Die Stimme des Verrats - Neil White - E-Book
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Die Stimme des Verrats E-Book

Neil White

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Beschreibung

Zwei Brüder mit einer schrecklichen Vergangenheit: Der packende Thriller »Die Stimme des Verrats« von Neil White jetzt als eBook bei dotbooks. Er ist der brillanteste Strafverteidiger in ganz Manchester – denn je höher Joe Parker auf der Karriereleiter steigt, desto mehr hofft er, die Erinnerungen an seine traumatische Vergangenheit in den Hintergrund vergessen zu können. Doch nun steht er vor einem Klienten, der ihm alles abverlangt: Ronnie Bagley, der beschuldigt wird, seine Frau und sein Baby kaltblütig ermordet zu haben – und sich nur von Joe verteidigen lassen will. Doch als ausgerechnet sein eigener Bruder, Detective Sam Parker beauftragt wird, gegen Bagley zu ermitteln, beginnt für die beiden ein Wettbewerb, der immer gefährlicher zu werden droht … und bald schon muss Joe erkennen, dass er und Sam nur Figuren in einem grausamen Spiel eines skrupellosen Killers sind. »Ein nervenaufreibender, hypnotischer Thriller mit einer außergewöhnlichen Atmosphäre.« Daily Mail Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der England-Thriller »Die Stimme des Verrats« von Neil White wird alle Fans von Michael Robotham und Michael Connelly begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 540

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Über dieses Buch:

Er ist der brillanteste Strafverteidiger in ganz Manchester – denn je höher Joe Parker auf der Karriereleiter steigt, desto mehr hofft er, die Erinnerungen an seine traumatische Vergangenheit in den Hintergrund vergessen zu können. Doch nun steht er vor einem Klienten, der ihm alles abverlangt: Ronnie Bagley, der beschuldigt wird, seine Frau und sein Baby kaltblütig ermordet zu haben – und sich nur von Joe verteidigen lassen will. Doch als ausgerechnet sein eigener Bruder, Detective Sam Parker beauftragt wird, gegen Bagley zu ermitteln, beginnt für die beiden ein Wettbewerb, der immer gefährlicher zu werden droht … und bald schon muss Joe erkennen, dass er und Sam nur Figuren in einem grausamen Spiel eines skrupellosen Killers sind.

Über die Autorin:

Neil White wuchs in Yorkshire auf. Seit seiner Kindheit begeistert ihn nichts so sehr wie die Musik von Johnny Cash und Bücher, vorzugsweise Science Fiction und Kriminalromane. Während seines Jura-Studiums packte ihn die Lust, selbst zu schreiben. Heute ist Neil White der erfolgreiche Autor zahlreicher Spannungsromane.

Die Website des Autors: neilwhite.net/

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Thriller-Serie »Lancashire Killings« mit den Einzelbänden:

»Wer in den Schatten lebt«

»Wo die Angst regiert«

»Wenn der Hass entbrennt«

»Wen die Rache treibt«

Außerdem erschienen bei dotbooks die seine Thriller »Die Stimme des Verrats« und »Ein tödlicher Verdacht«.

***

eBook-Neuausgabe Juni 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2013 unter dem Originaltitel »Next to die« bei Sphere, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Als Nächstes stirbst du« bei Weltbild, Augsburg.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2013 by Neil White

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2016 by Weltbild GmbH & Co. KG, Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/SAKhan Photography, Wilqkuku

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-669-6

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Neil White

Die Stimme des Verrats

Thriller

Aus dem Englischen von Bernhard Liesen

dotbooks.

Kapitel 1

Er ging auf und ab, besorgt, doch auch zuversichtlich. Das war es. So musste es sein. Er hatte einen Plan. Für einen Neubeginn.

Alles war ruhig, er hörte nur das kratzende Geräusch seiner Schuhsohlen auf dem Boden. Endlich Stille. Die zurückliegende Nacht ... Schreie, Kampf, Qual, Verzweiflung, ein Röcheln ... Der Morgen war anders. An ihm war immer ein neuer Anfang möglich.

Darauf musste er sich konzentrieren. Auf den neuen Start. Ein neues Leben. Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und blickte auf seine Schuhe hinab. Braun, keine Schnürsenkel, nicht geputzt, abgestoßen und abgetragen. Sie hoben sich kaum von dem dunklen Boden ab. Fast hätte er geglaubt, sie nicht mehr zu sehen. Er bewegte die Füße in kleinen Kreisen, um die Schuhe weiter im Blick zu behalten, lauschte dem Geräusch der Sohlen auf dem Boden.

Dann setzte er sich und beugte sich vor. Er war bereit. Musste bereit sein. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, zog er mit beiden Händen seine Lider nach unten. Für einen Augenblick konnte er nichts sehen. Diese Blindheit war ein Segen, doch sofort sah er vor seinem inneren Auge wieder ihre Gesichter, Gesichter mit verschwommenen Zügen. Offene Münder, flehende Blicke. Sie schlugen um sich und kämpften, doch es reichte nie.

Er riss die Augen auf. Sein Atem ging schnell, auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Wie war es so weit gekommen? Er wusste, wie alles begonnen hatte, doch es hatte nicht so enden sollen.

Er nahm die Hände herunter und streckte sie aus, mit den Handtellern nach oben. Haut, Muskeln, Knochen. Langsam drehte er sie herum. Statt des Schmutzes und der Linien der Handteller sah er nun schlanke Finger mit abgebissenen Nägeln und geschwollenen Kuppen. Ihn erstaunte, was diese Hände, diese Finger getan hatten. Sie wirkten so gewöhnlich. Und waren doch so kräftig. Die Grenzen, die er mit ihrer Hilfe überschritten hatte. Wie konnten sie so normal aussehen?

Nur Hände, doch es ging nicht nur darum. Es ging um sie. Für ihn war es immer nur um sie gegangen.

Wieder schloss er die Augen. Er musste sie vergessen, doch das würde schwer werden, denn wann immer er versuchte, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, kehrte die Erinnerung an all die anderen zurück. Ihre seidigen, langen Haare um seine Finger, wie zarte Küsse auf seiner Haut, das leise Knistern statischer Aufladung, wie kleine Funken. Er schluckte.

Die Erinnerungen waren so intensiv, dass sie immer wieder zurückkamen. Durch seinen Kopf hallten Geräusche. Streit, Gewalt, ein Wimmern, dann Schreie, schließlich Stille.

Sein Atem ging abgehackt, als in einem atemberaubenden Tempo vor seinem geistigen Auge die Erinnerungen vorbeizogen. Ein leerer, hallender Raum, weiches Haar auf seinen Händen, das Rascheln von Synthetikgewebe, das Kratzen hölzerner Stuhlbeine auf dem Betonboden. Der Gedanke ließ ihn krampfhaft die Knie mit den Händen umklammern. Er musste sich unter Kontrolle halten, durfte nicht mehr so denken. Das war jetzt Vergangenheit. Er musste nach vorn blicken. Dies war ein Neubeginn.

Der erste Tag eines neuen Lebens.

Kapitel 2

Joe Parker drehte sich in seinem Bürosessel zum Fenster und blickte auf den Platz, der allmählich zum Leben erwachte.

Er hatte bei den Polizeistationen von Manchester und in einigen umliegenden Städten angerufen, um zu checken, wer über Nacht in Untersuchungshaft genommen worden war. Im Strafrecht gab es keine großen Gewinnspannen. Die Kanzlei musste sich auch mit lästigen Routinefällen herumschlagen, mit Kleinkriminellen und Säufern, um die finanziellen Lücken zu schließen zwischen den lukrativeren Fällen. Für Joe ging es darum, sich einen Namen zu machen. Jede Polizeistation hatte einen Trakt mit Zellen für Untersuchungshäftlinge, und er rief jeden Morgen bei dem diensthabenden Beamten an, um zu erfahren, ob sein Name erwähnt worden war. In der Regel war das nicht der Fall, doch bei dem Small Talk erfuhr er auch, ob es neue spektakuläre Fälle gab. Mörder. Kindermörder. Vergewaltiger. Der Sumpf, Manchesters dunkle Seite, jeden Tag. Wenn auch nichts dabei herauskam, es half, seinen Namen bekannt zu machen. Es gab einige große Kanzleien in der Stadt, und er musste darum kämpfen, Beachtung zu finden. Die hohen Tiere in seiner eigenen Kanzlei mit ihren Maßanzügen und dem künstlichen Lächeln, die sich mit Zivilsachen und Unternehmensrecht befassten, interessierte nur das Geld. Joe war Strafverteidiger geworden, weil es ihm um die Sache ging. Den Kampf, das Drama.

Der Blick aus dem Fenster ging auf einen kleinen Park vor einer alten Kirche. Grasflächen, Bäume, gepflasterte Wege. Es war ein ruhiges Fleckchen, umgeben von hohen Backsteinhäusern mit hohen Sprossenfenstern, in denen Anwaltspraxen, Rechnungsprüfer und Gutachter residierten. Umgeben von Rhododendronsträuchern und Bänken stand in der Mitte des Parks ein Denkmal für die Toten, ein steinernes Kreuz auf einem Sockel.

Für Joe begann jeder Tag mit diesem Blick aus dem Fenster. Wie meistens war er schon vor sieben ins Büro gekommen. Es gab immer genug, was abgearbeitet werden musste, denn seine Pläne wurden häufig zunichtegemacht von Mandanten, die ein chaotisches Leben führten und sich um Termine nicht scherten. Meistens wurden diese nicht eingehalten, außer an Freitagnachmittagen, wenn ein Besuch in seinem Büro häufig nur ein Vorwand war, um um etwas Geld zu betteln, damit seine bedauernswerte Klientel irgendwie das Wochenende überstand. Die Anwaltskammer untersagte es Strafverteidigern, Mandanten Geld zu geben, doch Joe tat, was er für richtig hielt. Wichtig war nur, sich nicht schnappen zu lassen.

Er beobachtete, wie die Stadt zum Leben erwachte. Die Rasenflächen waren von Beeten mit Geranien, Rosen und Ringelblumen gesäumt, die Bäume im Frühsommer dicht belaubt mit frischem Grün. Der Park war eine kleine, friedliche Oase abseits des lärmigen Zentrums mit seinen Geschäften, wo sich die Straßen um architektonische Überbleibsel der industriellen Revolution herumschlängelten.

Aber außer den alten Fabriken und Lagerhäusern, den Kanälen und den Eisenbahnüberführungen mit den gewölbten Bögen gab es auch moderne Wolkenkratzer aus Glas und Stahl wie den Beetham Tower, so hoch und schlank, dass er bei starkem Wind bedrohlich schwankte. In der Umgebung waren die Geschäfte in den Erdgeschossen alter Industriegebäude untergebracht. Das Alte und das Neue bildeten hier eine seltsame Mischung. Der Strukturwandel schritt voran, doch der kleine Platz veränderte sich nie.

Mittlerweile arbeitete Joe seit einem Jahr für die Kanzlei Honeywells, nachdem er zuvor bei Mahones gewesen war, einer der größeren Anwaltspraxen für Strafsachen. Hier hatte er sein Berufsleben begonnen, direkt nach dem Jurastudium, als naiver junger Mann, der nichts außer seinem Abschlusszeugnis und Enthusiasmus zu bieten hatte. Er hatte die Welt ändern, Missstände beseitigen wollen. Bei Mahones hatte er begriffen, dass es nicht darum ging, wie gut man war, sondern nur darum, wie viel Geld man für die Kanzlei hereinbrachte.

Joe störte das nicht, weil er glaubte, beides unter einen Hut bringen zu können. Er wusste, dass er ein guter Anwalt war. Das war ihm eigentlich schon seit seiner Kindheit bewusst, wo er einem Nachbarn erklärt hatte, warum es ihm erlaubt sein sollte, seinen Fußball gegen den Zaun zu kicken, wo doch alle wussten, dass es für Kinder besser war, wenn sie draußen spielten. Außerdem trat er den Ball ja auch nur gegen seine Seite des Zauns. Joe erinnerte sich daran, dass der alte Mann kopfschüttelnd ins Haus gegangen und etwas von einem »kleinen Frechdachs« vor sich hin gemurmelt hatte. Schon damals hatte es ihn befriedigt, mit seinem Plädoyer die Oberhand behalten zu haben.

Er sah Monica, die Rechtspraktikantin der Kanzlei, den Park durchqueren. Sie umrundete eine Gruppe von Bürokraten, die sich häufig morgens vor der Arbeit mit Tai-Chi-Übungen zu entspannen versuchten. Monica blieb stehen, um ihnen zuzusehen, und Joe vermutete, dass es daran lag, dass sie keine Lust hatte, ins Büro zu kommen.

Er wandte den Blick ab von dem Fenster. Es wurde Zeit, dass er sich auf den vor ihm liegenden Arbeitstag konzentrierte.

Die Tür ging auf, und Gina Ross trat ein, eine ehemalige Polizistin, die zur gleichen Zeit wie er bei der Kanzlei begonnen hatte. Sie befasste sich mit Hintergrundrecherchen. Wie den meisten Polizisten, die früh in den Ruhestand treten, hatte auch ihr danach etwas gefehlt, und mit fünfzig war sie noch zu jung, um nur untätig zu Hause herumzusitzen. Im Gegensatz zu etlichen ihrer männlichen Kollegen – die stolz darauf waren – hatte sie bei nächtlichen Einsätzen am Wochenende keine Verletzungen und Narben davongetragen. Gina war Detective gewesen und eine attraktive, schlanke Frau, die deutlich jünger aussah, als sie war, auch wenn ihr kurz geschnittenes dunkles Haar mit dem Seitenscheitel mittlerweile von ein paar grauen Strähnen durchzogen war.

Aber sie hatte ihren jetzigen Job nicht wegen ihres guten Aussehens bekommen. Wenn man die Arbeitsweise der Polizei kennen wollte, das war Joe klar, stellte man am besten jemanden ein, der dort gearbeitet hatte und alle Tricks kannte, und Gina war eine Meisterin ihres Metiers. Mit einer charmanten Bemerkung und einem Lächeln zog sie Häftlinge auf ihre Seite, sodass diese auf sie hörten, nicht auf ihren Anwalt. Sie waren dann nur zu bereit, ihre Story zu erzählen, auch wenn ihnen geraten worden war, den Mund zu halten.

Gina war intelligent und immer bereit, Überstunden zu machen. Während ihrer Zeit bei der Polizei war sie die leitende Ermittlerin in einem Fall gewesen, der Joe persönlich betraf. Zu Beginn seines Jurastudiums war seine Schwester Ellie ermordet worden, und ihr Tod hatte einen dunklen Schatten über sein Leben geworfen. Er war Gina dankbar, auch wenn bei den Ermittlungen letztlich nichts herausgekommen war.

Sie hielt einen Zettel in der Hand.

»Morgen, Gina«, sagte er. »Was haben wir da?«

»Da kam ein Anruf von einem Häftling, der in einer der Zellen im Gericht sitzt. Er will den Anwalt wechseln und jetzt von uns vertreten werden.«

Joe zog eine Grimasse. So etwas war normalerweise Zeitverschwendung. Wenn es einem Untersuchungshäftling verweigert wurde, gegen Zahlung einer Kaution entlassen zu werden, richtete sich dessen Wut manchmal gegen seinen Anwalt, den er nun gegen einen neuen Rechtsbeistand eintauschen wollte.

»Welche Kanzlei hat ihn bis jetzt vertreten?«

»Mahones.«

Joe hob eine Augenbraue, und Gina lächelte. »Ich habe mir gedacht, dass Sie das interessieren würde.«

»Trotzdem wittere ich Ärger. Warum will er den Anwalt wechseln?«

»Keine Ahnung. Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden.«

»Müsste ein verdammt überzeugender Grund sein. Mahones lässt seine Mandanten nicht so leicht ziehen.«

»Jetzt scheint Ihr Interesse geweckt zu sein.«

»Wir beide wissen, wie es läuft. Aber ja, ich bin ganz Ohr.«

»Sie werden noch gespannter sein, wenn ich Ihnen sage, um was für einen Fall es geht.«

»Ich höre.«

Gina gab ihm den Zettel. »Es ist ein Mordfall, und der Verdächtige will von Ihnen vertreten werden.«

Fast hätte Joe durch die Zähne gepfiffen. Ein Mord. So einen Fall würde Mahones sich eigentlich nicht durch die Lappen gehen lassen. Finanziell gesehen waren Mordfälle nicht am lukrativsten. Bei komplizierten Betrugsdelikten fiel sehr viel mehr Papierkram an, und man konnte deutlich höhere Rechnungen schreiben. Dagegen ähnelte ein Mordfall eher einem üblen Tätlichkeitsdelikt, nur gab es eben einen Zeugen weniger. Lukrativ waren Mordfälle im Hinblick auf das Renommee einer Kanzlei. Er blickte auf den Zettel. Darauf stand nur ein Name: Ronnie Bagley. »Sollte ich ihn kennen, weil er mich als Anwalt will?«

»Das müssen Sie ihn schon selbst fragen.« Gina stand auf, um das Büro zu verlassen, eine Parfümwolke hinter sich her ziehend. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Vielleicht möchte er Ihnen zum Geburtstag gratulieren.«

Joe blickte auf. »Schön, dass Sie sich daran erinnern, Gina. Danke.«

»Werden Sie Ihre Mutter besuchen?«

»Damit der Tag quälend langsam vergeht?« Er hob den Zettel. »Ich fahre bei ihr vorbei, wenn ich im Gericht war.«

»Der Tod Ihrer Schwester hat sie schwer getroffen, Joe. Wie Ihren Vater. Vergessen Sie nicht, dass ich sie kenne, weil ich damals in dem Mordfall ermittelt habe. Es muss ein schlimmer Tag für sie sein.«

»Bei mir ist es nicht anders, Gina.« Seine Stimmung verdüsterte sich, als die Erinnerungen zurückkamen. »Wir müssen alle auf unsere eigene Weise damit fertig werden.«

Sie nickte und verließ das Büro.

Joe drehte sich wieder zum Fenster und schaute auf den Platz. Monica war verschwunden, die Tai-Chi-Übungen waren beendet. Er wandte den Blick ab und sah sein Spiegelbild in der Scheibe eines Rahmens mit dem Bild eines Richters aus der viktorianischen Epoche. Für einen Moment sah er sich so, wie die anderen ihn sahen. Als erfolgreichen Anwalt. Anzug, Krawatte, Manschettenknöpfe.

All das war Fassade. Er hütete ein düsteres Geheimnis, das er für sich behielt. Er kämpfte dagegen an, doch manchmal überwältigte es ihn.

Er massierte seine Schläfen. Während der nächsten paar Stunden musste er die Gedanken daran verdrängen. Und zuerst musste er zum Gericht.

Kapitel 3

Joe näherte sich dem City Magistrates Court, einem hohen Gebäude aus rotem Sandstein am hinteren Ende des Crown Square. Auf diesem Platz hatten viele ihre letzten Schritte in Freiheit getan. Am anderen Ende stand das Gebäude des Crown Court. Der alte Magistrates Court war abgerissen worden. Dort gab es jetzt angesagte Boutiquen und Restaurants, die der Gegend Großstadtflair verleihen sollten. Anwälte, Rechnungsprüfer und Banker saßen vor den teuren Lokalen, tranken Kaffee und aßen hausgemachte Müsliriegel.

Auf diesem Platz begegnete man einem seltsamen Nebeneinander von Karrieristen und Angeklagten, die meistens aus der Unterklasse stammten. Ein junges Paar kam vorbei. Sie war bis aufs Skelett abgemagert – vielleicht drogensüchtig – und trug schmutzige schwarze Jeans und ein T-Shirt. Ihr Freund war schlank und muskulös und wirkte bedrohlich. Weißes Unterhemd, Tätowierungen auf den Armen. Zwei Anzugträger mit protzigen Armbanduhren kamen ihnen entgegen. Ihr Gang verriet Selbstbewusstsein, sie zogen die Blicke anderer auf sich. Das junge Paar starrte andere einschüchternd an, und die wandten den Blick ab.

Joe hatte Monica mitgenommen, die schweigend neben ihm herging. Bis sie ihre Zeit als Rechtspraktikantin absolviert hatte, konnte sie sich bei Gericht auf allerlei Weise nützlich machen, und wenn sie dann die Anwaltszulassung in der Tasche hatte, war ihr Gesicht bereits bekannt, und der Start war nervlich nicht so anstrengend, weil sie die Atmosphäre schon kannte. Ihre Anfangszeit als Rechtspraktikantin hatte sie mit Barristern beim höherinstanzlichen Crown Court verbracht, in einer etwas gehobeneren Atmosphäre, doch wenn sie sich auf Strafrecht spezialisieren wollte, konnte sie in der täglichen Tretmühle des Magistrates Court wertvollere Erfahrungen sammeln.

Und so fragte er sie. »Worauf wollen Sie sich spezialisieren, wenn Sie die Anwaltszulassung haben?«

»Ich weiß nicht.« Sie strich sich mit einer Hand eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr, während sie mit der anderen eine kleine Aktentasche umklammerte, die eigentlich eher ihre Handtasche war. »Personenschäden oder gerichtliche Testamentsbestätigungen könnten mich interessieren.«

Joe schüttelte verächtlich den Kopf. »Das ist doch alles nur Papierkram. Strafrecht macht mehr Spaß.«

»Spaß?«

»Genau. Niemand wird wegen des Geldes Strafverteidiger, aber man erlebt einiges, und die Anekdoten gehen einem nie aus. Ich könnte Ihnen helfen. Denken Sie darüber nach.«

Monica lächelte. »Das werde ich tun. Vielen Dank.«

Im Magistrates Court mussten sie sich an einer Schlange von Angeklagten und ihren Freunden anstellen, um von den Sicherheitsbeamten durchgelassen zu werden. Obwohl die Joe alle kannten, durfte auch er trotz seines Anzugs nicht gleich passieren. Er musste sich anstellen wie alle anderen.

Monica schien die Gesellschaft nichts auszumachen, dieser bunte Haufen von Angeklagten, Nichtstuern und sozial Deklassierten mit hängenden Schultern und finsteren Blicken, diese vom Pech verfolgten Unglücklichen mit den vom Nikotin gelben Fingern und Zähnen. Sie war Joe sofort aufgefallen, als er sie zum ersten Mal in der Kanzlei gesehen hatte. Sie wirkte ernst und selbstsicher in ihren dunklen Hosenanzügen mit den weißen Blusen, die sie ständig trug, doch Joe hatte bemerkt, dass unter dem Kragen ihrer Bluse der Rand eines grünen und roten Tattoos hervorschaute und dass die kleinen Löcher am Rand ihrer Ohren auf Piercings hindeuteten, die sie für die tägliche Arbeit abnahm. Sie fiel auf, und die Mandanten mochten sie. Dagegen war er mit seinem grauen Anzug nur einer unter vielen.

Sie fuhren mit der Rolltreppe in den ersten Stock, wo der offene Raum unter dem hohen Glasdach eher an ein modernes Bürogebäude denken ließ. Joe sah etliche Anwälte vom Mahones. Es war eine der größten Kanzleien in Manchester, deren Anwälte ziemlich dünkelhaft waren. Diese übereifrigen jungen Juristen mit dem aalglatten Lächeln schüttelten emsig Hände und taten alles, um den Eindruck vergessen zu machen, dass sie nur brave Sprösslinge der Mittelklasse waren, die im Strafrecht hängen geblieben waren und sich lustlos mit den Schicksalen der Deklassierten befassen mussten.

Joe bahnte sich den Weg durch die Menschenansammlung vor dem Eingang zum Trakt mit den Zellen. An einem Montagmorgen war hier viel los. Junge Frauen redeten mit den Anwälten ihrer Freunde und wollten wissen, wann diese nach Hause kommen würden. Zwei Journalisten hofften auf eine Story. Strafbarer Missbrauch von Sozialleistungen oder illegale Einwanderer, damit machte man Auflage, doch meistens hatten sie es mit dem Bodensatz der Gesellschaft und den stets gleichen Problemen zu tun. Alkohol, Drogen, Gewalt. Das war auch das tägliche Brot eines jeden Strafverteidigers.

Vor dem Eingang fiel Joe Matt Liver auf, der eine Akte mit dem Emblem von Mahones auf dem Deckel unter dem Arm trug. Er hatte sich lichtendes Haar, eine Lesebrille auf der Nase und glaubte ansonsten, ein Anwalt zeichne sich in erster Linie durch seine auf Hochglanz gewienerten Schuhe aus.

Matt erstarrte, als er seinen ehemaligen Kollegen auf sich zukommen sah.

»Morgen, Matt«, sagte Joe. »Sieht so aus, als hättet ihr einen Mandanten verloren.«

Matt kniff die Lippen zusammen. »Noch ist Ronnie Bagley nicht dein Mandant.«

Joe lachte. »Dem alten Mahone wird es gar nicht gefallen, dass du dir einen Mordfall durch die Lappen gehen lässt. Und noch weniger, dass Bagley sich von mir vertreten lassen will.«

Matt trat einen Schritt näher. »Das ganze Wochenende habe ich geopfert, Joe. Ich war Samstagnacht für ihn da. Gestern auch. Da war von dir nichts zu sehen.«

»Dann bist du ja bestimmt müde«, bemerkte Joe. »Gönn dir etwas Schlaf.«

Bevor Matt antworten konnte, klopfte Joe an das Fenster neben der Tür, hinter der die Zellen lagen. Als es geöffnet wurde, begrüßte Joe lächelnd den stämmigen Mann mit dem weißen Hemd, an dessen Gürtel eine Kette mit Schlüsseln hing. »Ich bin hier, um mit Ronnie Bagley zu sprechen.«

»Tag, Joe. Er wartet schon auf dich.«

Der Wärter drückte auf den Summer. Die Tür glitt auf, und Joe und Monica betraten den Zellentrakt. Als Matt ihnen folgen wollte, streckte Joe die Hand aus. »Mach dich nicht lächerlich. Ich werde dem alten Mann sagen, dass du dein Bestes gegeben hast.«

Matt fluchte, doch als die Tür sich mit einem Klicken schloss, wurde es still.

»Der Typ ist ganz schön in Rage«, sagte der Wärter.

»Der gute Matt muss lernen, dass es nur ein Job ist. Er wird nie Teilhaber werden bei Mahones.«

»Hast du deshalb dort gekündigt?«

Darauf antwortete Joe nicht. Der Grund für seinen Abschied von der Kanzlei hatte nichts mir der Ausrichtung seiner beruflichen Laufbahn zu tun gehabt. Er füllte ein Formular für die Beantragung unentgeltlicher Rechtshilfe aus. »Könntest du Bagley bitten, das an der üblichen Stelle zu unterschreiben, Ken?«

»Kein Problem.«

Joe wusste, wen er auf seine Seite ziehen musste. Die Leute, welche die Häftlinge herumfuhren, konnten seinen Namen fallen lassen gegenüber von Straffälligen, die noch keinen Anwalt hatten. Er prägte sich ihre Namen ein und schenkte ihnen zu Weihnachten eine Flasche Whisky.

Ken führte sie zu einer abgetrennten Nische in einer Ecke, und Joe und Monica zwängten sich hinein. In dem engen Kabuff duftete es intensiv nach Monicas Parfüm. Hinter der Glasscheibe wartete ein leerer Stuhl auf Ronnie Bagley.

»Ich bin noch nie einem Mörder begegnet«, sagte Monica leise.

»Noch wissen wir nicht, ob er einer ist.«

»Aber wenn die Polizei glaubt, dass er jemanden umgebracht hat, muss sie doch einen guten Grund dafür haben, oder?«

»Wir sind Anwälte. Da geht es um Beweise. Sie werden lernen, das zu rationalisieren. Wir alle finden da unsere persönliche Methode. Werden Sie bloß nicht zu einer Anwältin, die Partei ergreift. Oft ist schwer zu erkennen, wo die Grenze ist, und man wird hinübergezogen auf die falsche Seite und endet als Handlanger des Kriminellen. Seien Sie freundlich, aber wahren Sie immer Distanz.«

Weitere gute Ratschläge blieben Monica fürs Erste erspart, denn auf der anderen Seite hörten sie jemanden mit einem Wärter reden, und dann nahm auf dem Stuhl hinter der Scheibe ein mitgenommen wirkender Mann Platz. Ein Durchschnittstyp. Nicht besonders groß, kein auffälliger Körperbau, blasse Haut, kurz geschnittenes Haar, oben zerzaust. Er sah eben so aus, wie jemand aussieht, der zwei Nächte auf einer Kunststoffmatratze in einer Zelle verbracht hat.

»Mr Bagley, ich bin Joe Parker. Meine Begleiterin heißt Monica Taylor.«

Bagley kratzte sich am Kopf. »Ich weiß, wer Sie sind, Mr Parker. Schließlich habe ich nach Ihnen gefragt.« Seine Stimme klang müde und niedergeschlagen. »Was haben Sie erwartet?«, fragte er, als Joe nicht reagierte. »Ein strahlendes Lächeln? Ich bin eingelocht, weil sie mich für einen Mörder halten.«

Joe konnte nur vermuten, wie groß die Belastung für Bagley war. »Erzählen Sie mir, warum Sie mich wollen und nicht einen der Anwälte von Mahones.«

»Ich habe gedacht, dass Sie mich vertreten würden, als ich nach Mahones fragte.«

»Ja, jetzt ist mir das auch klar. Also, wie geht’s nun weiter?«

Joe betrachtete Ronnie Bagley. Er wirkte wütend, nicht besonders nervös oder ängstlich, und schien es gar nicht abwarten zu können, die Dinge in Gang zu setzen. Das war ungewöhnlich für einen Mordverdächtigen. Die meisten wollten einem nur ihre Unschuld versichern, auch dann, wenn es nicht stimmte. Doch Joe fielen noch andere Dinge auf. Bagley umfasste seine rechte Hand mit der Linken und rieb unruhig mit dem Daumen über die Haut. Vielleicht lagen seine Nerven doch blank. Zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen sah Joe eine offenbar selbst gemachte Tätowierung, eigentlich nur farbige Linien.

Bagley blickte finster drein, und als Joe immer noch nichts sagte, rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her, unfähig, auch nur einen Moment still zu sitzen. Irgendwann war er vielleicht einmal ein gut aussehender Mann gewesen, doch das Leben hatte ihm zu viele harte Schläge versetzt, und das war an seinem Äußeren nicht spurlos vorübergegangen. Sein faltiger Teint zeugte von einem zu hohen Zigarettenkonsum, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Heute wird nicht mehr viel passieren«, sagte Joe. »Am Abend werden Sie ins Gefängnis gebracht. Morgen, wahrscheinlich erst übermorgen, wird sich ein Richter vom Crown Court Gedanken über Ihren Fall machen, doch er wird sich dagegen aussprechen, dass Sie gegen Kaution entlassen werden. Dann werden Sie auf Ihr Verfahren warten.«

Bagley schluckte und schlug den Blick zu Boden. »Ist das ganz sicher, dass ich nicht gegen Hinterlegung einer Kaution freikomme?«

»Ja, weil Sie wegen Mordes angeklagt sind.«

»Und dann kommt man nie gegen Kaution raus?«

»In der Regel nicht. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Bagley. Entweder sage ich Ihnen die Wahrheit, oder das, was Sie hören wollen, doch an den Fakten ändert das nichts.«

Bagley schaute weiter zu Boden und nickte, als hätte er damit gerechnet, genau das zu hören. Als er schließlich den Blick hob, sah er Monica an, die sich unbehaglich zu fühlen schien und sich verlegen die Haare hinter die Ohren strich. »Und wer sind Sie?«

»Monica Taylor, wie Mr Parker bereits sagte.« Sie räusperte sich. »Ich bin Rechtspraktikantin.«

Joe tippte gegen die Scheibe und zeigte auf sich. »Sehen Sie mich an, Bagley. Erzählen Sie mir von Ihrem Fall. Wen sollen Sie ihrer Meinung nach getötet haben?«

Nach ein paar weiteren Sekunden wandte Bagley den Blick von Monica ab. »Meine Freundin Carrie und unsere Tochter Grace.«

Joe machte sich eine Notiz, aber eher, um die Neuigkeit zu verdauen. Sein eigenes Kind. »Was haben Sie der Polizei erzählt?«

»Zu denen habe ich gar nichts gesagt. Warum auch? Es gibt keine Leichen. Und wenn es keine Leichen gibt, wie können sie mich dann beschuldigen, zwei Morde begangen zu haben?«

Kapitel 4

Jetzt ging es also nur noch ums Warten. Er lehnte sich zurück und lehnte den Kopf an die Wand. Sie war kalt.

Am schlimmsten war die Ungewissheit. Tat er das Richtige? Er tat es aus dem richtigen Grund, aus Liebe, doch wenn das der falsche Weg war? Es hatte die Thrills gegeben, so viel war sicher, doch er musste dem ein Ende machen. Es war alles außer Kontrolle geraten.

Doch in stillen Momenten musste er zurückdenken. Da waren so viele Erinnerungen, die ihn beschäftigten, und in Gedanken kehrte er zu der Ersten zurück.

Beim ersten Mal hatte er sie aussuchen dürfen. Das war ihm versprochen worden, als er zustimmte.

Er hatte gesehen, wie sie aus einem kleinen Friseursalon trat, gegenüber der geschwärzten Mauer, die neben dem Bahnhof entlang der Eisenbahngleise verlief. Sie war ein heller Fleck vor dem dunklen Hintergrund.

Ihr Haar war genauso, wie er es mochte, lang und glatt, nicht wellig und entstellt durch Haarspray und Färbemittel. Es war so, wie es sein sollte, natürlich und weich. Es war frisch geschnitten, er sah förmlich die Bewegungen der Schere vor sich. Er hatte versucht zu widerstehen, weil er es sich versprochen hatte, aber er schaffte es nicht, der Drang war zu stark. Es begann mit einem Flüstern in seinem Kopf, das sich zu Schreien steigerte. Er spürte den Blutandrang in seinem Kopf und musste dafür sorgen, dass der Druck nachließ.

Also war er ihr gefolgt. Er hörte nichts außer dem Rascheln ihrer Haare auf dem Top aus Nylon, ein leises Knistern. Ihre Haare schwangen von einer Seite zur anderen, und das faszinierte, hypnotisierte ihn. Wann immer sie stehen blieb, um sich in einer Schaufensterscheibe zu betrachten oder auf das Display ihres Mobiltelefons zu blicken, wechselte er die Straßenseite, weil er befürchtete, sie könnte ihn entdeckt haben. Sie hatte an ihrem Pony gezupft. An den Seiten hing ihr Haar lang herab und rahmte ihr Gesicht ein.

Er erinnerte sich an die kühle Schere in seiner Tasche, die klein genug war, um sie bis zum letzten Augenblick in seiner Hand zu verbergen. Er schob die Finger durch die Löcher und hoffte, dass sich die Chance ergeben würde. Vielleicht in einem gut besuchten Geschäft. Seine Finger waren flink und geschickt wie die eines Taschendiebes.

Dann war sie stehen geblieben. Das Herz hämmerte in seiner Brust. Sie wartete an einer Bushaltestelle. Perfekt.

Er stellte sich neben sie. Er war ihr nicht aufgefallen.

Als der Bus kam, hörte er, wie sie dem Fahrer ihr Ziel nannte, und er löste auch einen Fahrschein. Er würde sehen, wohin sie wollte.

Der Platz hinter ihr war frei, und er setzte sich. Ihr Haar hing über den Rand der Rückenlehne, und als der Bus schaukelte, sah er wieder, wie es vor ihm hin und her schwang. Sein Atem ging schnell, sein Mund war ausgetrocknet. Hinter ihm saß niemand, vor ihr nur eine alte Frau, die aus dem Fenster schaute. Sie würde sich nicht an ihn erinnern.

Und so hatte er die Schere aus der Tasche gezogen, klein und scharf und gut geölt. Nur ein schneller, sauberer Schnitt ...

Als der Bus an einer Haltestelle hielt, hob er die Hand mit der Schere und hielt die andere darunter.

Nur ein Schnippen, und ihre leichten, weichen Haare fielen in seine Hand und kitzelten seine Haut.

Er schloss sie zur Faust und erinnerte sich daran, wie vor seinen Augen alles verschwommen war. Er hatte das Bedürfnis verspürt, mit seiner Beute nach Hause zu fahren, doch dann hatte sie ihr Haar zurückgeworfen, und ab da schien alles wie in Zeitlupe abzulaufen. Ihre langen Haare bewegten sich wie eine Gardine im Wind. Er hatte es gesehen, nur kurz, doch es genügte. Das Genick, wo die feinen Härchen am weichsten sind, fast wie Daunen.

Er hatte sich vorgebeugt. Es war ein Risiko, weil sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Er liebte Kurzhaarfrisuren mit Pony, doch kurzes Haar machte alles schwieriger, weil er Gefahr lief, die Haut mit der Schere zu ritzen und so auf sich aufmerksam zu machen. Die Haare, die er sammelte, waren ein Trost, doch mehr war nicht drin, wenn er das Risiko vermeiden wollte, die Haut der Frau zu berühren.

Doch als er nun den weichen Flaum in ihrem Nacken sah, konnte er kaum noch einen klaren Gedanken fassen.

Sie stand auf, um aus dem Bus auszusteigen. Ihr Top aus Nylon knisterte, als ihr glänzendes Haar darüber strich, und dann bewegte es sich im Rhythmus ihres wiegenden Ganges. Er wollte mehr. Er beobachtete, wie sie in eine lange, auf beiden Seiten von Häusern gesäumte Straße bog. An ihrem Ende lagen Weiden und Felder, und das hieß, dass sie in dieser Straße wohnen musste.

Das war der Augenblick gewesen, als ihm bewusst geworden war, dass er weitergehen würde, denn er hatte ihr Haar und wusste, wo sie lebte.

Sie war die Erste gewesen.

Kapitel 5

Auf dem Flur vor dem Gerichtssaal bot sich das übliche Bild. Menschen mit leerem Gesichtsausdruck warteten auf schmutzigen blauen, am Boden festgenieteten Stühlen auf ihre Anhörung, während Ankläger mit Laptops unter dem Arm an ihnen vorbeieilten. Die meisten Strafverteidiger waren jung und machten weisungsgemäß Werbung für ihre Arbeitgeber, indem sie ihre Akten so hielten, dass alle die darauf prangenden Logos ihrer Kanzleien sahen.

Joe ging mit Monica im Schlepptau Richtung Gerichtssaal und hörte mit halbem Ohr die Gespräche auf dem Korridor. Angeklagte erzählten, was sie vor Gericht gebracht hatte. Ihre Anwälte würden diese Storys ändern, schönen und bei der Anhörung das Bedauern ihres straffällig gewordenen Mandanten beteuern. Joe ließ den Blick umherschweifen, um zu sehen, ob er irgendwelche Mandanten erkannte, insbesondere alte Mandanten von Mahones. Es war nicht schwer, sie zu einem Wechsel zu bewegen – manchmal reichte eine Flasche Sherry aus dem Sonderangebot. Aber heute sah er keine vertrauten Gesichter.

»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Monica leise.

»Wir holen die Papiere der Anklage und besuchen Bagley dann später im Gefängnis. Ihm bleibt jetzt nichts, als geduldig zu warten, bis er herausfindet, wie der Rest seines Lebens aussehen wird.«

Als sich die Tür des Gerichtssaals hinter ihnen schloss, wurde es leiser. Vorne standen Reihen von Kunststoffschreibtischen, die so aussehen sollten, als wären sie aus Holz, und davor war eine erhöhte Plattform mit der Richterbank. Darüber prangte das Gerichtswappen. Der Löwe und das Einhorn. Dieu et Mon Droit. An den Schreibtischen saßen die Strafverteidiger. Einige redeten, andere lasen in ihren Akten oder lösten Kreuzworträtsel. Joe stöhnte. Es sah so aus, als gäbe es eine Warteschlange. Er blickte auf seine Uhr. Er hatte noch etwas anderes vor.

Für einen Augenblick dachte er daran zu gehen. Es ging ihm gegen den Strich, aufgehalten zu werden, aber Ronnie Bagleys Fall war zu wichtig. Wieder verdüsterte sich urplötzlich seine Stimmung, weil er wusste, was später an diesem Tag passieren würde, wenn die Erinnerungen zurückkamen und die Gedanken an das Geheimnis, das er seit fünfzehn Jahren mit sich herumtrug. Doch bis dahin dauerte es noch etwas. Jetzt stand erst einmal Ronnie Bagley auf dem Programm.

Er bedeutete Monica, hinten in dem Gerichtssaal auf einer Bank zu warten, während er mit der Staatsanwältin sprach. Denn es war eine Frau, Kim Reader, und er lächelte. Kim war eine ehemalige Kommilitonin von der juristischen Fakultät, aber eigentlich mehr, denn ein paar feuchtfröhliche Nächte hatten sie seinerzeit zusammengebracht. Sie wirkte müde, doch als sie Joe sah, hellte sich ihre Miene auf.

»Schön, dich mal wieder zu sehen, Joe Parker«, sagte sie.

»Ja, freut mich auch. Was hast du hier zu suchen? Ich dachte, du würdest nur noch bei spektakulären Prozessen auftreten.«

»Ich habe einen Mordfall, muss aber leider den Rest der Liste auch abarbeiten.« Sie zog eine Grimasse und zeigte auf einen Tablet-Computer auf einem Lesepult. Daneben war ein kleiner Stapel weißer Akten.

»Ronnie Bagley?«, fragte Joe. »Er ist mein Mandant.«

Sie riss die Augen auf. »Du hast den Fall an Land gezogen?« Sie wandte sich um und nickte einem Mann und einer Frau zu, die an der Seitenwand des Gerichtssaals saßen. Polizisten in Zivil, vermutete Joe. Gut gebügelte, anständige Klamotten. Keine Nadelstreifen, wie bei so vielen Anwälten.

Sie standen auf und kamen zu ihnen. An blauen Bändern um ihre Hälse baumelten ihre Dienstausweise.

»Detective Inspector Evans«, stellte sich die Frau vor, doch ihr Lächeln wirkte für Joe gezwungen. Er war der Feind.

Danach stellte sich ihr Kollege Detective Sergeant Bolton vor, der Joe per Handschlag begrüßte.

»Guten Morgen, Inspector«, sagte Joe zu der Frau.

»Ich dachte, Bagley würde von der Kanzlei Mahones vertreten«, bemerkte Evans.

»Jetzt nicht mehr.«

»Das überrascht mich nicht. Sie haben ihm geraten, den Mund zu halten, doch falls es etwas zu sagen gehabt haben sollte, hätte er es sagen sollen. Vielleicht wäre er dann nicht angeklagt worden.«

»Sie würden ihm also glauben, was immer er sagt, Inspector?«, fragte Joe mit gespielter Überraschung. »Wenn Sie es wünschen, wird er sagen, dass er es nicht war, und dann können Sie ihn freilassen.«

Joes Sarkasmus ließ Evans erröten, doch bevor sie etwas sagen konnte, öffnete sich eine Seitentür, und die Richter traten ein – zwei Pensionäre in Anzügen und eine junge Frau, die zu aufgetakelt war für einen Auftritt im Gerichtssaal. Alle standen auf und verbeugten sich, und dann hörte man, wie sich ein Schlüssel in einem Schloss drehte. Ein verdreckter Mann von Mitte fünfzig erschien hinter der dicken Glasscheibe. Der erste Säufer, der über Nacht in Untersuchungshaft genommen worden war. Er war mit Handschellen gefesselt, und sein Sweatshirt und die Jogginghose ließen erkennen, dass er die Nacht in einer Zelle verbracht hatte.

Während der Gerichtsschreiber begann, die Personalien des Mannes aufzunehmen, beginnend mit seinem Namen und dem Geburtsdatum, wurde Joe klar, wie sehr er den Fall Ronnie Bagley brauchte, um einmal von diesen banalen alltäglichen Elendsgeschichten abgelenkt zu werden.

Er setzte sich und sah, dass die Polizisten flüsterten, sich zunickten und ihn anstarrten. Dann standen sie auf, und als sie den Gerichtssaal verließen, hatte er das untrügliche Gefühl, dass sein Engagement bei diesem Fall irgendwie wichtiger geworden war.

Kapitel 6

Als Joe vor dem Reihenhaus seiner Mutter hielt, umklammerten seine Finger das Lenkrad ein bisschen fester.

Sein Elternhaus war eine Doppelhaushälfte mit großen Fenstern, einem Garten mit einer niedrigen Mauer und einer Auffahrt, die zu einer Garage mit einem zerkratzten Holztor führte. Ihm war klar, wie es im Haus aussehen würde: Geburtstagsdekoration, Kuchen, Spaß für die ganze Familie. Nur war leider alles Fassade, ein Versuch, den Schein zu wahren, dass alles in Ordnung war, dass sie eine glückliche Familie waren. Durch den Mord an seiner Schwester Ellie hatte sich alles geändert. Sein Vater war in einer Depression versunken, die er nie mehr überwinden sollte, und hatte Trost im Alkohol gesucht. Fünf Jahre nach Ellies Tod war er an einem Herzinfarkt gestorben. Joes Mutter hatte ebenfalls zu trinken begonnen, und seitdem begann das Haus zu verfallen.

Auf dem Höhepunkt eines Immobilienbooms hatten seine Eltern es von der Stadt gekauft. Es sollte eine Investition sein, doch das Einkommen hatte nie gereicht, um das Haus zu unterhalten. Die anderen Häuser in der Straße, die nicht verkauft worden waren, wurden regelmäßig von der Stadt renoviert, doch beim Haus seiner Mutter blätterte die Farbe ab, und die hölzernen Fensterrahmen wurden morsch. Er hatte sie dazu zu bewegen versucht, Handwerker zu bestellen, und sogar angeboten, selbst mit Hand anzulegen, doch sie hatte nichts davon wissen wollen. Es war, als könnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass sich ihr Leben noch einmal ändern musste. Immerhin hatte sie noch eine Tochter, um die sie sich kümmern musste, Ruby, die erst dreizehn war.

Aber um das Haus konnte er sich irgendwann demnächst Gedanken machen. Jetzt musste er erst mal seinen Part in der Inszenierung spielen. Er musste lächeln, lamentieren, wie sehr es ihn störe, schon wieder ein Jahr älter zu sein. Doch so war das mit den Parkers. Sie feierten Familienfeste, als befürchteten sie, alles könnte auseinanderfallen, wenn sie sich anlässlich der großen Ereignisse nicht trafen.

Aber es hatte noch mehr damit auf sich. Es ging um Ellie. Sie war tot und doch stets anwesend.

Wie immer kamen die schmerzhaften Erinnerungen zurück. An seinem Geburtstag ging es darum, sich nicht völlig von der Trauer überwältigen zu lassen. Er hatte erwartet, dass der Schmerz im Laufe der Zeit nachlassen würde, doch stattdessen war er stärker geworden. Es war seine eigene Schuld, weil es ihm wichtig war, die Erinnerung an sie lebendig zu halten. Er wurde wütend auf sich, wenn er glaubte, sie zunehmend zu vergessen und einfach irgendwie weiterzumachen.

Er blickte in den Rückspiegel. Er musste bereit sein, bei der Inszenierung mitzuspielen, wusste aber, dass ihn die Trauer mit voller Wucht treffen würde, sobald er das Haus betrat. Es war genauso schlimm wie damals und besonders schlimm an seinem Geburtstag, dem Tag, an dem sie gestorben war.

Nein, das stimmte nicht. Sprachlich. Sie war nicht gestorben. Sondern ermordet worden. Eiskalt und brutal.

Doch er durfte jetzt nicht zu sehr darüber nachdenken. Es war jedes Jahr dasselbe. Seine Geburtstagsfeier folgte einem bestimmten Muster. Seine Mutter wollte ein fröhliches Fest, obwohl sie wusste, dass der weitere Verlauf des Tages alles andere als fröhlich werden würde.

Er stieg aus dem Auto. Es war ein schöner, warmer Tag. In Manchester war das Wetter häufig unangenehm feucht und der Himmel grau, wenn von Irland her Regen aufzog. Dies war einer der seltenen schönen Spätfrühlingstage, mit Vogelgezwitscher und blauem Himmel. Das eiserne Tor öffnete sich quietschend, und er ging den gepflasterten Weg an der Seitenwand des Hauses entlang. Hinter einem Fenster erblickte er Ruby, die ihm zuwinkte. Er winkte zurück und setzte dann sein herzlichstes Lächeln auf, als er sie durch die kleine Glasscheibe in der Haustür sah.

Ruby war dreizehn, ein hoch aufgeschossener Teenager mitten in der Pubertät.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, rief sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen.«

»Meine Geburtstagsfeier kann ich ja schlecht ausfallen lassen«, sagte er lachend, obwohl er es vielleicht gern getan hätte.

Sie zog ihn ins Haus, wo er mit den Gerüchen und Anblicken seiner Kindheit konfrontiert war. In der Küche wurde gebacken, und sein Blick fiel auf ein paar kitschige Urlaubssouvenirs, die auf einem Regal neben dem Fernseher standen: ein Aschenbecher aus Malta, eine Glocke aus Spanien, ein paar Schnapsgläser aus Schottland. Auf dem Kaminsims standen Fotos von ihm, seinem Bruder und seiner toten älteren Schwester.

Er betrachtete ein Foto von Ellie. Seine Geburtstagsfeier fand immer morgens statt, denn der Rest des Tages war dem Andenken an Ellie gewidmet. Sie war an seinem achtzehnten Geburtstag vergewaltigt und erwürgt worden, und ihr Mörder hatte die Leiche im Unterholz in einem Wäldchen unweit ihrer Schule liegen lassen.

Sie mussten seine Geburtstagsfeier schnell hinter sich bringen, denn eigentlich war dies Ellies Tag.

Es konsternierte ihn, wie sehr Ruby Ellie ähnelte. Ihr etwas schelmisches Lächeln, das Funkeln ihrer Augen, die Art und Weise, wie sie auf der Unterlippe herumbiss. Manchmal überraschte ihn das wirklich. Er wurde traurig und musste sich daran erinnern, dass Ruby eine eigenständige Persönlichkeit war, nicht nur ein Ersatz für seine tote ältere Schwester.

»Du hast es also tatsächlich geschafft?«

Sein Bruder, Sam.

Er drehte sich um. »Wichtige Leute kommen immer zu spät. Das ist heutzutage angesagt.«

Sam lächelte. »Herzlichen Glückwunsch, Bruderherz.«

Sam war Detective, aber anders als die meisten Polizisten, die Joe kannte. Er war ein ruhiger und nachdenklicher Typ. Schlank, ordentlich geschnittenes kurzes Haar, Brille. Er war derjenige in der Familie, der versuchte, alles zusammenzuhalten. Auf seine Initiative ging es zurück, dass sich die Familie nicht nur an Geburtstagen traf, sondern auch an Feiertagen. Und manchmal auch nur, weil in den Nachrichten gutes Wetter vorausgesagt worden war.

»Danke, Sam«, sagte Joe. »Wo ist Mum?«

»In der Küche. Du weißt, wie sie ist.

»Wann wollt ihr zum Friedhof?«

»Kommst du nicht mit?«

Joe seufzte. Auch das Thema kam jedes Jahr an die Reihe. »Ich muss arbeiten.«

Zuerst enthielt sich Sam einer Bemerkung, aber er blickte finster drein. »Einmal im Jahr müsste das drin sein. Tu’s für Mum.«

Joe trat dicht an seinen Bruder heran und sprach im Flüsterton, damit Ruby nicht alles mitbekam. »Ich muss ständig an Ellie denken, tue es aber lieber an ihrem Geburtstag als an ihrem Todestag. Ich möchte mich aus anderen Gründen an sie erinnern, nicht wegen ihres schrecklichen Endes.«

»Das ist doch alles Unsinn.«

Bevor Joe antworten konnte, trat seine Mutter ins Zimmer. Sie hielt eine Platte mit Sandwiches in der Hand, und als sie sie neben den Schinkenröllchen und den hart gekochten Eiern in paniertem Brät absetzte, fiel Joe auf, dass ihr Zittern schlimmer geworden war.

Sie kam mit einem schwachen Lächeln auf ihn zu. Joe war klar, dass sie sich zu sehr bemühte, an einem Tag wie diesem alles richtig zu machen. Er musste sich zu ihr herabbeugen, damit sie ihm einen Kuss auf die Wange drücken konnte. Ihre Lippen waren kalt und zitterten stärker als früher.

Sie nahm seine Hand. »Sieht er nicht prächtig aus? Mein jüngerer Sohn ist dreiunddreißig. Wer hätte das gedacht? Ich fühle mich alt.«

»Mach dir darum Gedanken, wenn du alt auszusehen beginnst«, sagte er, und sie musste lächeln.

Ihnen war beiden bewusst, dass es eine Lüge war, und doch fühlte sie sich nun besser. Jahrelang hatte er geglaubt, sie hätte sich nicht verändert. Wie eh und je bevorzugte sie Röcke und Wollpullis, und ihr hellbraunes Haar trug sie weiter kurz, doch mittlerweile wurde es zunehmend grau. Sie begann auszusehen wie jene Frau, die aus ihr werden sollte. Älter, gebrechlicher. Unter ihren Augen sah er geplatzte Äderchen, und ihre Wangen waren immer gerötet. Ihm war klar, dass es am Alkohol lag, doch es war sinnlos, etwas dazu zu sagen. Sie trank, um zu vergessen, und er wusste, dass sein Geburtstag, zugleich der Todestag seiner Schwester, für sie immer am schlimmsten war. Sie setzte sich selbst unter Druck, um einen gelungenen Tag für ihn daraus zu machen, obwohl er ihr oft gesagt hatte, sie solle es nicht so ernst nehmen. Doch wenn sie es nicht tat, wären ihr nur die Gedanken an Ellie geblieben, und sie hätte getrunken, um den Tag irgendwie zu überstehen.

»Komm mal mit«, sagte Ruby und zog ihn zu einem Stuhl am Kamin, in dem ein Feuer brannte, obwohl es Mai und draußen warm war.

Er setzte sich, und die anderen sangen »Happy Birthday«. Joe gab sein Bestes, um fröhlich zu wirken, und dann verschwand Ruby, um mit seinen Geschenken zurückzukommen. Er packte sie demonstrativ erfreut aus, lachte über die Witze auf den Karten und bedankte sich gebührend für jedes Präsent. Ein Oberhemd, ein Becher, Bier und Socken.

»Happy Birthday«, sagte seine Mutter, und eine Träne rann ihre Wange hinab.

Sagte Joe, und er zuckte zusammen, als er den gekränkten Blick seiner Mutter sah. Er wünschte, seine Worte zurücknehmen zu können, doch es war zu spät.

»Welcher heruntergekommene Kriminelle ist jetzt wieder wichtiger als deine Familie?«

»Hört sich so an, als wärest du derjenige, der im Dienst ist« antwortete Joe. »Versuch doch mal für einen Tag zu vergessen, dass du Bulle bist. Es könnte dir gefallen.«

»Na komm, sag schon, dass deine Verbrecher auch alle nur Menschen sind, ganz wie du und ich.«

»Nicht wieder das Thema.«

»Ich habe gesehen, wie deine Mandanten wirklich sind, wenn sie in Handschellen abgeführt werden und spucken und fluchen. Bei dir benehmen sie sich besser, weil sie hoffen, gegen Kaution freigelassen zu werden.«

»Es sind trotzdem Menschen.«

»Streitet euch nicht, Jungs«, sagte ihre Mutter.

Ihre beiden Söhne lächelten sie an, als wäre alles nur eine scherzhafte brüderliche Meinungsverschiedenheit. Sie prügelten sich nicht mehr, wie als Jungen, dafür wurden ihre verbalen Auseinandersetzungen immer schärfer.

»Seine Arbeit ist eben wichtiger«, bemerkte Sam.

»Joes Arbeit ist wichtig«, sagte ihre Mutter. »Ich bin sehr stolz auf ihn.«

Sam biss die Zähne zusammen. Er lochte diese Typen ein, und Joe sorgte dafür, dass sie wieder freikamen, doch in der Welt seiner Mutter bemaß sich der Erfolg nicht danach, wie gute Arbeit man leistete, sondern danach, ob man sich teure Anzüge leisten konnte.

»Ich rufe später noch mal an, versprochen«, sagte Joe.

Das Lächeln seiner Mutter wirkte noch gezwungener. Sie wusste, dass er sich davor drückte, mit zum Friedhof zu gehen.

Sams Mobiltelefon klingelte, und er wandte sich ab, als er den Anruf annahm, doch Joe hörte trotzdem mit.

»Ich habe heute frei«, sagte Sam. Er lauschte, und dann schien seine Stimme etwas lauter zu werden. »Ich komme so schnell wie möglich.«

»Was ist?«, fragte Joe, als sein Bruder das Telefonat beendet hatte.

Sam blickte auf dem Display seines Handys nach der Uhrzeit. »Ich muss sofort zur Polizeistation. Sie wollen wegen eines Mordfalls mit mir sprechen.«

»Ich dachte, du würdest dich mit Finanzdelikten und Betrug befassen.«

»So ist es«, sagte Sam.

»Warum jetzt Mord?«

Joe griff nach einem Sandwich. »Es ist nicht schön, wenn einem an seinem freien Tag die Arbeit in die Quere kommt, was?«

Kapitel 7

Sam Parker schaute in den Rückspiegel und versuchte, seine Krawatte zu richten, doch irgendwie wollte es ihm nicht recht gelingen, und er gab es auf. Nach dem Besuch an Ellies Grab fühlte er sich innerlich noch nicht bereit für das Gespräch mit dem Inspector der Mordkommission, doch so eine Einladung konnte man nicht einfach ignorieren.

Die Polizeistation Stanmoss war ein großes altes Backsteingebäude, dessen Türen und Fenster mit Sandstein eingefasst waren, doch die Fassade war nachgedunkelt, weil sie jahrzehntelang den Abgasen des Straßenverkehrs ausgesetzt gewesen war.

Versuch Ruhe zu bewahren, ermahnte er sich. Vielleicht ist es keine große Sache. Doch wenn bei einem Mordfall finanzielle Gründe abgeklärt werden mussten, konnte dies seine Chance sein, seine Vorgesetzten zu beeindrucken.

Trotzdem wäre es besser gewesen, wenn es an einem anderen Tag passiert wäre. Während seiner ganzen beruflichen Laufbahn hatte er auf den Moment gewartet, einmal mit der Mordkommission zusammenarbeiten zu dürfen. Jetzt war es so weit, doch die Erinnerungen an den Friedhof verdarben ihm die Freude darüber. Ellie war immer da, seine kleine Schwester, die er zum letzten Mal gesehen hatte, als er an jenem Tag zur Universität gegangen war. Ein anhängliches, hübsches fünfzehnjähriges Mädchen war ermordet worden von jemandem, dem ein Menschenleben nichts bedeutete. Es klang klischeehaft, das war ihm bewusst, doch er war es seiner Schwester schuldig, ihren Mörder vor Gericht zu bringen. Auch im Interesse aller anderen, die irgendwann ihr Zuhause verlassen hatten und nie zurückgekommen waren.

Er atmete tief durch. Worum es auch gehen mochte, es war einfach nur ein weiterer Fall. Eigentlich gab es kaum einen Unterschied zwischen Mord- und Betrugsfällen. Es kam immer darauf an, das Ungewöhnliche, Einzigartige an einem Fall zu bemerken und sich bei den Ermittlungen darauf zu konzentrieren.

Er hatte es schon mit reichlich Betrugsfällen zu tun gehabt. Die machten einem viel Arbeit, ohne dass es sich wirklich gelohnt hätte. Die Leute kamen hinter Gitter, aber nicht für lange. Doch manchmal hatte man schon das Gefühl, sinnvolle Arbeit zu leisten, etwa dann, wenn eine Spur zu Häusern führte, die mit gewaschenem Geld gekauft worden waren. Dann verlor der Betrüger seine Gewinne. Aber meistens ging es nur um Leute, die auf illegale Weise an Geld heranzukommen versuchten, um ihre Spielsucht zu befriedigen oder Frauen zu imponieren, denen sie etwas von ihrem angeblichen Reichtum vorgelogen hatten. Womöglich war dies seine Chance, an einem wirklich spektakulären Fall mitzuarbeiten. Das war der Grund, warum er zur Polizei gegangen war, und wenn er helfen konnte, einen Mörder zu finden, würde er es im Gedenken an seine Schwester Ellie tun.

Er zuckte zusammen, als sein Mobiltelefon klingelte. Er schaute auf das Display. Eine unterdrückte Telefonnummer. Er dachte daran, das Klingeln einfach zu ignorieren, aber er vermutete, dass es einer dieser Anrufe war, die ihn schon seit ein paar Wochen behelligten. Doch die Nummer seines Handys war diejenige, die er Zeugen gab, und deshalb musste er sich melden.

»Detective Sergeant Sam Parker.«

Da war eine Pause, und er dachte schon, es wäre vielleicht vorab aufgezeichnete Telefonwerbung einer Versicherung, die ihm Schadenersatz anbieten würde für den Fall, dass er sich bei einem Sturz ein Bein brechen oder einen Autounfall haben sollte, doch das war es nicht. Es waren dieselben Geräusche wie immer bei diesen Anrufen. Ein Kampf, Schreie, ein Stöhnen wie von einer großen Kraftanstrengung, dann wieder ein Schrei, abgebrochen durch eine Ohrfeige, gefolgt von Schluchzern.

Er drückte auf den Knopf und steckte das Handy wieder in die Tasche. Er vermutete, dass es die bruchstückhafte Aufnahme der Tonspur eines spätnachts ausgestrahlten Horrorfilms war. Er schrieb es der Tatsache zu, dass er Detective war, da machte man sich immer Feinde. Er hatte dafür gesorgt, dass das Vermögen einer Menge übler Subjekte beschlagnahmt worden war, und einige von denen hatten das bestimmt nicht vergessen und wollten ihm Angst einjagen.

Diese Anrufe kamen nicht täglich. Manchmal geschah eine Weile nichts, dann kamen für ein paar Tage vier oder fünf Anrufe täglich. Sie waren immer identisch.

Er stieg aus dem Auto und überprüfte erneut seine äußere Erscheinung, als er sein Spiegelbild in der gläsernen Eingangstür der Polizeistation sah. Nach dem Besuch bei seiner Mutter war er nach Hause gefahren, um sich umzuziehen. Er trug einen ordentlich gebügelten grauen Anzug, ein blassblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Er sah aus, als wollte er zu einem Vorstellungsgespräch, und so fühlte er sich auch.

Die Tür fiel mit einem laut hallenden Geräusch zu, und er ging durch Flure mit hohen Decken, beleuchtet von schmierigen, verstaubten Neonröhren. Er hielt nach einem Besprechungszimmer oder der Krisenzentrale Ausschau. Die meisten Büros schienen leer zu stehen. Überall sah er aufeinandergetürmte Kartons und abgeräumte Schreibtische. Als er schon fast glaubte, jemand habe ihm einen Streich gespielt, hörte er leise Stimmen. Er ging in die Richtung, aus der sie kamen, und als er um eine Ecke bog, sah er vor sich eine offene Tür. Er erblickte Männer in Anzügen und mit Krawatte und glaubte, die Mordkommission gefunden zu haben.

Als er an den Türrahmen klopfte, drehten sich alle zu ihm um.

Auf allen Schreibtischen in dem Großraumbüro flimmerten Computermonitore, die ein bläuliches Licht auf Akten und Notizbücher warfen. An Anschlagbrettern und den Wänden hingen Fahndungsfotos und Vermisstenanzeigen.

»Ich bin Detective Sergeant Parker«, sagte er. »Detective Inspector Evans wollte mich sprechen.«

Alle blickten zu einer Frau hinüber, die im hinteren Teil des Raums telefonierte. Sie blickte zu ihm auf und telefonierte dann weiter, sodass sich ihm die Gelegenheit bot, seine Umgebung zu studieren. An allen Wänden hingen große Bilder von vier Teenagern, von denen zwei noch keine achtzehn waren. Er erkannte die Mädchen, weil die Fotos in jeder Polizeistation des County hingen. Aber in der Krisenzentrale der Mordkommission wirkten sie wichtiger.

Er trat näher heran und wurde wie immer von Trauer überwältigt, als er daran dachte, was die Familien dieser vier jungen Frauen durchmachen mussten, die aus verschiedenen Gegenden Manchesters stammten und sich, so weit man bisher wusste, nicht gekannt hatten. Alle wurden vermisst, und man nahm an, dass sie tot waren. Das letzte der Mädchen war vor zwei Monaten spurlos verschwunden. Es musste Ähnlichkeiten zwischen den Fällen geben. Es kam nur darauf an, sie zu erkennen.

Aber die Mädchen waren völlig unterschiedlich. Zwei waren weiß, eines groß und rothaarig, das andere hatte langes, lockiges brünettes Haar. Dann war da ein erst fünfzehnjähriger schwarzer Teenager, deren kokettes Lächeln das Mädchen älter wirken ließ, und eine schöne, dunkelhaarige junge Inderin. Was entging den Ermittlern?

Hinter sich hörte er Schritte. Detective Inspector Evans. Sie war klein und zierlich und hatte kurz geschnittenes graues Haar.

»Sam Parker?«, fragte sie lächelnd.

»Der bin ich, Ma’am.«

»Und ich bin Mary Evans. Ich bin froh, dass Sie kommen konnten.«

Er glaubte, zu spät dran zu sein. »Tut mir leid, ich war bei einer Familienfeier. Eigentlich habe ich heute meinen freien Tag.«

»Umso anerkennenswerter, dass Sie jetzt hier sind. Kommen Sie mit.«

Sie verließen die Krisenzentrale und gingen einen Korridor hinab zu einem kleineren Raum, der ihr Büro zu sein schien. Auf dem Schreibtisch standen eine leere Kaffeetasse und das gerahmte Foto einer jungen Frau. Es wirkte so, als habe sie das Büro erst kürzlich bezogen und als lägen noch Akten ihres Vorgängers herum. Evans’ Schreibtisch war mit Papieren übersät, und er musste der Versuchung widerstehen, sie zu einem ordentlichen Stapel aufzutürmen.

»Nehmen Sie Platz.« Evans zeigte auf einen Stuhl, der ziemlich wackelig aussah und dessen Beine tatsächlich nachzugeben drohten, als er sich setzte.

Sie musterte ihn ein paar Augenblicke, und er musste sich schwer beherrschen, nicht nervös auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Es wäre zu gefährlich gewesen.

»Geht es um die vier vermissten jungen Frauen?«, fragte er und zeigte in die Richtung der Krisenzentrale. »Ich habe die Fotos gesehen.«

»Nein«, antwortete sie. »Haben Sie jemals etwas von einem Ronnie Bagley gehört?«

Sam kramte in seinem Gedächtnis und sah vor seinem geistigen Auge all die Schurken und Taugenichtse, mit denen er es im Laufe der Jahre zu tun gehabt hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein, Ma’am. Der Name sagt mir nichts.«

»Im Gegensatz zu Ihrem Bruder. Joe Parker.«

Joe war verwirrt. »Was hat mein Bruder damit zu tun?«

»Er ist doch Strafverteidiger, oder?«

»Ja. Früher hat er für die Kanzlei Mahones gearbeitet, jetzt ist er bei Honeywells.« Er runzelte die Stirn. »Und was hat dies alles mit mir zu tun?«

Evans antwortete nicht sofort. Sie starrte Joe an, als wollte sie ihn aus der Fassung bringen und ihn daran erinnern, wer hier das Sagen hatte.

»Ich möchte, dass Sie ein paar Informationen aus Ihrem Bruder herausholen«, sagte sie schließlich.

»Worüber?«

»Über Ronnie Bagley. Er ist einer seiner Mandanten.«

Sam konnte es nicht fassen. »Sie wollen, dass ich meinen Bruder ausspioniere?«

»So kann man es auch sagen.«

Sam seufzte. Er glaubte nicht, dass der Rest dieses Gesprächs erfreulich werden würde.

Kapitel 8

Joe holte Monica in der Kanzlei ab und fuhr mit ihr zum Gefängnis. Unterwegs machte er Small Talk, um nicht mehr an den Jahrestag von Ellies Tod denken zu müssen, und es funktionierte. Monica war so begeisterungsfähig wie er selbst zu der Zeit, als er Anwalt geworden war, und er genoss das Gespräch und ihr sympathisches Lächeln.

Die gute Laune verflog, als vor ihnen die hohen Mauern um das düstere alte Backsteingebäude auftauchten. Strangeways war nicht mehr dasselbe Gefängnis wie einst, als die Überbelegung und schlechte Haftbedingungen dazu geführt hatten, dass die Häftlinge das Gefängnis für fünfundzwanzig Tage in ihre Gewalt brachten. Dennoch war es ein trostloser Anblick an einem der Hauptverkehrswege, die ins Zentrum von Manchester führten. Das Gefängnis war äußerlich renoviert und um ein Besucherzentrum erweitert worden, doch das war eher Kosmetik, denn hinter den hohen Mauern erinnerte noch vieles an die Viktorianische Zeit, an Häftlingsaufstände und die Vollstreckung der Todesstrafe.

Joe besuchte nicht mehr so häufig Haftanstalten wie früher, weil Gina das übernommen hatte, doch diesmal war alles anders, denn er wollte Ronnie Bagley unbedingt als Mandanten behalten. Der hatte bereits einmal die Kanzlei gewechselt, und er wollte sein Anwalt bleiben. Er durfte sich keine Fehler leisten. Juristen machten ständig welche, doch gute Strafverteidiger zeichneten sich dadurch aus, dass sie denselben Fehler nicht zweimal machten.

»Was für ein entsetzlicher Ort«, sagte Monica mit einem Blick auf die Gefängnismauer. »Ich kriege immer zu viel, wenn ich mit dem Bus in die Stadt fahre und hier vorbeikomme.«

»Besser, Sie gewöhnen sich daran«, antwortete Joe. »Sie werden noch oft genug hierherkommen müssen. Übrigens sitzen hier fast nur Leute, die ihre Strafe verdient haben. Vor Gericht stehen kaum Unschuldige. Es gibt nur verschiedene Grade von Schuld.«

Sie schwiegen, als sie sich unter den aufmerksamen Augen der Wärter der Sicherheitsüberprüfung unterzogen und durch einen Metalldetektor gingen. Dann führte man sie in den ersten Stock, wo es einen Raum für Anwaltsbesuche gab.

Es gab zwei Reihen mit durch Glaswände abgetrennten Nischen, wo sich ein Häftling und ein Anwalt gegenübersaßen. Der Lärm des Besucherzentrums, wo alles durcheinanderredete, blieb Anwälten erspart, doch man traute ihnen nicht genug, um sie mit den Häftlingen allein zu lassen. Die Wärter behielten genau im Auge, was ablief, und Joe konnte es ihnen nicht verübeln. Er kannte viele Strafverteidiger, die sich strikt an die Vorschriften hielten, aber auch etliche andere, die schlechthin alles taten, um ihre Mandanten zu behalten. Irgendwie mussten die Drogen ja ihren Weg in die Gefängnisse finden.

Joe trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Eine junge Anwältin von Mahones kam vorbei. Sie trug einen Minirock und hatte eine Akte unter den Arm geklemmt. Es gab eine kleine Armee dieser jungen, hübschen Juristinnen, deren Funktion eigentlich nur darin bestand, hinter einem Barrister herzulaufen. Sie waren nicht besonders kompetent, bei den Mandanten aus nachvollziehbaren Gründen aber beliebter als männliche Strafverteidiger wie Joe.

»Was werden Sie zu Ronnie Bagley sagen?«, fragte Monica.

»Ich werde versuchen, seine Story aus ihm herauszuholen.«

»Was wissen wir bis jetzt über den Fall?«

»Ich habe den Papierkram bekommen und die Zusammenfassung gelesen, will aber von ihm selbst hören, was er zu sagen hat, bevor ich mich mit den Details befasse. Wir hören uns seine Story an und sehen dann, ob sie mit dem übereinstimmt, was die Anklage zusammengetragen hat.«

»Ist das der übliche Weg? Ich dachte, es würde andersherum laufen. Muss die Staatsanwaltschaft nicht ausführlich beweisen, warum sie ihn anklagt?«