Regen auf dem Jakobsweg - Jutta Winter - E-Book

Regen auf dem Jakobsweg E-Book

Jutta Winter

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Beschreibung

Auf dem hindernisreichen Pilgerweg durch Spanien ächzt Elke nicht nur unter ihrem prallen Rucksack, sondern auch unter der Last ihrer Kindheitserinnerungen. Schritt für Schritt stellt sie sich der schwierigen Vergangenheit. Die Pilgerkollegin staunt: "Wie hast du all das nur überstanden: dieses furchtbare Kinderheim, diese Erzieherin, die alles darangesetzt hat, deinen Willen zu brechen - dieses ganze Schreckensszenario einer rabenschwarzen Pädagogik?" Eine Geschichte von Willenstärke und Resilienz - vom Mut machen - und von der Freundschaft.

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Das Buch

Auf dem hindernisreichen Pilgerweg durch Spanien ächzt Elke Odenwald nicht nur unter ihrem prallen Rucksack, sondern auch unter der Last ihrer Kindheitserinnerungen. Schritt für Schritt stellt sie sich der schwierigen Vergangenheit.

Die Pilgerkollegin staunt: „Wie hast du all das nur überstanden: dieses schreckliche Kinderheim, diese Erzieherin, die alles darangesetzt hat, deinen Willen zu brechen – dieses ganze Schreckensszenario einer rabenschwarzen Pädagogik?

Die Autorin

Jutta Winter (*1955) studierte Bildende Kunst, Erziehungswissenschaften und Psychologie. Viel Zeit verbrachte sie auf anderen Kontinenten, bevor sie sich hauptberuflich mit Biographien befasste.

Mit Leidenschaft widmet sie sich diesem Schwerpunkt nun auch als Autorin.

Ende 2019 erschien ihr erster biografischer Roman „Wir haben es wieder zu etwas gebracht – Von Neuanfängen und Altlasten“.

Für den Herbst ist die Veröffentlichung eines historischen Romans zur deutsch- dänischen Geschichte geplant: „Ingers Sahneschnitten“.

Für Elke, Wolfgang und Fred

Inhaltsverzeichnis

Aufbruch

Hier will ich nicht bleiben!

Das Donnerwetter

Engel, Tod und Klostermauern

Glaubenssache

Land unter

Das Ziel in Sicht

Gravuren und Graffiti

Hintergrundinformationen

1

Aufbruch

Juni 2008. Bilbao – Uterga

Regenschwere Wolken hängen über dem Busbahnhof von Bilbao. Er liegt als graue Betoninsel in der Mitte eines Straßengewirrs. Um ihn herum pulsiert der Verkehr wie ein Blutkreislauf, der mit den roten Ampelphasen auf der einen oder anderen Seite regelmäßig ins Stocken gerät. In den Haltebuchten der Insel ist es dagegen still wie im Auge eines Wirbelsturms.

Frauen stehen in der unterkühlten Einöde herum wie Strandgut, einige im taillierten Bürodress und auf Stöckelschuhen, andere in bulligen Bergstiefeln und Wanderdress aus einem Outdoorladen. Die Einheimischen im Bürodress erkennen in den Frauen mit dem groben Schuhwerk sofort Pilger- Debütantinnen. Um diese Jahreszeit tauchen sie regelmäßig wie Zugvögel hier auf, denn Bilbao ist beliebt als Ausgangspunkt für den berühmten Jakobsweg. Heute scheint das Wetter wenig einladend für derartige Unternehmungen. Staubige Böen fegen durch die offenen Haltebuchten und drücken die erwartungsvollen Pilgerinnen tiefer in ihre atmungsaktiven Fleecejacken.

Eine von ihnen hebt sich mit einem eleganten Schwarz von den anderen ab. Nur ein Seidenschal unterbricht ihre dunkle Erscheinung und ergänzt sie mit einem sattem Purpur und Türkis. Im mahagoniroten Haar klemmt eine Sonnenbrille. Besorgt blickt die Dame zum Himmel. Eine Wolkendecke wie gegossenes Blei, finster und lückenlos.

Kopfschüttelnd zupft sie ihre Brille aus dem Kurzhaar, verstaut sie in der Gürteltasche und wirft einen prüfenden Blick auf ihre Nachbarin. In Pink und den Farben des Regenbogens präsentiert sich die Frau, die grauen Locken fest im Zopfgummi verzurrt. Wahrscheinlich Lehrerin oder irgendein Pflegeberuf, aber eigentlich sympathisch, so auf den ersten Blick, denkt die Elegante. In der Flughafenhalle vor dem Koffer-Fließband hatte sie mit der Bunten ein paar Sätze gewechselt. Als „Anja aus Hamburg“ hat sich die andere vorgestellt, und dass sie beide das gleiche Ziel ansteuern, ist auch schon geklärt. Kurzerhand beschließt sie, die „Elke aus Düsseldorf“, den Fließband-Smalltalk fortzusetzen, um der bedrückenden Stille in der unterkühlten Betontristesse zu entkommen.

„Hast du auch schon ein Zimmer in Pamplona gebucht für die erste Nacht?“

Anja aus Hamburg schüttelt den Kopf.

„Nein. Aber ich schließe mich gern an, wenn ich darf. Bin gespannt, ob wir morgen gleich den Einstieg zu diesem Weg finden.“

„Pamplona ist gar nicht der richtige Einstieg dafür“, mischt sich eine andere Frau ein, die sich als „Sylvia aus Gütersloh“ vorstellt. „Der „Camino Francais“ beginnt eigentlich in den Pyrenäen, in Roncesvalles oder noch davor in Saint- Jean- Pied- de- Port.“ Sie lächelt verbindlich, wie eine Königin auf Staatsbesuch.

„Dahin sollte es natürlich zuerst gehen, wenn man alles richtig machen will. Mal sehen, ob wir in Pamplona gleich einen Anschlussbus finden.“

„Den Gewaltaufstieg über die Pyrenäen erspare ich mir, habe ich beschlossen“, erwidert Elke gelassen.

„Du wohl auch“, fügt sie mit einem fragenden Blick auf die Wanderkollegin in Bunt hinzu.

„Auf jeden Fall! So genau nehme ich das mit der Pilgerei nicht.“, antwortet Anja und zwinkert der anderen zu. Elke erwidert mit einem Lächeln.

„Wir wollen ja einen eigenen Weg gehen, und nicht den des Wanderführers!“

„Aber… ihr lauft doch nicht etwa zu zweit?“, hakt Sylvia aus Gütersloh nach.

Ihre Miene verfinstert sich, als hielte sie dieses Vorhaben für ein mittelschweres Verbrechen. „Man muss den Weg unbedingt allein gehen. Das ist sehr wichtig – für die spirituelle Erfahrung!“ Neue Pilgeranfänger lenken sie von weiteren Belehrungen ab.

Eine der Ankömmlinge, eine füllige Blondine im Schottenmuster-Outfit, trägt neben ihrem Wanderrucksack eine Sporttasche in der Hand, auf die nun alle starren, denn in der Tasche zappelt es. Die Blonde folgt dem Blick der anderen.

„Das ist nur mein Hund“, erklärt sie und öffnet den Reißverschluss. Sofort schiebt ein Rauhaardackel seinen Kopf heraus und sieht sich aufmerksam in der unbekannten Welt des Busbahnhofs um.

Ein drahtiger Busfahrer mit einer Mappe unter dem Arm eilt herbei. Mit geübtem Griff öffnet er den Gepäckraum, dessen Klappe in die Höhe schießt.

“No animales en el autobus! Sólo en el compartimento de equipaje“, befiehlt er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Rasch wendet er sich von seinen Passagieren ab, schwingt sich in die Fahrerkabine und vertieft sich in seine Papiere.

„Der Dackel muss im Gepäckraum mitfahren“, übersetzt Anja und feuert finstere Blicke auf den Fahrer ab.

Vor Elkes innerem Auge formiert sich ein beunruhigendes Bild. Ein verängstigtes kleines Lebewesen, das stundenlang im Dunkeln zwischen den Gepäckstücken hin- und her geschubst wird. Schutzlos, einsam, hoffnungslos. Die Vorstellung lässt sich nicht leicht abschütteln.

„Was für eine Tierquälerei!“ ruft sie zum Busfahrer herauf und ballt ihre Faust.

Doch die Halterin zuckt nur mit den Achseln. Ohne einen Protestversuch akzeptiert sie die Anordnung. Sie schließt die Sporttasche über den Dackelkopf und verfrachtet ihren Liebling zwischen den Rucksäcken im Kofferraum.

„Er wird es schon überleben.“

Während der Bus eine gewaltige Metallspinne vor dem ultramodernen Guggenheim Museum passiert, setzt ein heftiger Regen ein. Dicke Tropfen malen ein Streifenmuster auf die staubigen Fensterscheiben. Draußen enden die Häuserzeilen von Bilbao und weichen einer hügeligen Landschaft, deren saftige Grüntöne hin und wieder vom kräftigen Gelb des blühenden Ginsters unterbrochen werden.

Anja hat sich neben Elke in die erste Reihe direkt vorne beim Fahrer geschoben. Beiden wird weiter hinten schnell schlecht. Soviel wissen sie jetzt voneinander, und alle übrigen Eckdaten sind ebenso schnell geklärt. Elke ist gut zehn Jahre älter als Anja. Vor kurzem ist sie in den Ruhestand gegangen, nachdem sie jahrzehntelang bei der Stadt Düsseldorf gearbeitet hat. Dagegen steht Anja als Studienrätin noch voll im Beruf. Im Augenblick gönnt sie sich allerdings eine paar Monate Auszeit. Die ältere lächelt zufrieden in sich hinein. Lehrerin also! Im Berufe-Raten schneidet sie gar nicht schlecht ab!

Während der Reisebus sich in eine Autobahnspur einfädelt, breitet sich wieder Schweigen zwischen den beiden Frauen aus.

„Du sprichst wohl fließend Spanisch“, eröffnet Elke das Gespräch von Neuem, nachdem sie eine Weile dem Regen zugeschaut hat. Respekt schwingt mit in ihrer Stimme. „Das finde ich beruhigend. Dann kannst du nämlich die Konversation übernehmen, und ich muss mich nicht mit Händen und Füßen abmühen.“

„Ein wenig eingerostet ist mein Spanisch schon“, erklärt Anja, entschlossen, mehr zu erzählen, statt sich in Schweigen zu hüllen. „Nach dem Abitur habe ich ein Jahr als Au-pair in Venezuela gearbeitet. Das ist aber schon Ewigkeiten her. Deshalb dachte ich mir, es sei eine gute Idee, die Sprache mal wieder aufzufrischen und bei der Gelegenheit die alten Königreiche Aragon, Kastilien und Leon zu Fuß zu durchstreifen. Ist eine ganz besondere Perspektive, so als Pilgerin.“

Unter das letzte Wort mischt sich ein ironischer Unterton so, als könne sie die neue Rolle noch gar nicht recht annehmen.

„Allerdings habe ich mir das spanische Wetter anders vorgestellt. Das ist hier kein bisschen besser als in Hamburg!“

Elke schmunzelt. „Nee, den Regen habe ich auch nicht bestellt! Du bist also mit Elbwasser getauft?“

„Aufgewachsen bin ich in der Nähe von Husum, aber ich wohne schon lange in Hamburg. Und wie ist das mit dir? Hast du immer schon in Düsseldorf gewohnt?“, fragt Anja nach.

„Ich fühle mich dort ganz und gar zuhause, aber geboren bin ich woanders. In den Sudeten. Die gibt es so längst nicht mehr. Heute liegt das Gebiet in Tschechien“, erzählt Elke und gerät ins Stocken.

Das Gespräch nimmt plötzlich eine unangenehme Wendung und berührt ein Thema, über das sie eigentlich nie spricht. Will sie einer Fremden wirklich so viel Persönliches anvertrauen, auch wenn sie recht sympathisch wirkt?

„Oh!“ Anja sieht zu ihrer Sitznachbarin hinüber, die angestrengt durch den prasselnden Regen auf den nassen Asphalt starrt. Die Scheibenwischer arbeiten auf der höchsten Stufe. Anja scheint Elkes Unbehagen zu spüren. Behutsam tastet sie sich vor.

„Dann… musstest du wohl am Ende des Krieges mit deiner Familie von dort weggehen?“

„Hmm, ja, meine Familie wurde vertrieben, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern“, antwortet Elke knapp. „Da war ich noch ganz, ganz klein.“

Als sie am nächsten Morgen zu ihrer Wanderung aufbrechen, hat es aufgehört zu regnen. Die ersten Kilometer des Weges fordern die beiden Pilgeranfängerinnen nicht allzu sehr. Vorerst wirkt der Lauf durch Pamplonas Randbezirke wie eine Schnitzeljagd auf einem Kindergeburtstag. Sticker mit gelben Pfeilen kleben in Sichtweite auf Laternenmasten oder Zaunpfählen. An einem Parkeingang und -ausgang finden sich aufwändig, in Stein gemeißelte Jakobsmuscheln wie Grabsteine. An einigen Mauern prangt statt einem Pfeil ein Muschelsymbol mit sonnengelben Strahlen auf himmelblauem Grund. Schon von Weitem ist es deutlich zu erkennen. Konzentriert tasten sich die Augen durch die Landschaft von einem Sucherfolg zum nächsten. Heiter fühlt sich dieses Pilgern an. Kinderleicht. Unbeschwert.

Die Symbole werden schnell zu vertrauten Wegbegleitern in einem unbekannten Terrain. Zunächst führen sie die Pilgerinnen durch schmucke Vororte, vorbei an Cafés, Geschäften, Sportanlagen und einem Golfplatz. Danach steigt der Weg stetig bergan und wird immer mehr zu dem Naturschauspiel, das der Wanderführer anpreist. Bunte Wildblumenwiesen breiten sich vor ihnen aus. Manche sind durch ihre Mohnblütendichte in ein intensives Rot getaucht. Vor ihren Stiefeln steigen Wolken von schillernden Bläulingen auf und schwirren durch die Luft.

„Schau mal, wie schön!“

Elke zieht ihren Fotoapparat aus der Gürteltasche und versucht, das flatternde Blau festzuhalten.

„Ob die vielen Schmetterlinge hier wegen der Spiritualität des Pilgerwegs herumfliegen?“

Anja schüttelt den Kopf. In Hamburg unterrichtet sie Biologie und Chemie und hat für das Phänomen eine wissenschaftliche Erklärung anzubieten. „Nee, das machen die Salze. Die ziehen die Falter an. Urinsalze.“

„Urin?“ Elke schaut verblüfft. „Ach so. Ich verstehe. Pilgerinnen sind wohl häufig mit schwachen Blasen gesegnet, und sie schlagen sich hier in die Büsche?!“

„Genau!“ Beide prusten vor Lachen.

Das Gespräch versiegt, als sich der Pfad einen Berghang hinaufschraubt. Beim Aufstieg ist Konzentration gefragt, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, abzurutschen. Die rötliche Erde wird krümelig und knirscht unter ihren Stiefeln. Immer steiler windet sich der Trampelpfad in die Höhe, und Anja gerät ins Schwitzen.

„Meine ganze Kleidung klebt an mir!“ ächzt sie und bleibt schwer atmend stehen. Ihre Knie zittern.

Neben ihr geht es steil abwärts in die Tiefe. Bloß nicht nach unten schauen! Sie lüftet ihre grauen Locken und greift zur Wasserflasche. Ihrer deutlich älteren Wanderkollegin ist die Anstrengung nicht anzumerken.

„Du stiefelst in einem Tempo voran, als würdest du jeden Tag auf einen Berg klettern“, staunt sie.

Doch Elke macht das Gewicht ihres Gepäcks zu schaffen.

„Das sieht nur so aus. Mein Rücken tut höllisch weh!“

Sie richtet sich vorsichtig auf und wendet sich zu Anja um. „Dieser verdammte Rucksack! Dabei hat mir der Verkäufer im Outdoor- Laden hoch und heilig versprochen, dass sich die Last bei diesem Modell perfekt auf den Schultern verteilt. Man würde nichts davon spüren! Ja, von wegen! Aber da hilft alles Jammern nichts. Da muss ich jetzt durch!“

Oben auf dem höchsten Punkt des Bergrückens empfangen sie rostige Eisenplatten, die aufrecht stehend im steinigen Boden verankert sind. Zierliche Silhouetten dahinziehender Menschen in Lebensgröße sind aus dem Metall geschnitten: Männer, Frauen, Kinder, einige mit Pferden, Eseln und Gepäck ziehen vorwärts in Richtung Santiago de Compostela.

Staunend umrunden die Wanderer das Kunstwerk, während der Wind kalt an den eisernen Figuren entlang fegt. Zuversichtlich und in vorgebeugter Haltung scheinen die rostigen Pilger sich dagegen zu stemmen und sich mit Hilfe ihrer langen Wanderstöcke Stück für Stück vorwärts zu kämpfen.

Parallel dazu, hoch über den Figuren, verlaufen Stangen, auf denen Brieffetzen oder Papiervögel aufgespießt sind. Wie Sprechblasen, gefüllt mit hoffnungsvollen Botschaften, begleiten sie die Dahinziehenden auf ihrem Weg.

Reglos starrt Elke sie eine Weile an.

„Wie Flüchtlinge sehen die aus!“ stellt sie verwundert fest. „Vielleicht wirken sie ein bisschen zu fröhlich dafür, aber sie erinnern mich total an einen Flüchtlingstreck!“

Seit ihrem Gespräch während der Busfahrt am Vortag spukt ihr die eigene Siebenbürger Kindheit im Kopf herum, die mit einer dramatischen Flucht in den Westen endete. Warum drängen ausgerechnet jetzt diese uralten Geschichten an die Oberfläche des Bewusstseins, wie Gasblasen im Sprudelwasser? Vielleicht war sie in den letzten fünf Jahrzehnten zu sehr in ihren Berufsalltag eingespannt gewesen, um darüber nachzudenken. Und wozu soll das Grübeln über die Vergangenheit auch gut sein? Vorwärtsschauen und nicht zurück! Das hatte ihr als Lebensmotto immer geholfen. Der schwierige Teil ihres Lebens ließ sich damit wunderbar unter Verschluss halten. Doch ohne Vorwarnung holen sie hier auf diesem Berg plötzlich die alten Geschichten ein. Der Flaschenverschluss muss sich irgendwie gelöst haben, und vergessene Erinnerungen sprudeln unaufhaltsam aus der Tiefe hervor.

Schließlich gibt Elke ihren Widerstand dagegen auf. Mit dem ungewohnten Gewicht auf ihrem Rücken und auf ihrer Seele beginnt sie zu erzählen.

„Natürlich kann ich mich selbst nicht daran erinnern, aber mein Großvater hat mir viel erzählt und in seinem Tagebuch detailliert geschildert. Deshalb habe ich den Abschied von meinem Vater und die Flucht ganz deutlich vor Augen.“

Aussig 1944 – Düsseldorf 1945

Gerade erst hatte Elke gelernt, freihändig durch die weitläufigen Räumlichkeiten des herrschaftlichen Hauses zu tapsen, da erhielt ihr Vater seinen Einberufungsbefehl. Die Erwachsenen liefen plötzlich mit ernsten Mienen herum.

„So sehr hatte ich gehofft, dass sie Alfred nicht einziehen würden“, jammerte ihre Mutter, Maria Odenwald, vor sich hin.

„Als Verlagsdirektor und Herausgeber der Tageszeitung ist er hier in Aussig doch völlig unabkömmlich! Wer sonst könnte das Sudetenland so umfassend mit Nachrichten versorgen?“

Sie rauschte an ihrer Tochter vorbei hinter ihrem Mann her.

„Außerdem muss deine Zeitung doch den Auftrag erfüllen, den Glauben an Hitlers Endsieg hochzuhalten. Gerade jetzt, wo die Alliierten immer weiter vorrücken“, rief sie durch das Treppenhaus und fuchtelte mit den Armen. „Das müssen sie doch einsehen! Rede unbedingt noch mal mit denen!“

„Sinnlos!“, beschied ihr der Gatte. „Ich habe alles versucht. Aber die Heeresleitung hat nun einmal so entschieden. Ich würde an der Front benötigt, sagen sie, um dort den Vormarsch der Roten Armee aufzuhalten.“

Wenige Tage später versammelte sich die Familie auf dem Bahnhof von Aussig. Er lag am Rande der Altstadt an der Elbe, die, im Riesengebirge entsprungen, hier breit und gemächlich vorbeiströmte. Ringsherum erhoben sich schroffe Berghänge und ragten über die Dächer der Siedlungshäuser und Villen. In der Ferne wachte die Burgruine Schreckenstein über die Industriestadt. Ein beliebtes Ausflugziel war dieses Denkmal, und auch die Familie war schon an Feiertagen mit einem gut gefüllten Picknickkorb hinaufgeklettert.

Am Tag des Abschieds thronte die einjährige Tochter auf dem Arm ihres Vaters. Mit großen Augen betrachtete sie das Gewusel auf dem Bahnsteig. Noch nie hatte sie so ein ohrenbetäubendes Durcheinander erlebt. Menschen eilten aufgeregt hin und her, prallten zusammen und veranstalteten mehr Radau als ihre Brüder und Cousins zusammen. Auch die gewaltigen schwarzen Dampfloks, die in den Bahnhof hineindonnerten, zischten, stöhnten und quietschten so laut, dass sich die Kleine die Hände auf die Ohren presste. Schornsteine spien Funken und Qualm wie die Drachen im Märchenbuch. Ein schwerer Geruch von Kohlenfett und Schweiß erfüllte die Luft, und Rauch brannte im Vorbeiwehen unangenehm in ihren Augen. In den Dampfschwaden verwandelten sich die Wartenden zu schemenhaften Tänzern eines geheimnisvollen Balletts.

Ihren vierjährigen Bruder Wolfgang sah sie aufgeregt zwischen den Leuten auf dem Bahnsteig herumkurven, ein Kindermädchen auf den Fersen. Es hatte alle Hände voll damit zu tun, den Jungen wieder einzufangen.

Auch der große Bruder Fred schien von den riesigen Maschinen fasziniert und löcherte den Großvater an seiner Seite ununterbrochen mit Fragen.

Doch irgendetwas stimmte nicht.

Nachdem die kleine Elke sich an die fremde Umgebung gewöhnt hatte, spürte sie es deutlicher. Das Gesicht des sonst so lustigen Vaters, das vor ihr aufragte, hatte seine Grübchen verloren und wirkte ernst und angespannt. Seine Offiziersuniform fühlte sich hart und steif an, und so erschienen ihr auch seine Gesichtszüge. Elke versuchte, seine Fröhlichkeit zurückzuholen, und patschte ihm aufmunternd auf die Wange. Doch vergeblich.

Auch ihre Mutter hatte sich verwandelt. Zu ihrem Kamelhaarmantel trug sie auf ihren dunklen Locken zwar - wie immer, wenn sie ausging - einen topfartigen Hut. Doch das Gesicht darunter war bleich wie Streichkäse, und die Augen stachen rotgerändert daraus hervor. Die erste Welle ihrer Tränen ebbte gerade ab, während eine neue heranrollte.

„Wenn wir in Düsseldorf geblieben wären, würden sie dich jetzt nicht an die Ostfront schicken“, jammerte sie und tupfte sich die Augenwinkel mit dem durchnässten Taschentuch in ihrer Hand. „Ich wusste immer, dass es ein Fehler war, in diese gottverlassene Provinz zu ziehen! Und was mache ich jetzt bloß hier? So vollkommen allein ohne dich!“

Noch vor wenigen Wochen hätte ihr Mann ihre Vorhaltungen mit seinen Grübchen weggegrinst und sie geneckt. „Düsseldorf, nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein…“ hätte er volltönend durch das Haus geschmettert und damit selbst Richard Tauber in den Schatten gestellt, aber nun war ihm nicht nach Singen zumute.

„Keine Sorge, Maria!“ erwiderte er und versuchte, zuversichtlich zu klingen. „Du hast noch deinen Vater und die Kinder. Und Grete wohnt mit ihren Söhnen auch gleich um die Ecke. Da bist du ganz und gar nicht allein. Und ich komme bestimmt bald wieder. So lange kann der Krieg nicht mehr dauern. Und außerdem schicken sie mich in meinem Alter sicher nur in eine Schreibstube. Da passiert mir schon nichts.“

Der Ehemann ihrer Schwägerin Grete hatte schon lange kein Lebenszeichen mehr von der Ostfront gesendet. Auch wenn die Familie das Thema in ihren Gesprächen sorgfältig aussparte, nahmen doch alle an, dass er gefallen war. Maria konnte sich nur zu gut vorstellen, dass ihrem Mann genau das gleiche Schicksal blühte. Wahrscheinlich würde sie sich hier von ihm verabschieden und ihn niemals wiedersehen! Eine neue Welle von Verzweiflung und Traurigkeit überflutete sie.

„Und denk daran“, Alfred wandte sich an den Schwiegervater, der ihn auf der anderen Seite flankierte, „wenn die Russen hierhin kommen sollten und ihr fliehen müsst: Fahrt zu meinen Eltern nach Düsseldorf. Die Adresse kennst du ja. Da treffen wir uns dann alle wieder!“

„Wäre es nicht besser, jetzt schon dorthin zu gehen? Bevor die Russen kommen?“, fragte Ferdinand Tiefenthal und nahm Wolfgang fest an die Hand.

„Nein, das halte ich für keine gute Idee. Düsseldorf ist im letzten Sommer furchtbar bombardiert worden, und wer weiß, ob die Engländer nicht wiederkommen. Ich schätze, hier in Aussig seid ihr im Moment am sichersten…“

Ein Offizier unterbrach ihn. Alfred Odenwald erhielt ein paar kurze Anweisungen und winkte seinem Kofferträger zu, der das Gepäck in dem Zugabteil verstauen sollte.

„Jetzt geht es gleich los“, verkündete er hastig und küsste sein Töchterchen auf die Wange. Er versuchte, es dem Kindermädchen zu überreichen, doch Elke schlang die Arme fest um seinen Hals. Auf gar keinen Fall wollte sie den geliebten Vater weggehen lassen! Sie sah, wie die Mutter laut zu schluchzen begann, und blickte in die traurigen Augen des Vaters. Diese Situation und all das Drumherum rochen nach Bedrohung und Gefahr. So fest sie konnte, klammerte sie sich an ihn, doch starke Erwachsenenhände griffen nach ihr und bogen ihre kleinen Arme und Fäuste auseinander.

Mit der ganzen Kraft ihrer Lungen brüllte sie ihre Verzweiflung durch die Rauchschwaden über die Bahngleise hinweg. Sie übertönte das Schnaufen, Ächzen und Rattern des abfahrenden Zuges, während sich ihre Mutter neben ihr schluchzend an ihrem Vater festhielt.

Die Erinnerungen des Kindes an diesen ersten dramatischen Abschied ihres Lebens verblassten schnell und verschwanden bald, denn noch konnte sie die Einzelheiten nicht fassen, nicht die Bedeutung und Reichweite des Geschehens verstehen. Doch das Gemisch aus Angst, Verzweiflung und Ohnmacht, das wie eine Gewitterwolke über allem hing, nistete sich in den unzugänglichen Regionen ihres Gehirns ein und eichte ihren seelischen Seismografen für heraufziehende Bedrohungen auf Präzision.

Mit dem Vater verschwand auch die Mutter mehr und mehr aus dem Blickfeld ihrer Kinder.

„Ma Ma?“, fragte Elke und deutete mit dem Zeigefinger auf die elterliche Schlafzimmertür.

„Die Frau Mutter ist unpässlich“, antwortete das Kindermädchen und versuchte die Kleine mit sich zu ziehen. „Komm, wir gehen zum Schaukelpferd und zu deinen Puppen ins Spielzimmer.“

Doch Elke sträubte sich wie eine Katze.

„Ma Ma!“ beharrte sie und stampfte fest mit dem Fuß auf den Dielenboden.

Ihre Laustärkte konnte sie problemlos steigern. „Ma Ma Ma!“ brüllte sie und hämmerte gegen die Tür.

Großvater Tiefenthal eilte festen Schrittes aus seinem Arbeitszimmer herbei.

Er hielt sich kerzengrade aufrecht. Mit seinen strengen Gesichtszügen, eingerahmt von einem gepflegten Bart, und mit seiner kräftigen Statur, verfügte er über eine stattliche Erscheinung, die ihm überall Autorität verlieh. Wäre sein Haar nicht weiß gewesen, sondern noch so dunkel wie in jungen Jahren, hätte niemand in ihm einen Mann von Mitte siebzig vermutet.

„Deiner Mutter tut der Kopf weh“, erklärte er seiner Enkelin mit ruhiger Stimme und strich ihr über den braunen Haarschopf.

„Aua hat sie! Und jetzt schläft sie ein wenig. Da wollen wir doch nicht stören.“

Elkes Mutter verließ ihr Bett kaum noch. Den ganzen Tag lag sie im abgedunkelten Raum herum und klagte über Migräne. Seit Wochen war keine Nachricht mehr von ihrem Ehemann eingetroffen. In seinem letzten Feldpostbrief aus Rumänien hatte er vom Vormarsch der Roten Armee berichtet.

„Alfreds Zeilen klangen so schrecklich hoffnungslos“, jammerte sie. „Wie ein Abschiedsbrief. Ja, ganz genauso. Wahrscheinlich ist er gar nicht mehr am Leben.“

Mit dieser Verzweiflung im Herzen baute sie nun auch körperlich auf erschreckende Weise ab.

Unterdessen verbrachte Fred viel Zeit vor dem Volksempfänger. „Die politische Lage ist unübersichtlich“, berichtete er seiner Familie. „Klar ist nur: Die Alliierten sind über den Rhein marschiert, und die Russen stehen an der Elbe.“

Er markierte ihren Vormarsch auf einer Deutschlandkarte mit Stecknadeln und Wollfäden, soweit die Truppenbewegungen bekannt gegeben wurden. Das Ergebnis der Nadel- Piekserei war wenig ermutigend.

„Im Radio reden sie immer von „Frontbegradigungen“. Aber ich finde, das sieht eher nach Gebietsverlusten aus.“

Fragend sah er seinen Großvater an.

Ferdinand Tiefental nickte nachdenklich und ließ Elke auf seinen Schoß klettern.

„Wie man hört, liegen Dresden und Magdeburg inzwischen in Schutt und Asche“, stimmte er seinem Enkel zu. „Dort haben die Engländer mit ihren Brandbomben schwere Schäden angerichtet. Und nun kommen die Russen und marschieren auf Aussig zu. Hoffen wir mal, dass die Amerikaner das Rennen machen. Von denen haben wir wohl am wenigsten zu befürchten.“

Täglich diskutierten die beiden über die neusten Meldungen: Nach und nach besetzten die Tschechen alle Posten in der Stadtverwaltung und gründete einen „Tschechoslowakischen Nationalausschuss“. Für die deutsche Bevölkerung drehte sich der Spieß damit um. Fred hatte das auf der Straße auch schon zu spüren bekommen.

„Opa, warum schimpfen die jetzt immer so auf uns?“, fragte er. „Was haben wir denen denn getan?“

„Da ist wohl einiges zusammengekommen im Laufe der Jahre“, antwortete der Großvater wahrheitsgemäß und ließ sich müde in den Lehnstuhl sinken. „Gleich nach dem Anschluss ans Reich wurden die tschechischen Schulen und Geschäfte geschlossen und die Sprache, die Vereine und Traditionen verboten. Dazu kamen dann wohl auch noch allerhand Ungerechtigkeiten.“

„Das war bestimmt nicht gut“, gab der Enkel nachdenklich zu. „Aber hier wohnen doch mehr Deutsche. Fünfmal so viele. Die könnten sich doch gut wehren.“

„Genau das werden die Tschechen jetzt ändern wollen“, erwiderte Ferdinand Tiefenthal und griff nach seiner Pfeife. „Früher oder später werden sie uns auffordern, von hier zu verschwinden.“

„Finden, finden“, rief Elke fröhlich.

Sie hopste durch die Stube und kletterte wieder auf den Schoß ihres Großvaters.

Zu ihrem zweiten Geburtstag hatte ihre Tante Grete, die ein paar Straßen weiter wohnte, einen Kuchen gebacken und ein Püppchen zum Liebhaben genäht. Es war weich wie ein Kissen. Von Mama und Opa bekam sie ein hübsches Sommerkleidchen und neue Schuhe, die vom Schuster genau passend für ihre Füße gearbeitet waren. Brüder und Cousins sangen ihr ein Geburtstagsständchen. Aufgeregt hüpfte das kleine Mädchen um den Gabentisch herum und schloss das Püppchen in ihre Arme.

Doch damit endeten die Überraschungen des Tages nicht. Am Abend ertönte zum ersten Mal Fliegeralarm über der Stadt. Staunend vernahmen die Kinder das drängende Jaulen der Sirenen. Ferdinand Tiefenthal griff sofort erschrocken nach dem Koffer, der immer bereitstand, und rief seine Tochter und die drei Kinder zusammen. Auf diesem Ernstfall waren sie zwar vorbereitet worden, doch bisher hatten die feindlichen Flieger Aussig verschont.

Hastig stieg der Großvater mit seiner Familie in den feuchten Gewölbekeller des Hauses hinunter, der als Luftschutzraum ausgewiesen war. Draußen auf der Straße waren Pfeile an die Hauswände gemalt, die auch andere Menschen des Wohnblocks zügig dorthin dirigierten. Mit großen Augen beobachteten die Kinder diese Fremden, die nun zu ihnen in den Keller hereinströmten. Er wirkte nicht einladender als ein mittelalterliches Burgverlies. An der Decke baumelte eine Glühbirne, die ihre Umgebung schwach beleuchtete. Ringsherum waren Angst und Atemlosigkeit zu spüren.

Im letzten Moment, kurz bevor der Luftschutzwart die Kellertür verrammelte, stolperte Grete mit ihren beiden Söhnen und einem überladenen Kinderwagen in den Raum.

„Tan Dede“, begrüßte Elke sie erfreut.

„Der Kriechkeller unter unserem Haus schien mir nicht sicher genug“, erklärte sie und strich der Kleinen über den Kopf.

„Es ist gut, wenn die ganze Familie hier vereint ist“, stimmte Ferdinand Tiefenthal seiner Schwiegertochter zu. „Da können wir uns gegenseitig beistehen.“

Grete nickte. „Seit mehr als einem Jahr ist mein Paul nun schon verschollen.“

Was das bedeuten konnte, sprach sie nicht aus.

Kaum hatte sich die Familie auf den staubigen Bänken niedergelassen, waren in der Ferne die ersten dumpfen Detonationen zu hören. Die Bomber schienen es auf das Stadtzentrum von Aussig abgesehen zu haben, denn die Einschläge rückten näher heran und waren immer deutlicher zu spüren.

Die Wartenden, Frauen, Kinder und Alte, saßen angespannt neben ihren Koffern und Taschen. Einige beteten.

Mit einem plötzlichen Knall bebte der Keller samt dem Haus über ihnen so heftig, dass die Deckenfunzel gespenstisch flackerte und hin und her schwang. Eine Frau schrie auf. Putz rieselte von der Decke. Kleinere Kinder begannen zu brüllen. Doch Elke schwieg. Sie klammerte sich an ihre neue Puppe und kuschelte sich enger an ihren Großvater. Bei ihm fühlte sie sich geborgen.

„Glücklicherweise ist Aussig nicht wirklich bedeutsam für die Alliierten.“ Ferdinand Tiefenthal versuchte, die aufkommende Panik im Keller mit vernünftigen Überlegungen einzudämmen. „Städte mit Rüstungsindustrie sind strategisch viel wichtiger und werden ständig bombardiert.“

„Außerdem war der Treffer nicht hier bei uns, sondern irgendwo nahe bei der Zuckerfabrik auf der anderen Elbeseite“, erwiderte sein Banknachbar. Ein viel zu großer dunkelgrauer Wollmantel und eine Kutschermütze mit Ohrenklappen schützten ihn vor jeder Witterung.

„Industrie interessiert die mehr als Wohnhäuser. Wenn sie alles abgeworfen haben, drehen sie wieder ab. Das dauert jetzt nicht mehr lange.“

Der Bombendonner schien kein Ende zu nehmen, doch die Leute entspannten sich ein wenig. Fred versuchte, bei dem schlechten Licht Karl May zu lesen. „Durchs wilde Kurdistan“. Auch Wolfgang und sein Cousin hatten eine Ablenkung gefunden. Sie ließen sich von einem größeren Jungen in die Geheimnisse des Zwillen- Schießens einweihen.

„Allerdings glaube ich, dass wir früher oder später von hier fortgehen sollten“, wandte sich der Großvater wieder an den Nachbarn. Es tat ihr sichtlich gut, sich mit einem Optimisten zu unterhalten. „Nur auf welchem Weg? Darüber denke ich schon seit Wochen nach.“

Umständlich zog er aus einer inneren Manteltasche eine Landkarte, die er nun immer bei sich trug. Die beiden alten Herren vertieften sich eine Weile in die Streckenführung der Eisenbahnen. Welche Route wäre wohl die sicherste? Das wusste auch der Banknachbar nicht zu sagen.

Ein weiteres Krachen erschütterte den Keller.

Frauen jammerten laut vor sich hin. Grete klammerte sich an ihren Säugling, Elkes Mutter vergrub sich tief in ihren Kamelhaarmantel.

„Wahrscheinlich können die Flieger gar nicht genug erkennen bei der Dunkelheit, um richtig zu zielen“, versuchte der alte Mann die Leute zu beruhigen. „Das sind lauter Blindgänger.“

Das wollte er zu gerne glauben, doch er irrte sich. Während die Insassen des Kellers stöhnten und beteten, wurde ein beträchtlicher Teil der Innenstadt gezielt zerbombt. Mehr als fünfhundert Menschen verloren ihr Leben, Deutsche und Tschechen, Kriegsgefangene und Flüchtlinge, von denen täglich mehr in die Stadt hineinströmten.

Auch Gretes Wohnung hatte sich in eine Ruine verwandelt. Am nächsten Tag zog sie mit ihren Kindern zu der Familie ihres Schwiegervaters.

Am 7. Mai erfuhren sie aus dem Volksempfänger, dass Deutschland sich den Alliierten bedingungslos ergeben hatte. Fred riss die Karte mit den Stecknadeln und Wollfäden von der Wand.

Zwei Tage später verkündete der Sender den Waffenstillstand. Oberbürgermeister Czermak übergab dem tschechischen Nationalausschuss die Leitung der Stadt. Nachmittags rollten russische Panzer und Armeefahrzeuge durch Aussig. Die meisten nahmen Kurs auf den Nachbarort. Nur eine kleinere Gruppe Rotarmisten blieb in der Stadt und versuchte, für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Leute am Plündern zu hindern. Fast alle Einwohner hatten weiße Tücher zum Zeichen der Kapitulation aus den Fenstern gehängt.

Elke spürte die angespannte Stille im Haus. Es war, als warteten die Menschen auf ein Unglück. Doch erst einmal schien alles friedlich.

Von dem heiteren Frühlingswetter draußen angelockt, beschloss Grete, mit Elke und ihrem Jüngsten im Kinderwagen im Park in der Nähe des Hauses spazieren zu gehen. Die Kleinen sollten ein wenig Sonne tanken. Blass sahen sie aus. Die frische Luft würde ihnen guttun.

Die größeren Jungen spielten im Hof zwischen den Häusern Völkerball und ließen ihrem Bewegungsdrang freien Lauf. In den unsicheren Wochen vor Kriegsende hatten die beiden Familien das Haus gehütet, doch nun durfte man sich wohl endlich wieder auf die Straßen trauen.

Plötzlich rasten offene Militärfahrzeuge mit SS- Leuten aus einer Seitenstraße heran und polterten über das Kopfsteinpflaster direkt am Park entlang. Johlend verließen sie die Stadt, brüllten wilde Flüche und schwangen drohend ihre Gewehre. Nüchtern schienen sie nicht zu sein. Einige luden durch und schossen wahllos um sich. Andere schlossen sich der Ballerei an.

Elke starrte den Konvoi mit aufgerissenen Augen an.

Hastig griff Tante Grete nach ihrem Arm, um sie mit sich zu reißen und hinter einen Trümmerhaufen zu flüchten. Doch zu spät. Ihre Nichte wurde vor ihren Augen von einer Gewehrkugel zu Boden geschleudert. Sofort sickerte eine Menge Blut aus dem Kopf des Kindes.

Zwei Tage später erwachte Elke in der unbekannten Welt eines Krankenhauses. Ihr Kopf war dick mit Verbänden umwickelt und tat weh. Hinter einer Glasscheibe sah sie ihre Mutter und ihren Großvater. Die beiden stießen sich gegenseitig an, klappten den Mund auf und zu, lachten mit Tränen in den Augen und winkten stürmisch.

„Mama! Opa!“ rief Elke und versuchte, sich zu erheben. Sie musste zu ihnen, doch seltsamerweise wollte es ihr nicht recht gelingen.

Stattdessen erschien ein unbekannter Mann in Weiß und begann sie zu untersuchen.