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Der profunde Ratgeber zum Thema Stimme Für jeden, der in seinem Beruf viel spricht oder singt, ist die Stimme wichtiges, vielleicht sogar wichtigstes Instrument. In diesem Buch werden in einer auch für medizinische Laien gut verständlichen Sprache Funktionsweise und Ausdruckspotenzial der Stimme vorgestellt – immer mit Blick auf die künstlerische Praxis. Atemtechniken sowie Stimmbildung und Stimmtraining, auch im Rahmen der Gesangsausbildung bzw. im Gesangsunterricht, werden erläutert – und auch, wie man Stimmkrisen vermeiden oder sie überwinden kann. Beiträge von Experten aus den Bereichen Stimmphysiologie, Gesangspädagogik, Künstlerischer Gesang, Stimmakustik und Psychosomatik bereichern das Buch, machen es interdisziplinär und den "Kosmos Stimme" in seiner ganzen Vielfalt begreifbar. - Anatomie, Physiologie, Akustik und psychologische Aspekte der Sing- und Sprechstimme - Handbuch für Sänger, Schauspieler, Sprecher, Logopäden, Stimmtherapeuten und Ärzte - angewandte Stimmphysiologie in der Ausbildung von Sängern und Schauspielern - Stimmlagen, Stimmgattungen, Stimmfächer und Stimmregister im klassischen und populären Gesang - mit Bildern sowie praktischen Hinweisen zur Pflege und Gesunderhaltung der Stimme sowie zur Überwindung von Stimmkrisen Die Begeisterung für Musik und Gesang Die Stimme ist sogar bei sprachlichen Äußerungen immer musikalisch und erreicht andere Menschen auf einer emotionalen Ebene. In diesem Sinne müssen auch bei Menschen, die in ihrem Beruf viel sprechen, die Ausdrucksmöglichkeiten geschult werden. Darüber hinaus sind Musik und Gesang tief im kollektiven Bewusstsein verankert. Die weltweite Begeisterung dafür kennt keine Grenzen. Mehr Menschen denn je singen in einem Chor, haben Freude daran und wollen mehr über die Gesundheit von Stimmbändern, den Resonanzraum oder die Klangfarben von Gesangsstimmen erfahren. Auch für sie ist dieses Buch gedacht. Ein wichtiges Buch für das wichtigste Instrument "Die Stimme" ist der unverzichtbare Ratgeber für alle Stimminteressierten – egal ob Sänger, Schauspieler, Sprecher, Logopäde, Stimmtherapeut oder Arzt –, denen die Gesundheit der Stimme am Herzen liegt.
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Seitenzahl: 530
Die Stimme
Bernhard Richter
Die Stimme
Grundlagen Künstlerische Praxis Gesunderhaltung
Mit Beiträgen vonMatthias Echternach, Monika Meier-Schmid, Dirk Mürbe, Marina Sandel, Berthold Schmid, Wolfram Seidner, Claudia Spahn, Johan Sundberg und Sascha Wienhausen
HENSCHEL
www.henschel-verlag.de
www.seemann-henschel.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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E-Book ISBN 978-3-89487-820-7
© 2013, 2018 Henschel Verlag in der E.A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig 2., durchgesehene Auflage 2014, 3. Auflage 2018
Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise,
ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Ingo Scheffler, Berlin
Titelbild: Szene aus Piaf an der Tribüne, Berlin, mit Katharine Mehrling in der Titelrolle (2004).
© Foto: Iko Freese / drama-berlin.de
Lektorat: Anja Herrling
Gestaltung und Satz: Grafikstudio Scheffler, Berlin Druck und Bindung: Salzland
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
Inhalt
Avant-propos
1. Historische Vorbemerkungen BERNHARD RICHTER
Altertum
Renaissance
18./19. Jahrhundert
Exkurs: Stroboskopie
20. Jahrhundert
Phoniatrie und Logopädie
Fachgesellschaften, Publikationsorgane und Kongresse
Exkurs: Buchpublikationen
21. Jahrhundert – Ausblick
Zusammenfassung
2. Die Grundlagen der Stimme BERNHARD RICHTER
Begriffsdefinitionen
Atmung
Aufbau des Atemapparats
Der Atmungsvorgang allgemein
Der Atmungsvorgang beim Singen – physiologische Kennwerte
Anforderungen an die Sängeratmung
Regulation der Sängeratmung
Sängerische Vorstellungen und Terminologie zur Atmung
Trainierbarkeit der Atemfunktion
Atmung – Zusammenfassung
Kehlkopf
Position des Kehlkopfes
Kehlkopfgerüst
Muskeln und Bänder
Stimmlippenaufbau
Primäre Funktion des Kehlkopfes
Phonationsvorgang
Phonationsarten
Vibrato
Kehlkopf – Zusammenfassung
Resonanzräume
Begriffsdefinitionen
Anatomische Begrenzungen
Länge und Form – Akustische Implikationen
Resonanzräume – Zusammenfassung
3. Methoden zur Darstellung, Analyse und Beurteilung von Stimmen BERNHARD RICHTER
Hören
Anatomisch-physiologische Aspekte
Analytisches Hören und Hörschulung
Hörende Fremd- und Eigenbeurteilung der Stimme
Exkurs: Rauigkeit / Behauchtheit / Heiserkeit (RBH-Index)
Exkurs: Voice Handicap Index (VHI)
Tasten, Fühlen
Untersuchung mit den Händen
Kinästhetische Kontrolle
Sehen
Optische Darstellung der Stimmlippenschwingungen
Stroboskopie
Hochgeschwindigkeitsglottografie
»Fallstricke« bei der Visualisierung der Stimmlippenschwingungen
Magnetresonanztomografie
Messen
Akustische Analyse des Stimmschallsignals
Weitere Messverfahren
Aerodynamische Maße
Elektroglottografie (EGG)
Elektromyografie (EMG)
Stimmfeld
Zusammenfassung
4. Stimmakustik, Stimmanalyse, Stimmsynthese JOHAN SUNDBERG, BERNHARD RICHTER
Grundton, Obertöne
Primärschall, Klangformung im Ansatzrohr, Formanten
Vokalformanten
Sängerformantcluster
Formantstrategien bei hohen Stimmen
Tragfähigkeit
Unterschiede zwischen klassischen und nicht-klassischen Sängern
Zusammenfassung
5. Stimmarten, Stimmgattungen, Stimmfächer BERNHARD RICHTER, BERTHOLD SCHMID, MARINA SANDEL, SASCHA WIENHAUSEN
Stimmarten – Begriffsdefinitionen
Sprechstimme
Sprecherstimme
Singstimme
Musik und Gesang als »Grundnahrungsmittel« – positive gesundheitliche Aspekte
Chorgesang
Sängerstimme
Klassischer Gesang
Historische Entwicklung der Stimmgattungen
Exkurs: Kastratengesang
Exkurs: Countertenöre
Die einzelnen Stimmgattungen
Sopran
Mezzosopran
Alt
Tenor
Bariton
Bass
Stimmfächer
Lyrisch und Dramatisch – Stimmfachdefinitionen
Sängerische Entwicklung und Stimmfachzugehörigkeit
Empfehlungen für eine gesunde Sängerkarriere
Stimmfachwechsel
Das Thema »Stimmfach« im klassischen Gesang aus gesangspädagogischer Sicht I BERTHOLD SCHMID
Das Thema »Stimmfach« im klassischen Gesang aus gesangspädagogischer Sicht II MARINA SANDEL
Non-classical Singing in Pop und Musical SASCHA WIENHAUSEN
Farbe oder Stimmlage
Anatomisch-physiologische Gegebenheiten
Das Stimmfach im Musical
Implikationen für die Gesangspädagogik – Level, Modes und Qualitäten
Merkmale und Unterscheidungsschwierigkeiten
Besondere Formen des nicht-klassischen Gesangs
Bauchreden
Obertonsingen
Jodeln
»Mischformen« zwischen Singen und Sprechen
Zusammenfassung
6. Stimmregister MATTHIAS ECHTERNACH, BERNHARD RICHTER
Was ist mit »Stimmregister« gemeint?
Wie werden Register bezeichnet?
Verwendung der Register
Vorstellungen über die mechanischen Prinzipen der Registerentstehung
Das Problem der exakten Registerdefinition bei trainierten Sängern
Vorschlag einer Gliederung in Frequenzbereiche
Erster Bereich
Zweiter Bereich
Dritter Bereich
Vierter Bereich
Fünfter Bereich
Die Stimmregister aus wissenschaftlicher Sicht
Strohbassregister
Modalregister
Männliches Falsettregister
Singen oberhalb des Passaggio in der Bühnenstimme des Tenors
Weibliche Register oberhalb des Modalregisters
Mittelregister
Kopfregister
Pfeifregister
Registerübergänge
Zusammenfassung
7. Stimmphysiologie in der Ausbildung von Sängern und Schauspielern BERNHARD RICHTER, DIRK MÜRBE, BERTHOLD SCHMID, MARINA SANDEL
Ausbildungssystem
Aktuelle Verankerung des Lehrangebotes Stimmphysiologie an deutschen Ausbildungsstätten für Sänger und Schauspieler
Pädagogische Tradition
Entwurf eines Mustercurriculums
Stellenwert im Fächerkanon
Zeitpunkt und Umfang
Lehrinhalte der Stimmphysiologie
Beschreibung der einzelnen Themenbereiche
Stimmphysiologie im Einzelunterricht – Klassischer Gesang BERTHOLD SCHMID
Stimmphysiologie im Methodikunterricht – Klassischer Gesang MARINA SANDEL
Zusammenfassung
8. Psychologische Aspekte in Ausbildung und Beruf von Sängern und Schauspielern CLAUDIA SPAHN, BERTHOLD SCHMID, MONIKA MEIER-SCHMID
Psychologische Aspekte in der Ausbildung von Sängern und Schauspielern
Entwicklung der beruflichen Identität als Sänger und Schauspieler
Lehrer-Schüler-Beziehung
Repertoireauswahl
Psychologische Aspekte im Rahmen des Faches Stimmphysiologie
Vorbereitung auf die Berufsrealität und Übergang ins Berufsleben
Spezifische psychologische Besonderheiten im Beruf des Schauspielers und Sängers
Kommunikationsstrukturen im künstlerischen Berufsfeld
Lampenfieber
Karriereplanung
Sozioökonomische Bedingungen
Zusammenfassung
9. Dysodie WOLFRAM SEIDNER
Nomenklatur
Beschwerden
Ursachen
Diagnostik
Therapie
Prophylaxe
Zusammenfassung
10. Die Stimme in der Lebenszeitperspektive BERNHARD RICHTER, CLAUDIA SPAHN
Vom ersten Schrei zum letzten Wort
Förderung und Praxis der Stimme im individuellen und gesellschaftlichen Kontext
Physiologische und psychologische Aspekte aktiver Stimm pflege
Singetradition in Europa
Regelhaft stattfindende stimmphysiologische Veränderungen
Hormonelle Einflüsse
Hormonelle Störungen
Stimme und Altern
Stimmliche Veränderungen und ihre Besonderheiten bei professionellen Sprechern und Sängern
Schauspieler und Sprecher
Sänger
Entwicklung bis zum Berufseintritt
Berufsleben
Verlassen der aktiven Sängerlaufbahn
Zusammenfassung
11. Gesunderhaltung, Hygiene, Prävention BERNHARD RICHTER, MARINA SANDEL
Begriffsdefinitionen
Gesunderhaltung der Stimme und Umgang mit häufigen Problemen
Überlastungen
Akute Überlastung
Chronische Überlastung
Was kann man hinsichtlich einer Überlastung prophylaktisch tun?
Respiratorische Infekte
Stress
Lampenfieber
Raumklima und Schadstoffe
Reflux
Einnahme von Medikamenten
Hormonell bedingte Stimmveränderungen
Artikulatorische Auffälligkeiten
Aussprache unterschiedlicher Sprachen
Lautbildungsfehler
Knödeln
Näseln
Stimmhygiene – Tipps für die Praxis
Warm-up und Cool-down
Üben
Gesunde Gesangstechnik
Prävention
Primäre Prävention und Gesundheitsförderung
Sekundäre Prävention
Tertiäre Prävention – Behandlung
Stimmruhe/Stimmaufbau
Zusammenfassung
Anhang
Über die Autoren
Literaturverzeichnis
Sachregister
Bild- und Textnachweise
Avant-propos
Die Stimme ist das ursprünglichste und eigenste Ausdrucksmittel, welches jedem Menschen von seiner Geburt an zur Verfügung steht und welches jeden Menschen am direktesten emotional erreicht.
Die Stimme bedient sich bei sprachlichen Äußerungen musikalischer Elemente und kann auch als eigenständiges Musikinstrument verwendet werden. Manche Textzeilen und die dazugehörigen Melodien – von FREUDE SCHÖNER GÖTTERFUNKEN (Schiller/Beethoven) über NESSUN DORMA! (Adami/ Simoni/Puccini) bis hin zu YESTERDAY (Lennon/ McCartney) und WE ARE THE WORLD (Jackson/Richie) – sind tief im kollektiven Bewusstsein verankert. Die weltweite Begeisterung für alle Spielarten der menschlichen Stimme ist ungebrochen: Man kann spartenübergreifend sowohl enthusiastische Verehrung einzelner Sprecher- und Sänger-Stars – von Presley bis Pavarotti – als auch einzelner Genres – vom Pop- bis zum Operngesang – beobachten.
Das Anliegen des vorliegenden Buches ist es, die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme beim Sprechen und Singen unter besonderer Berücksichtigung der professionellen Sprecher- und Sängerstimme zu beleuchten. Da sich sehr unterschiedliche Berufsgruppen mit der menschlichen Stimme befassen, sind auch sehr unterschiedliche Betrachtungswinkel auf die Stimme möglich. Der vorliegende Text ist deswegen aus den unterschiedlichen Perspektiven des auftretenden Künstlers, des stimmpädagogisch, des stimmphysiologisch sowie des stimmärztlich Tätigen konzipiert.
Jeder Stimminteressierte – ob Sänger, Schauspieler, Sprecher bzw. Logopäde, Stimmtherapeut oder Arzt – kann sich anhand der einzelnen Kapitel einen profunden Einblick in den Kosmos »Stimme« erschließen. Der Text wendet sich an alle, die sich für die Grundlagen der Stimme, ihren Aufbau und ihre Funktionsweise sowie ihre Gesunderhaltung interessieren, insbesondere aber auch an junge Menschen in der Ausbildung oder im Studium zum Sprecher, Sänger oder Stimmtherapeuten. Bei der Darstellung werden die neuesten stimmwissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt. Sie sind in einer auch für den medizinischen Laien gut verständlichen Sprache abgefasst und wahren immer den Blick auf die künstlerische Praxis und das Ausdruckspotenzial der Stimme. Die Verknüpfung unterschiedlicher Disziplinen und die stets interdisziplinäre Betrachtungsweise stehen in der Tradition der Gesangs- und Stimmpädagogik sowie der Stimmheilkunde des 19. und 20. Jahrhunderts. So benannte die Schauspielschule des Deutschen Theaters zu Berlin, unter der Direktion des legendären Max Reinhardt, im Bericht des fünften Schuljahrs schon 1909/10 einen ärztlichen Beirat mit dem Spezialarzt für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden Dr. Alfred Peyser (Fuhrich u. Prossnitz 1987)1. Die Tradition einer interdisziplinären Betreuung in der Ausbildung ist also nicht neu, aber immer noch innovativ und zukunftsweisend, wie im einleitenden Kapitel zur Historie ausführlich dargestellt.
Neben den Autoren aus dem Freiburger Institut für Musikermedizin, Frau Prof. Dr. Claudia Spahn und Herrn Prof. Dr. Matthias Echternach, konnten weitere renommierte Experten aus dem weiten Feld der Stimmmedizin, Stimmwissenschaft und Gesangspädagogik zur Mitarbeit am vorliegenden Buch gewonnen werden.2
Unter den Autoren sind mit Prof. Monika Meier-Schmid (Halle-Wittenberg), Prof. Marina Sandel (Hannover), Prof. Berthold Schmid (Leipzig) sowie Prof. Sascha Wienhausen (Osnabrück) vier Sänger und Gesangspädagogen. Sie sind alle Mitglieder im Bundesverband Deutscher Gesangspädagogen (BDG) – mit zum Teil jahrelanger maßgeblicher Mitarbeit im Vorstand dieses Verbandes.
Als weitere Mitautoren fungieren die Stimmärzte und Sänger Prof. Dr. Dirk Mürbe (Dresden) und Prof. Dr. Wolfram Seidner (Berlin) sowie der Nestor der Stimmwissenschaft und Akustik, Prof. Dr. Johan Sundberg (Stockholm).
Durch die Zusammenarbeit der Autoren kann ein Hauptanliegen des vorliegenden Buches realisiert werden, welches darin besteht, zur Klärung der zum Teil unscharf definierten Begrifflichkeit und Terminologie im Umfeld der »Stimme« beizutragen. Die Herkunft der Autoren aus sehr unterschiedlichen Disziplinen ermöglicht es auch, zwischen den einzelnen Fachdisziplinen sprachlich zu vermitteln und – soweit wie möglich – eine »Harmonisierung« herbeizuführen.
Die Gliederung des Buches ist so angelegt, dass zunächst im Grundlagenteil der Bau (Anatomie) und die Funktionsweise (Physiologie) der Sing- und Sprechstimme sowie die Stimmakustik unter Einbeziehung der modernen Möglichkeiten heutiger apparativer Diagnostik dargestellt werden. In Hinwendung zur künstlerischen Praxis wird im Folgenden ausführlich auf die Frage und Bedeutung der einzelnen Stimmarten, Stimmgattungen und Stimmfächer sowie auf die Stimmregister eingegangen. Weitere Schwerpunkte bilden die Ausführungen zur Anwendung stimmphysiologischer Erkenntnisse in der Ausbildung von Sängern, Schauspielern und Sprechern sowie die stimmliche Entwicklung in der Lebenszeitperspektive. Dabei werden die Fragen zu psychologischen Aspekten der Stimme sowie zu stimmlichen Belastungen und Funktionsstörungen eingehend diskutiert. Der abschließende Teil enthält präventive Ansätze zur Gesunderhaltung der Stimme unter körperlichen und psychologischen Gesichtspunkten. Praktische Hinweise zur Pflege der Stimme sowie zur Vorbeugung und Überwindung von Stimmkrisen runden die Darstellungen ab.
Zum besseren kapitelübergreifenden Verständnis des vorliegenden Textes seien die folgenden editorischen Hinweise gestattet:
Im Text finden sich zahlreiche Querverweise auf andere Kapitel des Buches. Dadurch soll eine Verzahnung der Kapitel erreicht werden. Für den Leser soll es sich lohnen, auch nochmals zurück- oder vorzublättern.
Der Text ist bewusst immer wieder mit literarischen Zitaten und Gedichten angereichert, um die Verbindung der Stimme mit der Welt der Gedanken und Gefühle zu illustrieren – ganz im Sinne des großen Komikers Heinz Erhardt (1909–1979), der seine Versdarbietungen lapidar mit: »Noch’n Gedicht« einleitete. Hier gleich ein besonders schönes – bisher unveröffentlichtes – Gedicht-Exemplar von Nora Gomringer3 mit dem Titel DER SÄNGER:
Bis der seinen Mund öffnet,
ist er ein seltsamer Fisch,
weil – bis er singt – nicht klar ist,
dass er ein Vogel ist.
Wenn im Text eine nicht mehr lebende Person zum ersten Mal genannt wird, werden die Lebensdaten der Person – sofern sie bekannt sind – in Klammern eingefügt, um den Leserinnen und Lesern4 die zeitliche Einordnung zu ermöglichen – getreu dem Motto von Walter Benjamin (1892–1940):
»Geschichte schreiben heißt, Jahreszahlen ihre Physiognomie geben.« (Benjamin 1991, S. 595)
Wenn im Text Beispiele einzelner Künstler angeführt sind, wurden zumeist solche Künstler ausgewählt, die nicht mehr selbst auf der Bühne aktiv sind. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurde explizit darauf verzichtet, die stimmlichen Gegebenheiten aktiver Künstler zu diskutieren. Ausnahmen hiervon wurden nur gemacht, wenn die Künstler sich nicht persönlich gegenüber den Autoren, sondern selbst öffentlich in Interviews oder Buchpublikationen über sich und ihre Stimme geäußert haben.
Zu guter Letzt möchte ich von ganzem Herzen Dank abstatten:
An Prof. Dr. Claudia Spahn, Prof. Dr. Michael Bach, Prof. Dr. Thomas Seedorf und Prof. Dr. Tadeus Nawka, die das Manuskript im Entstehungsprozess mit unermüdlicher Geduld mit vielfältigen fachlichen Anmerkungen und Verbesserungsvorschlägen begleitet haben.
An alle Mitautoren – insbesondere auch wegen ihrer über das gemeinsame Buchprojekt hinausgehenden, jahrelangen Zusammenarbeit, Freundschaft und Förderung.
An den Verleger des Henschel Verlags Herrn Dr. Jürgen A. Bach und seine Mitarbeiter Frau Susanne Van Volxem (Programmleitung), Frau Anja Herrling (Lektorat) und Herrn Thomas Flach (Herstellungsleitung); an die Zeichnerin Frau Korina Kaisershot, welche die wunderbaren anatomischen Zeichnungen beigesteuert hat, an Tobias Roth für das Setzen der Noten, an Frau Dr. Louisa Traser für die ausdrucksvollen Schwarzweißfotografien sowie an Herrn Ingo Scheffler für die grafische Gestaltung des Buches.
An Herrn Prof. Dr. Martin Schumacher, em. Ärztlicher Direktor der Klinik für Neuroradiologie, Universitätsklinikum Freiburg, und seinen Mitarbeiter Hansjörg Mast für die kollegiale Zusammenarbeit beim Erstellen der kernspintomografischen Bilder.
An alle, die meine eigene Sprech- und Gesangsstimme gefördert und ausgebildet haben. Bereits in der Kindheit durfte ich von der intensiven musikalischen Bildung profitieren, die meine Eltern mir ermöglichten. Sie waren es auch, die mir den Zugang zu den Stuttgarter Hymnus-Chorknaben unter Leitung von Prof. Gerhard Wilhelm (1918–2009) eröffneten. Dort erhielt ich ersten qualifizierten Gesangsunterricht durch Herta Schulze, Manfred Ackermann und Ursula Heffter. Diese Vorbildung ermöglichte mir die professionelle Ausbildung meiner erwachsenen Stimme bei Hanns Friedrich Kunz und Prof. Beata Heuer-Christen. Wesentliche Anregungen zu Fragen der Stimmpflege und -therapie bekam ich von Christiane Hartert.
Last but not least geht mein aufrichtiger Dank an alle, von denen ich intensiv künstlerisch profitieren durfte: Wolfgang Schäfer (Freiburger Vokalensemble), Frieder Bernius (Stuttgarter Kammerchor), Judy Roberts/Heribert Möllinger/Marcin Grochowina, Patrick Blank, Gerd Heinz und natürlich Claudia Spahn.
Ohne die Genannten wäre das vorliegende Buch nicht entstanden.
Besonders erfreulich ist, dass auf Grund der großen anhaltenden Nachfrage nun bereits die dritte Auflage vorgelegt werden kann. Ich hoffe, auch diese wird den geneigten Leserinnen und Lesern gefallen!
Für die Autoren
Bernhard Richter
Freiburg im Breisgau, im Mai 2018
1 Die Autorennamen und Jahreszahlen in Klammern verweisen auf das Literaturverzeichnis, S. 224 ff.
2 Nähere Angaben zu den künstlerischen und beruflichen Lebensläufen der einzelnen Autoren finden sich auf S. 219 ff.
3 Nora Gomringer ist eine mehrfach preisgekrönte Lyrikerin: Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache des Jahres 2011; Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik des Jahres 2012.
4 Selbstredend ist im gesamten Text des Buches, wenn zuweilen aus Gründen der besseren Lesbarkeit lediglich die männliche Form gewählt ist, auch die weibliche Form mit gemeint.
2. Die Grundlagen der Stimme
Bernhard Richter
Das Instrument Stimme setzt sich aus den drei in Abbildung 3 gezeigten Elementen zusammen:
Tonanregung – Atmung
Ton-/Klangproduktion – Kehlkopf
Ton-/Klangformung – Resonanzräume
Die Stimme ist durch ihre Bauart und Funktionsweise ein einmaliges Instrument, welches hinsichtlich Beeinflussbarkeit der Tonproduktion und der Klangformung durch den Sänger und Sprecher in der Natur und in der Musik nichts Vergleichbares kennt. Für unser Verständnis der Stimme als Instrument sind zwei Grundpfeiler wesentlich: erstens, Kenntnisse über den Bau (Anatomie) des Instrumentes und, zweitens, Kenntnisse über die Funktion (Physiologie) der einzelnen Bauelemente bei der Stimmproduktion. Zur Erläuterung, wie man diese Kenntnisse erlangen und einordnen kann, seien im Folgenden – vor der detaillierten Beschreibung des Instruments Stimme – einige Begriffsdefinitionen vorangestellt.
Abb. 3: Schematische Darstellung der drei Elemente des Instruments Stimme mit den dazugehörigen Möglichkeiten der Visualisierung und Messung
Begriffsdefinitionen
Die Anatomie (von griech. anatémnein, »schneiden, zerteilen«) ist die Wissenschaft vom Aufbau des Körpers, welche ihre Kenntnisse durch eine möglichst feine Zergliederung des Körpers gewinnt. Sie ist im Wesentlichen eine beschreibende Wissenschaft, die – seit ihren Anfängen in der Renaissance (vgl. Kap. 1, S. 18) – ein umfassendes und weitgehend lückenloses Wissen über die grundsätzlichen Bauelemente des Stimmapparates erarbeiten konnte.
Die Physiologie (von griech. phýsis, »Natur«, u. lógos, »Lehre, Vernunft«) ist die Wissenschaft von der Funktionsweise eines Lebewesens. Sie ist im Wesentlichen eine experimentelle Wissenschaft, welche versucht anhand von Modellen oder in Untersuchungen am lebenden Organismus Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Funktionseinheit zu verstehen. Die Stimmphysiologie beschäftigt sich demnach mit der Funktionsweise der Stimme.
Die funktionelle Anatomie bemüht sich, die anatomisch untersuchten Strukturen bestimmten Funktionsprinzipien zuzuordnen. Hierbei geht es immer um die Funktionsweise der Einzelelemente und deren Zusammenspiel.
Für jeden, der die Stimme als Sänger oder Sprecher aktiv benutzt, ist es vor allem wichtig, die Funktionszusammenhänge zu verstehen, weniger bedeutsam dagegen, die einzelnen anatomischen und physiologischen Details isoliert zu betrachten und zu kennen.
In der Stimmphysiologie und auch in der funktionellen Anatomie der Stimme konnten in den letzten 150 Jahren viele Fragen bereits zufriedenstellend geklärt werden, es gibt jedoch noch etliche offene Punkte. Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass die menschliche Stimme im Tierreich so einzigartig ist, dass es nur wenige Modelle gibt, die sinnvoll zum Vergleich herangezogen werden könnten. Zum anderen ist die Stimme bei Menschen – und insbesondere die Sängerstimme – nur unter erschwerten Bedingungen zu untersuchen, da manche Untersuchungsverfahren, wie z. B. eine elektrische Ableitung der inneren Kehlkopfmuskeln mittels Nadelelektroden (sog. Elektromyografie [EMG], siehe Kap. 3, S. 77), aus ethischen und stimmfunktionellen Gründen – sowohl im Hinblick auf das Verletzungsrisiko als auch auf die Störung der Funktionsabläufe – während der Stimmproduktion nur eingeschränkt anwendbar sind. Auch Computermodelle der Kehlkopfmechanik sind aufgrund der Komplexität des Stimmproduktionsvorgangs noch nicht vollständig entwickelt, in diesem Bereich wird jedoch intensiv von unterschiedlichen Forschergruppen gearbeitet (Tokuda et al. 2007; Murray u. Thomson 2011).
Manche stimmphysiologischen Erklärungsversuche basieren demzufolge auf theoretischen Modellen – wie z. B. der Interaktion zwischen Stimmquelle und Vokaltrakt –, die noch nicht in wissenschaftlichen Untersuchungen beim Menschen endgültig bestätigt werden konnten. Trotzdem sind solche Theorien im wissenschaftlichen Prozess sinnvoll und notwendig, wie der Satz des berühmten Naturwissenschaftlers und Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) deutlich macht:
»Je mehr sich bei Erforschung der Natur die Erfahrungen und Versuche häufen, desto schwankender werden die Theorien. Es ist aber immer gut, sie nicht gleich deswegen aufzugeben. Denn jede Hypothese, die gut war, dient wenigstens dazu, die Erscheinungen bis auf ihre Zeit gehörig zusammen zu denken und zu behalten. Man sollte die widersprechenden Erfahrungen besonders niederlegen, bis sie sich hinlänglich angehäuft haben, um es der Mühe wert zu machen, ein neues Gebäude aufzuführen.« (Lichtenberg 1984, S. 445)
Atmung
Die Atmung ist für das menschliche Leben von existenzieller Bedeutung. Schon in der Schöpfungsgeschichte lesen wir im 1. Buch Moses (2, 7):
»Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.«
Die Atmung hat demzufolge eine sehr enge Verbindung zur Psyche. Yehudi Menuhin (1916–1999) hat diesen Zusammenhang klar formuliert:
»Das Singen ist zuerst der innere Tanz des Atems, der Seele […]« (Menuhin 1999)
Die primäre physiologische Anforderung an die Atemfunktion ist der lebenswichtige Gasaustausch in der Lunge. Hauptsächlich wird dabei Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxid abgegeben.
Im Folgenden werden die anatomischen und physiologischen Grundlagen des Atmungsvorgangs sowie die Atmung beim Singen und Sprechen erläutert. Diese werden anschließend in Beziehung gesetzt zu gerade unter Sängern und Gesangspädagogen häufig verwendeten Begriffen.
Abb. 4: Atmungsorgane: Lungenflügel mit den Bronchien sowie Luftröhre
Aufbau des Atemapparats
Die Atmungsorgane im engeren Sinne bestehen anatomisch aus den Lungenflügeln mit den Bronchien sowie der Luftröhre (Abb. 4). Der Atemapparat im weiteren Sinne umfasst zusätzlich den Brustkorb (Thorax) – mit den Rippen, dem Brustbein und der Wirbelsäule –, die Zwischenrippenmuskulatur sowie das Zwerchfell (Abb. 5).
Als hauptsächliche Atemmuskeln sind das Zwerchfell und die externen Zwischenrippenmuskeln anzusehen. Das Zwerchfell trennt den Brustraum vom Bauchraum und besteht vornehmlich aus Muskulatur und Bindegewebe. Es ist wie eine Kuppel geformt, die am unteren Rand des Rippenbogens angeheftet ist und sich in den Brustraum nach oben wölbt. Die Zwischenrippenmuskeln sind scherengitterartig zwischen den Rippen gelegen (Abb. 6). Die äußeren Muskelzüge heben die Rippen an, die inneren senken sie.
Abb. 5: Atemapparat mit Brustkorb, Zwerchfell und äußeren Zwischenrippenmuskeln
Bei der Ausführung des Atmungsvorgangs bei der Phonation können auch zahlreiche andere Muskeln beteiligt sein, was für ein erweitertes Verständnis der Atemkontrolle wichtig ist. Dies ist zum einen die Muskulatur, die außen an den Rippen ansetzt (sog. Atemhilfsmuskulatur, z. B. M. serratus etc.) und diese ebenfalls brustkorberweiternd bewegen kann (Abb. 7). Zum anderen können aber auch die Muskulatur der Bauchdecke (s. Abb. 9, a/b), der M. psoas (s. Abb. 20, S. 39) sowie die Rückenmuskeln und andere Muskeln der Gesäß- und Beckenbodenmuskulatur zur Aktivierung und subjektiven Kontrolle der Atmungsmuskelketten direkt oder indirekt dienen.
Abb. 6: Zwischenrippenmuskeln: vergrößerte Darstellung der scherengitterförmigen Anordnung
Abb. 7: Atemhilfsmuskulatur, z. B. M. serratus
Der Atmungsvorgang allgemein
Die Einatmung ist ein aktiver Vorgang, welcher durch Kontraktion der Einatemmuskulatur – im Wesentlichen des Zwerchfells und der äußeren Zwischenrippenmuskeln – ermöglicht wird. Wenn sich die Muskulatur des Zwerchfells zusammenzieht, wird die Zwerchfellkuppel abgeflacht und der Brustraum dadurch erheblich vergrößert (Abb. 8b). Gleichzeitig werden die inneren Organe des Bauchraums nach unten geschoben. Als Folge davon weicht die Bauchdecke nach vorne und an den Flanken zur Seite aus. Dies führt zu einer sicht- und fühlbaren Vorwölbung dieser Strukturen. An der Vergrößerung des Brustraumes sind auch die äußeren Zwischenrippenmuskeln beteiligt, welche bei Kontraktion die Rippen anheben und damit den Brustkorb weiten. Als Folge dieser beiden brustkorberweiternden Vorgänge dehnt sich die Lunge aus und lässt die Luft einströmen, da sie über die Adhäsivkräfte des Brustfells mit den Wänden des Brustraumes verbunden ist und somit den Bewegungen der sie umgebenden Strukturen folgt.
Die Ausatmung ist bei der unangestrengten Atmung primär ein passiver Vorgang, da das Zwerchfell erschlafft und die Schwerkraft und die Rückstellkräfte des Brustkorbes und der Lunge beim Ausatmungsvorgang wie eine Feder wirken, welche den Brustkorb verkleinert (Abb. 8a) und dazu führt, dass die Luft als Folge dieser Verkleinerung aus der Lunge entweicht. Jedoch kann die Ausatmung zu einem Teil auch als aktiver Vorgang verstanden werden, wenn die inneren Zwischenrippenmuskeln und die Bauch- und Rumpfmuskeln sich zusammenziehen, das Brustraumvolumen verkleinern und damit die Luft aus den Lungen pressen.
Abb. 8 a/b: Stellung des Zwerchfells bei a) Ausatmung, b) Einatmung; MRT-Aufnahme
In den Atemwegen können sich von der maximalen Einatmung bis zur maximalen Ausatmung – in Abhängigkeit von Geschlecht und Körpergröße – etwa 4 bis 5 Liter Luft bewegen. Man bezeichnet diese Luftmenge auch als Vitalkapazität. Es verbleibt jedoch auch nach maximaler Ausatmung immer ein Luftrest in der Lunge, der als Residualkapazität bezeichnet wird (Abb. 10).
Abb. 9 a/b: Bauch- und Rumpfmuskeln a) anatomische Zeichnung ausgewählter Muskeln von vorne, b) schematische Darstellung dieser Muskelzüge
Abb. 10: Atemvolumina
Die normale Atmung geschieht aus einer Brustkorbposition heraus, in der die Kräfte der Ein- und Ausatmung ausgewogen sind – im oben beschriebenen Beispiel der Feder wäre die Federkraft gleich null. Dieser Punkt liegt bei ca. 40 % der Vitalkapazität und wird auch als Atemruhelage bezeichnet. Englisch heißt dieser Ausgangspunkt »Resting Expiratory Level« (REL) (Abb. 11). Zwar ist es theoretisch möglich, ca. 95% der Vitalkapazität zur Stimmproduktion zu nutzen (Isshiki et al. 1967), jedoch kommt es unterhalb von REL zu einem Einatemimpuls, der bei weiterer Stimmgebung aktiv unterdrückt werden muss. Dies wird als relative Luftnot wahrgenommen, obwohl hinsichtlich der tatsächlichen Lungenkapazität und des Sauerstoffgehalts der Atemluft in der Lunge noch lange kein Mangel herrscht. Sänger fühlen sich bei der Phonation mit Lungenvolumina oberhalb der Atemruhelage – also oberhalb von REL – wohler als unterhalb.
Die Zeitspanne, die ein Ton ohne Atem zu holen ausgehalten werden kann, wird als Tonhaltedauer bezeichnet. Sie liegt bei normalen nicht stimmlich trainierten Menschen im Bereich von etwa 20 Sekunden (Männer ca. 25 s, Frauen ca. 17 s).
Abb. 11: Lungenvolumina und subglottische Drücke während des Singens mit Atemruhelage – Resting Expiratory Level (REL) (nach Proctor 1980)
Der Atmungsvorgang beim Singen – physiologische Kennwerte
Sänger erreichen – nahezu unabhängig vom Geschlecht – etwas längere Tonhaltedauern als stimmlich Untrainierte. Bei unseren Gesangsstudierenden messen wir regelmäßig Werte von 30 Sekunden und länger. Die Atemphrasen, die in der klassischen Musik verlangt werden – anhand der Abschätzung bei CD-Einspielungen mittels einer Stoppuhr –, sind im Vergleich zur mittleren Tonhaltedauer, die ein Sänger normalerweise ausführen kann, nicht extrem lang. Lange Phrasen, die im musikalischen Kontext auf einen Atem gesungen werden, liegen im Bereich um 20 Sekunden. Beispielhaft ist eine Aufnahme der Arie »Quell‘ usignolo« aus LA MEROPE (UA 1734) von Geminiano Giacomelli (1692–1740) zu nennen, gesungen von Vivica Genaux (»Arias for Farinelli«, Leitung René Jacobs, 2002; Label: Harmonia Mundi France).
Der Luftstrom wird bei der Tonproduktion im Kehlkopf immer wieder durch den Stimmlippenschluss unterbrochen. Dies wirft die Frage auf, wie viel Luft man zum Singen tatsächlich braucht. Zwar ist die Tonanregung im Kehlkopf ohne einen gewissen Luftstrom nicht möglich. Beim Singen wird jedoch nur eine geringe Menge Luft ausgeatmet und damit verbraucht, denn – anders, als wenn man einen Kirschkern im hohen Bogen ausspuckt – findet kein direkter »Materialtransport« des Tones aus dem Kehlkopf des Sängers zum Ohr des Zuhörers statt, sondern es wird die Luftsäule im Vokaltrakt des Sängers unter geringem Luftverbrauch zu Schwingungen angeregt und diese Schwingungen werden als Schallwellen in der Luft weiter ausgebreitet.
Bei Qualitätssängern sind die Stimmlippen nur etwa während der Hälfte der Zeit geöffnet (Echternach 2010). Auch dies erklärt, warum pro Zeiteinheit relativ wenig Luftverbrauch stattfindet. Als anschauliche Demonstration, wie gering der Luftverbrauch beim Singen tatsächlich ist, kann der Versuch mit einer Kerze herangezogen werden (Abb. 12): Hält man eine brennende Kerze beim Singen des Vokals [a] vor den Mund, flackert die Flamme nicht, auch wenn man Fortissimo singt.
In Abbildung 13 ist der Unterschied zwischen a) einer maximal forcierten Atmung und b) der Atmung bei einem lang ausgehaltenen gesungenen Ton dargestellt. Es ist gut zu erkennen, dass bei der forcierten Atmung pro Zeiteinheit eine möglichst große Menge Luft rasch ein- und ausgeatmet wird, während beim gehaltenen Ton pro Zeiteinheit nur sehr wenig Luftverbrauch stattfindet.
Abb. 12: Atemstrom beim Singen: Versuch mit der Kerze
Beim Singen ist also nicht eine maximale Luftmenge vonnöten, sondern es geht vielmehr um eine möglichst optimale Regulierung des Luftverbrauchs. Der tatsächliche Luftverbrauch beim Singen und die Regulierung desselben ist nicht nur abhängig von dem in der Lunge befindlichen Luftvolumen, sondern auch vom exspiratorischen Kraftaufwand, vom Stimmlippenschluss, von der Lautstärke des Tones, von der Tonhöhe und zusätzlich auch von Alter, Geschlecht und psychischer Verfassung des Sängers.
Der minimale subglottische Druck, der zur leisesten Phonation notwendig ist, beträgt ca. 2–3 cm H2O. Die maximalen subglottischen Drücke, die von Sängern erreicht werden, liegen bei ca. 60 cm H2O (Bouhuys et al. 1968). Diese Werte sind im Vergleich zu Instrumentalisten gering, da bei Blechbläsern mehr als doppelt so hohe Drücke nachgewiesen wurden (Bouhuys 1968).
Sänger passen den subglottischen Druck sowohl an die Tonhöhe als auch an die Lautstärke an, wie Sundberg zeigen konnte (Abb. 14). Dies ist bedeutsam für unterschiedliche Gesangsstile wie Klassik, Belting, Pop etc. Auch innerhalb des klassischen Gesangs gibt es jedoch deutliche Unterschiede des subglottischen Drucks bei lyrischen und dramatischen Stimmen, wie Messungen von Sundberg zeigen (Abb. 15). Wie wir aus Untersuchungen von Sundberg wissen, gibt es normalerweise einen klaren Zusammenhang zwischen Tonhöhe und subglottischem Druck: Je höher ein Ton ist, umso größer wird auch der subglottische Druck, der zu seiner Erzeugung notwendig ist (Abb. 16).
Abb. 13 a/b: a) forcierte Ein- und Ausatmung, b) kontrollierte Atmung beim Singen
Eine Verdopplung des subglottischen Drucks führt zu einer Zunahme des Schalldruckpegels um ca. 9 dB (Bouhuys et al. 1968). Diese Schalldruckpegelerhöhung entspricht in etwa einer Verdopplung der subjektiv empfundenen Lautheit, d. h. der Ton klingt für den Zuhörer etwa doppelt so laut.
Abb. 14: Subglottischer Druck in Abhängigkeit von Tonhöhe und Gesangsstil (die Tonhöhen sind in englischer Nomenklatur angegeben, vgl. Abb. 56, S. 64)
Anforderungen an die Sängeratmung
Als Zielparameter für eine funktionstüchtige Sängeratmung gibt es ein gemeinsames Ziel, welches musikalisch motiviert ist: den Ton. Dieser Ton kann recht präzise durch drei Parameter beschrieben werden: Tonhöhe, Tondauer sowie Tonstärke. Diese Parameter sind in der Regel auch durch die Notation und die Vortragsbezeichnungen im Notentext fixiert, wie in Abbildung 17 (S. 36) exemplarisch gezeigt. Das so in den Noten genannte musikalische Ziel ist jedoch nicht vollständig standardisierbar, sondern von der Interpretation und der Klangvorstellung jedes einzelnen Sängers abhängig. Als Beispiele – die jeder Gesangsinteressierte »im Ohr hat« – können die sehr unterschiedlichen Interpretationen der SCHÖNEN MÜLLERIN von Franz Schubert (1797–1828) durch die Sänger Fritz Wunderlich (1930–1966) mit Pianist Hubert Giesen (1898–1980), Christoph Prégardien mit Michael Gees sowie Jonas Kaufmann mit Helmut Deutsch dienen. Der gezeigte Notentext wird im Hinblick auf die genannten drei Parameter von den einzelnen Sängern – und auch Pianisten – sehr unterschiedlich ausgeführt. Dennoch hat jeder Sänger für sich genommen in seiner Atemführung eine klare Herangehensweise und – atemabhängig – eine überaus klare Klangvorstellung von jedem einzelnen Ton.
Abb. 15: Unterschiede des subglottischen Drucks bei lyrischen und dramatischen Sängerinnen (nach Sundberg 2003; die Tonhöhen sind in englischer Nomenklatur angegeben, vgl. Abb. 56, S. 64)
Abb. 16: Subglottischer Druck in Abhängigkeit von der Tonhöhe und Lautstärke (nach Sundberg 1987)
Abb. 17: Die SCHÖNE MÜLLERIN von Franz Schubert, Auszug aus dem Lied Nr. 6, »Der Neugierige« (Faksimile der bei A. Diabelli & Co. erschienenen Ausgabe von 1830)
Regulation der Sängeratmung
Der Atemregulationsvorgang beim Singen folgt im Prinzip der Systematik einer mathematischen Gleichung mit drei bekannten Variablen. Es sind dies, erstens, der Ton, zweitens, die Position des Tones in der musikalischen Phrase und, drittens, die Atemdynamik über die Zeit. Es gibt bei diesen drei Variablen eine klare Anforderungshierarchie wie in Abbildung 18 dargestellt.
An oberster Stelle steht der Ton. Der einzelne Ton ist jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern er ist in eine musikalische Phrase eingebunden. Zusätzlich ist zu beachten, dass auch die Atmung in sich selbst ein dynamischer Vorgang ist: Kurz nach der Einatmung steht am Anfang einer Phrase für die jeweilige Tonproduktion zu viel Luft zur Verfügung, so dass vom Sänger dafür Sorge getragen werden muss, nicht zu viel Luft herauszulassen. Häufig wird für diese regulatorische Notwendigkeit auch der Begriff der Einatmungstendenz verwendet. Am Ende einer langen Phrase ist genau das Gegenteil erforderlich, indem nach Überschreiten des REL zusätzlich Luft zur Verfügung gestellt werden muss.
Abb. 18: Anforderungshierarchie des Tones
Man kann den Atmungsvorgang – sehr prosaisch und wenig künstlerisch, aber dennoch instruktiv – mit einer Marktwirtschaft vergleichen und mit den aus der Ökonomie stammenden Begriffen Angebot und Nachfrage argumentieren. Am Beispiel der Arie »Ich freue mich auf meinen Tod« aus der Kantate ICH HABE GENUG (BWV 82) von Johann Sebastian Bach (1685–1750) lässt sich dieser Vergleich illustrieren (Abb. 19).
Die einzelnen Töne der Gesangslinie symbolisieren die Nachfrage, nach der sich das Angebot an Luft zu richten hat. Am Anfang einer Phrase herrscht ein Überangebot an Luft, die Luftzufuhr muss also gedrosselt werden. Nach einer gewissen Phonationsdauer und dem damit einhergehenden Luftverbrauch sind Angebot und Nachfrage ausgeglichen, der REL ist erreicht. Beim Autor ist dies (meist) in Takt 125 auf der dritten Zählzeit der Fall. Da dann die musikalische Linie ohne Zwischenatmung noch bis Takt 127 weitergesungen werden sollte, beginnt die dritte und letzte Phase des Atemzyklus, in welcher ein relativer Mangel an Luft besteht, so dass diese zur Aufrechterhaltung des erforderlichen subglottischen Drucks für die Tonproduktion durch aktive Ausatmungsvorgänge mobilisiert werden muss. Wie in einer Marktwirtschaft, in der weder Mangel noch Überfluss ideale Voraussetzungen darstellen, sollte zu jedem Zeitpunkt des Geschehens genau die richtige Menge an Luft bereitgestellt werden, welche für den jeweiligen Ton nach der interpretatorischen Vorstellung des Sängers im Kontext der musikalischen Phrase benötigt wird. Diese Gegensätzlichkeit der Anforderung an die Atemführung in einer musikalischen Gesangslinie – am Beginn Weghalten zur Vermeidung eines Überangebotes, am Ende Zuführung zur Bereitstellung der benötigten Luft – macht es fast unmöglich, den Atemvorgang in seiner Ausführung in einem einzigen Fachterminus begrifflich zu fassen.
Abb. 19: Bachkantate ICH HABE GENUG (BWV 82), Auszug aus der Arie Nr. 5, »Ich freue mich auf meinen Tod«
Eine weitere Schwierigkeit bei der Betrachtung der Atemphysiologie stellt die Tatsache dar, dass die Parameter wie Lungenvolumina, Flexibilität der Rippen, Tonhaltedauer und Atemregulation starken Veränderungen in der Lebenszeitperspektive unterworfen sind und im Alter nicht selten deutliche funktionelle Einschränkungen zu beobachten sind, die das Singen erschweren (vgl. Kap. 10, S. 186 ff.).
Sängerische Vorstellungen und Terminologie zur Atmung