Die Sprache der Menschlichkeit - Christie Watson - E-Book

Die Sprache der Menschlichkeit E-Book

Christie Watson

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Beschreibung

Mit ganzem Herzen im Einsatz fürs Leben

Sie ist hellwach und ihre Hände sind ruhig, auch wenn das Geschehen um sie herum ihr oft genug das Herz zerreißt. Christie Watson war über zwei Jahrzehnte als Pflegfachkraft im Einsatz und erzählt in bewegenden Geschichten von Neuanfang, Hoffen und Abschied im Krankenhaus. Sie nimmt uns mit in die flirrende Atmosphäre der Notaufnahme, wo Schwerverletzte hinter dünnen Vorhängen erstversorgt werden, wo Drogensüchtige im Delirium warten neben Patienten wie der Witwe Betty, die leise über Brustschmerzen klagt und Zuwendung braucht. Auf der Kinder-Intensivstation kämpft sich der kleine Emanuel trotzig ins Leben. Und was auf der Krebsstation am Ende wirklich zählt, begreift Christie, als ihr Vater im Sterben liegt. Jeder von uns erkrankt irgendwann einmal im Leben. Und jeder wünscht sich, dann nicht nur richtig, sondern gut behandelt zu werden. Christie Watson erinnert daran, was uns alle verbindet: Die universelle Sprache der Menschlichkeit.

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Seitenzahl: 421

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Buch

Sie ist hellwach und ihre Hände sind ruhig, auch wenn das Geschehen um sie herum ihr oft genug das Herz zerreißt. Christie Watson hat über zwei Jahrzehnte als Pflegekraft gearbeitet. Sie erzählt bewegende Geschichten von der Geburt bis zum Tod, vom Bangen und Hoffen, von Abschied und Neuanfang im Krankenhaus. Wir tauchen ein in die flirrende Atmosphäre der Notaufnahme, wo Schwerverletzte hinter dünnen Vorhängen versorgt werden und wo Drogensüchtige im Delirium warten neben Patienten wie der Witwe Betty, die leise über Brustschmerzen klagt und niemandem zur Last fallen möchte. Auf der Intensivstation erleben wir ein Frühchen, das sich wie durch ein Wunder über Nacht ins Leben kämpft. Und was für Krebspatienten am Ende zählt, erfährt Christie hautnah, als ihr Vater im Sterben liegt. Jeder von uns erkrankt irgendwann im Leben einmal. Jeder möchte dann nicht nur richtig, sondern gut behandelt werden. Christie Watson erinnert daran, was uns alle verbindet und trägt: die universelle Sprache der Menschlichkeit.

Weitere Informationen zu Christie Watson finden Sie am Ende des Buches.

Christie Watson

DIE SPRACHE DER

MENSCHLICHKEIT

Wie wir Kranke wieder als Menschen wahrnehmen und nicht als Patienten

Aus dem Englischen vonPociao und Roberto de Hollanda

(Die Übersetzer danken Nicola von Hansemann für ihre großzügige Unterstützung)

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Language of Kindness« bei Chatto & Windus, in der Verlagsgruppe Penguin Random House, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Christie Watson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Originalverlag: Chatto & Windus, an imprint of Vintage, London

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Regina Carstensen

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21708-2V002

www.goldmann-verlag.de

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Inhalt

Vorwort – Einsatz fürs Leben

1 Ein verzweigter Baum

2 Alles, was du dir vorstellen kannst, ist wahr

3 Der Ursprung der Welt

4 Zuerst die Kinder

5 Existenzkampf

6 Irgendwo unter meinen linken Rippen

7 Das Leben ist ein Wunder

8 Raumschiff Enterprise

9 Knochenarbeit

10 Schritt für Schritt

11 Am Ende des Tages

12 Es gibt immer zwei Tode

13 Und des Kindes Leib ward warm

Dank

Anmerkung der Autorin:

Die hier beschriebenen Ereignisse basieren auf meinen Erinnerungen als Krankenschwester. Die Identität der Menschen und Orte wurde verändert, um die Privatsphäre von Patienten und Kollegen zu schützen, ebenso Beschreibungen von bestimmten Individuen und Situationen. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig.

Für alle Pflegekräfte

Ein Dichter ist eine Nachtigall, die in der Dunkelheit sitzt und singt, um ihre Einsamkeit mit süßen Klängen aufzuheitern.

Percy Bysshe Shelley

Vorwort Einsatz fürs Leben

Krankenpflege wurde denjenigen überlassen, die »zu alt, zu schwach, zu betrunken, zu schmutzig, zu dumm oder zu ungeeignet für irgendetwas anderes waren«.

Florence Nightingale

Ich wollte nicht von Anfang an Krankenschwester werden. Eine Vielzahl von Berufsmöglichkeiten kam in Frage, obwohl ich den Berufsberater an unserer Schule mit meinen schlechten Leistungen immer wieder zur Verzweiflung brachte. Meeresbiologin war eine Möglichkeit, die ich in Erwägung zog – ich träumte davon, in sonnigen Gefilden den ganzen Tag im Badeanzug herumzulaufen und mit Delfinen zu schwimmen. Als ich entdeckte, dass ein Großteil der Arbeit einer Meeresbiologin darin bestand, zu den walisischen Küsten getriebenes Plankton unters Mikroskop zu legen, überlegte ich es mir anders. Eines Sommers sah ich in Swansea meiner Urgroßtante eine Weile dabei zu, wie sie in der großen Küchenspüle Seewölfe ausnahm, und einmal fuhr ich im Boot von rauen, kräftigen Männern mit Stoppelbart und gelben Stiefeln, die ins Wasser pinkelten und unablässig fluchten, aufs Meer hinaus. Außerdem hatte ich Herzmuscheln und Laverbread zum Frühstück probiert. Damit war Meeresbiologie für mich gestorben.

»Jura«, antwortete ein Lehrer, als meine Eltern, die mittlerweile ebenfalls an mir verzweifelten, wissen wollten, wozu ich mich möglicherweise eignete. »Sie kann von morgens bis abends diskutieren.« Doch ich war nicht dafür gemacht, mich aufs Lernen zu konzentrieren. Stattdessen richtete ich mein Augenmerk auf Tiere und deren Schutz. Ich träumte davon, als Fotografin für National Geographic zu arbeiten, an heiße, exotische Orte zu reisen, wo den ganzen Tag die Sonne schien und ich doch noch im Badeanzug und mit Flip-Flops herumlaufen könnte. Ich beteiligte mich an Demos und Kampagnen gegen Tierversuche und verteilte im Zentrum von Stevenage mit seinen grauen Backsteinhäusern Flugblätter mit Bildern von gequälten Hunden und Kaninchen, die so lange für Kosmetiktests missbraucht wurden, bis sich ihre Augen rot färbten, oder blutenden, bis auf die Knochen abgemagerten Katzen. Ich trug billige politische Buttons, die aufgingen und mich piksten, sodass ich abends eine winzige Konstellation von rosa Stichen auf der Brust entdeckte. Ich weigerte mich, das Wohnzimmer zu betreten, nachdem meine Mutter ein ausgestopftes Huhn vom Flohmarkt angeschleppt und zu ihrem übrigen Klimbim gestellt hatte. Stattdessen nahm ich mein vegetarisches Abendessen aus Protest auf der Treppe ein und erklärte: »Entweder das Huhn oder ich. Mit Mord will ich nichts zu tun haben.«

Mum, die mir mit grenzenloser Geduld alle Teenager-Allüren verzieh, räumte das Huhn weg, machte mir noch ein Käsebrot und drückte mich an sich. Sie war es, die mir die Sprache des Mitgefühls beibrachte, auch wenn ich es damals noch nicht zu schätzen wusste. Am nächsten Tag entführte ich eine Ratte aus der Schule, um sie vor dem Seziermesser im Biologieraum zu retten. Ich nannte sie Furter und hoffte, dass sie sich mit meiner bereits existierenden Hausratte Frank vertragen würde, die mir auf der Schulter saß und ihren langen Schwanz wie eine Kette unmissverständlich um meinen Hals ringelte. Selbstredend hat Frank Furter gefressen.

Schwimmerin, Jazztrompeterin, Reisekauffrau, Sängerin, Wissenschaftlerin … Astronomie war eine Möglichkeit, bis ich mit zwölf dahinterkam, dass Dad, der mir die Namen sämtlicher Sternbilder beigebracht hatte, sie alle erfunden hatte. Trotzdem sagte ich nichts, sondern hörte weiter zu, wenn er nach oben zeigte und mir Märchen erzählte, während seine Begeisterung für Geschichten am Himmel explodierte. »Da, schau mal, ein Flusspferd … Siehst du es? Das ist Oriels Schulter. Und da drüben ist die Glockenblume. Erkennst du die Form? Die fast silberblaue Farbe dieser Sterne? Die Fischer glauben, dass sie einem die Geheimnisse der Erde zuflüstern, wenn man lange genug hinsieht. So wie man die Geheimnisse des Meeres im Innern einer Muschel hört. Wenn du dich darauf konzentrierst, kannst du alles und nichts hören – gleichzeitig.«

Ich verbrachte Stunden damit, die Sterne zu beobachten, um die Geheimnisse der Erde zu ergründen. Nachts zog ich eine Schachtel voller Schätze unter meinem Bett hervor: alte Briefe, einen zerbrochenen Schlüsselring, die Uhr meines verstorbenen Großvaters, eine einzelne Drachme-Münze; das Kaugummi, das ich unter einem Tisch abgekratzt hatte, weil es von einem Jungen stammte, in den ich verknallt war; Steine, die ich an diversen Orten gesammelt hatte, und eine große Muschel. Dann stand ich in meinem Zimmer, sah zu den Sternen hinauf und hielt die Muschel an mein Ohr.

Eines Nachts klauten Einbrecher Fleisch aus der Kühltruhe, die wir im Gartenschuppen stehen hatten. Damals kaufte man Fleisch en gros von Männern in blutverschmierten weißen Kitteln, die mit Lautsprechern auf riesigen Lieferwagen standen, und damals rückte die Polizei noch mitten in der Nacht an, um wegen des Diebstahls von ein paar tiefgefrorenen Hühnern zu ermitteln. So wurde meine Sternguckerei vom Geschrei der Polizisten unterbrochen. Das Universum hatte meinen Muschelruf erhört: Tierliebe fängt beim Essen an. Ich weiß nicht, welcher Anblick in jener Nacht ungewöhnlicher war: der der jungen Männer, die sich mit einem gefrorenen Huhn und einer Familienpackung Lammkoteletts vom Acker machten, oder der eines dünnen Teenagers in einem mondbeschienenen Schlafzimmer mit einer großen Muschel am Ohr.

Was ich machen und wer ich sein würde, beschäftigte mich auf eine Art, an die meine Freunde offensichtlich keinen Gedanken verschwendeten. Damals verstand ich noch nicht, dass ich viele Leben leben und unterschiedliche Lebensweisen ausprobieren wollte. Ich wusste noch nicht, dass ich genau das finden würde, wonach ich suchte (abgesehen von Badeanzug und Sonne): dass es sowohl bei der Krankenpflege als auch dem Schreiben darum geht, immer wieder in die Rolle des anderen zu schlüpfen.

Seit ich zwölf war, übernahm ich ständig irgendwelche Teilzeitjobs. Ich arbeitete in einem Café, wo ich die Herde putzte – ein ekelhafter Job, mit knausrigen Frauen, die aus einem Teebeutel drei Tassen Tee herausholen konnten. Ich trug in eisigen Wintern Milch aus, bis ich kein Gefühl mehr in den Fingern hatte. Auch Zeitungen trug ich aus, bis man mich dabei erwischte, dass ich sie in einer mit Hundehaufen übersäten Gasse entsorgte. In der Schule strengte ich mich nicht besonders an, machte auch nie Hausaufgaben. Meine Eltern versuchten, meinen Horizont zu erweitern, mir Arbeitsethik und eine Vorstellung dessen zu vermitteln, was ich tun könnte: »Bildung ist der Schlüssel zu allem. Du bist intelligent, machst aber nichts daraus.« Ich war schon immer aufgeweckt gewesen, doch trotz der Werkzeuge, die meine Eltern mir mit auf den Weg gaben, oder ihrer joie de vivre blieben meine Schulleistungen mäßig, und meine Flatterhaftigkeit hielt an. Seit ich klein war, hatten sie mich zum Lesen ermuntert, daher liebte ich die Philosophie und suchte in ihr Antworten auf unzählige Fragen: Sartre, Platon, Aristoteles, Camus – ich war süchtig. Die Liebe zur Literatur war das größte Geschenk, das sie mir machen konnten. Ich trieb mich gern herum, brauchte aber immer auch Lesestoff in meiner Nähe und hatte überall auf dem Grundstück Bücher versteckt: Betty und ihre Schwestern in der Black Alley, Dostojewski hinter Catweazels Eimern; Dickens unter Tinkers kaputtem Wagen.

Mit sechzehn schmiss ich die Schule hin und zog zu meinem Freund und seinen vier männlichen Mitbewohnern, alle um die zwanzig. Dort herrschte ein unglaubliches Chaos, aber ich war selig, nahm einen Job in einem Videoladen an und tauschte mit dem chinesischen Imbiss nebenan VHS-Videos gegen Chicken Chow Mein. Mein Faible für vegetarische Kost schwand allmählich; ich konzentrierte mich darauf, Pornofilme zu bestellen und meine Freunde in den Laden zu lotsen. Ich besuchte eine Landwirtschaftsschule, um Farmerin zu werden, doch die Begeisterung hielt gerade mal zwei Wochen an. Eine BTEC-Ausbildung in Reisen und Tourismus dauerte nur eine Woche. Mich als orientierungslos zu bezeichnen, war eine Untertreibung.

Als ich zu einem Vorstellungsgespräch zu spät kam und deswegen die Stelle einer Kinderanimateurin bei Pizza Hut nicht bekam, war ich am Boden zerstört. Als meine Beziehung in die Brüche ging, war ich schockiert, aber ich war erst sechzehn und völlig naiv. Aus reinem Stolz konnte ich unmöglich wieder nach Hause zurück. Kein Job, kein Zuhause. Ich arbeitete bei den Community Service Volunteers, dem einzigen Wohlfahrtsverband für Freiwillige damals, der Jugendliche unter achtzehn annahm und ihnen eine Unterkunft bot. Man schickte mich in ein Wohnheim, das von der Spastics Society (heute: Scope) geleitet wurde. Ich bekam 20 Pfund pro Woche und kümmerte mich um Erwachsene mit schweren körperlichen Behinderungen: Ich half ihnen beim Gang zur Toilette, beim Essen und Ankleiden. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, etwas Nützliches zu tun, einen Sinn im Leben gefunden zu haben. Ich fing endgültig an, Fleisch zu essen; jetzt gab es höhere Ziele im Leben. Ich rasierte mir den Schädel, kaufte meine Kleider in Secondhandläden und verpulverte mein Taschengeld für Cider und Tabak. Ich besaß nichts, war aber trotzdem wunschlos glücklich. Und zum ersten Mal kam ich mit Pflegern in Kontakt. Ich beobachtete die qualifizierten Pflegekräfte so intensiv wie ein Kind seine Eltern, wenn es krank ist. Mein Blick folgte ihnen auf Schritt und Tritt. Aber ich hatte keine Sprache für das, was sie machten, oder für ihren Job.

»Du solltest dich für einen Pflegeberuf ausbilden lassen«, sagte eine. »Du bekommst ein Stipendium und hast ein Dach über dem Kopf.«

Ich ging in die Stadtbibliothek und entdeckte ein ganzes Gebäude voller Heimatloser und Streuner wie ich selbst. In meiner Kindheit und Jugend war ich oft in der Schulbücherei und in der Bibliothek von Stevenage gewesen, doch hier ging es um mehr, als nur zu lernen oder sich Bücher auszuleihen. Dieses Haus war eine Zuflucht. Ein Obdachloser übernachtete hier regelmäßig, und die Bibliotheksangestellten ließen ihn in Ruhe. Ein Mann mit einem Schild um den Hals, auf dem stand, dass er Autist sei und anderen helfen wolle, ging einer Frau in einem Elektromobil zur Hand, die versuchte, ein Buch aus dem Regal zu nehmen. Kinder liefen frei herum, und Gruppen von Teenagern saßen beieinander und lachten.

Ich hörte zum ersten Mal von Mary Seacole, die wie Florence Nightingale während des Krimkriegs Soldaten gepflegt hatte. Sie tastete sich langsam an ihre Tätigkeit heran, indem sie zunächst eine Puppe, dann Tiere und schließlich auch Menschen verarztete. Ich hatte noch nie daran gedacht, Krankenschwester zu werden, doch dann fiel mir etwas ein: Mein Bruder und ich hatten unseren Stofftieren absichtlich die Füllung und den Puppen die Glasaugen ausgerissen, damit ich sie anschließend wieder zusammenflicken konnte. Ich erinnerte mich, dass meine Klassenkameradinnen in der Grundschule Schlange gestanden hatten, um bei mir einen Anämie-Test zu machen. Wahrscheinlich hatte ich mit meinen speziellen Fähigkeiten geprahlt, bevor ich sie draußen vor der Schule in Reih und Glied aufgestellt und ihnen nacheinander die Lidränder heruntergezogen hatte, um festzustellen, ob sie Leber und Zwiebeln essen mussten. Und auch die unzähligen Freundinnen mit Halsschmerzen fielen mir wieder ein, deren Hals ich sanft mit den Fingerspitzen abtastete, als wäre er eine Klarinette. »Lymphknoten.«

Es gab nicht viel Literatur darüber, was es bedeutete, Krankenschwester zu sein oder was man als solche tun musste, daher wusste ich nicht, ob ich mich dazu eignete oder nicht. Ich entdeckte, dass die Krankenpflege älter war als Geschichtsbücher und es sie seit langer Zeit in allen Kulturen gegeben hatte. Einer der frühesten Texte über Krankenpflege ist die Charaka Samhita, die im ersten Jahrhundert vor Christus in Indien entstand und sich dafür einsetzte, dass Pflegende allen Menschen mit dem gleichen liebevollen Verständnis begegnen sollten. Auch im Islam ist die Krankenpflege stark verwurzelt. Im frühen siebten Jahrhundert wurden gläubige Muslime Pflegekräfte – und die erste professionelle Krankenschwester in der Geschichte des Islam, Rufaidah bint Sa’ad, galt wegen ihres Mitgefühls und Einfühlungsvermögens als Vorbild für andere.

Mitgefühl, Freundlichkeit, Einfühlungsvermögen: das, so sagt uns die Geschichte, macht eine gute Krankenschwester aus. Ich habe mir den Besuch in der Bibliothek von Buckinghamshire immer wieder ins Gedächtnis gerufen, denn diese Fähigkeiten habe ich in meinem Beruf allzu oft vermisst – Fähigkeiten, die wir heute vergessen haben oder nicht länger wertschätzen. Doch mit sechzehn war ich noch voller Hoffnung, Energie und Idealismus. Und als ich siebzehn wurde, traf ich meine Entscheidung. Kein Hin und Her mehr, was die Wahl eines Berufs anging, und kein Herumdrucksen: Ich würde Krankenschwester werden. Obendrein dachte ich an die Partys.

Einige Monate später rutschte ich irgendwie in einen Pflegekurs hinein, obwohl mir noch ein paar Wochen bis zum erforderlichen Mindestalter von siebzehneinhalb Jahren fehlten, und zog in ein Wohnheim für Krankenschwestern in Bedford. Die Räume lagen hinter dem Krankenhaus; es war ein großer Wohnblock, erfüllt vom Widerhall knallender Türen und gelegentlichem lautem Lachen. Die meisten auf meinem Flur waren Pflegekräfte im ersten Jahr, dazu kamen ein paar Röntgentechniker und Physiotherapeuten in der Ausbildung, gelegentlich auch Ärzte, die von Klinik zu Klinik rotierten. Die Pflegekräfte waren alle jung und wild und gerade erst von zu Hause ausgezogen. Es gab eine bedeutende Anzahl von irischen Frauen (»Wir hatten zwei Möglichkeiten«, erzählten sie, »Krankenschwester oder Nonne.«) und einige wenige Männer (damals hauptsächlich schwul). Im Erdgeschoss befand sich eine Waschküche neben einem spießigen Fernsehraum mit Plastikstühlen, an denen aufgrund der voll aufgedrehten Heizungskörper rund um die Uhr regelmäßig die Beine kleben blieben. In diesem Fernsehraum lernte ich einen angehenden Psychiater kennen, der für ein paar Jahre mein Boyfriend wurde, nachdem ich versehentlich ausgeplaudert hatte, dass ich am Stuhl festklebte. Mein Zimmer lag neben den Toiletten und roch muffig; eine meiner Freundinnen säte einmal Kresse auf dem Teppich aus. Die Küche war schmuddelig, der Kühlschrank voller abgelaufener Lebensmittel, und am Schrank hing ein Schild, auf dem stand: KLAUT KEIN FREMDES ESSEN. WIR WISSEN, WER IHR SEID.

In einem Gang voller Echos stand ein Telefon, das zu jeder Tages- und Nachtzeit klingelte. Es gab Auseinandersetzungen, den Klang schneller Schritte und laute Musik. Wir alle rauchten – meistens Zigaretten, doch das Aroma von Marihuana hing in der Luft wie ein leises Hintergrundrauschen, das man nach einer Weile gar nicht mehr wahrnahm. Für gewöhnlich gingen wir in den Zimmern der anderen ein und aus und schlossen unsere Türen nicht ab. An der Wand über meinem Bett hing ein Poster mit Leonardo da Vincis anatomischen Zeichnungen der Herzkammern; ich hatte ein Bücherregal mit Lehrbüchern über Krankenpflege und Schundromanen, und neben meinem Bett stapelten sich die Philosophiebücher. Außerdem gab es einen Wasserkessel, einen Heizkörper, der sich nicht abstellen, und ein Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Nicht zu vergessen ein Waschbecken (für mich und das Geschirr), in das man Asche schnipsen, sich übergeben und ein paar Wochen lang, als die Toiletten verstopft waren, auch reinpinkeln konnte. Meine Freunde fanden es nicht besonders; doch nachdem ich mir so lange ein Zimmer in einem Wohnheim und davor ein Haus mit meinem Freund und seinen männlichen Untermietern hatte teilen müssen, kam es mir geradezu paradiesisch vor.

Die erste Nacht jedoch ist immer die schlimmste. Ich hatte keine Ahnung, was ich als Pflegekraft tun würde, und bedauerte bereits, den Pflegern, die mich zu der Bewerbung ermuntert hatten, nicht mehr Fragen gestellt zu haben. Ich hatte furchtbare Angst vor dem Scheitern und vor dem Gesicht, das meine Eltern machen würden, wenn sie erfuhren, dass ich es mir schon wieder anders überlegt hatte. Sie waren bereits schockiert gewesen, als ich ihnen eröffnete, dass ich Krankenschwester werden wollte: Mein Dad hatte sogar laut losgelacht. Trotz meiner Arbeit als Pflegekraft betrachteten sie mich immer noch als aufmüpfigen Teenager, dem alle anderen egal waren. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ich zu Mitgefühl fähig war.

In dieser ersten Nacht lag ich wach im Bett und hörte, wie sich meine Zimmernachbarin mit ihrem Freund stritt, einem launischen, schlaksigen Wachmann, der offenbar entgegen allen Regeln mit ihr zusammenwohnte. Und auch nachdem sie sich beruhigt hatten, war an Schlaf nicht zu denken. Mir schwirrte der Kopf vor lauter Zweifeln. Zumindest wusste ich, dass ich eine Zeit lang die Schulbank würde drücken müssen, somit würde ich wenigstens niemanden aus Versehen umbringen oder wäre gezwungen, einem alten Mann den Penis zu waschen oder ähnlich Grässliches. Trotzdem steckte ich voller Ängste. Und als ich in der Nacht zur Toilette ging, die von allen in unserem Stockwerk benutzt wurde, klebte an der Tür eine gebrauchte Damenbinde. Ich würgte. Abgesehen davon, dass es eklig war, erinnerte sie mich daran, dass ich normalerweise beim Anblick von Blut in Ohnmacht fiel.

Meine Überempfindlichkeit wurde am folgenden Morgen bei der berufsmedizinischen Untersuchung bestätigt. Man nahm uns allen Blut ab. »Für die Akten«, erläuterte die Phlebologin. »Falls Sie sich an einer Spritze mit HIV anstecken. Dann können wir feststellen, ob Sie vorher bereits infiziert waren.« Im Jahr 1994 waren Falschinformationen und Angst vor HIV allgegenwärtig. Die Phlebologin zog die Manschette um meinem Oberarm straff. »Sind Sie auszubildende Krankenschwester oder Medizinstudentin?«, fragte sie.

Ich beobachtete die Nadel, sah, wie sich das Röhrchen mit Blut füllte, und dann drehte sich plötzlich der Raum um mich. Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne.

»Christie. Christie!« Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden, die Beine auf einem Stuhl, und die Ärztin beugte sich über mich. Sie lachte. »Alles in Ordnung?«

Ich stützte mich langsam auf die Ellbogen, fokussierte. »Was ist passiert?«

»Sie sind ohnmächtig geworden, Kleines. Vielleicht sollten Sie Ihre Berufswahl noch mal überdenken.«

Zwanzig Jahre in der Krankenpflege haben viel von mir verlangt, aber noch viel mehr gegeben. Folgen Sie mir durch die Stationen, von der Entbindungs- bis zur Palliativstation, vorbei an der Intensivstation für Neugeborene und durch die Doppeltüren zur Abteilung für Innere Medizin. Laufen Sie mit mir bei einem Notruf durch die Gänge, vorbei an Apotheke und Personalkantine zur Notaufnahme. Wir werden das Krankenhaus selbst und auch die Krankenpflege mit all ihren Aspekten unter die Lupe nehmen. Das, was ich anfangs unter Pflege verstand: Chemie, Biologie, Physik, Pharmakologie und Anatomie. Und das, was ich jetzt weiß: Krankenpflege ist in Wahrheit Philosophie, Psychologie, Kunst, Ethik und Politik. Unterwegs werden wir Menschen begegnen: Patienten, Verwandten und Krankenhauspersonal, Menschen, die Sie vielleicht wiedererkennen. Denn wir werden alle irgendwann in unserem Leben einmal gepflegt. Wir alle sind Pflegende.

1Ein verzweigter Baum

Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.

Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

Ich gehe über die Brücke auf ihren zackig geränderten Schatten zu und beobachte, wie das blassblaue, fast grüne fahle Licht auf dem Wasser darunter tänzelt: Es dämmert. Alles ist still. Vollmond. Zwei Frauen weichen mir aus, sie tragen Partykleidung, ihre Wimperntusche ist verwischt; ein Mann liegt in einem Schlafsack vor der Mauer, neben ihm steht ein Pappbecher mit ein paar Münzen. Es gibt kaum Verkehr, abgesehen von einigen schwarzen Taxis und einem gelegentlichen Nachtbus. Doch es sind noch andere Menschen wie ich unterwegs zum Krankenhaus: alle gleich, wie uniformiert, mit abgetretenen, flachen Schuhen, Rucksack, blassem Gesicht und miserabler Haltung.

Ich biege auf das Grundstück des Krankenhauses ein und gehe an der kleinen Kapelle im Hof vorbei, die Tag und Nacht geöffnet ist. Im Innern ist es dunkel, nur ein Lämpchen und wenige Kerzen erhellen den Raum, und auf dem Altar liegt ein Buch mit Sorgen, Gebeten und Fürbitten. Das traurigste Buch, das Sie je gelesen haben.

Die Angestellten drängen eilig durch den Haupteingang; manche schieben Fahrräder, andere gehen zielbewusst und versuchen, den Blicken derjenigen auszuweichen, die mit einem Umschlag oder einer Reisetasche bewaffnet unsicher nach einer Auskunft suchen, ein Kind an der Hand halten oder einen älteren Familienangehörigen mit einer Decke über den Beinen im Rollstuhl vor sich herschieben. Um neun Uhr wird sich hier ein Freiwilliger um die Verlorenen kümmern, mit einem Spruchband, auf dem steht: »Wie kann ich Ihnen helfen?« Es ist Ken, er ist siebzig, seine Enkelin wurde in diesem Krankenhaus zuerst wegen einer Blutvergiftung und dann wegen Eierstockkrebs behandelt. »Ich will Menschen wie mir helfen. Es sind die kleinen Dinge, die zählen.« Er verteilt einen Krankenhausplan, Wegbeschreibungen und ein Lächeln. Der Plan des Krankenhauses ist farblich gekennzeichnet, die Leute folgen den farbigen Streifen auf dem Boden. Mindestens ein Mal am Tag gibt es jemanden, der singend und hüpfend der gelben Linie folgt: »We’re off to see the wizard …«

Ich gehe am Wartebereich der Aufnahme vorbei, wo noch mehr Menschen sitzen: Reiche und Arme, Behinderte und Gesunde, Vertreter aller Rassen und Kulturen, jeden Alters. Oft sehe ich hier dieselbe Frau – sie trägt Pantoffeln, stinkt nach Urin, hat ein Wägelchen voller Plastiktüten neben sich stehen und führt Selbstgespräche. Manchmal schreit sie auf, als hätte sie Schmerzen; dann steckt der Wachmann kurz den Kopf durch das Schalterfenster, um nach dem Rechten zu sehen. Doch heute ist sie nicht da. Stattdessen sehe ich eine ältere Frau, die trotz der Hitze im Krankenhaus einen dicken roten Mantel trägt. Sie blickt mit ängstlichen, traurigen Augen kurz zu mir auf. Inmitten der vielen Menschen ringsum wirkt sie völlig verloren und einsam. Ihr einstmals lockiges Haar ist ungewaschen und strähnig; es erinnert mich an das meiner Großmutter, wenn sie krank war, und wie sie es hasste, wenn es nicht einwandfrei geföhnt war. Die Frau schließt die Augen und vergräbt das Gesicht in den Händen.

Ich liebe es, durch das Krankenhaus zu gehen. Krankenhäuser waren schon immer heilige Orte. König Pandukabhaya aus Sri Lanka (er lebte von 437 – 367 vor Christus) baute Ruhehäuser in verschiedenen Teilen seines Königreichs – der früheste Hinweis weltweit für diese Art von Einrichtungen, die vor allem der Versorgung von Kranken dienten. Das erste Krankenhaus entstand in der islamischen Welt und wurde 805 in Bagdad gebaut. Derartigen »Heimen« wurde per Gesetz untersagt, Patienten abzuweisen, die sich die Behandlung nicht leisten konnten. Für das Qalawun-Krankenhaus in Kairo, erbaut im dreizehnten Jahrhundert, galt: »Sämtliche Kosten sind vom Krankenhaus zu tragen, unabhängig davon, ob die Menschen von weit her oder aus der Nähe kommen, ob sie Einheimische oder Fremde sind, kräftig oder schwach, niederer oder höherer Herkunft, reich oder arm, ob sie Arbeit haben oder nicht, blind oder sehend, körperlich oder seelisch krank sind, gebildet oder Analphabeten.«

Ich gehe weiter, vorbei an dem Geschenkartikelladen, wo es neben Glückwunsch- oder Beileidskarten auch welche mit Genesungswünschen gibt. Ich komme an dem winzigen Kleidergeschäft vorbei, in dem kein Mensch Kleider kauft, der Besitzer jedoch wunderbare Geschichten zu erzählen weiß und über alles im Bilde ist, was im Krankenhaus passiert; an den öffentlichen Toiletten, wo Patienten zusammenbrechen, sich einen Schuss setzen und gelegentlich überfallen werden – einmal sogar eine Frau vergewaltigt wurde. Gegenüber den Toiletten befinden sich der Zeitungskiosk und das Café, das rund um die Uhr geöffnet hat und wo sich einmal die sauer gewordene Milch aus der defekten Kaffeemaschine über die lebensrettenden Defibrillatoren, kurz Defis genannt, im Keller darunter ergossen.

Ich biege um die Ecke, werfe einen Blick zurück auf die Frau in dem dicken roten Mantel und stoße um ein Haar mit einer Küchenhilfe zusammen. Sie schiebt einen riesigen Metallwagen vor sich her, der nach Chlor, Schimmel und Flugzeugessen riecht. Links vom Café befinden sich die Aufzüge, vor denen sich stets Menschentrauben bildeten. Das Krankenhaus steht auf einem teuren Grundstück und wächst in die Höhe; die meisten Krankenstationen sind Teil des ursprünglichen Gebäudes und werden ständig erweitert. Doch in den einzelnen Abteilungen mit den vielen Fenstern erkennt man noch immer den Baustil wieder, den Florence Nightingale vorschlug, um hervorzuheben, dass Architektur und Inneneinrichtung eines Krankenhauses die Patientengesundheit fördern und somit eine große Rolle spielen. Sie empfahl, die einzelnen Abteilungen als lange schmale Flügel mit hohen Fenstern zu entwerfen, damit so viel frische Luft und Sonnenlicht wie möglich hineinkam. In ihrer Korrespondenz aus den Jahren 1865 bis 1868 mit dem Manchester Architekten Thomas Worthington hatte Nightingale auch die praktischen Bedürfnisse der Pflegekräfte im Blick: »Wird es in der Spülküche auch Platz geben, wo man als Krankenschwester notfalls übernachten kann?«

Ich stelle mir ihre Schritte vor und beobachte meine eigenen, während ich an dem Bereich vorbeigehe, wo viele Patienten darauf warten, nach Hause gehen zu können, aber zu krank sind, um öffentliche Verkehrsmittel zu nehmen, oder zu arm, um sich ein Taxi leisten zu können. Niemand von ihnen hat Familienangehörige, die sie abholen könnten, sie sind auf einen Transport seitens des Krankenhauses angewiesen. Sie sitzen in Rollstühlen und auf Plastikstühlen, tragen Mäntel oder Morgenröcke, sind in Decken gehüllt, suchen in den automatisch sich öffnenden Türen nach dem Gesicht eines Fremden, der sie aufruft, blicken hinaus in den Himmel draußen, in die Leere. Hinter einer Reihe von Stühlen brummt der Getränkeautomat einsam vor sich hin. Ich frage mich, ob diese Menschen – die meisten alt und schwach – hungrig sind, ob sie Schmerzen oder Angst haben. Die Antwort kenne ich bereits. Der Warteraum für diejenigen, die das Krankenhaus verlassen, ist beinahe noch voller als der in der Aufnahme. Alles ist relativ. Als Patient wird man sich nicht gerade glücklich schätzen, wenn man schwer verletzt ist oder in der Notaufnahme um sein Leben kämpft, doch wer in einer solchen Situation Familienangehörige oder Freunde bei sich weiß, hat vielleicht doch Glück gehabt.

Die Türen zum Empfangsbereich öffnen und schließen sich ständig vor einer Reihe von leeren Sauerstoffflaschen, die aussehen wie riesige Kegel. Eine Frau mit Kraushaar und nachgestrichelten Augenbrauen sitzt vor einem Schaltpult mit Mikro. Sie trägt einen Ohrring, der von Madonna hätte stammen können. Ich habe viel Zeit damit verbracht, mich mit ihr anzufreunden. Trotzdem ruft sie jedes Mal, wenn ich sie sehe: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, als wäre ich eine Fremde. Noch habe ich nicht aufgegeben.

Als Nächstes kommt die Apotheke: ein riesiges Schlaraffenland für Erwachsene. Es gibt Schubladen, die sich lang ausziehen lassen, und endlose Reihen verschiedenster Medikamente. Das Innere der Apotheke ist wie das Börsenparkett der Wall Street; eine spärlich erleuchtete Treppe führt in den Keller, wo bestimmte Medikamente in Notfallkisten bereitstehen. Sie werden jedes Mal neu beschriftet, wenn man sie öffnet, um zu gewährleisten, dass niemand sich daran vergreift; anschließend werden sie wieder aufgefüllt und versiegelt. Viele solcher Medikamente werden in Großbritannien verschrieben, obwohl sie vom National Institute for Health and Care Excellence (NICE, Kompetenzzentrum für Gesundheit und Pflege) nicht zugelassen sind. Das ist nichts Ungewöhnliches. In der US-amerikanischen Kinderheilkunde zum Beispiel sind nur 20 bis 30 Prozent der verwendeten Medikamente von der dortigen Gesundheitsbehörde Food and Drug Administration (FDA) zugelassen. In europäischen Ländern gibt es auch seit Jahren ein Off-Label Use, die Verschreibung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete in unterschiedlichem Umfang.

Vertreter der Pharmaindustrie sind Geschäftsleute, und früher sorgten sie in den Krankenhäusern unweigerlich für Aufregung. Man erkennt sie sofort – wie die Apotheker sind auch sie besser gekleidet als die Ärzte. Alle tragen Designeranzüge und treten auf wie Autoverkäufer, obendrein verfügen sie über die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit eines viel beschäftigten Facharztes (an dessen Sekretärin vorbei) zu wecken. Mit anderen Worten: Ein Heer von smart aussehenden Akademikern zwischen zwanzig und dreißig, deren Noten nicht gut genug waren, um Medizin zu studieren, sucht regelmäßig die Krankenhäuser heim. Früher bedeutete der Besuch eines Pharmavertreters auf der Station Pizza-Gutscheine, Stifte, Notizblöcke und andere Geschenkartikel. Die heutige »Transparenz« hat bewirkt, dass die Mittagessen mit den Vertretern weniger luxuriös ausfallen und Ärzte nicht mehr bestochen werden dürfen, um ein bestimmtes Medikament bevorzugt einzusetzen. Trotzdem verteilen sie nach wie vor ihre Werbegeschenke. (Alle Ärzte und Pflegekräfte haben Becher mit aufgedruckten Medikamentennamen zu Hause herumstehen, und meine Tochter hatte lange einen Lieblingsteddy, der ein T-Shirt mit Werbung für ein Antidepressivum trug.)

An einer kleinen Durchreiche wechseln sich die auszubildenden Krankenpfleger ab, sie warten vor einer Tür auf die verordneten Medikamente für jene Patienten, die entlassen werden sollen. Nacheinander werden sie aufgerufen, um bestimmte Tabletten oder Tropfen zu erhalten.

Mein Büro liegt drei Etagen über der Apotheke. Es ist ein überhitzter, vollgestopfter Raum mit Teppichboden, freiliegenden Rohren und Rattenfallen vor der Tür, doch hier verbringe ich die wenigste Zeit. Ich werfe einen kurzen Blick in den Raum, lasse meine Augen über den Schreibtisch schweifen, auf dem veraltete Tuben und defekte Defi-Pads liegen (»Angeblich haben sie Funken gesprüht, doch das ist nicht bewiesen, also kein Grund zur Panik!«). Daneben ein paar Tütchen mit gestohlener Würzsauce aus der Krankenhauskantine, wo wir gelegentlich einen Zwischenstopp machen, um ein Sandwich zu essen oder etwas Warmes zu frühstücken, nachdem wir von den jeweiligen Schichtleitern den Pflegeplan erhalten haben. Sie sind diejenigen, die nachts praktisch den Laden schmeißen und sich um alle wichtigen Belange kümmern, vom Bettenmanagement über kritische Vorfälle und Sicherheit bis hin zu Opfern von Terroranschlägen. Auf dem Tisch liegt auch die dicke Krankenakte eines verstorbenen Patienten, die wieder zurück ins Archiv muss, neben einer großen Kanne entkoffeiniertem Kaffee, die, wie man mir an meinem ersten Arbeitstag erzählte, seit Jahren unangetastet dort steht.

Als Teil des Reanimationsteams nehme ich eine seltsam hybride Rolle ein – ich bin eine Krankenschwester, die auf Wiederbelebung spezialisiert ist. Unser Team besteht größtenteils aus erfahrenen Notaufnahmepflegern oder ehemaligen Intensivkräften (wie ich), zuweilen aber auch aus Rettungssanitätern oder Oberärzten (gut ausgebildeten Fachärzten). Wir schulen Pflegekräfte, Ärzte und andere Fachkräfte im Bereich Reanimation und tragen Pager, mit denen wir in alle Bereiche des Krankenhauses gerufen werden: auf Stationen und in OP-Säle, ins Café, zum Treppenhaus, in die Psychiatrische Ambulanz, auf den Parkplatz und auf die geriatrische Station. Wir helfen dem Personal, medizinische Notfälle und Fälle von Herzstillstand zu behandeln.

Noch während ich mich hinter der behelfsmäßigen Trennwand umziehe, piepst der Pager. In unserem Raum gibt es sonst nichts, wo ich mich umziehen könnte, und für die Toilette ist keine Zeit; diese improvisierten Trennwände stehen hier schon seit Jahren. Der Pager gibt Alarm: »Erwachsener; Notfall in der Hauptkantine.« Es kommt vor, dass er den ganzen Tag ruhig bleibt. An anderen Tagen meldet er sich fünf- oder sechsmal. Das Personal löst einen Alarm aus, indem es die Nummer 2222 wählt und die Art des Notfalls beschreibt: Erwachsener, Kind, Geburt, Säugling oder Trauma. Selbst in Krankenhäusern sind medizinische Notfälle eher selten, aber sie können katastrophal sein. Die meisten sind das, was wir insgeheim für Mumpitz halten: ein Patient, der in Ohnmacht gefallen ist oder einen Herzanfall vortäuscht, einmal ging es sogar um einen Wespenstich.

»Ich gebe dir einen guten Rat«, sagte mir ein Kollege an meinem ersten Arbeitstag. »Am besten läufst du sehr, sehr langsam. Man weiß nie, was man vorfindet, und will auf keinen Fall der Erste sein, der am Schauplatz eintrifft, wenn man nicht weiß, was man zu tun hat.«

Doch inzwischen mache ich diesen Job schon eine ganze Weile, deshalb renne ich die Treppen hinunter, nehme zwei Stufen auf einmal, vorbei am Zentralbereich des Krankenhauses, der von einer riesigen Statue von Queen Victoria beherrscht wird. Ich laufe durch das große Foyer mit dem Klavier, das von Menschen gespielt wird, die Sie überraschen würden. Heute ist es ein Bauarbeiter mit Warnweste, der Mozart spielt. Vorbei an einer Frau, die sich im Schneckentempo bewegt, und einem Mann mit einem strahlenden Gesicht, der einen nagelneuen, mit Luftballons geschmückten Kinderwagen schiebt, in dem ein winziges Baby liegt. Auf einem der Ballons steht: »Herzlichen Glückwunsch, ein Junge!« Vor der Poststelle, wo die Menschenmenge dichter wird, muss ich meine Schritte verlangsamen. Flüche und das Plärren eines Radios dringen aus dem kleinen Raum, und gelegentlich schleudert ein Arm einen Brief oder ein Päckchen heraus. Ich gehe rasch Richtung Geldautomat, der nie funktioniert, und erreiche die Kantine, wo übermüdetes Personal sein warmes Frühstück einnimmt.

Die Frau mit dem traurigen Blick und dem roten Mantel wirkt klein und zerbrechlich, ohne ihren Mantel geradezu winzig. Sie trägt eine geblümte, schief zugeknöpfte Bluse. Ihre Haut ist runzlig und trocken, die Augen feucht, die Lippen rissig. Das strähnige weiße Haar riecht säuerlich. Knapp über ihrem Schlüsselbein hängt ein Ehering an einer Silberkette. Ihre Augen flattern von einem Gesicht zum anderen, und sie zittert. Sie sitzt bei vollem Bewusstsein auf einem Stuhl, um sie herum haben sich bereits einige Mitarbeiter des Reanimationsteams versammelt: eine leitende Ärztin, ein Assistenzarzt, ein Anästhesist und die Schichtleiterin. Sie wirken nicht beunruhigt. Tife, die Schichtleiterin, ist eine Freundin. Früher war sie viele Jahre in der Notaufnahme. Sie zu sehen, ist immer beruhigend: Sie strahlt eine unerschütterliche Gelassenheit aus. Sie hat bereits eine Decke organisiert, was keineswegs so leicht ist, wie es sich anhört, kniet vor der Patientin und bringt gerade einen kleinen Sensor auf ihren Finger an, um den Sauerstoffgehalt ihres Bluts zu messen.

»Morgen«, sagt Tife.

»Hallo. Entschuldige, ich war gerade dabei, mich umzuziehen.«

Eine Pflegekraft kommt mit dem fahrbaren Reanimationswagen. Der wird angefordert, sobald der Pager Alarm schlägt, und trifft gleichzeitig mit dem Team ein. Dieser Notfallwagen erinnert an ein kleines Krankenhaus auf Rädern: Die Ausrüstung enthält eine Sauerstoffflasche, einen Absauger, einen Defi, Notfallmedikamente und große Beutel mit allem, was man braucht, von Blutzuckermessgeräten bis zum Beatmungsgerät.

»Betty hat einen leichten Schmerz in der Brust. Die Vitalparameter sind in Ordnung. Allerdings ist sie stark unterkühlt. Kannst du mir ein Wegwerfthermometer besorgen?« Tife wendet sich den Ärzten zu. »Wir können sie in die Notaufnahme bringen, wenn Sie zurückmüssen.«

»Sie braucht ein 12-Kanal-EKG«, sagt die Ärztin und geht davon, noch ehe sie bemerkt, wie der junge Assistenzarzt die Augen verdreht und murmelt: »Ach, wirklich?«

»Kann ich sie Ihnen überlassen?«, fragt er mich, bevor er losrennt. Abgesehen von solchen Notfalleinsätzen haben die Fachärzte alle Hände voll zu tun, und sobald sich der Pager meldet, müssen sie alles stehen und liegen lassen, manchmal sogar Patienten im OP-Saal Kollegen überlassen.

Ich nicke. »Hallo, Betty.« Ich fasse nach ihrer Hand. Sie ist eiskalt. »Ich bin Christie. Wir setzen Sie jetzt auf eine fahrbare Trage und bringen Sie in die Notaufnahme. Kein Grund zur Panik, aber es ist besser, wenn wir Sie mal durchchecken. Habe ich Sie nicht vorhin gesehen? In der Aufnahme?«

»Betty hatte einen Termin beim Sozialdienst«, erklärt Tife. »Aber sie war zu früh dran, deshalb wollte sie einen Kaffee trinken. Dann spürte sie einen Druck auf der Brust. Sie hat schwere Zeiten hinter sich, stimmt’s, Betty?«

Ich registriere ihren Gesichtsausdruck. Zu Tode erschrocken.

»Bettys Mann ist vor Kurzem an einem Herzinfarkt gestorben.«

»Das tut mir sehr leid«, sage ich und ziehe die Decke enger um sie. Ihre Temperatur ist bedrohlich niedrig. »Haben Sie noch Schmerzen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich will Ihnen keine Umstände machen«, sagt sie. »Es ist halb so schlimm. Wahrscheinlich habe ich bloß was Falsches gegessen.«

Betty sieht nicht so aus, als hätte sie einen Herzinfarkt, obwohl ältere Frauen nicht immer die klassischen Symptome aufweisen, die man erwartet – Brustschmerzen, Taubheitsgefühl, Anspannung, Kribbeln, Stiche –, und gelegentlich nicht einmal Schmerzen haben. Ischämische Herzerkrankungen sind die häufigste Todesursache in der westlichen Welt, ein wichtiger Grund für Einweisungen ins Krankenhaus. Wir sehen viele Patienten, die erst in der Klinik einen Herzanfall erleiden, und die meisten von ihnen wurden nicht deshalb eingewiesen. Sie kommen wegen einer zahnärztlichen Behandlung, um einen Familienangehörigen zu besuchen oder um sich Blut abnehmen zu lassen. Der durch die ungewohnte Umgebung verursachte Stress scheint groß genug zu sein, um sie aus der Bahn zu werfen. Ein Herzanfall ist etwas anderes als ein Herzstillstand. Der Herzanfall wird durch eine Arteriosklerose ausgelöst, einer Gefäßverkalkung – aufgrund einer verminderten Blutzufuhr in den Gefäßen und eines Mangels an Sauerstoff und Glukose. Sauerstoff und Glukose sind notwendig, um das Gewebe am Leben zu erhalten. Herzstillstand heißt, dass das Herz gänzlich zu schlagen aufhört, egal aus welchem Grund. Doch Betty schwitzt nicht, sie ist auch nicht blass, und obwohl ihr Pulsschlag schwach ist, fühlt er sich regelmäßig an und ist deutlich tastbar.

Mithilfe der Pflegekraft und meiner zusätzlichen Unterstützung klettert Betty langsam auf die Trage. Ich stelle die Rückenlehne auf, wickle so viel von der Decke wie möglich um ihre schmalen Schultern und setze ihr eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht. Einen Herzanfall mit Sauerstoff zu behandeln, kann gefährlich sein, da so bereits verstopfte Blutgefäße möglicherweise noch weiter verengt werden. Doch in medizinischen Notfallsituationen, bei denen sich der Patient in einem kritischen Zustand befindet, ist Sauerstoff entscheidend. Er hilft auch bei einem Kater. Allerdings riecht die Maske ekelhaft, Sauerstoff selbst wirkt dehydrierend, und mit einer Maske auf dem Gesicht kann man nicht richtig sehen, was die Panik unter Umständen vergrößert.

Ich versuche, Betty zu beruhigen. »Es geht Ihnen gleich besser.« Ich gehe neben ihr her, während die Pflegekraft die Trage schiebt, und denke darüber nach, dass die Verzweigungen des Krankenhauses viel Ähnlichkeit mit Arterien und Venen haben, mit unseren eigenen Arterien und Venen. Der kleinste Stau zwingt uns, stehen zu bleiben und zu warten, bis die anderen zur Seite treten und uns durchlassen.

Schon immer wurde die Bedeutung von Arterien und Venen missverstanden. Im zweiten Jahrhundert nach Christus erklärte Galen, ein griechischer Naturforscher und Philosoph, der sich auch als Mediziner betätigte (er sorgte für die ärztliche Betreuung der Gladiatoren in Rom), dass »im ganzen Körper die Arterien mit Venen vermengt sind und die Venen mit Arterien«. Er war davon überzeugt, dass im Körper verschiedene Kräfte walteten, so ging die spiritus vitalis vom Herzen aus in die Arterien, wo sie zur spiritus animalis umgewandelt wurde. Diese gelangte seiner Ansicht nach in die Nervenbahnen, von wo aus sie dann in der Leber als spiritus naturalis in die Venen weiterzog. Im Mittelalter glaubte man, Arterien enthielten spirituelles Blut – den Lebensgeist. Zwar wurden auf dem Gebiet der Medizin inzwischen unübersehbar enorme Fortschritte gemacht, doch steckt in dem Wissen der Vergangenheit auch ein Körnchen Wahrheit. Als Galen die Arterien studierte, definierte er eine bis heute geltende Erkenntnis (die sich metaphorisch auf ein Krankenhaus übertragen lässt): »Es ist nutzbringend, alle Teile des Tieres zu nähren.«

Rechts und ganz am Ende des Gangs versteckt sich das Kino des Krankenhauses, wo Patienten und deren Angehörige die neuesten Filme sehen können (das Personal übrigens auch, obgleich ich keinen Kollegen kenne, der dafür je Zeit gehabt hätte). Dort steht auch ein Stuhl für die Pflegekraft, die von einem Wohlfahrtsverein finanziert wird und vor Ort ist, um gegebenenfalls die Leute zu beruhigen und sich um eventuelle Notfälle zu kümmern. Daneben befindet sich die Abteilung für Geschlechtskrankheiten (immer voll, nur Stehplätze zu haben). Wir kommen an der Ambulanz vorbei, wo sich Menschen um einen Mann in einem Rollstuhl geschart haben, der eine nicht angezündete Zigarette im Mund und eine weitere hinter das Ohr geklemmt hat und laut herumbrüllt. Hinter ihm steht ein Infusionsständer, an dem ein Beutel aufgehängt ist. Die schaumig klare Flüssigkeit darin läuft durch einen dünnen weißen Schlauch, der wie eine fehlgeleitete Nabelschnur aussieht und im oberen Teil seines Brustkorbs verschwindet.

»Wir sind fast da«, sage ich.

Diese Menschen, das Chaos: das spirituelle Blut des Krankenhauses. Und alle verzweigten Arterien und Venen führen zum Zentrum: der Notaufnahme.

Die Notaufnahme ist beängstigend. Sie erinnert uns daran, wie zerbrechlich das Leben ist – und was könnte erschreckender sein als dieser Gedanke? Die Notaufnahme lehrt uns, dass wir verwundbar sind und trotz größter Anstrengungen nicht voraussehen können, wer auf einem Gehweg stolpern und sich eine gefährliche Gehirnblutung zuziehen wird; wessen Dach einstürzt, was eine traumatische Beinamputation zur Folge haben könnte; wer sich das Genick bricht, die Wirbelsäule verletzt oder verblutet. So kann bei einem Paar, das seit sechzig Jahren glücklich verheiratet ist, eines Tages die demente Ehefrau ihren Mann angreifen und zurichten. Oder man ist zur falschen Zeit am falschen Ort: So wird ein Mann eingeliefert, dem ein jugendlicher Hitzkopf ein Messer in die Brust gerammt hat, oder eine schwangere Frau, die man zusammengeschlagen und in den Bauch getreten hat.

Doch in der Notaufnahme findet sich auch Schönheit, ein Zusammenhalt, der alle Konflikte vergessen macht. Als Pflegekraft in der Notaufnahme kann man seine Zeit nicht mit Schlafwandeln verbringen. Jeder Tag wird intensiv wahrgenommen, analysiert und wirklich erlebt. Trotzdem zittert meine Hand jedes Mal, wenn ich die Tür öffne – auch jetzt noch, nachdem ich seit vielen Jahren hier arbeite. In der Notaufnahme bin ich nie allein, auch wenn ich als Reanimationsschwester viel Zeit an diesem Ort verbringe. Pflege erfordert Flexibilität, die Gabe, sich anzupassen und die Energie in die Richtung zu lenken, wo Patienten und Kollegen sie brauchen, auch wenn das bedeutet, sich auf fremdes Terrain zu begeben. Und trotzdem macht mir die Notaufnahme Angst. Anders als das Personal in der Kantine, das Alarm geschlagen hat, um Betty zu helfen, rufen die Kollegen in der Notaufnahme Reanimationskräfte nur im äußersten Notfall oder wenn sich ein Trauma ereignet, das besondere Experten erfordert.

Die Notaufnahme ist unberechenbar. Doch es gibt gewisse Muster. Während der Wochentage sind die Vormittage Müttern vorbehalten, die sich die ganze Nacht um ihre Kinder gekümmert haben und im kalten Licht des Tages erkennen, dass es ihnen trotzdem eher schlechter als besser geht. Tagsüber werden Unfallopfer und sonstige Verletzte behandelt und am Abend Angestellte, die keinen Termin beim Hausarzt bekommen haben und bei der Arbeit am nächsten Tag nicht fehlen wollen. In den Nächten normaler Wochentage ist alles möglich, denn nachts kommen die Leute normalerweise nur, wenn sie wirklich krank sind. Und zwischen Donnerstagabend und Montagmorgen drängen sich Nachtschwärmer in den Gängen, mit starrem Blick und nervösen Zuckungen. Am Sonntagmorgen reißt der Patientenstrom nicht mehr ab, und je weiter der Tag voranschreitet, umso schlimmer wird es: junge Männer und Frauen, die alle möglichen Amphetamine eingeworfen haben, mit Pupillen so groß wie der Mond, oder alkoholisierte Junkies, mit Augen so klein wie Stecknadelköpfe, die nichts sehen und kein bisschen Licht hereinlassen.

In der Notaufnahme wimmelt es von Polizeibeamten, schreienden Familienangehörigen, Patienten, die nur durch einen dünnen Vorhang voneinander getrennt sind; ein älterer Patient nach einem Schlaganfall neben einem Alkoholiker, eine schwangere Frau mit hohem Blutdruck neben einem Schreiner, der sich die Hand verletzt hat, ein Patient mit den ersten Anzeichen von multipler Sklerose zwischen einem jungen Mann, der an einer Sichelzellkrise leidet, und einem Kind mit Blutvergiftung. Herzanfälle, Hirnaneurysma, Schlaganfälle, Lungenentzündungen, diabetische Ketoazidose, bei der der Stoffwechsel entgleist, Hirnhautentzündung, Malaria, Asthma, Leberversagen, Nierensteine, Eileiterschwangerschaften, Verbrennungen, Überfälle, psychotische Anfälle … Hundebisse, Knochenbrüche, Atemaussetzer, Panikanfälle, Überdosen, Pferdetritte, psychische Krankheiten, Schuss- oder Stichverletzungen. Einmal ein halb abgesägter Kopf.

Betty verzieht das Gesicht. Während wir den großen Warteraum durchqueren, in dem die Patienten auf Plastikstühlen sitzen oder vor der mit Plakaten gepflasterten Wand stehen, hält sie meine Hand fest. Niemand sieht sie an. Es ist, als würde jeder durch sie hindurchschauen. Sie ist unsichtbar. Im Vorbeigehen lese ich die Plakate:

Haben Sie sich in den letzten 48 Stunden erbrochen oder hatten Durchfall, erzählen Sie es bitte dem behandelnden Arzt.

Sind Sie zwischen zwölf und fünfzig Jahre alt, sagen Sie bitte dem Röntgenassistenten Bescheid, falls Sie schwanger sind.

Haben Sie Schmerzen? Sind Sie verletzt? Hatten Sie einen Herzanfall? Rufen Sie direkt beim NHS an. Brustschmerzen? Atemnot? Wählen Sie 999.

Neben den Plakaten befindet sich ein Waschbecken. An der Wand sind zwei Behälter angebracht. Der eine enthält Flüssigseife, der andere ist leer: Das Desinfektionsmittel für die Hände ist längst entfernt worden. Alkoholiker, die ins Krankenhaus kamen, tranken das Zeug wegen seines Alkoholgehalts. Menschen, die so verzweifelt sind, brauchen offensichtlich Hilfe, doch letztlich bleibt einem oft nichts anderes übrig, als Dinge dieser Art zu entfernen. Niemand hat die Zeit, einen obdachlosen Alkoholiker unter einem Waschbecken aufzusammeln und ihn wegen der Schäden zu behandeln, die er seinem Körper bereits zugefügt hat. Blutende Krampfadern als Folge einer Leberzirrhose gehören zu den furchtbarsten Dingen, die ich jemals gesehen habe – die Venen in der Speiseröhre platzen, der Patient spuckt Blut. Und so etwas kann, wie bei allen Komplikationen einer Alkoholsucht, schon bei weit weniger Alkoholkonsum auftreten, als man gemeinhin annimmt.

Die meisten Patienten, die auf ihren kleinen Stühlen in unserer Nähe sitzen, haben eine Begleitperson dabei. Mögliche Meinungsverschiedenheiten sind vergessen, man hält sich an der Hand, streicht sich übers Haar. Einige Patienten weinen. Während ich mich im Warteraum umsehe, muss ich an William Hogarths Porträt von London denken, Gin Lane. Die Armut ist spürbar. Es gibt betrunkene Mütter und abgemagerte Väter. Der Raum riecht nach Ausdünstungen von Menschen und nach dem metallischen Geruch von altem Blut. Man hat den Eindruck, dass die Notaufnahme sich kaum verändert hat, seit im Jahr 1215 die Nonnen und Mönche, die ein Spital in London leiteten, es als Zufluchtsort für die Armen, Kranken und Obdachlosen betrachteten. Die ersten Krankenschwestern in einem solchen Krankenhaus begannen am 9. Juli 1860 mit ihrer Ausbildung, und nach erfolgreich bestandener Prüfung durften sie Florence Nightingale bei sich zu Hause besuchen – eine aufregende Sache für die wenigen, die ihr persönlich begegneten, aber auch angsteinflößend: Nightingale machte sich Notizen über die Schüler, darunter auch ihren »Charakter«. Was hätte sie wohl über mich gedacht?

Das Krankenhaus, der Ort, blieb während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts eine Zuflucht der Armen, obgleich die Krankenpflege inzwischen standardisiert worden war. Gewisse Aspekte der Vergangenheit schwingen bis heute mit: Früher verloren Krankenschwestern ihre Stelle, wenn sie heirateten. Heute sind natürlich die meisten von uns verheiratet, doch während der Ausbildung kannte ich noch viele unverheiratete Oberschwestern im Dienst. Einige wohnten im Schwesternheim Spencer House, das wir »Spinster’s House« nannten, weil wir uns gar nicht vorstellen konnten, was gute Krankenpflege einem Menschen abverlangt. Pflege ist ein Beruf, der einem tagtäglich ein Stück Seele raubt. Die emotionale Kraft, die man braucht, um Menschen in all ihrer Verletzbarkeit zu versorgen, hat ihre Grenzen, und es gab Tage, an denen ich mich, wie die meisten meiner Kollegen, völlig ausgelaugt fühlte und nichts mehr zu geben hatte. Deshalb bin ich sehr dankbar für meine Familie und Freunde, die Verständnis dafür aufbringen.

Betty hustet und hält sich die Hand vor den Mund. Ihre schmalen Schultern beben. Sie tastet nach der Handtasche, die ich am Ende der Trage abgelegt habe. Ich lege sie ihr auf den Schoß, und sie kramt ein zerknülltes Papiertaschentuch hervor, wischt sich über den Mund und steckt es wieder zurück. Die Tasche behält sie in der Hand und klammert sich daran wie ein verängstigtes Kind an sein Stofftier. Ich lege ihr die Hand auf den Arm. »Gleich haben wir es geschafft.«

Wir gehen durch die Tür nach draußen, wo eine Schlange von Krankenwagen parkt: Ein Arzt flitzt rein und raus, um sich um die Patienten zu kümmern, die auf harten Krankenwagentragen warten, und entschuldigt sich für den Mangel an Betten. Eine Putzfrau wischt unentwegt die Böden, und gelegentlich schreit sie einfach los: Sie ist schon lange psychisch krank, doch der National Health Service ist ein unvoreingenommener Arbeitgeber. Das Personal kommt aus allen möglichen Ländern und aus allen Schichten der Gesellschaft und spiegelt damit die Patienten wider, die von dieser Einrichtung behandelt werden. Ich habe mit Krankenpflegern aus der ganzen Welt gearbeitet, Krankenschwestern, die selbst obdachlos waren; eine verdingte sich bei einem Escort-Service, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Ich habe Pflegekräfte kennengelernt, die sterbende Familienangehörige hatten oder selbst an Krebs erkrankt waren, die außerhalb ihrer Arbeitszeit kleine Kinder oder ältere Angehörige pflegten, homosexuell, heterosexuell, nicht binär (nicht Mann, nicht Frau) oder transsexuell waren. Manche von ihnen waren Flüchtlinge, Sprösslinge aus unvorstellbar reichen Familien oder wohnten in Bezirken, in die sich die Polizei nur in Gruppen hineinwagt. Es gibt sehr wenige Berufe, in der Menschen mit derart unterschiedlichen Charakteren tätig sind.

In der Krankenpflege herrscht immer Bewegung zwischen den einzelnen Stationen und Fachabteilungen, und in London ist die Personalfluktuation höher als in anderen Teilen von Großbritannien, wo die Pflegekräfte gewöhnlich länger an einem Ort bleiben und dort Wurzeln schlagen. »Wenn ich befördert werden will, muss ich warten, bis jemand stirbt oder in Rente geht«, erzählt mir eine Freundin, die in das ländliche Cumbria zieht. Doch egal wo, immer steht zusätzlich ein ganzes Heer von Angestellten im Gesundheitswesen bereit, um die Bedürfnisse der Massen zu befriedigen: angefangen bei Frauen, die Säuglingskleidung nähen oder in den Läden arbeiten, über das Küchenpersonal und die Frauen in der Wäschekammer bis hin zu Apothekern und Biomedizintechnikern.

In der Notaufnahme werden Dutzende von unterschiedlichen Sprachen mit unterschiedlichen Akzenten gesprochen, und die Liste mit den Übersetzern, die in der Aufnahme ausliegt, wird ständig länger. Doch die Dolmetscher werden nur selten gebraucht. Oft haben die Leute einen jungen Familienangehörigen dabei, der übersetzen kann, oder es gibt eine Stations- oder Reinigungskraft, die aus ihrem Teil der Welt kommt. Es spricht einiges gegen das Dolmetschen durch Menschen, die nicht dafür ausgebildet sind; manche Pflegekräfte und Ärzte vermuten, dass Inhalte nicht präzise erklärt oder abgeschwächt werden. Aber so geht es schneller, als wenn man sich erst auf die Suche nach einem entsprechend geschulten Übersetzer machen muss.