Ingers Sahneschnitten - Jutta Winter - E-Book

Ingers Sahneschnitten E-Book

Jutta Winter

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Beschreibung

Bei ihrer Ahnenforschung in Süddänemark stößt eine Familie auf ihre Vorfahrin Inger. "Sie machte, was sie wollte", wird von ihr erzählt. Doch wie war das möglich für eine Frau zu Kaisers Zeiten? Die willensstarke Seemannstochter widersetzt sich ihrer dänisch gesinnten Familie, heiratet einen preußischen Soldaten und folgt ihm in den Süden Schleswig Holsteins. Dort zwingen Krieg, politische Turbulenzen und Schicksalsschläge sie, ihr Leben eigenständig zu gestalten. Ihre Backkünste helfen ihr dabei.

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Inhalt

Bei ihrer Ahnenforschung in Süddänemark stößt eine Familie auf ihre Vorfahrin Inger. „Sie machte, was sie wollte,“ wird von ihr erzählt. Doch wie war das möglich für eine Frau zu Kaisers Zeiten? Die willensstarke Seemannstochter widersetzt sich ihrer dänisch gesinnten Familie, heiratet einen preußischen Soldaten und folgt ihm in den Süden Schleswig-Holsteins. Dort zwingen Krieg, politische Turbulenzen und Schicksalsschläge sie, ihr Leben eigenständig zu gestalten. Nicht nur in Krisenzeiten und im Widerstand gegen die Preußen oder Hitler erweisen sich ihre Backkünste als nützlich…

Jutta Winter (*1955) studierte Bildende Kunst, Erziehungswissenschaften und Psychologie. In Ostafrika sammelte sie Erfahrungen in der Entwicklungshilfe und verbrachte weitere Jahre in Mexiko. Danach arbeitete sie an einer psychologischen Beratungsstelle und unterrichtete als Dozentin an Pflegeschulen. Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer beruflichen Tätigkeiten war die Biografie-Arbeit. Seit einigen Jahren widmet sie sich diesem Thema literarisch.

Bei BoD u.a. erschienen: „Regen auf dem Jakobsweg“,

„Die Sonnenstürmerin – Anita Augspurg streitet für Frauenrechte und Frieden“

„Nie wieder Krieg – Constanze Hallgarten und die Friedensbewegung der Frauen“

Für Volker

Inhaltsverzeichnis

Eine Insel mit zwei A

Aarö

Lassen

Urlaub auf Årø 1996

Blankenese

Das Schicksalsjahr

Kiel

Neuland

Minen in der Förde

Volksabstimmung

Von Årø nach Blankenese 2019

Nach dem Krieg

Flucht

Ganz Dänin

Nachlese 2022

Glossar

Danke

Rückmeldungen

Eine Insel mit zwei AEin Vorwort

1995

„Meine Großmutter hieß Inger mit Vornamen. Inger mit -er, nicht Ing-e oder Ing-a. Seltsam nicht? Das ist so auf Dänisch“, erklärte Helga, meine Schwiegermutter.

Sie ließ ihre Enkelin von ihrem Schoß auf den Fußboden gleiten. Die bunten Legosteine dort unten lockten die Kleine mehr als die verblichenen Bilder der Ahnen auf dem Stubentisch. Als Helga die Hände wieder frei hatte, sortierte sie weitere Fotos aus einem Schuhkarton heraus und breitete sie vor uns aus.

„Ja, Oma Inger stammte von einer dänischen Insel. Sie sprach nur Dänisch. Und meistens machte sie einfach, was sie wollte“, erzählte sie. „Da war sie ganz anders als ich, viel eigensinniger.“ Helga lächelte und hielt mir ein Foto hin. „Das sieht man ihr aber nicht an. Hübsch sah sie aus, nicht?“

Eine Frau in den Vierzigern mit sanften Gesichtszügen blickt in Brauntönen aus der Aufnahme. Ihr Haar ist in der Mitte gescheitelt und in lockeren Wellen zu einem Knoten im Nacken geführt. Ein dunkles Kleid fällt in komplizierten Falten, Rüschen und Schleifen abwärts. Den Stehkragen des Blusenteils verschließt eine Brosche unter ihrem Kinn.

„Du hast dänische Vorfahren?“, fragte ich erstaunt. „Ist ja spannend. Naja, dein Geburtsname ‚Lassen‘ klingt auch richtig dänisch.“

„Nein, nein, der Geburtsname meiner Großmutter war ‚Hannibal‘“, korrigierte sie. „‚Lassen‘ hieß dann ihr Mann, mein Großvater, und der kam von Maasholm. Das liegt viel weiter im Süden an der Schlei1* und gehört zu Schleswig-Holstein.“

„Aber der Name ‚Hannibal‘ hört sich nun wieder überhaupt nicht dänisch an.“ Langsam wurde es rätselhaft. „Der klingt mehr nach Cäsars Gegner aus Nordafrika. Du weißt schon, der der mit Elefanten über die Alpen marschiert ist. Vielleicht haben die Wikinger ja mal Sklaven von dort nach Dänemark verschleppt?“

Es brauchte nicht viel, um meine Fantasie anzukurbeln. Helga sah mich zweifelnd an.

„Möglich, aber das weiß heute wohl niemand mehr. Schade eigentlich. Interessieren würde mich das auch.“

Sie kramte weiter im Schuhkarton.

„Jedenfalls…“ – sie zog eine vergilbte Postkarte aus seinen Tiefen hervor – „… hat sie in dieser Kate hier mit ihrer Familie gewohnt. Aarö hieß die dänische Insel. Mit zwei ‚A‘. Dort ist dann auch mein Vater geboren. Er hat das Foto von seinem Geburtshaus damals meiner Mutter mitgebracht, als er 1920 zur Volksabstimmung gefahren ist. Ob er dann für Deutschland oder Dänemark gestimmt hat, ist sein Geheimnis geblieben.“ Helga lächelte versonnen. „Aber ich hätte das zu gerne gewusst.“

Im Gegensatz zum Großmutter-Portrait war das Foto von der Kate gestochen scharf.

„Steht das Haus noch?“ Mein Interesse steigerte sich rasant. „Ich meine, wenn das noch steht, dann ließe es sich doch bestimmt finden.“

Aufgeregt wendete ich mich an meinen Ehemann, der gerade die gute Stube betrat, das Fernglas in der Hand, unsere älteste Tochter Astrid und seinen Vater im Schlepptau.

„Schau mal, das ist das Geburtshaus deines Großvaters…“, rief ich und wedelte mit der Karte, “… und deines Schwiegervaters, Paul.“

Der warf einen kurzen Blick auf das Foto.

„Mein Schwiegervater! Ja, an den erinnere ich mich gut. Er war recht trinkfest, so wie es sich für einen Seemann gehört. Und das erwartete er dann auch vom Ehemann seiner Tochter, nämlich von mir.“

„Sein Geburtshaus steht auf einer dänischen Insel. Dort könnten wir doch alle zusammen hinfahren und danach suchen“, schlug ich vor.

Die Familie sah mich erstaunt an. Auf solch eine sonderbare Idee war bisher noch niemand gekommen, aber ich war nicht mehr zu bremsen.

„Vielleicht gibt es ja auch noch Nachfahren mit dem Namen Hannibal auf dieser Insel mit zwei A“, rief ich begeistert. „Wo liegt Aarö eigentlich genau?“

Mein Schwiegervater öffnete den antiken Wohnzimmerschrank, eine Mischung aus Gründerzeit und Jugendstil, und kramte darin herum. Ein gemeinsamer Urlaub mit den Enkelinnen in Dänemark? Diese Idee gefiel ihm auf Anhieb. Er zog einen Vorkriegs-Weltatlas aus einem hinteren Fach. Aktuell war das Kartenwerk nicht gerade, doch es besaß immerhin ein Ortsverzeichnis im Anhang.

„Aarö mit zwei ‚a‘? Hmhm… Das müsste gleich am Anfang sein…“ Tatsächlich, dort stand er, der ungewohnte Name.

„Hier ganz nah am Festland ist das, zwischen Hadersleben und Apenrade.“ Zufrieden deutete er auf ein winziges Eiland in der Ostsee. „Fünen ist auch nicht weit weg.“

„Ich glaube, heute gibt’s dort etwas weiter nördlich Brücken rüber nach Seeland, Richtung Kopenhagen und von dort weiter nach Schweden“, wusste mein Mann. „So weit weg ist das nicht. Da käme man schnell hin.“

„Dann fahren wir am besten mit zwei Autos in den Urlaub“, verkündete Paul pragmatisch. Er dachte schon einmal einen Schritt weiter. „Das schafft mein Lada sicher noch. Nur, wo kommen wir dann unter?“

Plötzlich waren alle Feuer und Flamme. „Urlaub, Urlaub“, krähten die Jüngsten und hopsten durch die Stube.

„Gleich Morgen gehen wir ins Reisebüro und fragen nach!“, schlug ich vor. Damit war die Sache beschlossen. Im Sommer würde unsere Spurensuche nach Helgas dänischen Vorfahren beginnen.

1Erklärungen zu den Sternchen finden sich im Glossar.

Aarö

1871 - 1879

Unendlich hoch und weit wölbte sich der Himmel über dem Kleinen Belt. An diesem Frühlingstag strahlte er wie frisch gestrichen in einem intensiven Blau. Erst am Horizont verblasste die Farbe allmählich und verband sich flirrend mit dem Meer, das im Sonnenlicht funkelte wie ein Tuch aus Edelsteinen. Dort, wo Tiefen zu erahnen waren und die Fischer ihre Netze oder Angelschnüre mit vielen Widerhaken auswarfen, glänzte das Wasser in dunklem Preußischblau. In seinen flacheren Regionen modulierte die Farbe zu türkisen Tönungen wie in den Lagunen der Südsee. Schwimmer aus Kork und gelockte Braunalgen schaukelten auf der Oberfläche. Eine Reihe von Pfählen war nahe am Ufer eingeschlagen worden, um lange Reusenschläuche festzuhalten, die mehrere hundert Meter weit ins Meer hinausreichten. Auf den Pfählen rasteten Möwen und putzten ihre Gefieder. Eiderenten zogen weiter draußen gelassen im leichten Wellengang dahin.

Der Strand der Ostseeinsel Aarö zwischen Fünen und Nordschleswig schien wie immer, ruhig und beschaulich. Doch der Eindruck täuschte. Eigentlich hatte Inger Hannibal, eine hochgewachsene Zwölfjährige, zusammen mit einer Schar kleinerer Kinder Möweneier sammeln wollen. Davon gab es reichlich auf der schmalen Landzunge zwischen Meer und Lagune bei der Vogelinsel „Fuglehage“. Aber als sie eine hohe Düne erklettert hatten, wurden sie unerwartet Zeugen eines blutigen Gemetzels.

Gerade war es den Inselfischern gelungen, eine Gruppe Schweinswale* in die Richtung einer flachen Bucht neben der Vogelinsel zu treiben. Heftig schlugen sie von ihren Ruderbooten aus mit Ruten auf die Wasseroberfläche und hielten die verwirrten Tiere zusammen. Als das Wasser zu flach wurde und die Meeressäuger nicht mehr abtauchen konnten, warfen die Fischer Netze über sie und zogen den Fang weiter Richtung Land.

Einer der Walfänger hatte mit seiner Beute im Schlepptau schon fast das Ufer erreicht, wo das Tier starr vor Angst wie ein Findling im seichten Wellengang festsaß. Sein Schlachter fackelte nicht lange. Er zog ein Messer und trieb es mit Schwung in den Walnacken. Wolken von Möwen segelten schreiend heran und beobachteten die Zubereitung ihres Festmahls. Gerade als er sein Messer erneut wetzte, entdeckte der Fischer oben auf dem Dünenkamm die Kinder, die dort aufgereiht wie Zaunpfähle standen und stumm das Spektakel verfolgten.

„Los Inger, nimm die Lütten und bring sie weg von hier“, schrie er dem Mädchen zu und wedelte ungehalten mit der Hand, während seine Kollegen sich ächzend mit ihrer Beute zu ihm gesellten. Kinder waren als Zuschauer bei diesem Teil ihres Handwerks unerwünscht.

Inger riss sich vom grausigen Anblick los, fasste rasch die beiden kleinsten Kinder an der Hand und überredete die anderen zum Rückzug. Für den Weg ins Dorf wählte sie einen Umweg und führte ihre Schar am Strand entlang. Sie hatte es nicht eilig, zurückzukehren. Die Arbeit daheim konnte ruhig noch ein wenig warten.

Ihr Vater fuhr zur See, während die Familie daheim ein kleines Stück Gartenland bewirtschaftete. Sie hielten Federvieh und Schafe auf einer Gemeindewiese, was den Hunger in Schach hielt. Ihre Mutter verdiente als Kochmamsell auf dem Gutshof der Martensens ein wenig dazu. Hart musste sie schuften, um über die Runden zu kommen. Wenn die Aale im Herbst von Süden her in großen Schwärmen den kleinen Belt durchquerten und die Aalsaison begann, verdienten die Eltern bei den Fischern ein gutes Zubrot. Sie kamen dann nur für wenige Stunden zum Schlafen nach Hause, um mit Lampen bewaffnet schnell wieder zu den Booten zu eilen. In solchen Zeiten musste Inger die Arbeit in Haus, Hof und Garten ganz allein bewältigen, denn ihre älteren Brüder fuhren zur See, und die große Schwester hatte nach Ribe geheiratet. Von der Seite war keine Hilfe mehr zu erwarten.

Aber heute konnte sie es sich erlauben, ein wenig zu trödeln. Langsam schlenderte sie den Strand entlang, hockte sich auf einen Klotz aus Treibholz und ließ den feinen Sand durch ihre Finger rieseln, während die Kleinen um sie herumwuselten.

„Guck mal, was ich gefunden habe!“

Marie zeigte ihr stolz einen kalküberzogenen Feuerstein, der in der Mitte durchlöchert war. Sie steckte ihren kleinen Finger hindurch.

„Oh, jetzt hängt mein Finger fest. Aua! Hilf mir mal!“

„Das ist ein Hühnergott“, erklärte ihr Inger nach der gelungenen Operation. „Gib ihn zuhause in den Stall zu den Hühnern. Die legen dann mehr Eier.“

Während die Kleinen mit den Füßen durch den feinen Sand pflügten, blinzelte die Große in die Sonne und überlegte, wie sie einem eintönigen Hausfrauendasein wie dem ihrer Mutter entkommen könnte. Gab es für sie keinen anderen Beruf?

„Wenn ich mal groß bin, will ich Walfänger werden wie mein Opa“, unterbrach Knut ihre Gedanken und klaubte einen flachen Kiesel aus dem Sand. „Oder Robbenfänger. Die fahren von Römö bis nach Grönland und kommen dann mit ganz viel Geld zurück.“

Entschlossen schleuderte er den Stein ins Meer. Er versank mit einem Plopp.

„Du musst flacher werfen. Schau mal – so!“

Neun Mal ditschte Ingers Kiesel auf.

„Den Walfang machen jetzt die Amerikaner“, behauptete der dünne Mats. Das hatte sein Vater vom Schankwirt. „Nee, ich will lieber als Seemann auf ein Frachtschiff. Am besten auf so einen richtigen Dampfer mit einem großen Schornstein. Die gehen nicht so schnell unter. Damit komme ich vielleicht bis nach Australien. Oder nach Südamerika.“

Wie süß er wohl schmeckte, dieser riesige Zuckerhut in Rio de Janeiro, überlegten die Kinder und ließen ihrer Fantasie freien Lauf, bis im Westen der lange Bootsanleger in Sicht kam, der Ankerplatz des einzigen Schoners* der Insel, der „Christine Marie“. Jeden Montag legte dort außerdem ein Fährschiff an, das über den Sund kreuzte.

Heute war nicht Montag. Trotzdem hatte dort an der Brücke aus Eichenbohlen gerade eine Barkasse festgemacht. Die Kinder rannten los, um das Spektakel nicht zu verpassen. Auch einige Inselfrauen hatten sich als Empfangskomitee eingefunden und bestaunten ungeniert die fremden Männer, die von Bord kletterten, einige in Uniform, andere ohne. Ohne Eile luden sich die Neuankömmlinge ihre Seesäcke auf die Schultern.

Während sie gemächlich den Steg entlang trotteten, schauten sie neugierig in die Runde. Was sie sahen, schien sie wenig zu begeistern. Auf diesem Eiland würden sie also die nächsten Jahre verbringen, bis die Ablösung kam. Groß war es nicht.

Das Dorf lag etwas erhöht hinter einem Bachlauf. Durch die noch kahlen Bäume lugten kleine Häuschen hervor, vielleicht fünfzig oder sechzig. Aus groben Steinen oder Lehm waren sie gebaut, einige weiß verputzt, die meisten mit Stroh gedeckt. Auch zwei oder drei größere Anwesen waren in dem Ensemble vertreten mit feuerfestem Ziegeldach und Nebengebäuden. Ein Kirchturm war nirgends zu entdecken.

Gustav Petersen, der preußische Grenzaufseher, ein hagerer Mann, der sich steif aufrecht hielt wie ein Segelmast, stolzierte den Männern entgegen. Ihm war der Trupp wohl unterstellt. Militärisch zackig begrüßte er die überschaubare Mannschaft, brüllte ein Kommando, setzte sich durch das Zuschauerspalier hindurch an ihre Spitze. Über flache Dünen und ein sumpfiges Terrain schlurften die jungen Männer hinter ihrem Kommandanten her und verschwanden hinter den schiefen Holzschuppen der Fischer. Die geflickten Netze daneben waren zwischen Pfählen gespannt und trockneten in der leichten Brise.

Inger sah die Magd von Martensens Hof und einige andere jüngere Frauen am Ufer kichern und tuscheln. Ob sie sich wohl Hoffnung auf einen Bräutigam machten? Sie selbst würde ganz sicher keinen Soldaten heiraten, schon gar keinen preußischen. Das hatte sie sich fest vorgenommen, denn der Großvater hatte eindringlich davor gewarnt:

„Lass dich nie mit denen ein! Hörst du?“, hatte er sie beschworen und den Zeigefinger mahnend erhoben. „Die nehmen sich, was sie wollen, und dann verschwinden sie wieder!“

Er musste es wissen, denn er war selbst einmal Soldat gewesen und zur See gefahren.

Zu ihm lief Inger rasch hinüber und begrüßte ihn. Der Alte hockte auf einer windgeschützten Bank vor einem der schwarzgeteerten Fischerschuppen. Dort verbrachte er die langen Tage seines Ruhestands in der Gesellschaft anderer ausgemusterter Seeleute mit steifen Gelenken und krummen Rücken. Wettergegerbte Gesichter lugten zwischen ihren weißen Bärten hervor. Kritisch beäugten sie nun die Neuankömmlinge.

„Jetzt schickt der Preuße auch noch seine Soldaten hierher, auf unser schönes Aarö. Was soll das werden? Will der etwa Deutsche aus uns machen?“

Der Großvater schüttelte missbilligend den Kopf.

„Das wird ihm nicht gelingen. Nej, nej.“ Sein Banknachbar pochte trotzig mit seinem Stock auf den Stein zu seinen Füßen.

„Wir bleiben unserm Danebrog treu, da kann der Preuße noch so viele Soldaten schicken!“

Alle nickten übereinstimmend. „Ja, ja.“

„Wahrscheinlich sollen sie die neue Grenze bewachen. Hinter dem Haderslev-Fjord und drüben auf Fünen könnten ja Truppen von unserm König Christian stehen.“

„Wenn er noch welche hat“, stieß der Älteste von ihnen nach einer Weile des Nachdenkens zwischen den Resten seiner Zähne hervor und strich nachdenklich über sein Bartgestrüpp. „Ja, ja. Die sollen sie wohl aufhalten.“

„Was, diese Grünschnäbel da? Ha!“

Die anderen kicherten in sich hinein.

„Na, das wird lustig. Uns werden die jedenfalls bestimmt nichts tun! Für uns Alte interessiert sich kein Schwein. Auch kein preußisches. Nej, nej.“

„Für uns vielleicht nicht.“ Ingers Großvater grinste vielsagend. „Die da müssen auf die Grenze aufpassen und wir auf unsere jungen Mädchen. Ja, ja.“

Bald zeigte sich, dass nicht nur Soldaten auf die Insel gekommen waren, sondern auch ein neuer Lehrer. Herr Schmidt hieß er und stammte aus Pinneberg. Die Gegend zwischen Elbe, Ostsee und Nordsee war zwar – ebenso wie Nordschleswig – dänisches Staatsgebiet gewesen, bis die preußische Allianz den Krieg gewann, aber dort im Süden hatte sich die dänische Sprache und Gesinnung nie so recht durchsetzen können. Der neue Schulmeister bekannte sich ohne die Spur eines Zweifels zu Preußen. Sicherlich war er deshalb von der Oberschulbehörde ausgewählt und in den Norden beordert worden. Alle älteren Kinder wussten ebenso wie Inger, dass sich die neue preußische Landesregierung seit ihrem Sieg im deutsch-dänischen Krieg bemühte, Dänemarks Einfluss in Nordschleswig zurückdängen. An dieser Front würde nun Herr Schmidt für die hohe deutsche Kultur kämpfen. Den bisherigen Lehrer hatte man kurzerhand vor die Tür gesetzt und über die Grenze nach Dänemark abgeschoben.

In Aarös kleinem Schulhaus würde sich nun der neue Schulmeister dieser Aufgabe widmen. Vor zehn Jahren war es erbaut und mit Bänken ohne Lehnen, mit einem langen Tisch und einer Holztafel auf einem wackeligen Ständer ausgestattet worden. An einer Wand des einzigen Klassenraums hingen Regalbretter vollgepackt mit Schulbüchern und Lesestoff auf Dänisch. „Volksbücherei“ wurde dieses Teil des Mobiliars genannt. Herr Schmidt schenkte ihr keinerlei Beachtung. Er machte auch keine Anstalten, die dänischen Bücher durch deutsche zu ersetzen, wohl weil er annahm, dass weder die Kinder noch die Bauern und Seeleute der Insel Zeit und Interesse aufbrachten, Bücher zu lesen. Auf jeden Fall war die Schule alles in allem hochmodern ausgestattet. Daran gab es nichts auszusetzen.

Gleichzeitig mit dem Schulneubau hatte die damalige Regierung auch die Unterrichtspflicht für alle Kinder im ganzen Land eingeführt. Für Inger kam dieses Gesetz genau rechtzeitig. Sie durfte sich über eine vollständige achtjährige Schulausbildung freuen.

Pünktlich um acht Uhr morgens stand Herr Schmidt mit gestärktem Hemd und Vatermörder-Kragen unter seinem steifen grauen Gehrock im Klassenraum vor fünfundzwanzig Schülern und sechsundzwanzig Schülerinnen im Alter zwischen sechs bis vierzehn Jahren. Bei den größeren in der hinteren Reihe hockte Inger und betrachte den Lehrer aufmerksam. Er war schmächtig und glich diesen Umstand mit einer kerzengeraden Haltung aus. Von Zeit zu Zeit warf er einen prüfenden Blick auf eine silberne Taschenuhr, die an einer Kette im Knopfloch seiner Weste befestigt war.

Es dauerte eine Weile, bis die Kinder ihren Lehrer verstanden, denn er sprach hochdeutsch mit ihnen. Bisher hatten sie von Händlern und Seeleuten nur Plattdeutsch aufschnappen können. Das zu verstehen, bereitete ihnen wenig Mühe, denn es ähnelte dem gängigen dänischen Platt.

„Dieses Land hat eine lange deutsche Geschichte“, begann Herr Schmidt seinen Kulturkampf nach den Übungen in Schönschrift und dem Kopfrechnen.

„Germanische Stämme, die Vorfahren der Deutschen, sind nach der Eiszeit immer weiter nach Norden vorgedrungen und haben Rentiere gejagt, dort wo die Gletscher weggetaut waren. Diese Leute haben überall im Land große Steingräber hinterlassen. Du da in der letzten Reihe“, Herr Schmidt deutete mit seinem Stock auf einen großen Schüler, „wo gibt es heute noch solche altdeutschen Gräber. Antworte! Zack, zack!“

„Auf Fünen“, antwortete der Junge unwillig.

Inger und die anderen Kinder kannten die früheren Nordmänner schon als Steinzeitjäger und später als Angeln, Sachsen, Jüten, Zimbern, Warnen oder Sueben. Der frühere Lehrer hatte die vielen verschiedenen Völker genau unterschieden. Sollten das etwa alles Deutsche gewesen sein? Erzählte ihnen Herr Schmidt die Wahrheit? Inger beschloss, ihm nicht zu glauben, preußische Autorität hin oder her. Doch sie hielt den Mund. Auch kein anderer Schüler traute sich zu widersprechen, denn der Schulmeister konnte auf einen fabelhaften Rohrstock verweisen. Und ihn auch einsetzen.

Nach der Frühgeschichte erfuhren die Kinder von unendlich vielen Herrschern, die um den dänischen Thron stritten. Machthungrig schoben sie die Grenzen hin- und her.

„Das Land hier gehörte aber schon lange zum Deutschen Bund. Zwar waren seit dem 15. Jahrhundert dänische Könige die Landesherren, aber eben als Fürsten des Deutschen Bundes“, hob Herr Schmidt immer wieder hervor, doch er redete vor verschlossenen Gesichtern. Das trübte seine Stimmung sichtbar ein.

Schließlich verlegte sich der Lehrer darauf, ausführlich von deutschen Geistesgrößen zu erzählen, von den unzähligen Erfindern, Forschern, Philosophen, Komponisten und Dichtern, auf die man als Deutscher doch sehr stolz sein durfte. Damit sich diese großartige Kultur genügend in die Schülerhirne eingravierte, ließ er die Kinder deutsche Gedichte auswendig lernen. Jeden Tag eine Strophe.

Wenn der aufgerufene Schüler die Verse herunterleierte, schwang Herr Schmidt seinen Rohrstock dazu und dirigierte den Takt. Zack, zack, zack! Reibungslos wie ein Uhrwerk sollte es schnurren beim Rezitieren. Wenn er stockte, schlug er den Rhythmus mit der Rute krachend auf das Pult. Zorn glühte in seinem Gesicht. Oft sah es so aus, als würde er sich den Bengel am liebsten vorknöpfen wollen. Ihm die deutsche Großartigkeit einbläuen, bis ihm Hören und Sehen verging. Aber wenn er zuschlug – so rechnete er sich wohl aus – wäre er auf der Insel schneller Fischfutter, als Gustav Petersen, der Grenzaufseher, sich umgucken konnte. Darauf ließ es der Lehrmeister lieber nicht ankommen.

Manchmal sah Inger den Lehrer beim Einkaufen in Jepsens Laden, der gleichzeitig Schankwirtschaft war. Fehl am Platz, kauerte seine schmächtige Gestalt dort zwischen den Einheimischen, emsig bemüht, ein Gespräch in Gang zu bringen.

Doch die Fischer und Schiffer gaben sich einsilbig, umklammerten ihre Gläser mit ihren Pranken und kippten den Kräuterschnaps herunter, ohne dem Preußen auch nur eine Prise Beachtung zu schenken. Verstohlen musterte der Lehrer die Statur der Seeleute. Eingekeilt zwischen ihnen, schien seine Körpergröße und sein Mut noch mehr zu schrumpfen.

Den Eltern war der Unterricht des preußischen Schulmeisters ein Dorn im Auge.

„Wir haben beschlossen, einen Sprachverein zu gründen“, informierte Ingers Vater, Hans Hannibal seine Familie eines Abends im Oktober 1872. Nis Nissen, der Strandvogt und die anderen vom Deichverband hatten am Nachmittag darüber beraten.

„Wozu soll das gut sein?“, erkundigte sich seine Frau Caterine wenig begeistert, während sie einen Topf dampfende Kartoffelsuppe auf dem Tisch absetzte. „Habt ihr nicht schon genug Vereinigungen? Ihr Männer trefft euch im Fischereiverein, in der Gemeindeversammlung, im Deichverband und all dem. Reicht das nicht? Wir Frauen müssen dann immer dafür backen und Kaffee kochen, als hätten wir nichts anderes zu tun!“

„Irgendwie müssen wir uns doch wehren“, beharrte Hans. „Wenn die Preußen so weitermachen, vergessen unsere Kinder und Enkel eines Tages noch, dass sie nach Dänemark gegören. Das dürfen wir nicht dulden!“

Ingers Vater widersprach seiner Frau selten, doch nun geriet er in Fahrt. „Die dänische Kultur wollen uns die Preußen am liebsten ganz wegnehmen. Und sie traktieren uns mit immer mehr Steuern. Doch das ist längst nicht alles. Unsere beiden Söhne müssen im nächsten Jahr auch noch im preußischen Heer dienen. Drei lange Jahre. Und das in der gleichen Armee, die damals auf uns gefeuert hat! Was für eine Schmach! “

Die Niederlage in der Schlacht bei den Düppeler Schanzen* steckte wie ein Stachel mit Widerhaken in der Erinnerung aller patriotischen Dänen fest. Auch Caterine reagierte bei diesem Thema dünnhäutig, denn in jenem vermaledeiten Krieg hatte ihr Ältester sein Leben verloren. Nun forderten die Besatzer auch noch die jüngeren Söhne.

„Forbandet Preussen!“, fluchte sie und stieß heftig gegen ihren Teller, dass die Suppe überschwappte.

Mit großen Augen saß Inger am Tisch und verfolgte gespannt die Diskussion ihrer Eltern. Ihren Suppenteller hatte sie völlig vergessen.

„Inzwischen siedelt die Regierung immer mehr deutsch gesinnte Beamte und Handwerker hier bei uns an, damit wir Dänen eines Tages eine Minderheit im eigenen Land sind“, fuhr der Vater fort. „Die meisten von uns haben bei der Wahl zum Deutschen Bund damals für den dänischen Kandidaten gestimmt. Das ärgert die Preußen mächtig, und sie wollen die dänische Gesinnung am liebsten ganz auslöschen. Dagegen müssen wir uns stemmen! Wir müssen unsere Kultur und Sprache stärken!“

Das hatte er vom Schankwirt Jepsen. Der studierte den „Dannevirke“, eine dänische Zeitung aus Hadersleben sorgfältig, bevor sie über seine Ladentheke ging.

„Und wie wollt ihr das machen?“, fragte seine Frau interessiert. „In der Gemeinde schnüffelt doch jetzt dauernd dieser Petersen herum. Der und dieser Lehrer werden genau das verhindern wollen.“

„Dann müssen wir eben klug vorgehen“, erwiderte ihr Mann. Er ließ sich noch mehr Suppe einschenken und brach nachdenklich ein Stück Brot ab.

Inger gab ihrer Mutter recht. Der Schulmeister Schmidt und der Grenzaufseher Petersen beobachteten das Treiben des neuen Vereins sehr genau und erstatteten dem Landrat in Hadersleben Meldung. Der Landrat wiederum rapportierte dem Regierungspräsidium. Offenbar zerbrachen sich all diese Leute nun immerzu den Kopf darüber, wie man den nationalen Bestrebungen in Nordschleswig Einhalt gebieten könnte.

„Wir wollen es so machen wie viele Gemeinden hierzulande. Wir holen einen dieser Wanderlehrer zu uns auf die Insel. Sie werden von der dänischen Regierung ausgebildet und auch bezahlt“, erklärte Hans und löffelte seinen Teller leer.

„Aber die Preußen haben schon einmal unsern dänischen Lehrer zum Teufel geschickt“, erwiderte seine Frau. „Was sollte sie davon abhalten, das wieder zu tun?“

„Wenn der Wanderlehrer nicht aus Dänemark kommt, sondern gebürtig aus Schleswig, dann ist er dem Gesetz nach ein Preuße. Den können die nicht so ohne Weiteres abschieben. Wie es aussieht, lassen sie die Wanderlehrer gewähren.“

„Schade, dass ich den nicht mehr erlebe“, seufzte Inger. „Meine Schulpflicht endet in einem halben Jahr. Bis dahin muss ich diesen Schmidt aushalten. ‚Zackzack‘ nennen wir ihn immer. Und so macht er auch seinen Unterricht. Zackzack! Grässlich!““

„Doch, doch. Vielleicht hast du Glück!“ Ihr Vater strahlte über sein ganzes Gesicht. „Der Wanderlehrer ersetzt den Preußen nicht, sondern er lehrt die jungen Leute am Abend, nach dem offiziellen Schulunterricht. Wir müssen das in der nächsten Versammlung noch genau besprechen, wie wir vorgehen wollen. Unser Treffen ist also wichtig.“

Seine Frau erntete einen triumphierenden Blick, und Inger sprang vor Freude auf.

„Dann backen wir diesmal besonders schöne Sahneschnitten für euch!“

Das Gebäck, das die Frauen zubereiteten, war ein wichtiger Bestandteil der politischen Versammlungen der Männer. Offiziell wurden diese Treffen als private „Kaffeetafeln“ ausgegeben, denn auf öffentlichen Versammlungen durfte nicht mehr dänisch gesprochen werden. Nationale Hymnen anzustimmen und politische Reden zu halten, war sowieso verboten.

Darüber wachte nach wie vor der preußische Grenzaufseher mit aller gebotenen Strenge. Doch private Kaffeetafeln entzogen sich seiner Kontrolle.

Allerdings wurden die Frauen bei den Versammlungen nur als Gebäck- und Kaffeelieferanten geduldet. Politik war Männersache! Allein mit ihrer Backkunst trugen sie zum Widerstand gegen die Deutschen bei. Das strenge Protokoll kannten sie dennoch genau, das sich ihre Männer für die Disziplin bei den Vorträgen und Diskussionen verordnet hatten:

Nachdem die alten vaterländischen Lieder gesungen waren, wurden Reden geschwungen und dazu die Platten mit dem Gebäck herumgereicht. Dabei hatte sich eine feste Abfolge eingebürgert, die nur Eingeweihte beherrschten: Zuerst kamen die „Boller“ an die Reihe, dick mit Butter bestrichene Brötchen und trockene Kuchen. Jeder musste eine festgelegte Menge davon verzehren. Dann folgten raffinierte Torten. Besonders Sahneschnitten und Obstkuchen waren der Stolz jeder Aaröer Hausfrau. Den Schluss bildete das Kleingebäck. Zum Leidwesen der Männer war Alkohol bei ihren Kaffeetafeln verboten. Auch das hatte die neue Verwaltung angeordnet. Aber immerhin konnten sie dort die meiste Zeit nach Herzenslust dänisch sein.

Für die anstehende Versammlung Anfang November kneteten Mutter und Tochter Hannibal eine große Menge Brotteig, wie alle anderen Frauen von Aarö auch. Während die Hefepilze ihren Dienst taten, begannen sie, die großen Steinofen anzuheizen.

Gemäß dem preußischen Gesetz waren sie wegen der Feuergefahr hinten in den Gärten errichtet worden. Die Familien, deren Grundstücke aneinander grenzten, benutzten einen gemeinsam. Gewöhnlich wurde er einmal im Monat mit Hilfe von Torfsoden ordentlich eingeheizt, denn Holz war auf der Insel knapp und zum Verbrennen zu kostbar. Nicht nur Roggen- und Weizenbrot, Zwieback und Pumpernickel wurden im Ofen gebacken, sondern auch ein guter Vorrat an Keksen, Blechkuchen und Napfkuchen in Tonformen. Waffeln, Hörnchen, „Krumme Kuchen“ und andere Eisen-Spezialitäten wurden dagegen über dem Kaminfeuer im Haus gebacken. Dazu nahm man Eisenformen, die der Schmied gehämmert hatte, und die zum Schutz der Hände lange Griffstangen besaßen.

Die vier Nachbarinnen, die an diesem Herbsttag um den Gartenofen herumstanden, blickten besorgt in den Himmel. Ein heftiger Wind jagte aus Südwesten Wolkenfetzen durch die Lüfte.

„Ich glaube nicht, dass unsere Männer morgen Zeit für ihre Versammlung finden werden“, argwöhnte Ingers Mutter Caterine missmutig. „Der Wind könnte sich noch zu einem ausgewachsenen Sturm entwickeln. Wenn ein Orkan im Anmarsch ist, haben sie anderes zu tun, als einen Verein zu gründen.“

„So ein Wetter wie heute hatten wir schon einmal“, stimmte ihr Tine Fallesen, eine der Nachbarinnen, zu. „Damals hat der Wind gedreht. Erinnert ihr euch noch? Die Flut hat allerhand überschwemmt damals.“

„Ja, aber dagegen haben sie schließlich den Deich gebaut“, entgegnete Hanne Jepsen. „Dann kann es doch gar nicht so schlimm werden! Außerdem haben wir im Moment Niedrigwasser.“

Inger versuchte, den Ofen anzuzünden. Schwierig war das, denn der starke Wind blies das Feuer immer wieder aus, bevor es in den Torfsoden Nahrung fand. „Rückt mal vor der Öffnung enger zusammen“, unterbrach sie die Diskussion der Älteren. „Ich brauche mehr Windschutz!“

Bald darauf prasselte das Feuer, und Inger konnte die Tür schließen. Nur eine Lüftungsklappe blieb offen. So konnte der Steinofen durchheizen und seine Backtemperatur erreichen.

Die Frauen wollten gerade zu ihren Häusern zurück, um weiteren Kuchenteig anzurühren, als Gunder, die Hebamme der Insel, an der Gartenpforte erschien. „Die Kuchen könnt ihr euch sparen“, rief sie schon von weitem. „Die Versammlung ist abgeblasen!“

„Etwa wegen dem bisschen Sturm?“, fragte Hanne ungläubig. „Der Wasserstand ist doch niedrig. Was soll da schon passieren?“

„Der Wind hat auf Nordost gedreht“, erklärte Gunder.

Nissen sagt, der könnte bald viel Wasser mitbringen. Dann wird es ungemütlich. Die Fischer wollen ihre Boote und Gerätschaften in Sicherheit bringen. Die Gründung ihres Sprachvereins verschieben sie lieber.“

„Ich glaube sowieso nicht, dass sie damit viel ausrichten können“, murrte Caterine. „Die Preußen haben nun mal das Heft fest in der Hand. Da können wir eh‘ nicht gegen an.“

„Aber was ist denn mit diesem Artikel 5*?“, fragte Inger und dachte an den Unterricht des Wanderlehrers, den sie herbeisehnte. „Irgendwann sollen wir abstimmen dürfen, ob wir dänisch oder deutsch sein wollen, sagt Opa. Wenn wir für Dänemark stimmen, müssen die Preußen das Land verlassen.“

„Diesen Artikel gibt es vielleicht auf dem Papier, mein Kind“, antwortete Gunder düster. „Aber wenn der nicht längst unter den Tisch gefallen ist, dann fress‘ ich den Stubenbesen. Wann haben die je das Volk danach gefragt, was es will? Noch nie! Und das werden sie auch niemals tun, denn sie können sich ja ausrechnen, was dabei rauskommt.“

„Und außerdem ist Politik Männersache“, wies die Mutter ihre Tochter barsch zurecht. „Zerbrich du dir darüber nicht deinen Kopf!“

Gunder lächelte, zwinkerte dem Mädchen zu und wandte sich an deren Mutter.

„Lass Inger ruhig ihr Köpfchen benutzen. Neben dem Kuchenbacken kann es im Widerstand gegen die Preußen gar nicht schaden, wenn Frauen ein wenig mitdenken!“

Mit diesen Worten machte sich die Hebamme auf den Rückweg. Doch bevor sie das Gartentor erreichte, drehte sie sich noch einmal um.

„Was ich dir schon immer mal sagen wollte, Caterine“, rief sie. „Deine Tochter hat noch ein besonderes Talent. Sie kann zuhören. So richtig gut zuhören. Das können nicht viele.“

Sie winkte und verschwand auf der Dorfstraße.

Die Frauen starrten ihr hinterher.

„Etwas seltsam ist sie schon, oder?“, bemerkte Tine kopfschüttelnd. „So ein klein bisschen verrückt vielleicht.“

„Aber Kinder auf die Welt holen, das kann sie gut.“

Caterine klatschte in die Hände. „Genug geplaudert. Los, los”, drängte sie. “Brot müssen wir auf alle Fälle backen, egal wie das Wetter wird.“

Der heranbrausende Orkan übertraf alle Erwartungen. Er brach am Morgen des 13. November 1872 über die Ostseeküste und ihre Inseln herein und sollte der schlimmste seit Menschengedenken werden. Mit unerwarteter Kraft trieb er die Wassermassen zurück, die er zuvor tief in die Ostsee hineingedrückt hatte. Ein grauenhaftes Brüllen erfüllte die Luft. Haushoch türmten sich die Wellen auf dem Belt und donnerten über die Inseln, die sich ihnen in den Weg stellten. Gewaltige Brecher zerrten und fraßen an ihnen. Sie schlugen Breschen ins Ackerland, rissen Inselteile mit sich fort und überfluteten Hafenanlagen, Häuser, Brunnen, Gärten und Wege. Boote wurden wie Hutschachteln auf das Land geschleudert und zertrümmert, Dächer abgedeckt, Schuppen fortgeschwemmt. So ähnlich musste einst die Sintflut im Heiligen Land gewütet haben, für die Noah seine Arche gebaut hatte!

Die Insulaner drängten sich in ihren Häusern zusammen und beteten, dass sie standhielten. Zu Ingers Familie hatten sich Verwandte aus dem tieferliegenden Hafengebiet geflüchtet und trockneten nun ihre Kleidung am Ofenfeuer, das laut zischte und Funken sprühte. Richtig warm wurde ihnen nicht, denn durch die Ritzen zog überall die Kälte in die Stube.

„Unser Haus steht inzwischen bestimmt bis zum Dach unter Wasser“, klagte Caterines Schwägerin. „Falls es überhaupt noch steht.“

„Und mein Mann ist mit der Bark auf der Nordsee unterwegs“, jammerte ihre Cousine, die vier kleine Kinder um sich scharte. „Deiner doch auch, Marie. Hoffentlich kommen sie heil aus dem Sturm heraus!“

„Und wenn sie zurückkommen, sind die Häuser mit allem Drum und Dran weggeschwemmt!“

„Und wir vielleicht tot!“

„Nun malt den Teufel nicht gleich an die Wand. Immerhin habt ihr es hierhergeschafft, ohne zu ertrinken!“

Je mehr die anderen sich in ihre Schreckensbilder hineinsteigerten, umso besonnener reagierte Caterine. Diese innere Gelassenheit ihrer Mutter hatte Inger schon immer beeindruckt.

„Am besten, ihr trinkt erst einmal einen Schluck von dem Gebrannten“, schlug ihr Vater vor. „Der ist richtig schön stark. Ich muss noch mal raus! Nach meinen Eltern schauen. Bin gleich wieder da!“

Die Sorge um sie ließ ihm keine Ruhe. Er stieg in die Stiefel und das Ölzeug. Kaum hatte er den Riegel an der Haustür zur Seite geschoben, flog sie ihm auch schon mit einem Knall entgegen. Ein Schwall nasser Kälte und das Gebrüll des Orkans fegte in die Stube. Die Kinder schrien auf. Mit äußerster Kraft gelang es Hans, die Tür wieder hinter sich zu schließen.

Inger wandte sich den Kindern zu. Sie hockten neben ihren Müttern und bibberten vor Kälte und Angst.

„Kommt mal her zu mir. Hier in meiner Ecke ist es mollig warm“, lockte sie. „Kennt ihr schon die Geschichte vom tapferen Zinnsoldaten?“

Als die Kinder sich an sie schmiegten, begann sie zu erzählen. Wie gut, dass sie sich Hans Christian Andersens Märchenbuch aus der Schulbücherei ausgeliehen und viele Male durchgelesen hatte. Die Geschichten berührten sie, besonders die traurigen. Bei dem warmen Klang ihrer Stimme und ihrem gleichmäßigen Rhythmus entspannten sich die Kleinen.

Viel später kehrte Hans mit seinen Eltern, rechts und links fest untergehakt, in die Stube zurück. Die beiden waren nass bis auf die Haut und am Ende ihrer Kräfte. Die anderen Gestrandeten, die sich mithilfe des Alkohols inzwischen gestärkt und beruhigt hatten, packten mit an und halfen den zitternden Gestalten aus ihrer feuchten Kleidung heraus und unter wärmende Decken.

„Wie es aussieht, kommen wir hier in diesem Haus noch einmal davon“, erklärte Ingers Vater zuversichtlich, als sich die Reste aus der Schnapsflasche wohlig warm in seinem Innenleben verteilten. „Wie gut, dass wir so weit oben auf der Insel wohnen. Außerdem haben wir letztes Jahr das Dach neu gedeckt und gegen Stürme gut befestigt. Es scheint standzuhalten. Ja, ich glaube, hier sind wir alle sicher.“

Der Orkan wütete mehrere Tage. Als er abflaute, war die Insel auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. Viele Häuser standen bis zum Dach im Wasser oder waren gar nicht mehr zu sehen. Die Hannibals und ihre Nachbarn rundherum hatten Glück gehabt, doch beinahe die Hälfte der Insulaner war obdachlos. Drei von ihnen hatten ihr Leben verloren. Von einem Fischer, der spät abends noch einmal losgezogen war, um Gerätschaften zu retten, fehlte jede Spur.

Als sich das Meer langsam wieder in sein ursprüngliches Bett im Kleinen Belt zurückzog, besichtigten die Aaröer die Schäden. Viele Wiesen, Äcker und Strände glichen einem Schlachtfeld. Zersplittertes Holz, Balken, Überreste von Dächern und zerschellten Booten bedeckten sie in einem wüsten Durcheinander, zusammen mit allerhand Haushaltsdingen und Fischerei-Gerätschaften.

„Schlimmer kann es bei den Düppeler Schanzen damals auch nicht ausgesehen haben!“, bemerkte Duus, der Schmied. „Was für ein Bild des Jammers!“

Von den schiefen Fischerhütten am Hafen war nichts übriggeblieben. Die Bark Christine Marie lag leckgeschlagen auf einem Granitfelsen vor einer Düne; in der Hafenbucht dahinter hing der Bootsanleger zerborsten und schräg zwischen den Pfählen. Ein vergrabenes Moor war zu einem Salzwassersee vollgelaufen, und die Flut hatte eine große Landzunge ganz mit sich fortgerissen.

Clausen, ein Gutsbesitzer, hockte mit krummen Rücken auf einem Mauerrest und ruderte verzweifelt mit den Armen.

„Mein bestes Land ist überspült“, jammerte er. „Das ist nun auf viele Jahre wertlos für den Ackerbau! Und mein Heim ist auch überschwemmt. Ich bin ruiniert!“

Auf dem Weg zur Hafenbucht lief Inger an ihm vorbei. Immer noch hingen die Kinder wie die Kletten an ihr und wollten Geschichten hören.

„Nochmal die vom hässlichen Entlein. Bitte, bitte!“

Gerümpel steckte vor ihnen halb versackt in Sand und Moor.

Hans Hannibal zerrte an einem Balken. „Der ist noch brauchbar. Pack mal mit an, Sören“, rief er. „Die Holzpfosten stapeln wir am besten hinten am Weg auf.“

Alle Insulaner, Frauen, Männer und Kinder machten sich ans Werk, ihre Insel wieder instand zu setzen. Der Widerstand gegen die Preußen, die Gründung des Sprachvereins und der Unterricht des Wanderlehrers mussten warten.

Im Alter von siebzehn Jahren kam Inger Hannibal endlich in den Genuss von Abendkursen in dänischer Sprache und Kultur.

„Um 750 nach Christus erschienen die Wikinger auf der Weltbühne“, begann der Wanderlehrer, Herr Ingwersen seinen Geschichtsunterricht auf Aarö. Sein abgetragener Gehrock hing schlotternd über seinen hageren Schultern wie über einer Stuhllehne, wohl weil sein Gehalt so mickrig war. Dafür beeindruckte seine Begeisterung für die dänische Sache umso mehr. Anschaulich erzählte er seinen jüngeren und älteren Schülern von dem handwerklichen Geschick der Nordmänner und von ihren seemännischen Fähigkeiten.

„Sie legten den Grundstein für Dänemarks mittelalterliches Königreich. Es heißt: schon die Wikinger hissten als Fahne ein rotes Tuch, das sie Danebrog nannten. “

Wenn gerade kein preußischer Aufpasser den Unterricht überwachte, erzählte Ingwersen mehr von Dänemarks legendärer Flagge und ließ die Schüler ausgiebig die Nationalhymne singen. Dazu erhoben sich alle ehrfürchtig von ihren Bänken, legten die rechte Hand auf ihre Brust, dorthin wo sie das Herz vermuteten, und sangen inbrünstig:

„Der er et yndigt land, det står med brede bøge nær salten østerstrand. Det bugter sig i bakke, dal, det hedder gamle Danmark og det er Frejas sal… [Es liegt ein lieblich Land im Schatten breiter Buchen am salz'gen Ostseestrand. An Hügelwellen träumt's, im Tal, Alt-Dänemark, so heißt es und ist der Freya Saal…]“

Zu der rot-weißen Fahne, von der ihr Lehrer immer heimlich ein Exemplar in Kleinformat bei sich trug, gab es auch eine herzergreifende Legende.

„Am 15. Juni 1219 kämpfte König Waldemar II in der Schlacht von Tallinn gegen die heidnischen Esten. Aber das Kriegsglück hatte er lange nicht auf seine Seite bringen können. Doch dann…“, der Lehrer hob theatralisch die Hände über den Kopf und blickte in die Ferne, als sähe er dort das blutige Schlachtengetümmel, „…dann, als alles schon verloren schien, schwebte plötzlich der Danebrog vom Himmel herab und vernichtete die Heiden.“ Wie schade, dass er gegen die Preußen keine ähnliche Wirkung entfaltet hatte.

In den folgenden Monaten führte er seine Schüler kreuz und quer durch die dänisch-europäische Historie. Inger liebte diesen neuen Unterricht, denn der Wanderlehrer konnte wunderbare Geschichten erzählen von stolzen Herrschern, von blutrünstigen Intrigen und grausamen Schlachten, aber auch von ehrgeizigen Prinzen, liebreizenden Prinzessinnen und von der Liebe.

„Sven Estridsson verheiratete seine Tochter Sigrid mit dem slawischen Fürsten Gottschalk, der an der Elbe herrschte. Eines Tages jedoch…“, der Lehrer schlug einen geheimnisvollen Ton an, „…im Jahr 1066 erhoben sich heidnische Slawenstämme, die sich Obriten nannten, gegen die Christen im Land. Priester, Bischöfe und der Fürst selbst wurden hinterrücks ermordet.“

Die Schüler hörten gebannt zu und genossen schaudernd die blutige Kulisse, die Herr Ingwersen vor ihnen ausbreitete.

„Die schöne Fürstin Sigrid und ihr Sohn Heinrich wurden bei Eiseskälte splitterfasernackt aus dem Palast gejagt. …“

Nackt?! – Einige der jungen Mädchen pressten erschrocken die Hand vor den Mund oder wurden bei dem Gedanken rot wie Krebsschalen. Die Burschen auf der anderen Seite des Klassenzimmers starrten Löcher in die Luft und begannen zu schwitzen.

„Mutter und Sohn schlugen sich bis nach Dänemark durch, während die heidnischen Slawen Hamburg und Holstein verwüsteten. Danach zerstörten sie auch noch Haithabu, die bedeutende Wikingersiedlung an der Schlei, und zwar für immer und ewig. Ja, zimperlich waren sie nicht. Doch das war noch nicht alles.“

Der Lehrer machte eine bedeutungsvolle Pause, bis er wieder die volle Aufmerksamkeit seiner Schüler errang.

„1093 kehrte Heinrich, der Sohn von Gottschalk und Sigrid, mit einer dänischen Flotte in das einstige Fürstentum seiner Eltern an der Elbe zurück. Unterwegs überfiel er Oldenburg und noch ein paar Städte in Mecklenburg und zwang den heidnischen Fürsten Cruto, ihm einen Teil des Landes zurückzugeben. Dieser Fürst Cruto war schon recht betagt. Aber er besaß eine wunderschöne junge Gattin namens Slawina. Die liebreizende Frau verguckte sich sofort in den jungen Heinrich und ließ kurzerhand ihren Ehemann ermorden.“

Die Schüler hingen ihrem Lehrer an den Lippen.

„Danach heirateten Slawina und Heinrich, und sie herrschten ein Vierteljahrhundert lang glücklich und zufrieden über alle obotritischen Stämme. Es gelang Heinrich in seinen weiteren Feldzügen sogar, sein Herrschaftsgebiet bis an die Oder und die Havel auszuweiten. Ein mächtiges Reich entstand dadurch zwischen Dänemark, Deutschland und Polen“, beendete der Wanderlehrer seinen Unterricht für heute.

Alle Schüler waren sich einig: Herr Ingwersens Geschichtsstunden waren ebenso spannend wie die Märchen von Hans Christian Andersen.

Lassen

1879 – 1893

„Der Satan offenbart sich uns in vielerlei Gestalt“, erinnerte Pastor Tietje seine Schäfchen in der Kirche von Ösby und hob mahnend den Zeigefinger. Inger hockte, wie immer an Sonntagen, auf der Kirchenbank und brütete vor sich hin. Tietjes Predigten gegen die Unzucht und den Alkohol rauschten an ihr vorbei, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Von ihren eigenen Gedanken waren die Worte so weit entfernt wie der Mond. Seit sie ihre Abendschulbildung mit zwanzig Jahren abgeschlossen hatte, ergriff eine seltsame Unruhe von ihr Besitz.

„Was will ich nun eigentlich mit meinem Leben anfangen?“, fragte sie sich. Die jungen Männer hatten es viel leichter. Sie heuerten auf Schiffen an und segelten über die sieben Weltmeere zu anderen Kontinenten, oder sie suchten sich irgendwo einen Meister, um ein Handwerk zu erlernen. Ähnliche Zukunftsaussichten standen jungen Frauen nicht offen. Einigen gelang es, auf größeren Gütern eine Anstellung zu finden, die übrigen wohnten weiter bei den Eltern und harrten der Dinge. Beides gefiel Inger nicht.

Eigentlich blieb ihr nur eins: Heiraten! Doch wen? Es mangelte entschieden an Bewerbern, denn die jungen Männer gingen in Scharen über die Grenze nach Dänemark, um der preußischen Militärpflicht zu entfliehen.

Die Orgel stimmte eine getragene Melodie an. Viele Gemeindemitglieder erhoben sich, um das Abendmahl zu empfangen. Inger griff zum Gesangbuch.

Musik liebte sie sehr, vor allem, wenn sie dazu tanzen durfte. Berauschend fühlte sich das dann an, so als würde sie sich frei wie ein Vogel hoch hinauf in die Lüfte schwingen. Die Tänze zu den Dorffesten krönten ihr Leben. Eigentlich war es nur mit Tänzen zu ertragen, wenn man von den Büchern aus der Volksbücherei und der Tortenbäckerei einmal absah.