Nie wieder Krieg - Jutta Winter - E-Book

Nie wieder Krieg E-Book

Jutta Winter

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Beschreibung

Die Schrecken des Ersten Weltkriegs zwingen Constanze Hallgarten, aus ihrem sorgenfreien Leben im Münchner Nobelviertel Bogenhausen auszubrechen. Standhaft weigert sie sich, "in der Herde mitzulaufen und sich gedankenlos Traditionen unterzuordnen". Als engagierte Pazifistin schwimmt sie konsequent gegen den gesellschaftlichen Mainstream. Nach ihrer Flucht aus Hitler-Deutschland und einem gefahrvollen Leben im Exil reaktiviert sie nach dem Krieg die deutschen Friedensfrauen, kämpft gegen ABC- Waffen und Mutlosigkeit und wird zur Vorreiterin des gesell-schaftlichen Umbruchs der 60er Jahre. In einer Rahmengeschichte führt der historische Roman von den Weltkriegen in die konfliktreiche Gegenwart.

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Die ersten dreißig Lebensjahre der Münchnerin Constanze Hallgarten verlaufen unspektakulär: Heirat, Kinder, ein standesgemäßes Gesellschaftsleben. Erst die Schrecken des Ersten Weltkriegs zwingen sie, aus ihrem privilegiertem Leben auszubrechen. Fortan weigert sie sich standhaft, „in der Herde mitzulaufen, sich gedankenlos Traditionen unterzuordnen“ und schwimmt als engagierte Pazifistin gegen den gesellschaftlichen Mainstream. Nach ihrer Flucht aus Hitler-Deutschland und einem gefahrvollen Leben im Exil reaktiviert sie die deutschen Friedensfrauen, kämpft gegen ABC- Waffen und Mutlosigkeit und wird zur Vorreiterin des gesellschaftlichen Umbruchs der 60er Jahre.

Jutta Winter (*1955) studierte Kunst, Erziehungswissenschaften und Psychologie. Als Entwicklungshelferin bereiste sie Ostafrika und verbrachte weitere Jahre in Mexiko. Ab 1985 arbeitete sie an einer psychologischen Beratungsstelle und an Pflegefachschulen. Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer beruflichen Tätigkeit war die Biographiearbeit. Diesem Gebiet widmet sie sich inzwischen literarisch.

Im BoD-Verlag außerdem erschienen:

„Wir haben es wieder zu etwas gebracht – Von Neuanfängen und Altlasten“, „Regen auf dem Jakobsweg“

„Die Sonnenstürmerin – Anita Augspurg streitet für Frauenrechte und Frieden“ und „Ingers Sahneschnitten“

Allen Mitmenschen gewidmet, die sich gegen Fanatismus und Faschismus engagieren gegen Gleichgültigkeit und gegen Dummheit

Inhaltsverzeichnis

Der Krieg im Kopf

Im Herzogpark

Heran, heran, ihr Schwestern all umher

…als wär‘s ein Stück von mir…

Dotschland und der Friedenswille

Liebet Eure Feinde!

Revolution und Gegenrevolution

Frieden á la Zürich und Versailles

Säbelrasseln

Aufrüstung

Die Zwanziger – leicht golden

Bonn, 10. 10. 1981

Weltabrüstung oder Weltuntergang

Abschiede

Unter dem Schwert des Damokles

Wehret den Anfängen!

Die Friedensbewegung

Immer wieder Krieg

Glossar

Quellen

Danke …

Rückmeldungen

Der Krieg im Kopf

Ein Vorwort

Meine Mutter häufelte Kartoffelbrei auf den Teller und schaufelte Spinat daneben. Ihre steife Haltung angesichts meiner zusammengekniffenen Lippen war die Ouvertüre zu Arien über den Hunger, denn am Esstisch hatte der Krieg einen Stammplatz.

„Der Hunger damals! Wer den nicht kennt, kann sich das nicht vorstellen. Das hier wäre ein Festessen gewesen.“ Spiegeleier glitten aus der Pfanne auf die Teller. „In Königsberg sind die Leute in den Straßen verhungert. Und im Krankenhaus gab es nichts als dünne Wassersuppe. Wir Schwestern waren alle nur noch Gerippe.“

„Was auf den Tisch kommt, wird gegessen! Sonst ist das eine Sünde! Denk an die hungrigen Kinder in der Welt!“ Stets unterstützte mein Vater die mütterlichen Erziehungsmaßnahmen. Manchmal setzte er noch einen drauf: „Vor lauter Hunger haben die Soldaten im Krieg auch schon mal kleine Kinder gegessen, wenn sie welche fanden! Ja, so schrecklich war der Hunger im Krieg!“

Nachts huschten dann hungrige Monstermänner mit großen Zähnen durch meine Alpträume und suchten nach mir.

Im Kopf meiner Mutter saß der letzte Weltkrieg fest wie zwischen eisernen Klammern. Wenn sie anfing, davon zu erzählen, schien sie unnahbar, ihre Wangen glühten, ihre Augen schauten nach innen. Immer wieder tastete sie sich durch ihre Erinnerungen, so wie Tiere ihre Wunden lecken, damit sie heilen. Aber die Wunden meiner Mutter heilten nie.

Den Bombenhagel im Ohr, jaulendes Pfeifen, dumpfe Einschläge. Pausenlos. Nach ihren Beschreibungen sah ich aufgerissene Häuser vor mir, angekokelte Fensterlöcher, rauchende Trümmerwüsten. Nur der Turm des Königsberger Doms ragte heraus, wie ein erhobener Zeigefinger, der mahnte: „Nie wieder Krieg!“

Die bettlägerigen Patienten des Krankenhauses mussten auf Tragen in die Schutzräume im Keller hinunter bugsiert werden. Treppe für Treppe. Nacht für Nacht. Gebetsmühlenartig die Erzählungen von den Strapazen. Frauen wurden halbtot eingeliefert, Kinder, staubig, mit Gliedern dünn wie Spinnenbeine strandeten im Krankenhaus. Ihre Eltern hatten sie in den Trümmern verloren. Kinder, die aussahen wie Greise, erstarrt, verstummt. In weit aufgerissenen Augen spiegelte sich das Grauen.

Dann die Flucht auf einem Schiff über die Ostsee. Die verzweifelten Hilferufe, als das andere Schiff von einem Torpedo versenkt wurde. Der eisige Wind trug die Schreie weit über das Meer. Ein Echo, das lebenslang gegen die Felswände des mütterlichen Gedächtnisses brandete und keine Ruhe fand.

Mit den Erzählungen meiner Mutter pflügte der Krieg durch meine Kindheit.

Als ich älter war, hielt ich mir die Ohren zu und sperrte den Krieg aus meinem Leben aus. „Das will ich gar nicht hören!“, schrie ich. Das klappte ganz gut.

Aber als ich zehn Jahre alt wurde, holte mich der Krieg unerwartet wieder ein.

„Hier bei uns in München gab es früher besonders viele mutige Kämpferinnen gegen Hitler und den Krieg. Auch hier in Bogenhausen“, informierte mich meine Cousine Corinna bei einem unserer Verwandtenbesuche. Sie war etwas älter als ich und seit kurzem Gymnasiastin. Wahrscheinlich hielt sie sich deshalb kerzengerade, als trüge sie eine Krone auf dem Kopf.

„Die Villa, in der mein Vater arbeitet, gehörte früher Constanze Hallgarten. Die war mal sehr berühmt. Fast so wie Sophie Scholl. Kennst du die?“

Verlegen nickte ich, obwohl es nicht stimmte. Intensiv betrachtete ich meine Schuhe, als wären sie der Hauptgewinn einer Tombola.

„Die hat auch gegen den Krieg gekämpft und wurde deswegen zum Tode verurteilt. Hier in München wohnen immer noch viele berühmte Leute, aber mehr Sportler und Stars und so.“

Ein Star war die Gymnasiastin für mich auch. Sie konnte Pirouetten auf ihren Rollschuhen drehen und auf dem Spielplatzreck um den Holm herumwirbeln wie im Schleudergang der Waschmaschine. Phänomenal!

„Jedenfalls eines weiß ich genau“, fuhr Corinna fort. „Wenn wir Krieg hätten, dann würde ich auch dagegen ankämpfen, so wie diese Constanze Hallgarten. Vorgestern kam ein Artikel über sie in der Süddeutschen. Hat mein Vater mir gezeigt.“

Eifrig sprang sie auf, rannte zum Zeitungsständer neben dem Fernsehsessel und begann darin herumzustöbern.

„Hier, ich hab’s.“ Die Cousine wedelte mit einem Blatt vor meinem Gesicht. Eine steinalte Dame mit weißem Haar und dicken Augenringen blickte mich an. „Kämpferin gegen den Krieg“, lautete die Überschrift.

„In meinem Leben habe ich immer alles von mir gegeben, was ich dachte und wollte“, hatte sie zu Protokoll gegeben. „Warum tun andere das heute nicht? Warum diese Passivität in unserem Land? Warum diese Angst vor Entschlüssen, vor dem Mitdenken? Kein Wunder, dass wir heute aufs Neue und tiefer, denn je in Aufrüstung und Militarismus stecken.“

So viel Kampfesgeist beeindruckte mich. Würde ich mich trauen, gegen den Krieg zu sein, wenn mir der Gegenwind dabei lebensgefährlich ins Gesicht blies? Sicher war ich mir da nicht.

Also durfte es gar nicht erst so weit kommen! So viel stand fest!

Doch wie verhindert man einen Krieg? All die Münchner Friedensaktivistinnen hatten ihn nicht aufhalten können, diesen Krieg, der noch immer im Kopf meiner Mutter wütete.

Mit zwölf marschierte ich auf meiner ersten Friedensdemo durch meine heimatliche Kleinstadt. Danach sammelte ich Unterschriften gegen Ungerechtigkeiten, klapperte in der Fußgängerzone mit einer Sammelbüchse für Kriegsopfer oder bastelte für einen Basar gegen den Hunger in Biafra, ohne dass sich irgendetwas am Zustand der Welt änderte.

Erst viel, viel später kam ich auf Constanze Hallgarten zurück. Wie war sie eigentlich Pazifistin geworden? fragte ich mich. Was hatte sie alles unternommen? Und was kann ich von ihr lernen?

Im Herzogpark

Im Frühjahr 1911 lobte die Zeitschrift „Kunst“ die neue Villa im ehemaligen Herzogpark Max von Bayerns als „gelungene Verbindung von künstlerischem Gestaltungswillen des Baumeisters und den individuellen Ansprüchen des Bauherrn zu einer harmonischen Wohnatmosphäre“. Dabei deckten sich die Ansprüche des Bauherrn, Dr. jur. et phil. Robert Hallgarten, eines deutschamerikanischen Privatgelehrten und Vorsitzenden von allerhand Vereinigungen, vollkommen mit denen der anderen Betuchten des Münchner Nobelviertels Bogenhausen. Immerhin verfügt der künstlerisch anspruchsvolle Neubau über einundzwanzig Zimmer – einige davon erreichen beinah die Ausmaße eines Thronsaals. Sehr viel kleinere Kammern im Untergeschoss können ein Großaufgebot von Bediensteten beherbergen, doch das war selbstverständlich nicht der Rede wert. Auch ein Telefon gehörte in einen gehobenen Haushalt ebenso wie fließend Wasser und Elektrizität. Beeindruckend dagegen die Bibliothek, die mehrere tausend Bände umfasste, ein Musikzimmer, in dem niveauvolle Hauskonzerte stattfanden, und gleich zwei komfortable Bäder.

„Wieviel mag der Prachtbau dieses renommierten Architekten wohl gekostet haben?“ fragten sich die Bogenhausener, die davor stehenblieben.

Es musste ein schönes Sümmchen gewesen sein, wenn schon allein ein Quadratmeter Bauland in der herzoglichen Lage mit fünfundzwanzig Mark zu Buche schlug. Getratscht wurde zudem ausgiebig darüber, woher das Vermögen des Hausherrn wohl stammen mochte.

„Ein Vorfahre soll mit dem Sklavenhandel in Amerika unermessliche Reichtümer angehäuft haben“, verbreiteten die Gerüchte, die bei der benachbarten Baronin von Gumppenberg auf weit geöffnete Ohren stießen. Von Neureichen ohne klangvolles „Von“ oder „Zu“ im Namen hielt sie nicht viel und lud sie nicht in ihren gesellschaftlichen Salon. Ihr Gemahl, der Hofund Forstmeister des Herzogs Karl Theodor von Bayern, schien nicht einmal zu bemerken, dass es eine neue Villa in der Nachbarschaft gab, denn mit Gamsbart am Hut ausstaffiert und einem Schweißhund an seiner Seite, fuhr er beharrlich fort, in den Gartenanlagen Hasen abzuschießen.

Hohe Fenster lassen die Räumlichkeiten der Hallgartenvilla Luft und Licht atmen. Sie geben den Blick zum Garten frei, der mit hohen Linden, Ulmen und Kastanien bestanden ist und zur Föhringer Allee und dem Isarufer dahinter leicht abfällt. Nicht selten wird dort der Prinzregent Luitpold mit Zylinder auf dem Wittelsbacher Haupt und einer schneeweißen Bartpracht in seiner offenen Equipage gesichtet. Von der anderen Flussseite winken die Baumgipfel des Englischen Gartens herüber.

An diesem Nachmittag tauchte die Märzsonne die Holztäfelung des Musikzimmers, das Steinway Klavier und zwei Frauen in ein warmes Licht. Die Hausherrin und ihre Mutter hatten es sich nach einer ausgiebigen Besichtigung des Anwesens bei einer Tasse Kaffee am runden Tischchen gemütlich gemacht. Nach dem Tod ihres Ehemanns war Philippine Wolff- Arndt*, die ältere der beiden, das erste Mal seit langer Zeit wieder aus Leipzig angereist. Trauer hatte die Falten ihres Gesichts vertieft. Blass sah sie aus, fand Constanze Hallgarten, ihre Tochter, doch Philippine war energiegeladen wie eh und je.

„Vielleicht verlangt die Position deines Mannes und sein ererbtes Vermögen ja ein derartig herrschaftliches Gebäude!“

Die Mutter musterte Constanze eingehend und widerstand der Versuchung, den Skizzenblock aus der Tasche zu ziehen. Portraits waren ihre Spezialität. Mit der zierlichen Figur und den feinen Gesichtszügen, eingerahmt von dunklem Haar, wirkte ihre Tochter immer noch frisch und jugendlich. Spuren ihrer dreißig Lebensjahre waren in ihrem Gesicht nicht zu entdecken.

„Aber fühlst du dich in diesen Sälen wirklich behaglich? Mir kommt es ein wenig vor wie ein goldener Käfig.“

„Du findest das Haus zu protzig?“ Constanze stellte die Kaffeetasse so langsam und konzentriert zurück auf den Teller, als handle es sich um ein rohes Ei. „Aber nein, ein goldener Käfig ist das hier keineswegs“, entschied sie nach einer Weile.

„Robert stellt mir stets ein großzügiges Taschengeld zur freien Verfügung und Hauspersonal. Unser Kindermädchen beispielsweise, das Fräulein Essert, entlastet mich sehr – die Jungen nennen sie ‚Löffel‘ wegen ihrer Lebertran-Gaben. Aber sie lieben sie heiß und innig. Also habe ich reichlich Freizeit, zu tun und zu lassen, was ich will.“

„Und was fängst du damit an?“ erkundigte sich die Ältere.

„Oh, eine Menge! München hat ein unglaublich reiches Kul-turleben, wie du weißt. Hier gibt es mehr Künstler und Schriftsteller als irgendwo sonst.“ Bei diesem Thema bewegte sich Constanze auf sicherem Boden. Ihre Augen leuchteten. „Ständig werden Ausstellungen eröffnet und zu Konzerten und Theateraufführungen geladen. Es gibt rauschende Künstlerfeste, Maskenbälle zum Karneval, die Opernfestspiele. Dazu all die Musikabende hier im Haus und die gesellschaftlichen Salons.“

Immer mehr geriet sie ins Schwärmen. „In den zehn Jahren, die wir schon in München leben, habe ich unglaublich viele Leute von Rang und Namen kennengelernt. Damit meine ich nicht die schwerreichen Bierbarone, sondern die klugen Köpfe. Die Professoren Brentano und Lotz zum Beispiel, die Literaten von Heigel, Muncker, von der Leyen. Mit ihnen verkehren wir so ungezwungen wie mit alten Freunden“.

“Sie stammen aus den wissenschaftlichen Kreisen deines Mannes?“ Philippine studierte die Mimik ihrer Tochter über den Rand ihrer Tasse hinweg.

„Nicht nur. Auch interessante Schriftsteller sind unseren Einladungen gefolgt, Gerhard Hauptmann, Ricarda Huch, Rainer Maria Rilke, Ludwig Thoma, die Manns, Hugo von Hofmannsthal…“, zählte Constanze auf. „Mit Elsa Bruckmann, der Ehefrau des Kunstverlegers – übrigens eine gebürtige Prinzessin Cantacuzène – bin ich sogar per du. Ebenso mit Mimi Pfitzner, der Ehefrau des Opernkomponisten. Außerdem weißt du ja, dass die Ganghofers zu unseren engsten Freunden zählen. Ach, ihre Feste sind so herrlich originell. Oft verkleiden wir uns und improvisieren irgendetwas Klassisches. Und jedes Jahr im Sommer begleiten wir sie zu ihrem Jagdhaus Hubertus in Tirol.“

Ihr Blick wanderte zurück zur Mutter. „Rauschende Feste, opulente Gesellschaften – das klingt für dich wohl alles recht oberflächlich, nicht wahr?“

Die Ältere suchte nach Worten. „Versteh mich nicht falsch. Das Leben in dieser Stadt voller Künstler erscheint auch mir als Malerin reizvoll. Viele der Kunstschulen hier lehren eine völlig neue Art des Betrachtens und des Ausdrucks. Das ist überaus faszinierend!“ Langsam rührte sie in ihrem Kaffee. „Allerdings finde ich dich in all dieser Pracht hier nicht recht wieder. Gut, du spielst fleißig Violine –die Guaneri, dieses herrliche Instrument, hast du von deinem Großvater geerbt und das Talent von deinem Vater. Ich bin sehr froh, dass du es nutzt. Aber deine größte Begabung liegt doch in deinem Gerechtigkeitsempfinden und deiner Menschenliebe. Und natürlich in deinem scharfen Verstand. Wie ist es um dein kritisches Denken bestellt? Ist das zusammen mit deinen Jugendträumen in Leipzig geblieben?“

Nachdenklich betrachtete Constanze die Schale mit dem Konfekt. Keine der Köstlichkeiten lockten sie.

„Nein, dieser Teil ist nicht verschwunden“, antwortete sie langsam. „Ich habe immer noch Augen im Kopf und sehe das Elend in den Herbergsvierteln. Die meisten Einwohner dieser schönen Stadt sind bettelarm und hausen in drangvoller Enge, oft noch ohne Kanalisation, dafür aber mit jeder Menge Schmutz und Ungeziefer. Der Gestank ist in der ganzen Stadt wahrnehmbar, aber die Leute haben sich einfach daran gewöhnt. Ich weiß auch, dass viele Arbeitslose ihren Nachwuchs nicht satt bekommen. Viel zu oft sterben Kinder, besonders die kleinsten. Furchtbar finde ich das! Und all dieses Elend ist nur ein paar Steinwürfe von hier entfernt. Natürlich bedrückt mich das alles.“

Herausfordernd sah sie ihre Mutter an. „Aber verrate mir, was ich dagegen tun kann. Robert unterstützt Wohlfahrtseinrichtungen, doch damit ändert sich nichts. Mir erscheint das alles wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein paar Almosen reichen einfach nicht aus! Politisch müsste sich etwas ändern, aber die Arbeiterparteien legen keinen Wert auf weibliche Mitstreiter, schon gar nicht aus meinem Umfeld. Du bist doch erste Vorsitzende in einem Künstlerverein in Leipzig…“

„Und in einem Frauenstimmrechtsverein!“

„Gut, auch in einem Frauenstimmrechtsverein. Was unternehmt ihr denn so gegen das Unrecht? Und mit welchem Erfolg?“

Bevor Philippine antworten konnte, polterte es im Flur. „Löffel“, das Kinderfräulein, kehrte von ihrem Ausflug zurück mit Ricki, dem jüngeren der beiden Enkel im Schlepptau. Beim Anblick des seltenen Besuchs stürmte der Sechsjährige ins Zimmer. „Großmama!“

Großzügig ließ er sich umarmen und drücken.

„Ich war beim Kaspar Larifari!“ rief er begeistert und erzählte von den haarsträubenden Bühnen-Abenteuern, deren Zeuge er soeben geworden war.

Constanze lächelte und orderte heißen Kakao. Als er dampfend auf dem Tisch stand, traf Wolfgang ein, ihr zehnjähriger Sprössling. Im Jahr zuvor hatte er die Aufnahmeprüfung für das „Königliche Wilhelmsgymnasium“ bestanden und glänzte nun mit schulischen Leistungen. Doch seine lebhafte Unbefangenheit hatte er darüber nicht verloren. Herzlich umarmte er seine Großmutter.

Sehr viel steifer folgten ihm zwei seiner Mitschüler ins Musikzimmer.

Constanze betrachtete die beiden Begleiter ihres Sohnes stirnrunzelnd. Der eine war lang und kantig, der andere klein, pummelig und trug eine goldene Brille in seinem milchigen Gesicht. Seltsam unbeholfen wirkte er.

„Meine Verehrung. Heinrich Himmler“, stellte er sich vor und beugte sich steif wie ein Zollstock zu einem Diener herunter.

Mutter und Tochter tauschten einen verwunderten Blick.

„Zu unserem Besuch heute kommen deine Freunde etwas ungelegen“, erklärte Constanze ihrem Sohn und versuchte, nicht ärgerlich zu klingen.

„Sie begleiten mich nicht zum Vergnügen“, informierte Wolfgang seine Familie und setzte eine feierliche Miene auf. „Wir müssen heute Nachmittag unbedingt für die königlichen Geburtstagsfeierlichkeiten proben, denn wir wurden als Vertreter unserer Schule auserwählt. “

„Welche Ehre“, murmelte Constanze ergeben. Der neunzigste Geburtstag des Prinzregenten Luitpold beschäftigte die Gemüter der Stadt seit Wochen.

„Wir sollen ein langes Gedicht aufsagen, das die drei Hauptteile Bayerns vorstellt“, fuhr er fort. „Ferdinand von Soden“, er deutete auf den kantigen Langen. „steht für Franken, weil er von dort kommt. Heinrich Himmler für Bayern, und ich für die Pfalz.“

„Aber du stammst doch gar nicht aus der Pfalz.“

„Vaters Familie aber schon, bevor sie nach Amerika ausgewandert ist, oder nicht?“

Philippine Wolff-Arndt lachte. „Wir kommen alle aus Frankfurt. Bis zur Pfalz ist es da nicht so weit. Gut, das können wir großzügig durchgehen lassen. Geht nur proben. Unterdessen kann mir dein Bruder seine Bilder zeigen.“

Sie wendete sich Ricki zu. „Sie sollen recht hübsch sein, sagt deine Mutter. Es würde mich freuen, wenn einer aus der Familie etwas von mir geerbt hätte.“

Zum Abendessen fand sich auch der Herr des Hauses im Speisezimmer ein. Er hatte Georg Hirth, den Herausgeber der „Münchner Neuesten Nachrichten“ als Gast mitgebracht. Den ganzen Nachmittag hatten sie als Sachverständige in einem Gerichtssaal verbracht und waren nun bester Stimmung.

„Ludwig hat heute wieder eine bühnenreife Vorstellung abgeliefert“, erzählte er und griff zur Serviette. „Was für eine Gaudi!“

„Er meint den Ganghofer“, erklärte Constanze ihrer Mutter und wandte sich an die Herren. „Ging es wieder um Ludwig Thomas Satiren im Simplizissimus?“

„Natürlich. Zur Abwechslung hat er sich nicht mit der Obrigkeit angelegt, sondern mit den Pfaffen.“ Robert lachte und ließ sich Wein einschenken. „Die Geistlichkeit ist genauso humorlos wie die preußischen Beamten.“

Abwechselnd erzählten die Herren, wie Ganghofer als Hauptsachverständiger bei seinem Plädoyer vorgegangen war:

„Wenn Sie zu einem gerechten Urteil kommen wollen“, hatte der den Geschworenen erklärt, “dann sollten Sie dem einfachen Mann aus dem Volk zuhören!“ Zu dem Zweck hatte Ganghofer den umstrittenen Thoma-Text seinem Oberjäger Wilhelm vorgelegt. „Und wissen Sie, was der dazu gesagt hat?“, hatte Ganghofer die Geschworenen mit sanfter Stimme gefragt, um dann wie ein Donnerwetter die Antwort herauszubrüllen: „HIMMEL, HERRGOTT, SAXEN, DENEN HAT ER’S ABER HINGRIEBEN, DEN SAUBARTELN, DEN VERFLUCHTEN…“

Alle am Tisch bogen sich vor Lachen bis auf Louise Essert, das Kinderfräulein. Sie sah sich erschrocken zu ihren Schützlingen um, denen derbe Flüche aber offensichtlich gefielen. Philippine fischte nach einem Taschentuch, um die Tränen aus den Augen zu tupfen.

„Die Gerichtsverhandlungen mit Ludwig Thoma sind wahre Kabinettstücke“, erklärte Constanze ihrer Mutter, als sie wieder ruhig durchatmen konnte.

„Letztes Mal hat der Staatsanwalt ihm vorgeworfen, dass seine satirischen Artikel im Simplizissimus auch Kindern in die Hände fallen und sie verderben könnten.“ Der Zeitungsherausgeber zog eine weitere Anekdote aus seinem reichen Reservoir. „‚Meine Sachen schreib ich ja grad net für‘n Staatsanwalt sein Emil!“ hat der Thoma sich verteidigt. Ins Gefängnis musste er zwar trotzdem, aber der ‚Emil‘ des Staatsanwalts mit Schulranzen und Schiefertafel ist seitdem eine Glanznummer im Münchner Karneval.“

„Hat der Ganghofer die Geschworenen denn diesmal überzeugen können?“ fragte Constanze und fischte ein Stück Käse von einer silbernen Platte, auf der sich eine erlesene Auswahl gruppierte.

„Immerhin muss er diesmal nicht ins Gefängnis. Thoma ist mit einer Geldstrafe davongekommen, die ihm sicher nicht den Schlaf rauben wird.“

„Auf jeden Fall finde ich es gut, dass sich kritische Stimmen zu Wort melden!“, meinte Philippine nach dem Essen, als die Kinder die Tafel verlassen hatten und der Hausherr zur Zigarrenkiste griff. „Dafür, dass uns seit der Reichsgründung die Pressefreiheit garantiert ist, müssen wir doch erstaunlich viel Zensur erdulden.“

„Allerdings.“ Gern bediente sich der Gast bei den angebotenen Zigarren. „Die Obrigkeiten pflegen ihre Empfindlichkeiten und wittern überall Rebellion. Häufig ist das ein Eiertanz. Meine Redakteure können ein Lied davon singen.“

„Auch die Frauenpresse wird schikaniert.“ Constanzes Mutter ließ sich Wein nachschenken. „Mir scheint, die weibliche Hälfte der Bevölkerung lassen sie besonders ungern zu Wort kommen.“

Robert Hallgarten zündete sich eine Zigarre an, nachdem er sie sorgfältig angeschnitten hatte. „Nun, alles hat natürlich seine Grenzen.“

„Was denn für Grenzen?“ fragte Philippine. Ihr kämpferischer Unterton ließ Constanze aufhorchen. Die gute Stimmung am Tisch verflüchtigte sich.

„Einige der Frauen vertreten doch recht radikale Ideen wie den Eheboykott zu Beispiel. Solch einen Unsinn will kein vernünftiger Mensch lesen“, antwortete Georg Hirth an Roberts Stelle und blies genüsslich Rauchringe über den Tisch. „Was, bitte schön, gibt es für Frauen denn zu meckern? Seit ein paar Jahren ist ihnen gestattet, sich politisch in Vereinen zu organisieren. Sie treten öffentlich auf und sagen ihre Meinung. Sie dürfen doch fast alles. Was wollen sie denn noch?“

„Das Wahlrecht, zum Beispiel!“ Philippine sah ihm herausfordernd in die Augen.

Ihr Schwiegersohn schüttelte den Kopf und versuchte begütigend auf seine Schwiegermutter einzureden, als habe er ein bockiges Kind vor sich. „Nehmen wir nur mal den Balkan als Beispiel. Bei den Spannungen dort haben unsere Volksvertreter doch alle Hände voll zu tun, den Frieden in Europa zu wahren. Wenn sich da nun auch noch Frauen mit einmischen würden, wäre das Chaos perfekt.“

„Glauben Sie wirklich, dass dieses ständige Säbelrasseln der Preußen den Frieden sicherer macht?“ erwiderte seine Schwiegermutter ungehalten. „In unseren Frauenzeitschriften wird die immense Aufrüstung des Reiches mit Kriegsschiffen und immer neuen Waffen scharf kritisiert. Mir erscheinen die Argumente der Frauen viel vernünftiger als die der Männer.“

Der Zeitungsherausgeber sah sich gezwungen, deutlicher zu werden. „Frauen sind viel zu feinsinnig und gutmütig, um sich in dem knallharten Ringen der Politik zurechtzufinden. Das liegt nicht in ihrer Natur.“

„Sind Sie etwa der gleichen Ansicht wie dieser Gehirnforscher Möbius, der Frauen für unzurechnungsfähig und für geistig minderwertig hält?“

Bestürzt sah Constanze von einem zum anderen in der Tafelrunde, die immer heftiger stritten. Die Harmonie war dahin, und Georg Hirth verabschiedete sich bald mit einem vorgeschobenen Grund. Sie wusste nicht, auf wen sie ärgerlicher sein sollte, auf die Männer oder auf ihre Mutter.

Am nächsten Morgen schlug die Leipziger Mutter ihrer Tochter einen kleinen Ausflug vor.

„Du hast mich gestern nach der Arbeit meiner Frauenvereine gefragt“, erinnerte sie sie. „Deshalb möchte ich dich gern mit zwei Weggefährtinnen bekannt machen, die dir deine Fragen sicher beantworten können. Ich kenne sie von Vorträgen in Leipzig, aber eigentlich sind sie hier in München zuhause. Nur weiß ich nicht genau, wo.“

„Dann bestelle ich besser einen Wagen“, entschied Constanze und kurbelte am Wandtelefon. „Wer weiß, wo wir überall nach ihnen suchen müssen.“

Unterwegs erzählte ihre Mutter ihr von den Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg* und Lida Gustava Heymann*. „Die beiden haben reichsweit Stimmrechtsvereine gegründet und treten neben der politischen Mitbestimmung auch für Gleichstellung in Ehe und Familie ein. Und überhaupt für Frieden und Freiheit. Sie können dir erzählen, wie du für die Gerechtigkeit aktiv werden könntest. “

Im dichten Verkehr eingereiht, überquerten sie die Isarbrücke.

„Anita Augspurg ist die erste promovierte Juristin Deutschlands“, fuhr die Mutter fort. „Sie hat viel erreicht bei der Öffnung der Gymnasien, der Universitäten und der Berufswelt für Frauen.“ Ihre Stimme bekam einen schwärmerischen Klang. „Eine begnadete Rednerin ist sie; und sie schreibt wirklich höchst interessante Artikel in ihrer Zeitschrift.“

Philippine gab dem Fahrer ein Zeichen, anzuhalten. „Hier hat sie einmal als Fotografin angefangen.“ So, als sei sie nun Stadtführerin, deutete sie auf ein Gebäude, dessen Fassade ein überdimensionales Jugendstilkunstwerk darstellte. Das Relief eines Drachenleibs in türkisgrün und zyklam-violett bedeckte eine ganze Hauswand über den extravagant geschwungenen Parterrefenstern.

„Ach, das Atelier Elvira! Das kenne ich natürlich“, rief Constanze. „Die gesamte Münchner Gesellschaft lässt sich da ablichten, selbst die königliche Familie, obwohl die Fotografin als ein wenig verrufen gilt. Vielleicht auch gerade deswegen.“

„Frauenrechtlerinnen wird gern etwas angedichtet.“

Energisch schwang sich ihre Mutter aus dem Gefährt. „Die Fotografin weiß sicher, wo ihre ehemalige Geschäftspartnerin zu finden ist.“

Leider erfüllte sich diese Hoffnung nicht.

„Anita Augspurg und ihre Gefährtin bewirtschaften seit einigen Jahren zusammen einen Gutshof irgendwo in Oberbayern. Hier in München lassen sie sich nur selten blicken“, bedauerte die Fotografin, nachdem sie ein paar fein herausgeputzte Kinder und deren Mutter verabschiedet hatte. „Doch die beiden sind weiterhin in der Frauenrechtsbewegung aktiv und lassen keinen internationalen Kongress aus. Der nächste findet…“ sie blätterte in ihrem Kalender „… findet im nächsten Jahr hier in München statt.“

„Dann gehen wir da einfach hin!“ beschloss Philippine.

Heran, heran, ihr Schwestern all umher

„Die Bewegung hat das letzte Stadium erreicht“, verkündete die Rednerin im September 1912 auf dem Frauen-Stimmrechtskongress beim Großwirt in Schwabing so zuversichtlich, als gäbe es daran nicht den geringsten Zweifel. „Die Parlamente lachen nicht mehr über das Frauenwahlrecht, und Politiker beginnen, der Frage auszuweichen. Dies ist ein untrügliches Zeichen für den nahenden Sieg.“

Für diese Überzeugung konnte sie auf Erfolge verweisen: Als erstes Land hatte Neuseeland schon vor zwanzig Jahren das aktive Wahlrecht für Frauen eingeführt. Diesem Vorbild waren inzwischen acht Staaten im Westen der USA gefolgt. Das russische Großherzogtum Finnland zog vor sechs Jahren nach. In Preußen war vor vier Jahren immerhin das Vereinsverbot gefallen, das Frauen zuvor jegliche politische Aktivität untersagt hatte. Ein erster Schritt – der nächste schien in Sichtweite.

Die zahlreichen Zuhörerinnen ließen sich gern von diesem Optimismus anstecken, klatschten und jubelten. Auf ihren Sommerhüten wippten Schleifen und Seidenblumen fröhlich im Takt des feministischen Aufbruchs. Viele Frauen trugen weiße Kleider mit Schärpen oder Rosetten in grün-weiß-lila, den Farben der englischen Suffragetten. Ebenso wie die Gesichter strahlte die Sonne aus einem wolkenlosen Himmel.

Nach der Eröffnungsrede formierten sich die Frauen zu einem Zug durch die Straßen der bayrischen Hauptstadt. Einige schwenkten Banner, andere hielten Schilder in die Höhe und sangen frauenbewegte Hymnen:

„Deutschland, Deutschland über alles,

Wenn es auch die Frau befreit,

Ihr die Bürgerkrone bietet, folgend einer neuen Zeit…“

Ein Großaufgebot blumengeschmückter Landauer folgte dem Zug. Sogar Männer hatten sich eingereiht und bekräftigten die Parolen. Die Straßen entlang flankierten Zuschauer den Zug und winkten fröhlich, als defilierte ein Oktoberfestumzug an ihnen vorbei.

Eine weitere Gruppe von Frauen schmetterte beim Marschieren zur Melodie der Marseillaise:

„Heran, heran, ihr Schwestern all umher,

Der neuen Botschaft freudig lauscht.

Fühlt als rechtlos euch nicht mehr,

Unsrer Freiheit Banner rauscht!

Gleiches Recht für uns wie für euch,

So tönt unser siegender Ruf.

Der Gott, der die Menschen erschuf,

Der wollte sie aufrecht und gleich.

Die Frau – will werden frei! Die Frau – soll werden frei.

Voll Mut voran, die Stirne hoch, zerschellt das alte Joch!“

Constanze fühlte sich wie berauscht. Niemals zuvor hätte sie sich den Kampf gegen das Unrecht so heiter und mitreißend vorgestellt. Mit ihrer Mutter reihte sie sich in den Zug ein. Als junge Frauen Zettel mit dem Liedtext verteilten, sangen beide aus voller Kehle mit:

„Voran, voran, trotz Spott und Widerstand,

Wir kämpfen kühn, wir kämpfen heiß.

Tochterrecht im Vaterland, Bürgerrecht ist unser Preis!

Stehet fest im mutigen Ringen, steht treu und einig geschart;

Wir lassen uns von Macht nicht zwingen,

Wir sind nicht von minderer Art!

Das Recht – ist unser Hort, zu Recht – steht unser Wort,

Im freien Staat die Frau befreit, so siegt die Gerechtigkeit!“

Nach der Demonstration gelang es Philippine im Englischen Garten endlich, ihre Tochter den berühmten Frauenrechtlerinnen vorzustellen. In kleinen Gruppen strebten die Aktivistinnen zu den Tischen am Chinesischen Turm, um ihren Erfolg zu feiern.

Anita Augspurg war kleiner, als Constanze sich vorgestellt hatte, und ein wenig mollig, verfügte aber über eine natürliche Autorität, die ihre Größe mehr als wettmachte. Lida Heymann überragte sie mit ihrer kräftigen nordischen Statur und hielt sich wie ein Schutzengel an ihrer Seite. Beide waren in Suffragetten-Farben gekleidet und trugen mächtige weiße Hüte, unter denen kurzgeschnittene graue Haare hervorlugten. Anita Augspurgs Stimme klang warm und heiter in Constanzes Ohren, so als würde ein Streichquartett ein munteres Rondo spielen. Auf der Stelle hatte die Juristin sie damit erobert.

Nach der Begrüßung schlenderten sie zusammen zu Stehtischen, auf denen sie Stärkendes erwartete.

„Vollkommen überwältigt bin ich von dieser Demonstration“, schwärmte Constanze und griff zu einem Glas Limonade. „Sie hat mich restlos überzeugt. Diese fröhliche Art des Frauenkampfes spricht die Menschen sicher viel mehr an als mahnende oder grimmige Worte.“

„Der Ansicht sind wir auch“, antwortete Lida Heymann erfreut und schwenkte ein Glas Sekt. „Vor einigen Jahren haben wir diese Art der Überzeugungsarbeit bei den Suffragetten in London genossen. So etwas wollten wir unbedingt auch hier bei uns organisieren.“

„Leider hat es lange gedauert, bis wir die Behörden und die Polizei überzeugen konnten“, ergänzte Anita Augspurg. „Ich schätze, damit können wir viele neue Mitglieder für unseren Verein gewinnen. Wie ist das mit Ihnen?“ Sie wandte sich direkt an Constanze. „Möchten sie sich auch für das Frauenstimmrecht einsetzen?“

„Gern würde ich mich da nützlich machen“, antwortete sie vorsichtig. „Denn eins ist mir völlig klar: Frauen müssen sich in die Politik einmischen, sonst ändert sich nichts.“

Anita Augspurg nickte anerkennend, wurde aber von einer Gruppe Frauen abgelenkt, die ihr einen Blumenstrauß überreichen wollten. Danach rückte eine andere Delegation heran und drängte Constanze von ihrer Gesprächspartnerin weg.

Ihre Mutter hatte sich unterdessen in ein Gespräch mit einer Bekannten aus ihrem Künstlerinnenverein vertieft. So wanderte Constanze allein weiter und kam mit einer hochgewachsenen Frau namens Margarete Selenka* ins Gespräch.

„Nachwuchs können die Frauenvereine gut gebrauchen“, bestärkte die Hünin sie in ihren Plänen, aktiv zu werden. „Hier in München gibt es eine reiche Auswahl: den ‚Verein für Fraueninteressen‘, den ‚Frauenwohl-Verein‘‘“, zählte sie auf, „den Verein ‚Münchner Schriftstellerinnen‘, den ‚Bund deutscher Frauenvereine‘ oder sein radikaleres Gegenstück, den ‚Verband fortschrittlicher Frauenverbände‘ und den ‚Bund für Mutterschutz und Sexualreform‘. In den letzten beiden fühle ich mich recht wohl.“

Im weiteren Gespräch zeigte sich, dass die Dame ein aufregendes Leben hinter sich hatte. Jahrelang war sie als studierte Paläontologin, Anthropologin und Zoologin durch die ostasiatischen Länder gereist und hatte ihrem Wissenschaftler-Ehemann assistiert.

„Und so ein spannendes Leben haben Sie aufgegeben?“ fragte Constanze verwundert. „Warum?“

„Nach dem Tod meines Mannes habe ich seine Arbeit noch eine Weile fortgesetzt.“ Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. „Aber nun engagiere ich mich lieber hier in meiner Heimat. Das ist nicht weniger spannend als bei den Orang- Utans auf Borneo oder den Fossilien auf Java.“

Zwischen den vielen Hutkreationen entdeckte Constanze schließlich noch zwei vertraute Gesichter, die Schriftstellerinnen Ricarda Huch und Annette Kolb*. Beide waren schon in der Villa im Herzogpark zu Gast gewesen. Über das Frauenstimmrecht hatten sie damals nicht gesprochen. Das holten sie nun nach.

Auf dem Rückweg beschlichen Constanze Zweifel. „Diese Arbeit in einem Frauenverein – meinst du, Robert wird damit einverstanden sein?“, fragte sie ihre Mutter. „Ich möchte mich nicht gegen ihn stellen.“

„Wahrscheinlich wird er nicht deiner Meinung sein“, antwortete sie achselzuckend. „Aber dein Mann schätzt den Familienfrieden. Da wird er dir das Engagement wohl kaum verbieten. Nur Mut!“

Zwei Jahre später hatte Constanze die Vereinsarbeit zum Frauenwahlrecht vollständig vereinnahmt. Viel Zuversicht und eine Menge Pläne beflügelten ihre Gedanken nun, so dass ihr manchmal rätselhaft erschien, womit sie früher ihre vielen Mußestunden eigentlich ausgefüllt hatte.

Auf dem Heimweg von der Vorstandssitzung des Frauenvereins kam sie heute ordentlich ins Schwitzen. Die Sommerhitze hing bleischwer über der Innenstadt. Noch aufdringlicher als sonst drang der Gestank der Armut aus den Herbergsvierteln in die Gassen. Erst an der Isar fegte ein frisches Lüftchen die Ausdünstungen fort. Constanze bog in die Pienzenauer Straße ein, lief aber an ihrem Zuhause vorbei und auch am Gumppen-berg-Anwesen. Ihr Ziel lag direkt dahinter in der Plochinger Straße.

Vor drei Monaten erst war der „Buddenbrook“-Autor mit seiner Familie in die neue Villa dort eingezogen. Constanzes Söhne nannten ihn bereits „Onkel Thomas“, und Ricki verbrachte seine gesamte Freizeit bei Familie Mann. Mit Erika* und Klaus verstand er sich prächtig, nicht nur, weil sie etwa im gleichen Alter waren, sondern weil er ihre ausgefallenen Späße liebte, ihre Freiheiten und Frechheiten, über die man nebenan großzügig hinwegsah.

„Diese Mann-Kinder! Nichts als Unsinn im Kopf“, schimpfte dagegen Elsa Walter, eine andere Herzogparkbewohnerin und Gattin des berühmten Kapellmeisters. Ihre Litaneien waren berüchtigt. Nicht ganz zu Unrecht, wie Constanze fand. Sie staunte, wie ungezwungen die Nachbarskinder splitterfasernackt im Gartenbassin planschten, wie sie über Tische und Stühle sprangen und dabei allerhand zu Boden fegten, ohne sich dafür Tadel einzuhandeln, oder wie sie hemmungslos und pfundweise Kekse in sich hineinstopften. Also lieber einmal nachsehen, was ihr Jüngster dort gerade trieb, bevor sie sich von ihrer Vorstandssitzung erholte.

Vom Hausmädchen wurde sie direkt zu Katia Mann in den Garten geleitet. Anders als Constanze in ihrem Seidenkleid trug die Nachbarin ein Gewand aus schwerem, rauem Leinen mit weiten, gepufften Ärmeln und bulgarischer Stickerei. Der spontane Besuch schien sie keineswegs zu überraschen. Sofort übergab sie ihre beiden Jüngsten einem Kindermädchen und lud die Nachbarin fröhlich zu kühler Limonade und Erdbeeren mit Schlagsahne ein.

„So ein herrlicher Tag! Und doch hat es Klaus böse erwischt. Er liegt mit einer Mandelentzündung im Bett“, erzählte sie mit ihrer Singsang-Stimme und folgte Constanzes suchendem Blick. „Erika und Ricki sind hinter dem Gebüsch im Garten und spielen mit Puppen.“

„Mit Puppen?“

„Ja, sie haben sich Shakespeares ‚Sommernachtstraum‘ aus der Bibliothek geholt und wollen mit den Puppen Szenen daraus proben. Herrlich ihre Einfälle! Wenn sie so weitermachen, können sie bald damit auftreten.“

Gegen Theaterkunst hatte Constanze nichts einzuwenden. Erleichtert griff sie zum Limonadenglas und plauderte ein wenig über ihre Arbeit. Inzwischen war sie Schriftführerin und erste Vorsitzende des Stimmrechtsvereins.

Katia Mann staunte. „Dann lastet vermutlich der Großteil der Vereinsarbeit auf Ihren Schultern!“ Sie betrachtete die Erdbeersahne auf ihrem Dessertteller, als tummelten sich Frösche darin. „Bei meinem letzten Sanatoriumsaufenthalt hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Vielleicht sollte ich mein Leben noch mit etwas anderem füllen als mit Kindern und Haushalt. Schließlich habe ich mal bei Professor Röntgen Experimentalphysik studiert und auch Mathematik. So besonders viel Veranlagung verspüre ich dafür zwar nicht, aber ein Vorbild für ein selbstständiges Berufsleben habe ich immerhin: meine Großmutter, Hedwig Dohm*. Sie ist eine exzellente Schriftstellerin.“

Constanze nickte. Hedwig Dohm genoss hohes Ansehen in den Kreisen der Frauenrechtlerinnen. Ihre Schriften hatte sie mit großem Vergnügen gelesen.

„Aber als ich aus der Schweiz zurückkam, hat mich meine Familie sofort wieder vollständig in Beschlag genommen“, fuhr Katia Mann fort. „Da gab es kein Entrinnen.“ Rasch wechselte sie das Thema, bevor es zu persönlich wurde. „In England sollen es die Aktivistinnen des Frauenstimmrechts gerade besonders rabiat treiben, stand neulich in der Zeitung. Wie sieht das der Münchner Verein?“

„Sie meinen die Suffragetten? Offenbar haben sie in Walton Hill das neuerbaute Landhaus des Schatzkanzlers in die Luft gesprengt und allerhand anderes demoliert. Ja, davon haben wir auch gehört, aber von solchen Methoden haben wir Vereinsfrauen uns natürlich sofort distanziert.“

Constanze verschwieg, dass Anita Augspurg und Lida Heymann die Gewaltaktionen der Suffragetten partout nicht wahrhaben wollten, und es zu heftigen Diskussionen gekommen war. Doch gegen militante Aktionen hatten sich schließlich alle ausgesprochen.

„Und einen Gebärstreik, den die Berliner Frauenrechtlerinnen vorschlagen, lehnen wir auch ab. Wir kämpfen mit friedlichen Mitteln, mit Petitionen, Flugblättern, Presseartikeln, Versammlungen. Unsere Ziele – politische Mitbestimmung und rechtliche Gleichstellung – erscheinen mir vollkommen zeitgemäß. Leider sind die gesellschaftlichen Kreise sehr konservativ, in denen mein Mann verkehrt – und ich mit ihm“, schob sich rasch nach. „Seltsamerweise sind Frauenrechte bei den meisten Damen der Gesellschaft verpönt. Im besten Fall werden meine Ansichten milde belächelt.“

„Was haben sie denn daran auszusetzen?“, fragte Katia Mann erstaunt. „Wie unangenehm muss es sein, gegen Rückständigkeit anzureden!“

„Ach, mittlerweile habe ich eigene Strategien entwickelt“, antwortete Constanze. „Ich habe mir angewöhnt, fest zu meiner Meinung zu stehen. Für mich ist das wie eine Übung in Disziplin und Schlagfertigkeit.“

Genüsslich ließ sie sich eine dicke Erdbeere mit Sahne auf der Zunge zergehen. „Häufig versuchen Leute, mich herauszufordern. Unser Kultusminister Dr. Kniling zum Beispiel. Er ist ein entschiedener Gegner des allgemeinen Wahlrechts und beharrt auf seinen Standesprivilegien. Neulich erklärte er mir, er fände es ungerecht, dass er nicht mehr Rechte besitzen soll als jeder versoffene Trottel‘. Darauf habe ich erwidert, dass ich als Frau nicht einmal halb so viele Rechte besäße wie jeder ‚versoffene Trottel‘.“

„Gut gekontert!“ Die Gastgeberin lachte. „Was für Aktionen planen Sie als nächstes?“

Erika und Ricki tauchten mit ramponierten Spielkittelchen aus den Büschen auf. Bei ihrem Rollenspiel im Verborgenen war es offenbar recht turbulent zugegangen.

„Endlich wurde uns ein neuer Demonstrationszug für das Frauenstimmrecht genehmigt. Es soll wieder so ein fröhlicher werden wie der vor zwei Jahren“, erzählte Constanze. „Anita Augspurg verhandelt noch mit der Polizei über Details, aber im September wird es dann so weit sein – falls nichts dazwischenkommt.“

Doch leider kam etwas dazwischen.

…als wär‘s ein Stück von mir…

Die Nachricht von Deutschlands Kriegserklärung an Russland und wenig später an Frankreich erreichte Constanze im August 1914 in Leipzig. Fassungslos starrte sie in die Runde ihrer Familie.

„Sie wollen Krieg führen? Warum? Weil ein österreichischer Kronprinz ermordet wurde? Ein Krieg macht den doch nicht wieder lebendig!“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

Ihr Bruder Erich, ein frisch ernannter Leutnant der Reserve, sah sie so mitleidig an, als hätte sie den Verstand verloren.

„Das ist doch ein Affront sondergleichen! Kein Staat kann sich so etwas gefallen lassen! Wer ein wenig Ehrgefühl im Leib hat, sollte das begreifen. Selbst Frauen.“

Doch Constanze war hartnäckig, wenn es um Vernunft und Logik ging. „Den Sinn verstehe ich nicht“, hakte sie nach. „Für welches Ziel sollen die Soldaten denn nun eigentlich kämpfen und töten und ihren Kopf hinhalten?“

Erich, der sich bald der Artillerie anschließen sollte, erzählte etwas von „Panslawismus“, der nun bekämpft werden müsse, doch eine schlüssige Antwort hatte er nicht zu bieten. Steif präsentierte er sich der Familie in einer feldgrauen Uniform und einem Stahlhelm, der aussah wie ein provisorischer Kochtopf, und versuchte, stolz und mutig darin auszusehen.

„Früher waren die Soldaten so bunt wie meine Farbpalette.“ Philippine bemühte sich, neutral zu klingen und ihre Haltung nicht zu verlieren. „Sie mussten für Freund und Feind erkennbar sein. Nun sind alle so grau wie Abraumschlamm. Absolut unansehnlich!“

„Heutzutage kommt es darauf an, sich gut zu tarnen“, erklärte ihr Sohn. „Dieser Krieg wird völlig anders sein als alle früheren. Da muss man möglichst lange unsichtbar bleiben, denn die neuen Waffen haben eine unvorstellbare Durchschlagskraft.“

Das beruhigte Constanze kein bisschen. „Noch mörderischer als alle bisherigen?“

Ihnen blieb wenig Zeit, sich voneinander zu verabschieden. Nachdem ihr Bruder abgeholt worden war, packte Constanze ihre Reisetasche. Der Himmel zeigte sich wolkenlos blau, als sie durch die Straßen zum Bahnhof eilte, um rasch zurück nach München zu fahren. Das Wetter lud ein, mit einem Picknickkorb zum Ufer der Weißen Elster zu wandern oder zu den Badeseen der Umgebung, aber nicht um Krieg zu führen. Unterwegs begegneten ihr Abteilungen blutjunger Burschen, die sich im Exerzieren übten, einige noch in Zivil. Unter ihren Stiefeln schien das Straßenpflaster zu vibrieren. Im Takt zum Stechschritt grölten sie das Lied vom Heldentod.

„Ich hatt’ einen Kameraden, einen bessern find‘st du nit.

Die Trommel schlug zum Streite, er ging an meiner Seite

In gleichem Schritt und Tritt.

Eine Kugel kam geflogen, gilt’s mir oder gilt es dir?

Ihn hat es weggerissen, er liegt mir vor den Füßen,

Als wär’s ein Stück von mir…“

Zuschauer jubelten und winkten.

„Nieder mit Russland!“ schrien einige Kinder, die barfuß zwischen ihnen herumsprangen. „Nieder mit Serbien!“

Constanze bewegte sich wie in einem Alptraum durch diese gespenstische Szenerie. Trotz der Sommerhitze bekam sie Gänsehaut.

Auf dem Bahnhof zwängten sich Rekruten in einen Sonderzug. Einige hatten Abteilfenster erobert, lachten, schäkerten, als ginge es auf eine Vergnügungsreise. Von Sieg zu Sieg würden sie eilen – daran glaubten sie fest. „Bis nächsten Monat in Paris!“

Junge Mädchen reichten ihnen Blumen für Knopflöcher zu den Fenstern herein oder warfen ihnen Kusshände zu. Bewundernd blickten sie auf zu den feschen Kerlen, die schon bald als Helden zurückkehren würden.

Doch Constanze sah auch verzweifelte Gesichter bei Müttern und Ehefrauen. Tränenreich nahmen sie Abschied von ihren Liebsten und wollten sie gar nicht aus der Umarmung loslassen. Wie gut, dass ihre eigenen Söhne noch zu jung waren für diesen Irrsinn!