehrere große Glaskolben, die über verschlungene Rohrleitungen miteinander verbunden waren, gehörten zu einer Destillieranlage. Anita wusste schon, dass dort Alkohol entstand für Tinkturen und Heilsäfte, aber auch für Kräuterschnaps. Damit verwandelte sich die Apotheke abends in eine Kneipe.

Wissbegierig wanderte das Mädchen durch die geheimnisvolle Welt aus verkorkten Gläsern, Giftmischgefäßen und einem Herbarium. Die meisten Heilpflanzen, die der Apotheker verarbeitete, wuchsen in seinem Garten gleich hinter dem Geschäft, doch Anita hatte auf einem Bord tief unten auch ein Fläschchen mit pulverisierten Mäusezähnen und Gänsekot-Extrakt entdeckt. Bei der Aufschrift „Armesünder-Fett“ zügelte sie ihre Neugier und fragte nicht, ob es tatsächlich von Hingerichteten stammte.

Vom Lugenstein aus wagte sich Anita mit Tell an ihrer Seite immer weiter ins Zentrum der Stadt vor. Auf dem Weg zum Rathaus passierte sie die Bornemannsche Seifenmanufaktur, dann folgten Wittes Haushaltswaren, ein Geschäft mit Mausefallen im Angebot, und der Raseur Kracke, bei dem ihr Vater seinen Bart stutzen ließ. In der Umgebung der Schlachterei, die daran anschloss, stank es so intensiv nach Jauche, dass Anita kräftiger ausschritt. Der Darminhalt der Schlachttiere lagerte direkt am Haus. Das Blutwasser rann über die Straße und suchte sich seinen Weg in die Gosse. Die Passanten umrundeten die Rinnsale, doch die Pferdefuhrwerke fuhren mitten hindurch und hinterließen rote Streifen auf dem Pflaster. Von der nahen Gerberei und ihren Urinbecken wehten noch andere unangenehme Gerüche herüber.

Ein Stück weiter Richtung Rathaus kreuzte die Brückstraße, auf der stets Fuhrwerke Stadt ein- und auswärts unterwegs waren. Wenn zwei einander passierten, mussten sich die Fußgänger an die Hauswände drücken, um nicht unter die Räder zu kommen. Zwei Kolonialwarenläden buhlten dort um die Gunst wohlhabender Kunden. „Französische Trüffel“ lockte ein Schild auf der einen Straßenseite, „Zarte Singdrosseln eingetroffen“ meldete die Konkurrenz auf der anderen.

Im Hutladen nebenan durfte Anita den Mädchen bei der Arbeit zusehen, die im Hinterzimmer an einem langen Tisch über feinen Handarbeiten hockten. Während zarte Blüten aus Stoff oder Kirschen aus Teig in ihren Händen Gestalt annahmen, sangen sie gemeinsam und ließen Anita gerne mitsingen.

„Och, wenn ick doch eenmol innen Heben wäsen wör,

och, wör ick doch alltieds eene Jungfer bläben!

De Eh`stand mokt mi dat Läben so swor,

un ick harr mi nie nich in`n Ehestand gäben!

Nu sitt ick annen Weg un singe ei, ei,

eia popeia, ei eia popei.“3

Was an dem Ehestand so beschwerlich war, verrieten sie dem Kind nicht, doch eine von ihnen deutete auf ihre malträtierte Gesichtshälfte, deren blaurote Farbe gerade zu einem Gelbgrün verblasste. „Vonne Arbeit hebb ick dat blaue Oge gewiss nich!“, erklärte sie und lachte.

„Hierat is keen Peerkopp, Deern mok de Ogen op!“4, gab die Älteste ihre Lebensweisheit zum Besten. „Merk di dat!“

Der Kammmacher war nicht so freundlich wie die Hutmacherinnen und trieb Kind und Hund barsch aus seiner Werkstatt.

Die meisten Erwachsenen, die unterwegs waren, ignorierten sie einfach, so, wie man kleine Menschen eben übersieht. Adrett ausstaffierte Kinder in Anitas Alter waren höchst selten allein unterwegs. Meistens spazierten sie an der Seite ihrer Kindermädchen oder Mütter, während die Größeren die Schulbank drückten. Ärmlich gekleidete Altersgenossen liefen als Handlanger geschäftig hin und her oder verdienten sich ein paar Pfennige. Einige Barfußkinder jedoch trotteten, nach einem kurzen Unterricht in der Armenschule, jeden Tag um diese Zeit zum Eingang der Tabakfabrik Wolff.

Vom Buchhändler wusste Anita, dass sie neben ihren Eltern dort für ihre Tagesmahlzeit bis zur Nacht arbeiten mussten.

„Sicherlich ist ihr Schicksal bedauernswert“, hatte er gemeint. „Aber immerhin sind Nachtarbeit und Werktage von mehr als zehn Stunden für Kinder inzwischen verboten. Außerdem kommen sie so nicht auf dumme Gedanken und betteln oder stehlen.“

Gerade als sie am offenen Hof eines Steinmetzen vorbeikam, pausierten dort drei staubige Arbeiter mit Broten in den Händen auf einem Stapel Pflastersteine. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren, denn sie lachten johlend und schlugen sich auf die Schenkel. Ein Mädchen erschien auf der Bildfläche mit einem Krug Bier in der Hand. Anita schätzte, dass sie kaum älter war als ihr Bruder Dietrich, also ungefähr vierzehn. Ein winziger Busen zeichnete sich unter ihrer Schürze ab. Die Männer grinsten sie breit an. Einer von ihnen griff nach ihrem Hinterteil und zwickte hinein.

„Spaß mutt sien“, feixte er mit einem breiten Grinsen, das eine stattliche Anzahl gelber Zähne offenbarte und Anita an Rotkäppchens Wolf erinnerte. Der Mann wollte unter der Schürze nachfassen, doch das Mädchen hüpfte erschrocken zur Seite. Bier schwappte aus ihrem Krug. Daraufhin erhob sich einer der anderen schwerfällig, baute sie vor ihr auf, nahm ihr den Krug aus der Hand und schlug ihr hart mitten ins Gesicht. Sie fiel und rutschte ein paar Meter weiter über den Boden. Benommen erhob sie sich und huschte wimmernd davon.

Anita starrte die Männer an. Sie wollte sie anschreien, mit ihnen schimpfen, doch die Wörter verließen ihren Mund nicht. Als einer von ihnen auf das Kind aufmerksam wurde, begann Tell zu knurren. Seine Nackenhaare sträubten sich. Rasch drehte sie sich um und hastete zur Großen Straße zurück.

Vor dem Rathaus drängelten sich mehr Menschen als gewöhnlich, denn es fand gerade der tägliche Mittagsaufmarsch statt. Der einzige Polizeimeister Verdens, der statt eines Degens eine wippende Kuhrippe mit sich führte, stolzierte an der Spitze seiner drei Untergebenen bei klingendem Spiel über den Platz bis zur Ritterstraße. Dort wendete er seine Marschabteilung und kehrte am Roland und am steinernen Pranger vorbei zurück zum Eingang des Rathauses. Über dem Portal erhob sich ein prächtig bemalter Giebel. Doch heute hatte Anita keinen Sinn für Giebelschmuck und Defilee.

Gerade wollte sie dem mittäglichen Spektakel den Rücken kehren, als sie zwischen den Passanten, die sich durch die Zuschauermenge schoben, ihren Vater entdeckte. Er kam von seinem Arbeitsplatz am Obergericht und strebte nach Hause in Richtung Suppenteller.

„Was machst du denn hier?“ fragte er und blieb verwundert stehen. „Und was ist mit dir geschehen?“ Seine Tochter glühte im Gesicht wie Eisen aus dem Schmiedefeuer.

Sie wand sich ein wenig mit einer Antwort, konnte die Ereignisse, deren Zeugin sie geworden war, aber nicht für sich behalten. Sie sprudelten gradewegs aus ihr heraus.

„Kann man die Männer nicht vor Gericht bringen?“ fragte sie nach ihrem Bericht, immer noch zitternd vor Wut.