Die Sonntagsevangelien im Lesejahr B - Anke Lechtenberg - E-Book

Die Sonntagsevangelien im Lesejahr B E-Book

Anke Lechtenberg

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Beschreibung

Im Zentrum des Lesejahrs B steht das Markusevangelium. Es ist nicht nur das älteste, sondern auch das rasanteste der drei synoptischen Evangelien. Mit einer ungeheuren Geschwindigkeit erzählt es, was geschieht, wenn das Reich Gottes nahekommt, und wie zwangsläufig es die Logik unserer Welt auf den Kopf stellt. Die Grenzenlosigkeit der Güte Gottes und die Bedingungslosigkeit seiner Liebe sprengen von Anfang an alle Kategorien, mit denen wir Menschen darauf bedacht sind, unsere Vorstellungen von "Ordnung" und Orthodoxie zu verteidigen. Die Autorin macht die Relevanz des Evangeliums für das je eigene Leben, insbesondere für die spirituelle und geistige Entwicklung heutiger Menschen sichtbar. Es zeigt sich: Das Markusevangelium ist nichts für den Status quo, weder für den von Welt und Kirche noch für den des eigenen Lebens. Genau das aber macht es so aufregend bis heute.

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Anke Lechtenberg

DieSONNTAGSEVANGELIENim Lesejahr B

Auslegungen für Predigtund Meditation

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg

Tel. 0941/920220 | [email protected]

ISBN 978-3-7917-3446-0

Umschlaggestaltung: www.martinveicht.de

Umschlagbild: Majestas Domini, Krypta der Kathedrale von Auxerre (11. Jh.),

Foto: Hervé Champollion / akg-images

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2023

eISBN 978-3-7917-6250-0 (epub)

Unser gesamtes Programm finden unter www.verlag-pustet.de

Inhalt

Vorwort

Die Methode der Schriftbetrachtung nach Ignatius von Loyola

Advent

Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit

Erster Adventssonntag: Mk 13,33–37

Anfangen mit Gottes Anfängen

Zweiter Adventssonntag: Mk 1,1–8

Gottes Unmittelbarkeit

Dritter Adventssonntag: Joh 1,6–8.19–28

Der Himmel ist in dir

Vierter Adventssonntag: Lk 1,26–38

Die Weihnachtszeit

Revolution der Menschlichkeit

Weihnachten – In der Heiligen Nacht: Lk 2,1–14

Worauf zu warten sich lohnt

Fest der Heiligen Familie: Lk 2,22–40

Prophet:in werden

Neujahr und Hochfest der Gottesmutter Maria: Lk 2,16–21

Wie groß Gott uns gewollt hat

Zweiter Sonntag nach Weihnachten: Joh 1,1–18

Sich führen lassen

Erscheinung des Herrn: Mt 2,1–12

Wie der Himmel aufreißt

Taufe des Herrn: Mk 1,7–11

Die Fastenzeit

Wüstenzeit

Erster Fastensonntag: Mk 1,12–15

Glück und Unglück, neubewertet

Zweiter Fastensonntag: Mk 9,2–10

Tempel des Lebendigen

Dritter Fastensonntag: Joh 2,13–25

Die Wahrheit tun

Vierter Fastensonntag: Joh 3,14–21

Ganz Mensch

Fünfter Fastensonntag: Joh 12,20–33

Die Kar- und Ostertage

Ist es möglich, dass die ganze Weltgeschichte missverstanden wurde?

Palmsonntag: Mk 14,1–15,47

Aufbruch

Gründonnerstag, Erste Lesung: Ex 12,1–8.11–14

Eden – Getsemani

Gründonnerstag in der Nacht: Mk 14,32–42

Bedingungslos und gratis

Karfreitag: Joh 18,1–19,42

Vertrauen nach vorne

Osternacht oder Ostern – Am Tag: Mk 16,1–7

Die Osterzeit

Die Frage leben

Ostermontag: Lk 24,13–35

Anwesend sein für die Erfahrung

Zweiter Sonntag der Osterzeit: Joh 20,19–31

Es hat bereits begonnen

Dritter Sonntag der Osterzeit: Lk 24,35–48

Hirte, Hirten, Oberhirten?

Vierter Sonntag der Osterzeit: Joh 10,11–18

Bleiben

Fünfter Sonntag der Osterzeit: Joh 15,1–8

Lernwege der Liebe

Sechster Sonntag der Osterzeit: Joh 15,9–17

Immanenz und Transzendenz

Christi Himmelfahrt: Mk 16,15–20

„Welt“ oder Liebe?

Siebter Sonntag der Osterzeit: Joh 17,6a.11b–19

Spannungen

Pfingsten – Am Tag: Joh 20,19–23

Herrenfeste im Jahreskreis

Freiheit und Liebe

Dreifaltigkeitssonntag: Mt 28,16–20

Das Feine in der Tiefe aufspüren

Fronleichnam: Mk 14,12–16.22–26

Denn Gott bin ich und nicht Mann

Heiligstes Herz Jesu, Erste Lesung: Hos 11,1.3–4.8a.c–9

Die Zeit im Jahreskreis

Was sucht ihr?

Zweiter Sonntag im Jahreskreis: Joh 1,35–42

Wenn das Reich Gottes nahekommt

Dritter Sonntag im Jahreskreis: Mk 1,14–20

Gottes Reich und Religion – ein überraschend spannungsreiches Verhältnis

Vierter Sonntag im Jahreskreis: Mk 1,21–28

Wie Nachfolge beginnt

Fünfter Sonntag im Jahreskreis: Mk 1,29–39

Das Ende der Scham

Sechster Sonntag im Jahreskreis: Mk 1,40–45

Lass dich nichts gereuen, was vergangen ist!

Siebter Sonntag im Jahreskreis: Mk 2,1–12

Entgrenzungen

Achter Sonntag im Jahreskreis: Mk 2,18–22

Herr über den Sabbat

Neunter Sonntag im Jahreskreis: Mk 2,23 – 3,6

Unterbrechung

Zehnter Sonntag im Jahreskreis: Mk 3,20–35

Beharrliche Gelassenheit

Elfter Sonntag im Jahreskreis: Mk 4,26–34

Ist da jemand, der mein Herz versteht?

Zwölfter Sonntag im Jahreskreis: Mk 4,35–41

Mit einem Teil des Lebens noch einmal von vorn beginnen

13. Sonntag im Jahreskreis: Mk 4,21–43

In der Schwebe des Lebendigen bleiben

14. Sonntag im Jahreskreis: Mk 6,1b–6

Als Empfangender unter Empfangenden

15. Sonntag im Jahreskreis: Mk 6,7–13

Chronos und Kairos

16. Sonntag im Jahreskreis: Mk 6,30–34

Was Menschen sättigt

17. Sonntag im Jahreskreis: Joh 6,1–15

Vom Unersetzlichen genährt

18. Sonntag im Jahreskreis: Joh 6,24–35

Gott neu lernen

19. Sonntag im Jahreskreis: Joh 6,41–51

Wandlung

20. Sonntag im Jahreskreis: Joh 6,51–58

Gehorsam der eigenen Erfahrung

21. Sonntag im Jahreskreis: Joh 6,60–69

Traditionen

22. Sonntag im Jahreskreis: Mk 7,1–8.14–15.21–23

Von der Unaustauschbarkeit der eigenen Stimme

23. Sonntag im Jahreskreis: Mk 7,31–37

Von der Freiheit, untröstlich zu werden

24. Sonntag im Jahreskreis: Mk 8,27–35

Dienen

25. Sonntag im Jahrskreis: Mk 9,30–37

Von Verführung und Verantwortung

26. Sonntag im Jahreskreis: Mk 9,38–43.45.47–48

Wenn Gottes Reich anbricht …

27. Sonntag im Jahreskreis: Mk 10,2–16

Loslassen

28. Sonntag im Jahreskreis: Mk 10,17–30

Reichtum

Ein Nachtrag

Christliche Beziehungsgestaltung

29. Sonntag im Jahreskreis: Mk 10,35–45

Blindheiten

30. Sonntag im Jahreskreis: Mk 10,46b–52

Vom wahren Gottesdienst

31. Sonntag im Jahreskreis: Mk 12,28b–34

Was Religion ist – und was sie nicht ist

32. Sonntag im Jahreskreis: Mk 12,38–44

Gott reift

33. Sonntag im Jahreskreis: Mk 13,24–32

Was bleibt, ist Liebe

34. Sonntag im Jahreskreis: Joh 18,33b–37

Literatur

Vorwort

Das Markusevangelium, das uns durch das Lesejahr B begleitet, ist nicht nur das älteste, sondern auch das rasanteste der drei synoptischen Evangelien. Es erzählt mit einer ungeheuren Geschwindigkeit, was geschieht, wenn das Reich Gottes nahekommt und wie zwangsläufig es die Logik unserer Welt auf den Kopf stellt. Bemerkenswert ist dabei, dass Jesus in kürzester Zeit ausgerechnet in den Widerspruch zu den Glaubenshütern seiner Religion gerät. Er verkündet und lebt seinen Gott so zugewandt und bedingungslos gütig, dass alle Kategorien, mit denen gerade die religiöse Obrigkeit „Ordnung“ und Orthodoxie zu verteidigen sucht, ins Wanken geraten. Diese „besonders Frommen“ sind es denn auch, von denen Markus bereits im dritten Kapitel seines Evangeliums erzählt (vgl. Mk 3,6), dass sie den Beschluss fassen, Jesus zu töten, weil er ihre Vorstellungen von Gott, ihr Auslegungsmonopol, ihr Ansehen, ihre Macht über Menschen stört.

Um diese Dynamik wahrzunehmen, genügt es eigentlich nicht, einmal in der Woche einen Abschnitt des Markusevangeliums im Sonntagsgottesdienst zu hören. Besser ist es, das Gesamtwerk auf sich wirken zu lassen, es also am Stück zu lesen oder sich vorlesen zu lassen. Für die letzte Variante finden sich auf Youtube zahlreiche Möglichkeiten und im Alltag sicher die unterschiedlichsten Zeitfenster. Die Kraft des Wortes Gottes wirkt – ganz gleich, wo und wie wir uns ihm öffnen.

Wer sich darauf einlässt, steht allerdings in der „Gefahr“, vom Weg und von der Weite Jesu ergriffen zu werden und neu zu beginnen mit dem Königtum Gottes und mit dem eigenen (Glaubens-)Leben. Das ist nicht harmlos, denn Menschen, die in der Kraft des Evangeliums leidenschaftlicher zu leben und tiefer zu lieben beginnen, geraten und gerieten nicht selten selbst in den Widerspruch zu den herrschenden Idealen ihrer Zeit und sogar zur etablierten Kirche. Auch davon erzählt die fast 2000-jährige Geschichte des Christentums und in ihr die Lebensgeschichten der vielen heiligen Menschen, die zu Lebzeiten in Schwierigkeiten, nicht selten sogar ins Kreuzfeuer der kirchlichen Inquisition gerieten. Heute verehren wir sie und vergessen darüber vielleicht, dass Heiligsprechungen stets posthum geschehen. Natürlich kann man das Leben eines Menschen erst vom Ende her ganz wahrnehmen, aber es ist dies eben auch ein Zeitpunkt, an dem die offenen Konflikte beendet sind und der oder die Betreffende nicht mehr „gefährlich“ ist oder werden kann. Verbunden damit ist stets die Gefahr, den ursprünglich unerhörten Anspruch ihres/seines Lebens ungehört ins bestehende System zu integrieren.

Einer solchen Verharmlosung, bezogen auf Jesus selbst, widerspricht der Evangelist Markus auf Schritt und Tritt. Sein Evangelium ist – schärfer noch als das der anderen Synoptiker – nichts für den lieblosen Status quo: weder für den von Welt und Kirche noch für den des eigenen Lebens.

Genau das macht es so aufregend bis heute.

Die vorliegenden Auslegungen beziehen sich, wie der Titel es verspricht, auf die Sonntagsevangelien. An Gründonnerstag und am Fest des Heiligsten Herzens Jesu werden in diesem Band jedoch die ersttestamentlichen Lesungen als markante Beispiele biblischer Überlieferung in den Vordergrund gestellt.

Die Methode der Schriftbetrachtung nach Ignatius von Loyola

Christ-Sein ist nur vordergründig ein Bekenntnis, in seiner Tiefe ist es ein Wandlungsweg. Jesus war kein Meister einer neuen Theorie, sondern eines neuen Lebens. Er hat seine Jünger nicht nur gelehrt, er hat sie auf (s)einen Weg gerufen. Sie sollten Tag für Tag bei ihm sein und an seiner Seite lernen, was es bedeutet und was geschieht, wenn Gottes Reich nahekommt. Dabei ging es um nicht weniger als um eine Umwandlung ihrer Wertvorstellungen, ihres Fühlens, ihrer Ziele und ihrer Lebensweise. In dieses Abenteuer eines Lebens, das Maß zu nehmen lernt an Jesus selbst, sind auch wir gerufen.

Sein Wort „Hinter mich! Mir nach!“ gilt ja für immer und meint jetzt uns. Als Christinnen und Christen sind wir Lernende in seiner Spur, und was es dazu braucht, ist auch heute die Begegnung mit ihm und das Leben an seiner Seite.

Der heilige Ignatius von Loyola (1491–1556), Mitbegründer des Jesuitenordens und ein Meister geistlichen Lebens, entwickelte eine Form der Schriftbetrachtung, die uns selbst mitten ins Evangelium hineinstellt, und zwar mit allem, was unser wirkliches Leben je jetzt ausmacht. Es geht deshalb nicht darum, fromme Gedanken zu entwickeln oder das Evangelium exegetisch oder theologisch zu analysieren. Wichtig ist stattdessen ein unverstelltes Wahrnehmen sowohl des Erzählten als auch der Resonanz, die das Erzählte im eigenen Inneren auslöst. Ignatius schlägt dafür die folgenden konkreten Schritte vor:

Ankommen

Einen möglichst ruhigen Ort, eine einfache Gebets- oder Meditationsecke etwa, und einen ungestörten Zeitraum wählen. Im Aufsuchen dieses Zeit-Raumes das Bewusstsein weiten: „vielleicht ein Blick durchs Fenster, eine Positionierung im Universum – vor dem Gott, in dem ‚wir leben, uns bewegen und sind‘ (Apg 17,28).“1 Sich gewahr werden: Ich betrete wie Mose heiligen Boden. Dann die Körperhaltung einnehmen – Stehen, Sitzen, Knien, Liegen –, die jetzt am hilfreichsten ist.

In Beziehung treten

Ein Gebet des Vertrauens und der Hingabe beten (vgl. Gotteslob 6, 8, 9) und/oder mit eigenen Worten aussprechen, was ich in der Beziehung zu Gott am meisten ersehne.

In den Schrifttext eintauchen

Den gewählten Schrifttext langsam und aufmerksam, vielleicht mehrfach lesen. Sich Wort für Wort überraschen lassen. Dann die biblische Szene vor dem inneren Auge mit allen Sinnen lebendig werden lassen wie die Kulisse eines Filmes. Meine Vorstellungskraft sieht, hört, schmeckt, ertastet, riecht, was sich in der Szene tut: Wie sieht der Schauplatz aus? Welche Geräusche sind zu hören, welche Gerüche zu riechen? Wie fühlt sich der Ort an? Welche Personen sind anwesend? Wie stehen sie zueinander? Was geschieht zwischen ihnen? Was denken, sagen, tun und fühlen sie?

Sich identifizieren

Sich in das Geschehen hineinleben und den eigenen Ort in der Szenerie entdecken. Gibt es eine Rolle, die ich gerne spielen möchte – oder bleibe ich lieber am Rand? Was fühle ich? Was berührt und betrifft mich? Was tröstet und heilt? Aber auch: Was ärgert mich? Was löst meinen Widerspruch aus? Was langweilt mich? Was lasse ich lieber nicht an mich heran?

Beten

Das innere Geschehen mit Gott, Jesus oder Maria ins Gespräch bringen. Sehen lassen, was mich beschäftigt, bewegt oder aufwühlt, und ihm so eine innere Ausrichtung geben. Mit einfachen, ehrlichen Worten danken, loben, bitten, schimpfen, klagen, fragen … Und selbst wenn mich nichts bewegt: Auch das Gott, Jesus oder Maria hinhalten.

Die Meditationszeit durch ein vertrautes Gebetswort oder eine Geste abschließen: ein Vaterunser, ein Kreuzzeichen, eine Verneigung.

Rückblick

Die Meditationszeit kurz reflektieren. Was geht mir nach? Was habe ich erkannt? Möchte ich etwas notieren? Was will sich auswirken in meinem Leben?

1Willi Lambert, Gotteskontakt, 64.

ADVENT

Seid also wachsam!Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt.(Mk 13,35)

Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit

Erster Adventssonntag: Mk 13,33–37

Achtsamkeit als Schlüssel zum Glück – unter dieser Überschrift lassen sich viele Buchtitel subsumieren, die in den letzten Jahren auf den Markt kamen und regen Absatz fanden. Offensichtlich trafen oder treffen sie eine große Sehnsucht nach entschleunigtem und bewusstem Leben. Dazu jedenfalls laden die meisten Ratgeber ein: den Augenblick wahrzunehmen, gesammelt im Jetzt zu leben und mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu spüren, was gerade „dran“ ist. So wenig diese Kunst vom Himmel fällt, so sehr sie – was viele Ratgeber gerne verschweigen – geduldig geübt werden muss, sie ist gut und tut gut. Denn auch Hirnforscher konnten inzwischen nachweisen, wie sehr unaufmerksames Multitasking unsere Gehirne stresst und uns wegführt von uns selber.

Auch Jesus lädt zur Achtsamkeit, zur Wachsamkeit ein, doch es gibt einen entscheidenden Unterschied. Die Wachsamkeit, zu der er uns ruft, richtet sich nicht nur auf den jeweiligen Augenblick, sondern auf die in ihm enthaltene Tiefendimension des Lebens, auf das Kommen des Hausherrn nämlich, wie Jesus es formuliert.

Das Christentum ist eine inkarnatorische Religion: Gott hat sich in die wirkliche Wirklichkeit unserer Welt hineingegeben. Deshalb bezieht sich die Ankunft Christi, von der im Advent so vielfach die Rede gehen wird, nicht nur auf die Geburt Jesu und auf sein Wiederkommen am Ende der Zeiten. Es gibt eine dritte Ankunft, und die geschieht je jetzt: „ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen“ (Mk 13,35). „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit“, formuliert es ein bekannter Buchtitel. Damit ist nicht gemeint, dass alles, was uns im Leben geschieht, eins zu eins von Gott kommt. Es heißt aber, dass wir uns in allem der Begegnung mit ihm öffnen und uns von ihm ansprechen lassen können. In der Haltung solcher Wachsamkeit kann uns die dampfende Tasse Kaffee oder Tee am Beginn des neuen Tages ebenso von Gottes Güte erzählen wie die Schönheit eines Regenbogens oder die Liebe der Menschen, die uns umgeben. Genauso kann Gott vernehmbar werden als Aufschrei gegen Unrecht und Gleichgültigkeit in einem Flüchtlingskind, das im Mittelmeer ertrinkt; als Widerstand gegen Umweltzerstörung und Gewalt oder als Erschrecken in allen, die Krieg und die „Zeitenwende“ der neuen Aufrüstung mit Abscheu erleben.

Der Jesuitenpater Alfred Delp, 1944 von den Nazis hingerichtet, formulierte es während seiner Inhaftierung so: „Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er uns gleichsam entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis zu dem Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott hervorströmen. Dies gilt für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, liebende Antwort.“2

Gott ist nicht fern von uns, aber er ist leise. Er drängt sich nicht auf, denn das widerspräche der Liebe. Deshalb braucht er unsere Haltung offener, aufmerksamer Wachsamkeit, die tiefer schaut und sein beständiges Auf-mich-zu-Kommen zu entdecken lernt. Der heilige Ignatius von Loyola, Meister des geistlichen Lebens, schlägt dafür vor, des Abends bewusst zurückzuschauen und den vergangenen Tag auf Gottes Spuren zu befragen. So wachsen wir in den Advent hinein, der immer ist: täglich, stündlich, minütlich, ein ganzes Leben lang. Die vor uns liegenden adventlichen Wochen des Kirchenjahres wollen uns auch dafür sensibilisieren.

2Alfred Delp, zitiert nach: Willi Lambert, Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit, 12.

Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.(Mk 1,8)

Anfangen mit Gottes Anfängen

Zweiter Adventssonntag: Mk 1,1–8

„Eigentlich bin ich ganz anders – ich komm nur so selten dazu!“, meinte der österreichisch-ungarische Schriftsteller Ödön von Horváth in einem Buchtitel und trifft damit ein Gefühl, das viele Menschen kennen. Wenn man genau hinschaut, geschieht diese Entfremdung von uns selbst, geschehen also auch die meisten Fehler unseres Lebens nicht aus böser Absicht, sondern aus Angst und/oder aus Minderwertigkeitsgefühlen. Sie verführen zu Unwahrhaftigkeit und zu falscher Anpassungsbereitschaft. Außerdem verlocken sie dazu, auf vielfältige Weise kompensiert zu werden: durch Macht und Einfluss zum Beispiel, durch unnützen Konsum, durch die Abwertung anderer …

Der Evangelist Markus verheißt bereits mit den ersten Worten seines Evangeliums, dass in Jesus das Gegenprogramm erfahrbar wird, nämlich Freiheit und Weite. Die Schriftzitate, die Markus nutzt, erinnern nicht nur an die Befreiung des Volkes Israel aus der Katastrophe des Babylonischen Exils, sondern auch an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten. Damit bilden die beiden größten und glücklichsten Rettungstaten Gottes in der Geschichte Israels den Kern des Anfangs von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Diesen befreienden Neuanfang setzt Johannes der Täufer nun regelrecht in Szene.3 Denn wer in der Taufe hindurchgeht durch die Fluten des Jordan, der darf wie Israel am Schilfmeer alles hinter sich lassen, was niederbeugt und klein hält, was unfrei und unmenschlich macht.

Das klingt gut, mag man einwenden, doch wie soll das Wirklichkeit werden, wenn unsere größte Not womöglich nicht unsere fehlende Moral, sondern unsere Angst ist, im Tiefsten nichts wert zu sein? Es kann ja niemand per Willensentschluss entscheiden, sich von nun an wertvoll zu fühlen.

Auch hier hilft es, die ersten Worte des Markusevangeliums sehr genau zu lesen. Denn wo immer das Wort „Anfang“ so dezidiert auftaucht, wie Markus es nutzt, stand kundigen Bibelleserinnen und -lesern der allererste Anfang vor Augen, und das ist die Schöpfungstat Gottes und seine tiefe Freude an allem Geschaffenen. „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe: Es war sehr gut!“ (Gen 1,31)

„Bei mir bist du schön!“, heißt es in einem bekannten Liedtitel. „Bei mir bist du schön!“, sagt auch Gott. Unter diesen liebenden Blick wollte Jesus alle Menschen zurückholen. Er wird mit Heiligem Geist taufen, sagt Johannes dazu, denn Heiliger Geist ist das Wirken der Liebe Gottes in unseren Herzen. Es führt zuallererst in die Selbstannahme, die der Religionsphilosoph Romano Guardini in seinem gleichnamigen Büchlein nicht als Egoismus, sondern als Tugend bezeichnete. Denn aus der Selbstannahme folgen Gelassenheit und Frieden, auch die anderen anzunehmen, wie sie sind.

Hab also den Mut und die Geduld, deine unwahren Selbstbilder wahrzunehmen, um sie mehr und mehr loszulassen. Folge dem Ruf des Geistes in deinem Herzen und kehre immer wieder zurück unter den liebevollen Blick, mit dem Gott dir sagt: „Eigentlich bist du ganz anders – eigentlich bist du schön!“

3Vgl. N. T. Wright, Markus für heute, 16.

Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt.(Joh 1,26)

Gottes Unmittelbarkeit

Dritter Adventssonntag: Joh 1,6–8.19–28

Offensichtlich ist der Tempelbetrieb in Jerusalem auf Johannes’ Wirken am Jordan aufmerksam geworden, und so werden Priester und Leviten geschickt, um diesen merkwürdigen Täufer zu begutachten. Natürlich kennen sie sich in Sachen Messiaserwartung aus. Deshalb fragen sie nach Elija und nach dem Propheten, der im Buch Deuteronomium (Dtn 18,15) verheißen ist und mit Mose assoziiert wurde. Beide galten als Vorläufer des Messias. Ein Johannes der Täufer hingegen war in den religiösen Erwartungen des antiken Judentums gar nicht vorgesehen. Er irritiert und soll sich legitimieren: „Wer bist du? Wir müssen denen, die uns gesandt haben, Antwort geben.“ (Joh 1,22)

Johannes antwortet mit einem Jesaja-Zitat, das den zweiten Exodus, den Auszug aus dem Babylonischen Exil, verheißen hatte. Es liegt also tatsächlich Großes und Befreiendes in der Luft, und eigentlich müsste es die Priester und Leviten geradezu elektrisieren. Doch merkwürdig: Es interessiert sie gar nicht weiter, denn gerade jetzt, wo das Gespräch spannend werden könnte, lässt der Evangelist Johannes sie schweigend abtreten. Damit verdeutlicht er die Worte seines Prologs: „Er [Jesus] kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1,11)

Der Konflikt, der sich hier von Anfang an abzeichnet, betrifft nicht das jüdische Volk als Ganzes, sondern seine religiösen Autoritäten. Im Gegensatz zu ihnen hatte Johannes auf eine Priesterkarriere in der Nachfolge seines Vaters Zacharias verzichtet und war stattdessen in die Wüste gegangen. Von dorther, aus dem Erfahrungsraum existenzieller Gottesbegegnung, bereitet er dem Logos, dem Wort Gottes, das mit Jesus in die Welt kommen will, den Weg.

Diese Perspektive ist bemerkenswert: Der Gott Israels bedient sich nicht klerikaler Gelehrsamkeit, damit Menschen zum Glauben kommen. Er setzt auch nicht auf die, die meinen, qua kultischer Legitimation besonders fromm oder wichtig zu sein. Er nimmt solche in Dienst, die sich ihm existenziell und unmittelbar zur Verfügung stellen und die sich dessen bewusst sind, wer sie nicht sind. Die erste Antwort des Johannes auf die Frage, wer er sei, ist eine Verneinung: „Ich bin nicht der Messias“.

Was an Johannes dem Täufer sichtbar wird, ist die gleichermaßen befreiende wie herausfordernde Tradition des gesamten Ersten Testaments, in dem JHWH kein Gott des religiösen Status quo ist, kein Gott, der in Tempeln aus Stein angebetet, von Priestern verwaltet und mit strenger Gesetzesobservanz verehrt werden will. JHWH ist ein Gott auf dem Weg, ein Gott lebendiger Beziehung und Begegnung, wie Jesus selbst ihn abbilden wird.

„Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt“, sagt Johannes deshalb den Pharisäern, die zwar nicht zum Tempel zählten, die aber in der Gefahr standen, die innere Gottesbeziehung mit dem Befolgen äußerer Vorschriften zu verwechseln. Damit hatten auch sie – ähnlich wie der Jerusalemer Tempelbetrieb – Gott selbst viel zu oft im Wege gestanden. Und das gilt bis heute: Wer Gott in Kirchen, Traditionen und religiösen Gesetzen einsperren und verwalten will, wer sich als „Mittler“ zwischen ihm und seinen Menschen aufspielt, kennt ihn nicht. Denn „nur einer ist Mittler: Christus.“ (1 Tim 2,5) In ihm ist Gott jedem Menschen unmittelbar nahe. Der Stimme Gottes leiht Johannes am Jordan die eigene Stimme, damit die Menschen, die zu ihm kommen, die Stimme Gottes in ihrem Inneren neu zu hören lernen. „Ebnet den Weg für den Herrn!“, das kann jeder Mensch nur ganz persönlich, indem er oder sie zu leben beginnt, was für ihn oder sie von Gott her „stimmig“ ist. Gemessen am ersttestamentlichen Befund ist das zwar kein grundlegend neues Religionsverständnis, aber doch ein Neubeginn, der nötig ist, wenn das Reich Gottes nahekommt, wie Jesus es verkünden wird.

Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir.(Lk 1,28)

Der Himmel ist in dir

Vierter Adventssonntag: Lk 1,26–38

Man kann die Erzählung von der Verkündigung und die Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria als einmaliges wunderbares Geschehen lesen und es mit dem Staunen bewenden lassen, dass so etwas Großes vor 2000 Jahren möglich war. Man kann aber auch dem Rat des heiligen Ignatius von Loyola folgen und sich selbst in dieses Evangelium hineingeben. Dann wird die Erzählung von der Menschwerdung Gottes zu unserer eigenen Geschichte, und im Verständnis der christlichen Mystiker ist sie das auch. Maria – das sind wir selber, und die Geburt, um die es geht, ist Gottes Geburt in uns. Der Mystiker Angelus Silesius formulierte es so: „Und wär Gott tausendmal in Betlehem geboren und nicht in dir, du bliebest hoffnungslos verloren.“

Der Evangelist Lukas erzählt, Maria lebte in einer „Stadt in Galiläa namens Nazaret“. Bereits das ist wichtig, denn nicht erst in der Wüste oder auf einsamen Bergen, nicht erst in Klöstern und Klausen wird Gott vernehmbar, sondern da, wo du gerade lebst: „Halt an, wo läufst du hin! Der Himmel ist in dir. / Suchst du ihn anderswo, du fehlst ihn für und für“, so noch einmal Angelus Silesius. In der Tiefe deiner selbst wird Göttliches erfahrbar, heißt das, wo immer du nach innen zu hören und Gottes Stimme zu erlauschen beginnst.

Doch lass dich nicht verwirren, wenn du zuallererst das chaotische Stimmengewirr deiner eigenen „inneren Stadt“ wahrnehmen wirst: Gefühle, Gedanken, Gesprächsfetzen, der Streit vom Vortag, Unerledigtes, Zukunftsängste … All das wird laut in der Stille und am liebsten liefe man fort. Doch so geht es allen, die mit dem Hören nach Innen beginnen, und das ist „normal“.