Die Sonntagsevangelien im Lesejahr A - Anke Lechtenberg - E-Book

Die Sonntagsevangelien im Lesejahr A E-Book

Anke Lechtenberg

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Beschreibung

Die christliche Verkündigung hat, wie es scheint, nicht nur die Innerlichkeit verloren und stattdessen das bloße Für-wahr-Halten von Glaubenssätzen betont, sie scheint in ihrer Rede von Gott auch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten hundert Jahre vielfach außer Acht zu lassen. Diesem geistlichen und reflexiven Dilemma begegnet die Autorin der vorliegenden Auslegungen, indem sie die Botschaft Jesu als Prozess spirituellen und menschlichen Reifens erschließt, der in eine Tiefe und Fülle von Bewusstheit, Sinn und Lebendigkeit führt, die ihresgleichen sucht. Dabei bedient sie sich einer Sprache, die, lebendig und theologisch sorgfältig, durch und durch anschlussfähig ist für das Weltverständnis und die Lebenserfahrungen von heute. Es folgen die Bände für die Lesejahre B und C.

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Anke Lechtenberg

DieSONNTAGSEVANGELIENim Lesejahr A

Auslegungen für Predigtund Meditation

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg

Tel. 0941/920220 | [email protected]

ISBN 978-3-7917-3367-8

Reihen-/Umschlaggestaltung: www.martinveicht.de

Umschlagbild: Majestas Domini, Krypta der Kathedrale von Auxerre (11. Jh.).

Foto: Hervé Champollion / akg-images

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2022

eISBN 978-3-7917-6223-4 (epub)

Unser gesamtes Programm finden Sie im Webshop unter

www.verlag-pustet.de

Inhalt

Vorwort

Wenn dich morgen dein Kind fragt …

Statt einer Einführung

Advent

Habitare secum – Wohnen bei sich selbst

Erster Adventssonntag: Mt 24,29–44

Alles auf Anfang

Zweiter Adventssonntag: Mt 3,1–12

Heilsame Irritation

Dritter Adventssonntag: Mt 11,2–11

Nach innen hören

Vierter Adventssonntag: Mt 1,18–24

Die Weihnachtszeit

Mehr als ein schönes Spiel?

Weihnachten – In der Heiligen Nacht: Lk 2,1–14

Nicht ohne dich

Weihnachten – Am Tag (= Zweiter Sonntag nach Weihnachten): Joh 1,1–5. 9–14

Mitfühlen

Fest der Heiligen Familie: Mt 2,13–15. 19–23

Vorwärts leben

Hochfest der Gottesmutter Maria: Lk 2,16–21

Wegweiser Sehnsucht

Erscheinung des Herrn: Mt 2,1–12

Lebe das Original!

Taufe des Herrn: Mt 3,13–17

Die Fastenzeit

Ohn-Macht

Erster Fastensonntag: Mt 4,1–11

Bleib(t) der Erde nah

Zweiter Fastensonntag: Mt 17,1–9

Die Quelle in dir

Dritter Fastensonntag: Joh 4,5–42

Sehen lernen

Vierter Fastensonntag: Joh 9,1–41

Verbannt Gott nicht ins Nichts!

Fünfter Fastensonntag: Joh 11,1–45

Die Kar- und Ostertage

Wenn es auch Nacht ist

Palmsonntag: Mt 26,14–27,66

Umsonst gestorben?

Gründonnerstag: Joh 13,1–15

Wenn Gott keine Chance hat

Karfreitag: Joh 18,1–19,42

Schweigen. Hoffen.

Karsamstag

Was kein Auge gesehen hat

Osternacht: Mt 28,1–10

Über alle Tode hinweg

Ostersonntag – Am Tag: Joh 20,1–18

Die Osterzeit

Im Gepäck eine Sehnsucht, die bis an den Himmel reicht

Ostermontag: Lk 24,13–35

Die Wucht des Lebens

Zweiter Sonntag der Osterzeit: Joh 20,19–31

Von der wunderbaren Alltäglichkeit des Lebens

Dritter Sonntag der Osterzeit: Joh 21,1–14

Ein Mehr an Leben

Vierter Sonntag der Osterzeit: Joh 10,1–10

Unterwegs

Fünfter Sonntag der Osterzeit: Joh 14,1–12

Gott in uns

Sechster Sonntag der Osterzeit: Joh 14,15–21

Rückwärts verstehen

Christi Himmelfahrt: Mt 28,16–20

Behüt dich Gott

Siebter Sonntag der Osterzeit: Joh 17,1–11a

Friede sei mit euch

Pfingsten: Joh 20,19–23

Herrenfeste im Jahreskreis

Retten statt richten

Dreifaltigkeitssonntag: Joh 3,16–18

Für das Leben der Welt

Fronleichnam: Joh 6,51–58

Als Lernende im Schoß Gottes

Heiligstes Herz Jesu: Mt 11,25–30

Die Zeit im Jahreskreis

Er nimmt hinweg die Sünden der Welt

Zweiter Sonntag im Jahreskreis: Joh 1,29–34

Mir nach!

Dritter Sonntag im Jahreskreis: Mt 4,12–23

Lebens-Wert

Vierter Sonntag im Jahreskreis: Mt 5,1–12a

Ansteckend

Fünfter Sonntag im Jahreskreis: Mt 5,13–16

Dein Wille geschehe

Sechster Sonntag im Jahreskreis: Mt 5,17–37

Feindesliebe

Siebter Sonntag im Jahreskreis: Mt 5,38–48

Gottes Charme

Achter Sonntag im Jahreskreis: 6,24–34

Christliche Lebensart

Neunter Sonntag im Jahreskreis: Mt 7,21–27

Mit Zöllnern und Sündern

Zehnter Sonntag im Jahreskreis: Mt 9,9–13

Glaubwürdig?!

Elfter Sonntag im Jahreskreis: Mt 9,36–10,8

Fürchtet euch nicht!

Zwölfter Sonntag im Jahreskreis: Mt 10,26–33

Loslassen

13. Sonntag im Jahreskreis: Mt 10,37–42

Angewiesen

14. Sonntag im Jahreskreis: Mt 11,25–30

Gott reift

15. Sonntag im Jahreskreis: Mt 13,1–23

Unkraut oder Weizen?

16. Sonntag im Jahreskreis: Mt 13,24–30

Schatzsucher auf Lebenszeit

17. Sonntag im Jahreskreis: Mt 13,44–46

Unterschätzt euch nicht!

18. Sonntag im Jahreskreis: Mt 14,13–21

Auf der Angst meines Lebens gehen …

19. Sonntag im Jahreskreis: Mt 14,22–33

Gottvertrauen

20. Sonntag im Jahreskreis: Mt 15,21–28

Offen für Überraschungen

21. Sonntag im Jahreskreis: Mt 16,13–20

Bleib erschütterbar!

22. Sonntag im Jahreskreis: Mt 16,21–27

Konfliktmanagement

23. Sonntag im Jahreskreis: Mt 18,15–20

Siebzigmal siebenmal

24. Sonntag im Jahreskreis: Mt 18,21–35

Vergeben

Ein Nachtrag

Blind für das Gute

25. Sonntag im Jahrskreis: Mt 20,1–16

Nein sagen dürfen

26. Sonntag im Jahreskreis: Mt 21,28–32

Besitzen wollen

27. Sonntag im Jahreskreis: Mt 21,33–44

Ignorante Frömmigkeit

28. Sonntag im Jahreskreis: Mt 22,1–14

Was Gott gehört

29. Sonntag im Jahreskreis: Mt 22,15–21

Oberstes Gebot

30. Sonntag im Jahreskreis: Mt 22,34–40

Nicht Rabbi, nicht Vater, nicht Lehrer

31. Sonntag im Jahreskreis: Mt 23,1–12

Respektlose Nachlässigkeit

32. Sonntag im Jahreskreis: Mt 25,1–13

Mit allen Mitteln

33. Sonntag im Jahreskreis: Mt 25,14–30

Nicht der Rede wert?

34. Sonntag im Jahreskreis: Mt 25,31–46

Literatur

Vorwort

Den vorliegenden Auslegungen der Sonntagsevangelien im Lesejahr A liegt das Verständnis zugrunde, dass Christ-Sein ein Wandlungsweg ist, ein Prozess des spirituellen und menschlichen Reifens, dessen Ziel die Christus-Werdung des Menschen darstellt.

Im ersten Moment mag dies hoch gegriffen erscheinen, vielleicht sogar anmaßend, denn mit einem solchen Gedanken sind wir durch Verkündigung und Liturgie zumeist wenig vertraut. Doch diese Prämisse deckt sich mit dem biblischen Befund. Der Evangelist Johannes formuliert es so: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“ (Joh 1,12). Paulus wird im Brief an die Galater noch deutlicher: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Und den Römern schreibt Paulus: Er [Gott] hat uns dazu bestimmt, „an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben“ (Röm 8,29).

Der Kirchenvater Cyprian brachte das Gemeinte auf die Formel „Christianus alter Christus“, das heißt: der Christ/die Christin ist oder soll sein ein anderer Christus. In dieser Tradition formulierte der Lyriker und Mystiker Angelus Silesius das bekannte Wort: „Und wär Gott tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir – du bliebest hoffnungslos verloren.“

Gott hat das Bild seines Sohnes, das Bild eines zur Liebe gereiften, freien und vertrauensvollen Menschen, in unserer Seele angelegt. Es zur Entfaltung zu bringen, ist das höchste Ziel unserer christlichen Berufung. In ihm verlieren wir uns nicht, sondern finden hinein in unsere tiefste und innerste Identität.

Dieser Weg ist ein spannender, nicht selten auch spannungsreicher Prozess und das größte Abenteuer, dem ein denkender, fühlender, suchender Mensch sich stellen kann. Denn die Liebe Gottes, die in Jesus sichtbar wurde, will unsere Selbst- und Gottesbilder, unsere Wertvorstellungen, unsere Überzeugungen und Verhaltensweisen vom Kopf auf die Füße zurückstellen, damit wir so zu leben lernen, wie Gott sich Menschsein und Leben gedacht und ersehnt hat. Ja zu sagen zu diesem Abenteuer, das ist herausfordernd, bisweilen schmerzhaft – und führt doch in eine Tiefe und Fülle von Bewusstheit, Sinn und Lebendigkeit, die ihresgleichen sucht.

Was es für diesen Weg braucht, das sind Sehnsucht und Mut: die Sehnsucht nach Gott und den Mut zur Begegnung mit dem eigenen Inneren und der Wirklichkeit um uns herum.

Die Sehnsucht hat Gott selbst bereits in uns angelegt, denn nichts in unserer Welt vermag unsere suchenden, unruhigen, hungrigen Herzen wirklich zu „sättigen“ als Gott allein. „Solo dios basta“ – einzig Gott genügt, formulierte es die Kirchenlehrerin Teresa von Avila. Und der heilige Augustinus betete: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“ Gemeint ist damit die innere Beheimatung in einer persönlichen und lebendigen Gottesbeziehung.

Und der nötige Mut? Er ist die Frucht des Geistes Jesu, der seinen Jüngerinnen und Jüngern am Pfingsttag geschenkt wurde. Er lebt auch in uns und hilft uns und zieht uns.

Was aber müssen wir „machen“, was sollen wir konkret „tun“, um dem Ziel unserer Berufung nahe zu kommen? Die Antwort lautet: fast nichts. Wir können die Wandlung nicht selbst bewirken, sie geschieht an uns, wo wir uns im Meditieren der Evangelien von Jesus mitnehmen lassen in die Wirklichkeit Gottes hinein und wo wir das eigene Herz immer und immer wieder in den Lichtkegel seiner Gegenwart halten. Hilfreich ist es, sich dazu eine tägliche Zeit des Rückzugs zu gönnen. Sie muss nicht lang sein und erst recht nicht der „hehren Gedanken oder Worte“ voll. Es genügt, sich bewusst und still der Gegenwart Gottes zu öffnen und ihn im Licht des Evangeliums nach uns schauen und an uns wirken zu lassen.

Die vorliegenden Auslegungen sind geeignet, sowohl in der Liturgie als auch in der privaten geistlichen Lektüre ihren Raum zu finden. Mögen sie darüber hinaus dazu beitragen, Gottes Wort Raum finden zu lassen in unseren Herzen, in unserem Leben und durch uns in unserer Welt.

Wenn dich morgen dein Kind fragt …

Statt einer Einführung

„Wenn dich morgen dein Kind fragt:

Warum achtet ihr auf die Eidesbestimmungen und die Gesetze und die Rechtsentscheide, auf die der Herr, unser Gott, euch verpflichtet hat?, dann sollst du deinem Kind antworten:

Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten und der Herr hat uns mit starker Hand aus Ägypten geführt (…), um uns in das Land, das er unseren Vätern mit einem Schwur versprochen hatte, hineinzuführen und es uns zu geben.“ (Dtn 6,20–23)

Wenn dich morgen deine Tochter fragt

und wenn dich dein Sohn fragt,

wenn die nächste Generation kommt und die übernächste

und dich zu fragen beginnt,

was der Sinn ist

und wofür es denn lohnt, lebendig zu sein,

dann sollst du der Frage nicht ausweichen.

Du sollst dich fragen,

dich anfragen

und infrage stellen lassen.

Denn du selbst brauchst die Frage,

um lebendig zu bleiben.

Und wenn dich morgen deine Kinder und Kindeskinder,

deine Nichten und Neffen,

deine Schülerinnen und Schüler fragen,

dann sollst du ihnen die Antwort nicht vorenthalten.

Du sollst keine Ratschläge erteilen und nichts besser wissen.

Du sollst von dir erzählen:

vom Auf und Ab deines Lebens,

von seinen Katastrophen und Glücksfällen,

von deinen gescheiterten Hoffnungen und den gelungenen

Projekten.

Erinnere dich: Auch du warst Sklave des Pharao in Ägypten.

Auch dich musste der Herr mit starker Hand herausführen.

Sag ehrlich, dass du dankbar bist,

weil Weniges nur verdient war

und Vieles dir geschenkt wurde.

Sag ehrlich, dass du auch heute noch suchst,

weil das Leben verworren bleibt

und das Herz die Heimat nur erahnt.

Und wenn dich morgen dein Sohn, deine Tochter fragt,

wenn die nächste Generation kommt und die übernächste,

dann sollt ihr einander Geschichten erzählen,

Lebensgeschichten, Gottesgeschichten.

Erzählgemeinschaft sollt ihr sein

im Land der Verheißung:

gemeinsames Staunen, gemeinsames Hoffen,

als Suchende unterwegs zwischen Frage und Antwort –

heute und morgen und von Generation zu Generation.

ADVENT

Darum haltet auch ihr euch bereit!Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde,in der ihr es nicht erwartet.(Mt, 24,44)

Habitare secum – Wohnen bei sich selbst

Erster Adventssonntag: Mt 24,29–44

„Wer es könnte

die Welt

hochwerfen

dass der Wind

hindurchfährt.“1

Diese Worte der Schriftstellerin Hilde Domin verdeutlichen das Anliegen der jüdischen Apokalyptik, das in den Worten des heutigen Evangeliums anklingt. Es handelt sich um eine religiöse Strömung, die vom 6. Jahrhundert vor Christus bis in die Zeit der frühen Kirche hinein lebendig war und der es um die Erkenntnis ging, dass die Welt so hoffnungslos verfahren und verkommen ist, dass sie komplett aus den Angeln gehoben werden müsste, damit ein Neubeginn möglich würde. Der Untergang des Alten, den die Apokalyptik oft in katastrophalen Bildern schilderte, war deshalb nicht eigentlich gefürchtet, er wurde als Rettungstat Gottes vielmehr ersehnt.

Auch die frühe Kirche kannte diese Sehnsucht und verband den Neubeginn zunächst mit der Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag. Aber sie lernte im Laufe der Zeit, den Tag, an dem der Herr kommt, nicht mehr nur in die Zukunft zu vertagen, sondern ihn hier und jetzt bereits anbrechen zu sehen.

„Seid also wachsam!“ (Mt 24,42), das bedeutet in dieser Perspektive: Halte inne und nimm wahr, wieviel Gott, wieviel Wohlwollen und Güte schon in der Welt sind! Halte inne und nimm wahr, dass in der Tiefe deines Lebens bereits Größeres geschehen will als es die bloße Oberfläche von Essen, Trinken und Heiraten vermuten ließe! Halte inne und nimm wahr, dass dein ganz konkreter und banaler Alltag der Ort ist, an dem Gott nach dir sucht, an dem er dir entgegenkommt und in dir Wohnung nehmen will!

„Seid also wachsam!“, heißt deshalb auch: Werde dir deines Innenlebens bewusst. Nimm wahr, was dich bewegt und berührt, und nimm es an. Nichts musst du wegschieben oder versteckt halten. Alles darf vor dir und deinem Gott ins Licht kommen, damit sein „Wind“, sein Atem es verwandeln kann. Und selbst wenn dir manche Illusionen und Selbstbilder dabei zerplatzen können wie Seifenblasen; selbst wenn es sich anfühlen mag bisweilen, als würden dir die Sterne vom Himmel fallen und die Sonne sich verfinstern – hab keine Angst! Denn über dem Leben der Wachsamen liegt die Zusage, mitgenommen zu werden in eine Beziehung. Du findest im Wohnen bei dir selbst das Wohnen Gottes auf dem Grund deiner Seele.

„Habitare secum“ nannten dies die alten Wüstenväter und -mütter: Wohnen bei sich selbst unter den liebevollen Augen Gottes. Denn nicht gottlos ist unsere Welt, nicht „wert, dass sie zugrunde geht“ (Mephisto in Goethes Faust), sondern Ort seiner Geburt: vor mehr als 2000 Jahren in Betlehem und seitdem immer wieder, wo Menschen auf Vertrauen gegründet zur Liebe reifen. Heute bist du gerufen, seinen Advent geschehen zu lassen in dir und durch dich. Sei also wachsam.

1Hilde Domin, Hier. Gedichte, Frankfurt a. M. 1995, 33.

Bringt Frucht hervor, die eure Umkehr zeigt,und meint nicht, ihr könntet sagen:Wir haben Abraham zum Vater.(Mt 3,8–9)

Alles auf Anfang

Zweiter Adventssonntag: Mt 3,1–12

Lebensraum Wüste, Kleidung aus kratzendem Kamelhaar, als Nahrung wilde Heuschrecken und Honig: Johannes der Täufer ist eine verstörende Figur. Und doch ziehen „die Leute von Jerusalem und ganz Judäa und aus der ganzen Jordangegend“ (Mt 3,5) zu ihm hinaus. Offensichtlich trifft Johannes eine tiefe Sehnsucht in ihnen – die nämlich, mit dem Leben noch einmal von vorn beginnen zu können, klarer und wahrer von innen her: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe“ (Mt 3,2). Allen, bei denen diese Worte Resonanz finden, ist Johannes nahe. Er harrt aus an den Verworrenheiten ihres Gewordenseins und begleitet sie bis in den Neuanfang inmitten der Jordanfluten.

Als aber die religiöse high society aufkreuzt, wird es kritisch. Natürlich waren die Pharisäer und Sadduzäer keine schlechten Menschen, eher im Gegenteil. Sie bemühten sich um ein besonders strenges Leben nach den Geboten Gottes. Was aber Johannes partout nicht erträgt, das ist die Selbstgerechtigkeit, mit der sie meinen, „Gott und das Leben“ zu kennen und sich selbst qua abrahamitischer Herkunft auf der richtigen, der frommen Seite wähnen.

Gott und das Leben festzulegen auf die eigene Vorstellungswelt – in dieser Gefahr stehen alle (religiösen) Menschen. Deshalb stellt sich die Frage: In welcher Gruppe stünde ich dort am Jordan? Darf Johannes mich stören, meine Denk- und Deutemuster, meinen Lebensstil, sogar meine Gottesbilder und meine Frömmigkeit infrage stellen?

Der Philosoph Joseph Pieper bezeichnete die sogenannte „Akedia“, die Trägheit im menschlichen und religiösen Reifen, als „Werde-Angst“. Er meinte damit die Angst vor dem inneren Wachstum; die Angst vor der Wandlung, vor dem Loslassen des Alten und Gewohnten.

Wandlung ist keine Randerscheinung, sie ist die innerste Mitte unseres Glaubens. Über die Eucharistie prägte der heilige Augustinus den Satz: „Empfangt, was ihr seid, Leib Christi, damit ihr werdet, was ihr empfangt: Leib Christi.“

Johannes lädt uns ein, auch mit der Werde-Angst bewusst umzugehen und sie Gott hinzuhalten. Und er steigt mit hinein in die Fluten der nicht nur schönen Selbsterkenntnis, die einen dabei bedrängen können. Denn die Größe der eigenen Berufung zu erahnen und zu erkennen, wieviel Ängstlichkeit und deshalb Ungelebtes in mir schlummert, wieviel Leben ich mir und anderen versagt habe, wieviel Liebe, wieviel Zärtlichkeit und Wohlwollen, wieviel Gott ich nicht wagte – das bringt auch Trauer mit sich.

Das Gute ist jedoch: Genau sie kann unsere Beharrungskräfte überwinden. Denn Johannes in seiner Unbedingtheit hat ja recht: Es gibt keinen Aufschub. Wann sonst sollten wir beginnen, der tieferen Wahrheit unserer Seele zu folgen, wenn nicht jetzt?

Bist du der, der kommen soll,oder sollen wir auf einen anderen warten?Jesus antwortete ihnen:Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht …(Mt 11,2–3)

Heilsame Irritation

Dritter Adventssonntag: Mt 11,2–11

Der Theologe Johann Baptist Metz pflegte in seinen Vorlesungen mit Nachdruck zu betonen: „Das Christentums hat eine Moral, aber es ist nicht Moral.“ Damit kritisierte er die Tendenz, unsere Religion zum einen auf ein äußerlich „anständiges“ Leben zu verkürzen und zum anderen unser Über-Ich, also die verinnerlichten Ansprüche von Eltern oder Gesellschaft, mit Gott zu verwechseln.

Johannes der Täufer verkündete den großen Richter, der nach ihm komme, der „die Schaufel in der Hand“ halte, der die Spreu vom Weizen trennen und die Spreu in „nie erlöschendem Feuer verbrennen“ werde (vgl. Mt 3,12). Krasse Bilder! Heute aber hören wir, dass er irritiert ist: „Bist du der, der kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“ (Mt 11,3) Offensichtlich „richtet“ Jesus ganz anders, als Johannes es vom Messias erwartet und verkündet hatte.

„Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet“ (Mt 11,5). Jesus richtet, indem er heilt. Er urteilt nicht ab, er richtet auf. „Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (9,36), fasst Matthäus das Handeln Jesu später zusammen. Dieser Messias, an dem viele Anstoß nehmen (vgl. 11,6; 13,54 ff.), räumt nicht mit harter Hand auf. Er ist mitfühlend und heilsam. Denn moralische Appelle oder der „gute Wille“ erlösen nicht. Allein die Liebe hat die Macht, unser Herz zu verwandeln.

Deshalb besteht das Christ-Sein nicht darin, sich oder andere in das strenge Korsett hoher Ideen und Ideale zu zwängen, um die eigene „Moral“ unter Beweis zu stellen oder „Verdienste“ zu sammeln fürs Jenseits. Es geht um Radikaleres: Es geht darum, sich von Gott lieben und von Jesus heilen zu lassen, um selbst ein liebender und heilsamer Mensch zu werden.

Warum aber, wenn es so steht, sollte man daran Anstoß nehmen? Ist die Liebe, die uns bedingungslos geschenkt wird, nicht unsere tiefste Sehnsucht? Ja, das ist sie – aber auch unsere größte Herausforderung. Immer wieder verwechseln wir Gottes Liebe mit unseren menschlichen Beziehungserfahrungen; immer wieder – und oft unwillkürlicher und „schneller“ als wir es überhaupt bemerken – stehen wir in der Gefahr, mit Gott eine Art Geschäftsmodell zu betreiben. „Do ut des“, nannten es die alten Römer: Ich gebe dir, Gott, meine Gebete, meine „Opfer“, mein „anständiges“ Leben …, damit du mir gibst, was ich von dir erwarte.

Diese Haltung ist gleichermaßen verführerisch wie voller Unglauben. Verführerisch, weil sie der Illusion entspringt, Gott „bestechen“ zu können nach unseren eigenen Vorstellungen. Voller Unglauben, weil sie der Angst entspringt, Gott „zufriedenstellen“ zu müssen durch die eigene religiöse Leistung. Sich von Gott lieben und von Jesus heilen zu lassen, das bedeutet stattdessen, sich dem größten Geheimnis unseres Lebens mit leeren Händen anzuvertrauen.

Während er noch darüber nachdachte,siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte:Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht,Maria als deine Frau zu dir zu nehmen;denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist.(Mt 1,20)

Nach innen hören

Vierter Adventssonntag: Mt 1,18–24

In der Antike waren Träume als Ausdrucksform des Göttlichen hochgeschätzt. Später wurden sie diskreditiert als seelische Mechanismen zur bloßen Verarbeitung liegengebliebener Tageseindrücke. Zum Glück geht die Psychologie unserer Tage aus dieser rein funktionalen Betrachtungsweise hinaus und anerkennt unsere Träume als Seelenbewusstsein, das uns bisweilen Weiseres zu sagen hat als unser Tagesbewusstsein es vermag.

Gott sucht Menschen, in denen er wohnen, in denen er Wirklichkeit werden darf. Von seiner bittenden, bisweilen geradezu bettelnden Sehnsucht erzählt die gesamte Bibel Israels. Deshalb besteht das Abenteuer des Christ-Seins darin, auch ein bewusstes inneres Leben zu führen.

Josef ist im Hören nach innen ein exzellentes Vorbild. Eigentlich dachte er bereits darüber nach, sich von Maria zu trennen. Die Kränkung, die er durch ihre unverhoffte Schwangerschaft erfahren hatte, wog offensichtlich zu schwer. Dann aber träumt er – und am Ende heißt es wie selbstverständlich: „Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich“ (Mt 1,24). Josef ist sich seines Innenlebens bewusst. Er nimmt die Bilder seiner Seele wahr und er nimmt sie ernst. Das ist das Erste.

Das Zweite: Die Stimme, die im Traum zu ihm spricht, vermittelt ihm Trost („Fürchte dich nicht“, Mt 1,20) und Sinn („er wird sein Volk … erlösen“, Mt 1,21). Der heilige Ignatius von Loyola (1491–1556) sah darin ein wichtiges Kriterium der Unterscheidung: Was immer zu einem Mehr an tiefer Übereinstimmung mit uns selbst führt und zu einem Mehr an Sinn, Lebendigkeit und Liebe, das kommt von Gott. Alle anderen Stimmen, die aus Angst, aus inneren oder äußeren Zwängen oder aus Unzufriedenheit entspringen oder die uns dahin führen könnten, stammen nicht von Gott. Natürlich wird die Suche nach dem je Liebevolleren immer wieder kollidieren können mit unseren Plänen und Wünschen, mit unserer Lustsuche und Unlustvermeidung. Doch auch diese Spannungen gilt es unter dem liebevollen Blick Gottes wahrzunehmen und anzunehmen. Denn auch sie führen uns tiefer in die Wahrheit unseres Lebens.

Und als Drittes: Josef folgt seinem inneren Erleben. Er nimmt dieses schwebende, wenig greifbare, intuitive Geschehen so ernst, dass er daraus Wirklichkeit entstehen lässt. Er vertraut den inneren Prozessen und besitzt damit keine anderen Gewissheiten als wir.

Und so ist es immer ein aufmerksames Lauschen nach innen, ein waches Unterscheiden und schlussendlich eine „Geburt“ ins Konkrete – oder im Duktus dieses Evangeliums gesprochen: Immer sind dies die Voraussetzungen dafür, dass Gott (ein wenig mehr) ins Leben geboren wird. „Der ‚Gott mit uns‘ braucht Menschen wie Josef und Maria, um Mensch werden zu können, und es sieht fast so aus, als würde er ohne sie ein bloßer Traum bleiben.“2