Ein tödlicher Verdacht - Neil White - E-Book
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Ein tödlicher Verdacht E-Book

Neil White

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Beschreibung

Im dunklen Strudel der Schuld: Der fesselnde Thriller »Ein tödlicher Verdacht« von Neil White jetzt als eBook bei dotbooks. Ganz York hält den Atem an, als die Leiche des skandalumwitterten Millionärs Billy Privett grausam zugerichtet aufgefunden wird. Ein Akt blutiger Selbstjustiz? Detective Sheldon Brown ist davon überzeugt, denn erst ein Jahr zuvor hat Privett selbst unter Mordverdacht gestanden, als eine tote Studentin in seinem Pool aufgefunden wurde. In der Hoffnung, endlich die Wahrheit über Alice' Tod zu erfahren, stürzt sich Browne in die Ermittlungen. Gemeinsam mit dem undurchsichtigen Anwalt Charlie Baker, der seine ganz eigenen Ziele verfolgt, nimmt er die Spur des Killers auf – und stößt schon bald auf die Machenschaften einer fanatischen Sekte, die bereit ist, alles für ihren ebenso charismatischen wie skrupellosen Anführer zu tun … »Ein furioser Roman, der es mit den Spitzenreitern der Thrillerwelt aufnehmen kann.« Crimesquad.com Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der abgründige England-Thriller »Ein tödlicher Verdacht« von Neil White wird alle Fans der Bestseller von Ian Rankin und Michael Robotham in Atem halten. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 503

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Über dieses Buch:

Ganz York hält den Atem an, als die Leiche des skandalumwitterten Millionärs Billy Privett grausam zugerichtet aufgefunden wird. Ein Akt blutiger Selbstjustiz? Detective Sheldon Brown ist davon überzeugt, denn erst ein Jahr zuvor hat Privett selbst unter Mordverdacht gestanden, als eine tote Studentin in seinem Pool aufgefunden wurde. In der Hoffnung, endlich die Wahrheit über Alice' Tod zu erfahren, stürzt sich Browne in die Ermittlungen. Gemeinsam mit dem undurchsichtigen Anwalt Charlie Baker, der seine ganz eigenen Ziele verfolgt, nimmt er die Spur des Killers auf – und stößt schon bald auf die Machenschaften einer fanatischen Sekte, die bereit ist, alles für ihren ebenso charismatischen wie skrupellosen Anführer zu tun …

»Ein furioser Roman, der es mit den Spitzenreitern der Thrillerwelt aufnehmen kann.« Crimesquad.com

Über den Autor:

Neil White wuchs in Yorkshire auf. Seit seiner Kindheit begeistert ihn nichts so sehr wie die Musik von Johnny Cash und Bücher, vorzugsweise Science Fiction und Kriminalromane. Während seines Jura-Studiums packte ihn die Lust, selbst zu schreiben. Heute ist Neil White der erfolgreiche Autor zahlreicher Spannungsromane.

Die Website des Autors: neilwhite.net/

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Thriller-Serie »Lancashire Killings« mit den Einzelbänden:

»Wer in den Schatten lebt«

»Wo die Angst regiert«

»Wenn der Hass entbrennt«

»Wen die Rache treibt«

Außerdem erschienen bei dotbooks seine Thriller »Die Stimme des Verrats« und »Ein tödlicher Verdacht«.

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2012 unter dem Originaltitel »Beyond Evil« bei Harper Collins, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Jenseits des Grauens« bei Weltbild, Augsburg.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2012 by Neil White

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Alastair Wallace, Wilqkuku

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-837-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Neil White

Ein tödlicher Verdacht

Thriller

Aus dem Englischen von Bernhard Liesen

dotbooks.

Kapitel 1

Durch die Windschutzscheibe seines Wagens sah Sheldon Brown das flackernde Blaulicht der Polizeiautos. Der Anruf war vor einer halben Stunde gekommen, und er hatte sich aus dem Bett gequält. Die Müdigkeit war durch den Adrenalinschub vertrieben worden, doch der war mittlerweile abgeebbt. Jetzt spürte er das schnelle und unregelmäßige Schlagen seines Herzens.

Er zog ein Fläschchen mit Diazepam-Tabletten aus der Hosentasche und spülte zwei der kleinen blauen Wunderpillen mit Mineralwasser hinunter. Ihm war klar, dass die Wirkung nicht sofort einsetzen würde, doch nur dadurch, dass er die Tabletten nahm, zitterten seine Finger schon weniger stark. Er blickte in den Rückspiegel, um zu überprüfen, ob seine Krawatte richtig saß und ob das Hemd nicht zu zerknittert war. So schlecht sah er gar nicht aus. Es war mitten in der Nacht, da musste man diese Dinge nicht zu genau nehmen.

Er stieg aus dem Auto und zupfte an den Manschetten seines Hemdes. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht. Es war Sommer, doch in Oulton hielt sich die Wärme nachts nie. Die in Lancashire gelegene Stadt war der Dreh- und Angelpunkt seiner beruflichen Laufbahn. Begonnen hatte er hier als Polizeischüler und junger Streifenpolizist. Ein paar Jahre lang schlichtete er Streitigkeiten in Pubs, deren Inhaber die gesetzlichen Ausschankzeiten allenfalls als Richtlinie, nicht aber als Vorschrift sahen. Mit jeder Beförderung wurde er in größere Städte versetzt, doch schließlich war er zurückgekehrt.

Oulton war der letzte Ort vor den Mooren. Straßen schlängelten sich aus den Tälern in Richtung Yorkshire die Hügel hoch, auf denen hohe Gräser wuchsen und wo die wenigen Bäume das Heulen des Windes nicht dämpfen konnten. Die Stadt hatte Touristen nicht viel zu bieten; allenfalls war sie ein Ausgangspunkt für Exkursionen in die Umgebung. Es gab ein paar Straßen mit Geschäften. In den Räumen ehemaliger Familienbetriebe residierten jetzt Secondhandshops von wohltätigen Organisationen und Nagelstudios. Die Fenster der meisten Pubs aber waren mit Brettern zugenagelt; der billige Schnaps aus dem Supermarkt und das Rauchverbot hatten ihnen den Todesstoß versetzt. Windige, von Reihenhäusern gesäumte Straßen führten die Hügel hinauf. Wo einst Fabriken gestanden hatten, waren jetzt Brachflächen. Einige Hausfassaden waren in Pastelltönen gestrichen, durch Abgase und die harten Winter aber schon wieder schäbig geworden.

Trotzdem gab es ein paar elegante Villen, in denen einst die Fabrikbesitzer gewohnt hatten, pompöse Anwesen auf großen Grundstücken mit Kiesauffahrten, ausgedehnten Rasenflächen und von Statuen gesäumten künstlichen Teichen. Da es die Fabriken nicht mehr gab, befanden sich in den Villen nun große Landhotels, wo Hochzeiten gefeiert wurden und jene Urlauber wohnten, die sich den Aufstieg sparen und ihre Wanderungen gleich auf den Hügeln beginnen wollten.

Vor einem dieser Hotels stand jetzt Sheldon. Die Auffahrt war von Polizeiwagen gesäumt, und im Licht ihrer Scheinwerfer sah er eine Gruppe uniformierter Polizisten. Die dunkelgraue Hauswand mit den Sprossenfenstern war von Efeu überwuchert, auf beiden Seiten des Gebäudes gab es einen verglasten Wintergarten. Er nahm seine Anzugjacke von dem Haken über der Rückbank, zog sie an, atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Übernimm einfach das Kommando, sagte er sich, als er sich den Polizisten näherte.

Wieder zupfte er an seinen Manschetten. Unter seinen Schuhsohlen knirschte in der nächtlichen Stille der Kies. Hinter den Scheiben mehrerer Hotelzimmer sah er Gesichter. Neugier war stärker als Müdigkeit.

Ein uniformierter Polizist kam auf ihn zu. Seine reflektierende Jacke glänzte hellgrün im Licht der imitierten viktorianischen Laternen, welche die Auffahrt säumten. Er hatte die Arme ausgestreckt und schien ihn wegschicken zu wollen. Sheldon zog seinen Dienstausweis aus der Tasche. »Wann kam der Anruf?«, fragte er.

Der Constable hob entschuldigend eine Hand. »Pardon. Um kurz nach eins, Sir.«

»Wer schaut am Tatort nach dem Rechten?«

»Sergeant Peters.«

Sheldon kannte sie. Tracey Peters, intelligent und ehrgeizig, arbeitete normalerweise im Einbruchsdezernat.

»Sie sind der erste Inspector, der sich blicken lässt, Sir.«

Sheldon nickte. In ihm stieg etwas wie Panik auf. Dies konnte sein Fall werden, doch er musste die Lage unter Kontrolle behalten.

»Was haben Sie bis jetzt gehört?«, fragte er.

»Es wird Ihnen nicht gefallen, Sir.«

»Ich rechne nicht damit, dass es mir gefallen könnte«, antwortete Sheldon. »Ich habe gefragt, was Sie wissen.«

Der Constable errötete. »Ein ermordeter Mann, Sir. Da drin.« Er zeigte auf das Hotel. »Es gab eine Beschwerde wegen Ruhestörung. Als der Hotelmanager zu dem Zimmer ging, fand er eine Leiche.«

»Wissen wir, wie der Mann heißt?«

»Das Zimmer hat er unter dem Namen John Bull gemietet, aber für mich klingt das wie ...«

»Ein schlechter Scherz?«

»Genau.«

Sheldon ging zum Hoteleingang, wo ein Kunststoffkorb mit verpackten Schutzanzügen lag. Er riss eine Plastikfolie auf, zog den Schutzanzug an und setzte die Gesichtsmaske auf. Dann trat er zu der Gruppe von Polizisten, die vor dem Hotel standen und ebenfalls alle Schutzanzüge trugen.

Sie drehten sich zu ihm um, und als sie sahen, wer da kam, tauschten sie Blicke aus. Sheldon bemerkte hochgezogene Augenbrauen.

»Wie schlimm ist es?«, fragte er.

»Schlimmer als alles, was ich bisher gesehen habe«, sagte jemand. Er erkannte die Stimme und die langen dunklen Wimpern über der Gesichtsmaske. Tracey Peters.

Sheldon nickte und versuchte zu lächeln. »Mal was anderes als umgeworfene Möbel«, sagte er. Dann: »Hat jemand am Tatort etwas durcheinandergebracht?«

»Niemand war lange genug da, um sich der Leiche zu nähern. Sobald sie einen Blick in das Zimmer geworfen hatten, haben sie schreiend den Rückzug angetreten.«

Sheldon blickte zu dem Hotel hinüber, sagte aber eine Weile nichts. In einem der Zimmer fotografierte jemand mit der Kamera seines Mobiltelefons. Eine Story für die Dinnerparty.

»Okay, sehen wir es uns an«, sagte er und ging los. Hinter sich hörte er die Schritte von Tracey Peters.

Er ging schnell die Treppe vor dem Eingang hoch und trat durch die Drehtür ein. Das Geräusch seiner Schritte hallte von den Marmorwänden der Hotelhalle wider. Die Rezeption. Ein Tisch aus Walnussholz, darauf ein Messingschild mit dem Namen des Hotels. Dahinter Treppen mit dickem dunkelrotem Teppichboden.

Tracey ging vor. »Das Zimmer ist hinten.« Sie verließen die Halle und durchquerten einen langen Saal mit Stühlen mit hohen Rückenlehnen und einem großen Kamin.

Dann bogen sie in einen langen, von Türen gesäumten Korridor. Vor einigen standen Wagen mit Tellern, die der Zimmerservice nach draußen geschoben hatte. Beide schwiegen. Er hörte nur das Rascheln ihrer Schutzanzüge. Seine Augen suchten die Wände nach Blutflecken ab, die den anderen vielleicht entgangen waren, aber er bemerkte nichts. Am Ende des Flurs sah er in der Nähe einer offenen Feuerschutztür den grellen Schein von Lichtbogenlampen, der aus einem der Zimmer in den Flur fiel.

Weitere weiße Schutzanzüge. Zwei Männer von der Spurensicherung traten zur Seite, als er sich näherte. Sie untersuchten die gläserne Feuerschutztür in der Hoffnung auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren. Vielleicht hatte jemand nach dem Verlassen des Zimmers die Tür angefasst.

»Haben wir schon etwas?«, fragte Sheldon.

Einer der beiden, ein Mann in mittleren Jahren, hörte für einen Augenblick auf, die Tür einzustäuben, und richtete seine müden Augen auf Sheldon. »Nicht viel, Sir. Das Blut ist nur auf dem Bett. Keine Fußabdrücke im Zimmer. Fingerabdrücke haben wir, aber sie sind verschmiert und kaum zu gebrauchen.«

»Ich muss mit allen Gästen aus den anderen Zimmern auf diesem Flur reden«, sagte Sheldon. »Und mit dem Hotelmanager von der Nachtschicht.«

»Der macht uns das Leben schwer, seit wir hier sind«, warf Tracey ein. »Er sorgt sich ums Geschäft.«

»Da wird er sich wohl noch weiter Sorgen machen müssen.« Sheldon betrat das Zimmer. Er beschirmte seine Augen, bis sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatten. Als es so weit war, brach ihm der Schweiß aus, und er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Für einen Moment wandte er den Blick ab, dann atmete er tief durch. Als er wusste, dass er hinsehen konnte, hob er langsam den Kopf.

Vor ihm lag ein Mann, dessen Arme und Beine an die Bettpfosten gefesselt waren.

»Irgendein extremes Sexspiel«, bemerkte Tracey. Sie zeigte auf einen in der Ecke liegenden Lederriemen mit einem Kunststoffball in der Mitte, offenbar ein Knebel. Sheldon glaubte Bissspuren darauf zu erkennen.

Er seufzte tief. »Ich glaube nicht, dass er es genossen hat.« Er trat einen Schritt näher.

Der Mann war nackt. Alt schien er nicht zu sein, worauf die Maori-Tätowierungen auf seinen Oberarmen hindeuteten. Doch was er über der Schulter sah, ließ Sheldon daran zweifeln, dass er in dieser Nacht noch ein Auge zutun würde.

Ein blutverschmierter schwarzer Haarschopf auf dem Kissen. Ein fehlendes Gesicht. Nur das helle Weiß von Wangen- und Kieferknochen, ebenfalls blutverschmiert. Kaum Fetzen von Fleisch und Muskeln. Die Augäpfel waren noch in den Höhlen, die Zähne schienen eine letzte Grimasse zu ziehen. Dem Mann war das Gesicht genommen worden. Präzise Arbeit, als hätte der Mörder eine Schablone benutzt.

»Warum sollte jemand so etwas tun?«, fragte Tracey.

»Dadurch wird es schwieriger, das Opfer zu identifizieren, doch das kann nicht der wahre Grund sein«, sagte Sheldon mit gesenkter Stimme. »Wurde das Gesicht hier irgendwo entdeckt?«

Tracey schüttelte den Kopf. »Nicht in diesem Zimmer.«

Sheldon schloss die Augen.

»Da ist noch etwas«, hörte er Tracey sagen.

Er öffnete die Augen und schaute sie an. »Ich höre.«

»Ich habe mit dem Polizeiarzt gesprochen, bevor er fuhr.« Sie hob die Augenbrauen. »Er glaubt, dass das Opfer noch lebte, als es losging.«

Sheldon blickte auf den Toten auf dem Bett und schüttelte den Kopf. Der Constable vor dem Hotel hatte recht. Dies war eine üble Geschichte.

Kapitel 2

Er hörte das Geräusch in seinem Traum. Ein zwitschernder Vogel auf einem Zweig, ein Vogel mit grellen roten und blauen Federn. Dann verschwand das Bild. Er öffnete die Augen und sah sein Schlafzimmer.

Er lag im Bett. Das Geräusch war immer noch da, doch es war ein elektronisches Zirpen. Stöhnend zog er sich die Decke über den Kopf. Das Telefon. Er konnte es ignorieren und darauf warten, dass der Anrufbeantworter ansprang, doch dann wurde ihm klar, dass das keine gute Idee war. Vielleicht war der Anruf wichtig.

Er warf die Decke zur Seite und quälte sich aus dem Bett. Unter seinen Füßen schien der Boden zu schwanken. Er hatte einen schalen und unangenehmen Geschmack im Mund, sein Atem roch nach Alkohol. Er zog sein T-Shirt von der Leuchtanzeige des Radioweckers. Acht Uhr. Später als gedacht.

Das Telefon zirpte immer noch.

»Schon gut, schon gut«, schrie er, während er durch das Zimmer eilte und sich dabei den Schlaf aus den Augen rieb. Der Anrufbeantworter war schneller.

»Hallo, Charlie, hier ist Julie. Ich schaffe es heute Nachmittag nicht. Es hat einen Mord gegeben. Eigentlich hätte ich heute meinen freien Tag haben sollen, aber ich muss Präsenzdienst machen, weil so viele an der Untersuchung des Falles beteiligt sind. Wir treffen uns ein anderes Mal, denn wir müssen einiges klären. Und noch etwas, Charlie. Du hast am Samstagabend wieder angerufen. Tu’s nicht noch mal. Andrew hat allmählich die Schnauze voll.«

Klick.

Er setzte sich. Heute Nachmittag? Dann fiel es ihm wieder ein. Ja, sie mussten noch einiges klären. Wie immer nach einer Trennung.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er war froh, dass das Treffen ausfiel. Die Wohnung musste geputzt werden. Und er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass auf dem Boden die Überreste eines sonntäglichen Filmabends verstreut waren – eine Pizzaschachtel, etliche leere Bierflaschen. Julie hätte ihm eine Predigt gehalten, wenn sie das gesehen hätte, und darauf konnte er gut verzichten. Sie waren ein Jahr zusammen gewesen, und er hatte sich nicht geändert. Zu Beginn ihrer Beziehung war er Ende dreißig gewesen, und er hatte zu viel getrunken. Jetzt, ein Jahr später, war sein Alkoholkonsum immer noch derselbe. Vermutlich hätte er sich durch sie ändern sollen. War es sein Problem, dass sie es nicht geschafft hatte?

Ihm war klar, dass es seine eigene Schuld war, wenn er sich mit Polizistinnen einließ. Julie war nicht die Erste gewesen. Er war Strafverteidiger, und bei der Polizei hielt man einen Anwalt offenbar für einen erfolgreichen Macher, der schnittige Autos fuhr und in den besten Restaurants speiste. Seine Freundinnen hatten nie lange gebraucht, um herauszufinden, dass es bei ihm nicht so war.

Das mit Julie war eine seiner längeren Beziehungen gewesen, doch es hatte nur daran gelegen, dass er gezögert hatte, sie ziehen zu lassen. Sie war attraktiv, groß, blond, elegant, hatte alles, was sich der Kunde einer Partneragentur wünschen würde. Kennengelernt hatte er sie bei einem Gespräch mit einem Mann, der in Polizeigewahrsam genommen worden war. Julie hatte Präsenzdienst im Trakt der Untersuchungshäftlinge. An jenem Tag war er nicht richtig bei der Sache gewesen, weil er den Blick kaum von ihr lösen konnte. Sie gingen zusammen essen, acht Wochen später zog sie bei ihm ein. Zehn Monate später zog wie wieder aus, als ihr klar geworden war, dass sie nichts gemeinsam hatten und dass Charlie auch kein Interesse zeigte, etwas daran zu ändern.

Dann fiel ihm wieder ein, dass sie einen Anruf erwähnt hatte. Er seufzte. In betrunkenem Zustand hatte er schon häufiger bei ihr angerufen, um zu fragen, ob sie es nicht noch einmal versuchen sollten. Wenn er nüchtern war, verschwendete er keinen Gedanken daran, doch manchmal kamen einem schlechte Ideen, wenn man aus einem Pub nach Hause wankte. Julie war jetzt mit einem anderen Mann zusammen. Vielleicht war es das, was an ihm nagte.

Er öffnete die Augen, rappelte sich hoch und stöhnte, als er einen Blick in den Spiegel warf. Sein dunkles Haar war mittlerweile von grauen Strähnen durchzogen, und er trug es zu lang für sein Alter. Fettige Strähnen stießen auf seinen Kragen. Der Bart war ungepflegt und wirkte einfach nur so, als hätte er irgendwann vergessen, wie man sich rasiert.

Ein guter Start in eine neue Woche sah anders aus. Seine Mutter hatte immer gesagt, aus ihm würde nichts werden. Er hatte geglaubt, sie Lügen gestraft zu haben, weil er sein Jurastudium erfolgreich abgeschlossen hatte. Nur hatte er die nächsten fünfzehn Jahre so gelebt, dass sie doch recht behalten hatte.

Er wandte den Blick ab und ging zum Fenster.

Seine Wohnung lag in der obersten Etage eines weitläufigen, äußerlich der regionalen Architektur angepassten dreistöckigen Apartmentblocks, der einen guten Blick auf die Stadt bot, den auf die offene Moorlandschaft aber blockierte. Abends fiel die Sonne in seine Zimmer, und die Aussicht zerstreute ihn, wenn er allein und müßig war. Von einem Fenster konnte man bis nach Manchester sehen.

Das Telefon klingelte erneut. Zuerst wollte er nicht drangehen, aber er glaubte nicht, dass es noch einmal Julie war. Vielleicht war es ein Mandant. Oder die Polizei.

Es war ein Nachteil des Berufs des Strafverteidigers, dass man verfügbar sein musste, wenn die Mandanten einen brauchten. Aber die meisten Anrufe hatten nichts zu bedeuten. So ließ ihn beispielsweise jemand wissen, sein Bruder oder Vetter sei verhaftet worden, und dann stellte sich heraus, dass der Inhaftierte sich bereits einen anderen Anwalt genommen hatte. Aber es bestand immer die Möglichkeit, dass der nächste Anruf ihm jenen großen Fall bescheren würde, der seine Anwaltspraxis für ein Jahr über Wasser halten konnte. Am besten waren die großen Betrugsfälle, wo man für eine Masse an Papierkram jede Menge Stunden abrechnen konnte, doch solche Fälle waren die Ausnahme. Außerdem gehörte er sowieso nicht zu denen, die sich gern mit Papierkram herumschlugen. Er hatte eine realistische Selbsteinschätzung: Er war ein Aufwiegler, der bei seinen Plädoyers an Emotionen appellierte und in einer kleinen nordenglischen Stadt im Interesse seiner Mandanten die Klappe aufriss. Ihm fehlten weder die Eloquenz noch der juristische Sachverstand, um sich in einem höheren Gericht wie dem Crown Court Wortgefechte mit einem Barrister zu liefern, und er hatte auch darüber nachgedacht, diesen Weg einzuschlagen, doch es passte einfach nicht zu seinem Naturell. Vielleicht hätte er die Wortgefechte genossen, doch manchmal kämpfte er mit zu harten Bandagen, wenn Finesse angebrachter gewesen wäre, und er musste darum kämpfen, seine Wut unter Kontrolle zu halten, wenn er das Gekicher im Gerichtssaal hörte.

Außerdem hätte er sich dann regelmäßiger rasieren müssen.

Er nahm den Anruf an und brauchte ein paar Sekunden, bis er die Stimme seiner Partnerin Amelia erkannte.

»Amelia? Du bist früh dran.«

»Das Tagesprogramm hat sich geändert, Charlie«, sagte sie bestimmt. »Bei uns wurde eingebrochen.«

Der Tag ließ sich wirklich gut an. »Wurde was geklaut?«

»Bis jetzt ist mir nichts aufgefallen. Ein Fenster ist zerbrochen, und die Akten wurden durchwühlt.«

Das gefiel Charlie überhaupt nicht. In diesen Akten stand einiges über die brisantesten Geheimnisse der Stadt. In ihnen fanden sich die wahren Geschichten, die hinter den Verbrechen standen, nicht die geschönten Storys, welche die Angeklagten ihren Freunden erzählten. »Ich komme so schnell wie möglich.«

»Nein, du musst ins Gericht und meine Fälle übernehmen. Ich kümmere mich hier um alles. Außerdem hat es einen Mord gegeben.«

»Ja, ich weiß. Hat man mir schon erzählt.«

»Nach den Gerüchten, die mir zu Ohren gekommen sind, ist es ein schlimmer Fall. Du musst dich in der Polizeistation blicken lassen.«

»Gibt es einen Tatverdächtigen?«

Sie antwortete nicht sofort. Dann: »Keine Ahnung, ob es einen gibt, aber ich möchte, dass du da vorbeischaust. Nur für den Fall, dass es einen Verdächtigen gibt und er keinen Anwalt hat. Vielleicht spuckt jemand von den Bullen deinen Namen aus. Du weißt ja, wie das läuft.«

»Ich glaube nicht, dass sie mich da im Moment mögen«, sagte er.

»Das mit meinen Fällen bei Gericht geht schnell, und ich habe mir deinen Terminkalender angeschaut. Du hast heute sonst nicht viel zu tun. Versuch einfach zu erfahren, was los ist.«

Charlie rieb sich die Augen. Er wusste, wie es lief, war aber an einem Montagmorgen nicht in der Stimmung, mit dem diensthabenden Sergeant im Trakt der Untersuchungshäftlinge zu plaudern. Überdies war nicht dieser Sergeant wichtig, doch Amelia hatte das nie begriffen. Sie glaubte, dass es ihr Aufträge brachte, wenn sie dem Sergeant schöne Augen machte. Das war wenig wahrscheinlich. Diese Sergeants waren immun gegen Charme. Nein, die Leute, die den Häftlingen den Namen eines Anwalts steckten, das waren die Zellenwärter oder zivilen Angestellten der Polizei. Wenn man mit ihnen auf gutem Fuß stand, das wusste Charlie, flüsterten sie den richtigen Anwaltsnamen durch das Fenster in der Zellentür.

»Wie soll ich da reinkommen?«

»Da fällt dir schon was ein«, antwortete sie.

Klick. Charlie starrte auf das Telefon. Es war ihre Art, ein Gespräch abrupt zu beenden. Keine unnötige Höflichkeit. Es zählte nur, dass man den Job erledigte. Er war müde und verkatert, hatte aber gelernt, ihre Arbeitsmethoden nicht in Frage zu stellen. Auf dem Messingschild vor der Tür mochte sein Name oben stehen, doch sie war die inoffizielle Chefin der Anwaltspraxis, weil sie diese gerettet hatte.

Er schlurfte ins Bad und wollte den beschlagenen Spiegel abwischen, überlegte es sich aber anders. Ihm war klar, dass ihm nicht gefallen würde, was er da sah. Geplatzte Äderchen und rötliche Haut unter den Augen. Er war neununddreißig, sah aber so aus, als hätte er den vierzigsten Geburtstag längst hinter sich.

Als er nach dem Duschen aus dem Bad kam, fiel sein Blick auf das leere Bett. Er schlief weiter auf einer Seite, denn er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass er Julies blonden Haarschopf nicht mehr sah. Dass sie ihn verlassen hatte. Es war schwer, mit einer alten Gewohnheit zu brechen.

Er suchte im Kleiderschrank nach seinem Anzug, stieß aber einen Fluch aus, als ihm einfiel, dass der seit Freitagabend zerknittert in einer Ecke lag. Er zog seinen Reserveanzug aus dem Schrank. Abgestoßene Ärmel, glänzende Ellbogen. Während er sich ankleidete, die Krawatte band und die Manschettenknöpfe durch die Löcher pfriemelte, begann er sich allmählich wieder wie ein Anwalt zu fühlen. Es war immer dasselbe. Wochenenden im Trainingsanzug, Werktage im Nadelstreifen. Wenn er den Hemdkragen zuknöpfte, wusste er endgültig, dass das Wochenende vorbei war.

Jetzt brauchte er nur noch einen Kaffee, dann konnte die neue Woche beginnen.

Kapitel 3

Sheldon Brown hatte die Augen geschlossen. Auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen, und er hatte die Hände zu Fäusten geballt, um das Zittern zu stoppen. Er atmete durch die Nase und begann, von zehn abwärts zu zählen.

Bei eins angekommen, öffnete er die Lider. Sein Bild im Spiegel der Toilette der Polizeistation verriet nichts über seinen Zustand. Seinem dunklen Haar fehlte es an Glanz, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen, aber er hatte schon mitgenommener ausgesehen. Man gewöhnte sich daran, keinen Schlaf zu finden.

Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einem Papierhandtuch ab. Dann nickte er seinem Spiegelbild zu und ging zur Tür.

Im Flur witzelten und lachten die Kollegen. Sie warteten darauf, dass die Arbeit begann. Die Truppe war durch Polizisten aus anderen Dezernaten verstärkt worden, die einen Teil der Routinearbeit übernehmen sollten. Befragungen, Suche nach Fingerabdrücken. Als er sich gerade auf den Weg zur Krisenzentrale machte, hörte er hinter sich eine Stimme.

»Sir?«

Sheldon drehte sich um. Es war Tracey Peters, die am Abend zuvor am Tatort gewesen war. Sie war eine große Brünette mit dunkelbraunen Augen und trug einen eleganten grauen Hosenanzug. Im Gegensatz zu Sheldon wirkte sie durchaus so, als hätte sie geschlafen.

»Guten Morgen, Sergeant.«

»Detective Sergeant, wenn wir es genau nehmen wollen, aber mir ist es lieber, wenn Sie mich Tracey nennen.« Sie lächelte. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich mit meinem Inspector gesprochen habe. Wenn Sie Verstärkung brauchen, stehe ich zu Ihrer Verfügung.« Als Sheldon nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Ich war gestern Abend vor Ort und möchte sehen, wie es mit den Ermittlungen weitergeht.«

Sheldon schluckte, nickte dann aber. Die Umstehenden beobachteten ihn. Er war auf jede Hilfe angewiesen. »Danke. Es war schwierig, genügend Leute zu finden.«

Tracey zog eine Grimasse. »Ich kenne das.«

Es war in jedem Dezernat dasselbe. Budgetkürzungen hatten zu Entlassungen geführt, an allen Ecken und Enden fehlten Leute. Sheldon hatte jeden angeheuert, der an anderer Stelle verzichtbar war, und sogar Polizisten aus den Nachbarstädten herangezogen. Sie taten jetzt Dienst in der kleinen Polizeistation von Oulton, die mitten in der Stadt stand, neben dem Magistrate Court mit den alten Holzfenstern und der stilvollen blauen Lampe über dem Eingang.

Eigentlich hatte ein Chief Inspector vom Force Major Investigation Team nach Oulton kommen sollen, um den Fall zu übernehmen, doch auf der anderen Seite des County hatte es einen Doppelmord gegeben. Bis zum Eintreffen des Chief Inspectors sollte Sheldon die Ermittlungen leiten.

Er blieb an der Tür der Krisenzentrale stehen und warf einen Blick hinein. Normalerweise war hier nie so viel los, und in dem Raum wurde es eng. Die Fenster waren beschlagen, und etliche Polizisten mussten stehen, weil die Stühle von denen in Beschlag genommen worden waren, die sich zuerst eingefunden hatten. Er kannte alle Detectives in dem Raum, denn er war seit fünfundzwanzig Jahren dabei. Aus dem jungen Polizeischüler von einst war ein pausbäckiger Mann von Mitte fünfzig geworden. Als die Anwesenden ihn bemerkten, verstummten die Gespräche. Es gab enttäuschte und überraschte Blicke.

Sheldon lächelte, doch es wirkte unnatürlich. Dann betrat er mit hoch erhobenem Haupt den Raum. Alle Augen folgten ihm, bis er sich vorne an einen Tisch setzte. Es war nur das Rascheln eines Umschlags zu hören, aus denen Sheldon einige Fotos zog, die er dann mit Klebeband an der Weißwandtafel an der vorderen Wand befestigte. Es waren die Bilder, die am Vorabend geschossen worden waren. Der Tote in dem Hotel, an die Bettpfosten gefesselt, der Mann ohne Gesicht.

In dem Raum erhob sich ein Gemurmel. Sheldon vermutete, dass sich die Nachricht von dem Mord herumgesprochen hatte, doch Fotos machten alles anschaulicher und realistischer.

Er räusperte sich und drehte sich dann zu seinen Leuten um. Seine Hände waren wieder zu Fäusten geballt. »Das war ein Schock gestern Abend«, sagte er. »Ich war vor Ort, weiß, wovon ich rede. Wer immer das getan hat, wir müssen ihn fassen.« Das hatte die Leute aufrütteln sollen, doch sie starrten ihn nur schweigend an. Er benetzte sich mit der Zunge die Unterlippe und wartete darauf, dass jemand eine Frage stellte.

»Wissen wir, wer das Opfer ist?«, fragte schließlich jemand im hinteren Teil des Raumes. Sheldon kannte den Mann. Duncan Lowther, der Schönling der hiesigen Kriminalpolizei. Er hatte ein Vermögen geerbt und musste nicht von seinem Gehalt leben. Der Porsche auf dem Parkplatz gehörte ihm und passte zu dem teuren Aftershave und den Wochenenden, die er in den Weinlokalen von Manchester verbrachte. Er redete über großartige Literatur und Arthouse-Filme und verzichtete auf die üblichen Anzüge von der Stange mit den pastellfarbenen Oberhemden. Er bevorzugte eng sitzende graue Pullover mit V-Ausschnitt und Seidenkrawatten.

Sheldon kannte Polizisten wie ihn nur zu gut. Sie zogen ihre Schau ab und hatten Angst vor harter Arbeit.

»Das müssen wir zuerst herausfinden«, antwortete Sheldon. »Der Ausgangspunkt ist immer das Opfer. Jemand muss überprüfen, was für Anrufe während der letzten zwölf Stunden in den Polizeistationen des County eingegangen sind. Nur für den Fall, dass jemand nicht nach Hause gekommen und als vermisst gemeldet worden ist.«

»Außerehelicher Sex?«, fragte jemand. »Vielleicht ein eifersüchtiger Partner?«

Sheldon nickte. »Könnte sein. Das ist ein Aspekt. Angesichts der Grausamkeit des Mordes könnte Rache durchaus ein Motiv sein.« Er zeigte auf die Fotos. »Dem Opfer wurde das Gesicht genommen, doch dieses wurde in dem Hotelzimmer nicht gefunden. Wir müssen herausfinden, wo es geblieben ist. Jemand hat es aus einem bestimmten Grund mitgenommen, und den müssen wir kennen.«

»Vielleicht war es ein Psychopath, der zufällig über sein Opfer gestolpert ist«, sagte Lowther. »So was kommt vor. Und spielt der Grund eine Rolle? Es ist doch nur wichtig, wer es getan hat.«

Sheldons Lächeln wurde breiter, doch es wirkte unnatürlich und angespannt. »Besten Dank für den klugen Hinweis, aber wenn man das Warum kennt, hat man dadurch eine Liste mit Verdächtigen. Sie haben sich gerade den Job mit den Überwachungskameras eingehandelt.« Lowther wirkte verwirrt, und Sheldon fuhr fort. »Fahren Sie zu dem Hotel, und sehen Sie sich die Aufnahmen an. Wenn jemand das Hotel betreten hat, der nicht zu den Gästen gehört, ist das Ihr erster Verdächtiger. Dann kommen die Aufnahmen der Überwachungskameras in der Stadt dran. Achten Sie darauf, ob jemand rennt oder zu schnell fährt.« Er blickte sich in dem Raum um. »Die anderen teilen sich in Zweiergruppen auf. Es wird Zeit, an ein paar Türen zu klopfen. Ihr kennt das Prozedere. Macht den Papierkram und achtet auf alles, was ungewöhnlich erscheint. Und dann lasst uns hoffen, dass wir etwas für die Rechtsmedizin finden.«

»Wie lange ist das denn noch unser Fall?«, fragte jemand im hinteren Teil des Raums. »Das Force Major Investigation Team kommt nach Oulton.«

»Ich will, dass wir den Fall behalten«, sagte Sheldon. »Die Menschen in Oulton kennen und vertrauen uns. Ihr wisst, wie es hier ist. Die Leute mögen keine Fremden. Wenn wir zulassen, dass das FMIT den Fall übernimmt, sagen die Leute vielleicht gar nichts mehr, und wir verlieren den Kontakt vor Ort.«

Einige murmelten zustimmend, doch dann blickten alle zu einem uniformierten Polizisten hinüber, der plötzlich in den Raum gestürmt kam. Nachdem er einen Blick auf die Fotos geworfen hatte, schaute er Sheldon an.

»Ja?«, fragte der verärgert.

»Gerade hat jemand vom Lancashire Express angerufen, Sir.« Er zeigte auf die Fotos an der Tafel. »Es geht um Ihren Fall. Der Mann von der Zeitung sagte, sie hätten etwas, das Sie sehen müssten.«

Kapitel 4

Wie üblich ging Charlie zu Fuß zu seiner Anwaltspraxis. Auch wenn dort eingebrochen worden war, hatte er es nicht eilig. Der schlechte Start in die neue Woche würde noch früh genug kommen.

Der Spaziergang vertrieb die meisten Folgeerscheinungen des übermäßigen Alkoholkonsums, aber er überwand den Kater nicht mehr so schnell wie noch vor ein paar Jahren. Er musste Geduld haben. Um die Mittagszeit würde er das Schlimmste überstanden haben.

Seine Wohnung lag hoch über der Stadt; man hätte sie allein aufgrund der Aussicht verkaufen können. Von dort war es nicht weit bis zu seiner Praxis. Der Weg führte an einer städtischen Siedlung mit Sozialwohnungen vorbei, wo die Straßenschilder mit Graffitis besprüht waren, dann durch eine Straße mit Reihenhäusern, deren Bewohnern man durch Neubauten den Blick auf die Hügel genommen hatte.

Als er am Eagleton vorbeikam, dem besten Imbiss der Stadt, dessen große Fenster immer beschlagen waren, hörte er dicht hinter sich jemanden auf einem Fahrrad. Unter den Reifen knirschten in der Gosse liegende Steinchen. Charlies Blick war immer noch etwas benebelt, aber er erkannte Tony, einen seiner Stammkunden. Dies war die Tageszeit, wo man noch vernünftig mit ihm reden konnte. Nicht mehr lange, dann würde er Wodka aus dem Sonderangebot kaufen und den Tag vertrinken, einen Tag, bei dem es immer nur darum ging, irgendwie den nächsten zu erreichen. Manchmal geriet er in üble Schlägereien und tauchte anschließend in Charlies Büro auf.

»Wie geht’s, Tony?«

»Haben Sie gesehen, dass beim Hotel Grange überall Bullen sind?« Er zeigte über die Schulter.

»Es hat einen Mord gegeben«, sagte Charlie. »Bestimmt hat es damit zu tun.«

»Wer ist das Opfer?«

Charlie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

»Es muss jemand Wichtiges sein. So viele Bullen habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen.«

Charlie lächelte. »Wir sind alle wichtig. Selbst du, Tony.«

Als er gerade weitergehen wollte, sagte Tony: »Ich hab eine gerichtliche Vorladung bekommen, weil ich jemanden bedroht haben soll. Nächsten Donnerstag muss ich dahin. Ich war gerade auf dem Weg zu Ihrer Praxis.«

»Du wirst keine unentgeltliche Rechtshilfe bekommen.«

Tony blickte finster drein.

Charlie seufzte. Er kannte diesen Blick. Wenn er sich nicht breitschlagen ließ, würde Tony einen anderen finden. Er erinnerte sich, dass er sich einmal geweigert hatte, jemanden umsonst zu verteidigen, und dieser Mann hatte zwei Monate später jemanden umgebracht. Der Kollege, der den Fall ohne Honorar übernommen hatte, bekam später den Mordfall.

»Willst du dich schuldig bekennen?«

Tony nickte. »Okay, wir sehen uns Donnerstag im Gericht, doch wenn mir was dazwischenkommt, bist du auf dich gestellt. Aber wenn ich Zeit habe, komme ich.«

Tony lächelte. »Danke.«

Charlie sagte nichts mehr, und Tony fuhr weiter. Leute wie Tony hielten seine Praxis am Laufen. Manchmal wurde er bezahlt, manchmal nicht. Aber jemand wie Charlie musste auf bessere Tage hoffen, wo er sein Honorar bekommen würde. Er hatte sich für das Strafrecht entschieden, wo man als Jurist am wenigsten verdiente. Er erinnerte sich an die Hochglanzbroschüren von auf Unternehmensrecht spezialisierten Kanzleien, die in der Universität herumgelegen hatten. Dort verdiente man gutes Geld, doch diese Jobs waren nur etwas für Leute aus der Oberklasse. Er kam aus einer Familie, wo außer ihm noch nie jemand die Universität besucht hatte. Er kannte seine Grenzen und hatte keine großen Ambitionen. Immerhin hatte er sein Ziel erreicht und das Studium abgeschlossen. Als Versager fühlte er sich nicht.

Während Tony den Hügel hinabrollte, fiel Charlie auf der anderen Straßenseite eine Gruppe von sechs Leuten auf, sämtlich schwarz gekleidet. Er glaubte, dass sie zu ihm hinüberblickten. Sie standen ganz in der Nähe seiner Praxis, und als er an ihnen vorbeiging, blickten sie ihn weiter an.

Das machte ihn nachdenklich. Wenn man jemanden verteidigte, brachte man in der Regel einen anderen gegen sich auf, etwa ein Verbrechensopfer oder einen Polizisten. Er blieb stehen und tat so, als würde er sein Handy checken, doch als er wieder aufblickte, war die Gruppe verschwunden.

Er runzelte die Stirn. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten. Er zuckte die Achseln und legte die letzten hundert Meter zu seiner Praxis zurück, die sich über einem Kebab-Imbiss befand. Die Eingangstür und die Treppe befanden sich zwischen dem Imbiss und einem Tattoo-Studio.

Er hatte seine Praxis vor fünf Jahren eröffnet, als die Kanzlei, in der er arbeitete, damit begonnen hatte, Juristen wie ihn teilweise durch Mitarbeiter zu ersetzen, die als Berater und Vertreter in Rechtsangelegenheiten arbeiteten, ohne selbst Anwälte zu sein. Ihm war klar gewesen, dass man ihm als Nächstem kündigen würde, und so hatte er sich selbstständig gemacht. Der Traum vom großen Erfolg löste sich bald in Luft auf; er musste Überstunden machen, nur um keine roten Zahlen zu schreiben, musste oft als Pflichtanwalt arbeiten. Er war schon fast so weit gewesen, alles hinzuschmeißen und sich einzureden, als Barkeeper wäre er glücklicher, als Amelia an ihn herangetreten war und gesagt hatte, sie wolle sich in die Praxis einkaufen.

Amelia Diaz. Er hatte sie schon ein paarmal bei Gericht gesehen, und ihre äußere Erscheinung vergaß man nicht so leicht. Sie hatte langes dunkles Haar, olivfarbene Haut und setzte ihre weiblichen Reize ein, um zu bekommen, was sie wollte. Ihr Vater stammte aus Barcelona und hatte eine Engländerin geheiratet. Charlie wollte keine Teilhaberin und hatte das Angebot zuerst ablehnen wollen, um weiter die Sozialfälle vor Gericht zu vertreten. Das war das Einzige, was er wirklich gut konnte.

Als er die Treppe hochstieg, hörte er das Blubbern der Kaffeemaschine.

»Amelia?«

Sie steckte den Kopf durch die Tür ihres Büros und blickte ihn finster an. »Schön, dass du es geschafft hast. Komm rein.«

Charlie rollte die Augen und blickte zu Linda hinüber, einer korpulenten Frau mit sehr kurz geschnittenen Haaren, die seit der Eröffnung der Praxis als Empfangsdame und Sekretärin für ihn arbeitete.

Bevor er in Amelias Büro ging, schenkte er sich noch eine Tasse Kaffee ein. Da saß jemand im Empfangsbereich, eine magere Teenagerin in einem blauen Rock und ebenfalls blauem Jackett. Sie hatte sehr weiße Zähne, karamellfarbene Haut und krauses Haar. Charlie hob eine Hand, um sie zu begrüßen. Er sah sich im Spiegel, die grauen Haarsträhnen, den ungepflegten Bart. Er wandte den Blick ab. Er war viel zu alt für sie, und man sah ihm jedes einzelne Jahr an.

Amelias Büro war spartanisch eingerichtet. Weiß gestrichene Wände, ein Glasschreibtisch in einer Ecke, weiß gestrichene Bodendielen, moderne Bürojalousien. Die alten Vorhänge und der Teppichboden hatten ihr nicht gefallen. Auf dem Schreibtisch summte ein Computer.

Aber das Büro sah anders aus als sonst. Auf dem Boden lagen Akten herum.

»Wie sind sie hereingekommen?«, fragte er.

»Sie haben die Scheibe der Feuerschutztür eingeschlagen und sind da eingestiegen.«

»Und die Alarmanlage?«

»Du weißt sehr gut, dass sie kaputt ist.«

Charlie lehnte sich an den Türrahmen. »Haben sie etwas mitgenommen?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Amelia. »Ich denke, dass sie etwas gesucht haben. Die Computer, der Fernseher und selbst das bisschen Bargeld sind noch da.«

Charlie runzelte die Stirn. »Das hier beunruhigt mich mehr. Falls sie etwas in den Akten gesucht und gefunden haben, könnte einer unserer Mandanten in Gefahr sein. Wenn es wichtig genug ist, dafür einen Einbruch zu riskieren. Hast du die Polizei benachrichtigt?«

Amelia schüttelte den Kopf. »Wenn sie etwas in den Akten gesucht haben, wird die Polizei wissen wollen, was es unserer Meinung nach gewesen ist. Ich habe nicht vor, die Schweigepflicht zu brechen.«

Ihm war klar, dass sie recht hatte. Er verteidigte Einbrecher und durfte sich nicht zu sehr darüber wundern, dass einer von ihnen der Kanzlei einen Besuch abgestattet hatte.

»Vergiss es, Charlie, ich kümmere mich darum«, sagte sie. »Hier sind die Akten, die du zum Gericht mitnehmen musst.« Sie reichte ihm zwei blaue Schnellhefter.

»Und was hast du gesagt, was du zu tun hast?«

Sie blickte ihn einen Moment an, als hätte sie ihm etwas zu sagen, doch dann seufzte sie. »Ich kümmere mich um den Schlamassel hier und habe dann Papierkram zu erledigen. Rechnungen und so weiter. Außerdem erwarte ich einen Mandanten, der selbst für seinen Rechtsbeistand zahlt.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Den kannst du behalten. Diese Typen verlangen zu viel für ihr Geld.«

»Du solltest solche Mandanten mehr zu schätzen wissen. Sie zahlen dreimal mehr, als du bei den Rechtshilfe-Jobs verdienst. Und sie durchwühlen nicht meine Handtasche, wenn ich sie mal kurz im Büro allein lasse.«

Charlie musste sich nicht von ihr über sein Geschäft belehren lassen. Er machte den Job länger als sie. Sie konnte ihm nur etwas erzählen, das er bereits wusste, aber nicht hören wollte.

Er sah sie an. Sie wirkte abgelenkt. Wenn sie ihn nicht finster anschaute, wirkte ihr Blick, als wäre sie in Gedanken woanders.

»Alles in Ordnung«, fragte er.

Sie blickte zu ihm auf. Irgendwie wirkte sie dünnhäutig, was nicht häufig vorkam bei Amelia. Allenfalls gelegentlich, wenn sie zu viel getrunken oder über Geld geredet hatten. Oder darüber, dass nicht genug davon in der Kasse war. Amelias Verhalten war in der Regel kühl und geschäftsmäßig. Aber man konnte auch Spaß mit ihr haben, wenn der Wein floss und die richtige Musik lief. Doch heute wirkte ihr Blick anders als sonst. Aber es war schnell wieder vorbei. Sie schüttelte den Kopf und lächelte dann. »Mir geht’s gut.«

»Wer ist die junge Frau da draußen?«

»Sie heißt Donia. Sie wird bald ihr Jurastudium beginnen und will vorher ein Praktikum machen. Ich habe gedacht, du solltest sie zum Gericht mitnehmen.«

Er rollte die Augen. Na super. Jetzt sollte er auch noch den Babysitter spielen. Das war Amelias Vorstellung vom Geschäft. Man ließ Studenten für nichts arbeiten, die sich Hoffnungen auf ein späteres Jobangebot machten, auf das sie allerdings vergeblich warten würden.

»Sie kommt extra aus Leeds«, flüsterte Amelia, weil die Tür offen stand. »Sie hat sogar irgendwo für die Woche eine Unterkunft gemietet. Sei nett zu ihr.«

Er machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Als er an Donia vorbeikam, blickte sie auf, als erwartete sie, dass er stehen blieb, doch er ging weiter. Es war überflüssig, freundlich zu sein. Falls sie auf einen Vertrag für ein bezahltes Praktikum hoffte, wartete eine Enttäuschung auf sie.

Als er sein Büro betrat, war er überrascht. Es war unordentlich, aber so hatte er es zurückgelassen. Er steckte den Kopf durch die Tür. »Warum nur dein Büro?«, rief er in Amelias Richtung.

»Du kannst ja fragen, wenn wir jemals herausfinden, wer es war.«

Charlie zuckte die Achseln und schloss die Tür. Er warf die Akten auf den Schreibtisch, ließ sich in den alten weinroten Sessel mit den Kaffeeflecken auf den Armlehnen fallen und legte die Füße hoch.

Aus seinem Büro im vorderen Teil des Hauses hatte man einen Blick auf die Straße mit dem alten Kopfsteinpflaster. Er war nicht spektakulär, aber er schaute oft hinaus und fand es tröstlich nach Amelias Schroffheit. Der ramponierte alte Schreibtisch stand dem Fenster gegenüber. Darauf standen, neben einem Stapel von Akten, um die er sich kümmern musste, einige Kaffeetassen, die er nie zum Spülen in die Küche zurückgebracht hatte.

Amelia hasste die Räumlichkeiten, aber er wollte nicht ausziehen.

Er blickte aus dem Fenster. So also sieht die Lage aus, dachte er. Eine neue Woche, wieder die elende Plackerei mit den Routinefällen vor Gericht. Die Woche wird enden, und dann wird sich alles aufs Neue wiederholen. Ein Samstagabend mit zu viel Alkohol, und den Sonntag würde er damit verbringen, sich zu fragen, was er am Vorabend so alles geredet hatte. Er sah eine alte Frau mit krummem Rücken den Hügel hochsteigen, als hätte sie den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, Hügel zu erklimmen, die zu steil waren, um darauf zu wohnen. So war das Leben in Oulton. Mühsam. Es war zu kalt. Die Stadt war zu abgeschieden. Sie verlor Einwohner, tat aber nichts gegen den Niedergang. Sie starb einen langsamen Tod. Immer mehr geschlossene Geschäfte und zugenagelte Fenster. Ein Grund mehr für viele, nach unten ins Tal zu ziehen und nicht mehr zurückzukommen.

Während er aus dem Fenster blickte, fiel ihm etwas weiter unten an der Straße etwas auf.

Es war dieselbe Gruppe junger Menschen, die er vor dem Café gesehen hatte. Sie waren alle um die zwanzig, trugen sämtlich schwarze Kleidung und hatten auch ihr langes Haar schwarz gefärbt. Bleiche Gesichter, Piercings. Einer von ihnen hielt eine Gitarre in den Händen. Er wirkte älter als die anderen. Sein Haar war dunkel, aber nicht pechschwarz, die Kleidung etwas heller. Dreckiger Jeansstoff. Die anderen umringten ihn, während sie gingen, und die meisten schienen zu lächeln.

Sie mussten bemerkt haben, dass Charlie sie beobachtete, denn sie blickten nach oben, als sie unter seinem Fenster vorbeikamen. Der etwas ältere Mann nickte ihm zu, und Charlie glaubte, dass auch er lächelte.

Kapitel 5

John Abbott blinzelte, als er die Augen öffnete. Es war kein strahlender Tag. Draußen war es grau. Vor dem Fenster hingen keine Vorhänge oder Jalousien. Es war später als gewöhnlich, denn normalerweise standen sie mit der Morgendämmerung auf, aber am letzten Abend war es spät geworden.

Als seine Augen sich an das Tageslicht gewöhnt hatten, blickte er erneut zum Fenster hinüber. Aus anderen Zimmern hörte er Geräusche, aber er wollte noch nicht aufstehen.

Gemma bewegte sich. Er fühlte ihren warmen Körper an seinem, ihr Arm lag über seiner Brust. Er musste an die vergangene Nacht denken und zog eine Grimasse. Es hätte nicht passieren sollen. Sie war erregbarer als gewöhnlich gewesen und hatte sich erneut ihn ausgesucht. Er hätte Nein sagen, hätte sagen können, es sei nicht richtig, hätte sich eine Ausrede einfallen lassen können. Aber er hatte es nicht getan. Er gab jedes Mal nach. Es lag daran, wie sie ihn anlächelte, süß, scheu, mit großen Augen. Und daran, wie sie die Hand vor den Mund hielt, wenn sie kicherte.

Doch es steckte mehr dahinter. Er hatte die Nähe und ihre Wärme gebraucht. Aber jetzt, im unbarmherzigen Morgenlicht, war ihm klar, dass er es nicht hätte tun sollen.

Sie schob ein Bein über seinen Körper, und er stieß es weg. Die Geräusche im Haus wurden lauter, und deshalb wusste er, dass er aufstehen musste. Er schob ihre Hand von seiner Brust und stieg aus dem Bett, wenn man eine auf dem Boden liegende Matratze mit ein paar Decken so nennen wollte. Nur ein alter Teppich verhinderte, dass seine Füße den kalten Holzboden berührten. Er blickte auf sie hinab. Die Decken waren von ihrem Körper gerutscht. Er schüttelte den Kopf. Gemma war zu jung. Ihre Schultern waren schmal und knochig, ihre Haut war blass und mit Sommersprossen übersät. Ihr Gesicht war zu unschuldig für das, was in der letzten Nacht passiert war. Ihre Nase war klein. Braune Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht.

John schlurfte zum Fenster und blickte nach draußen. Er war nackt, doch es schien egal zu sein, ob ihn jemand von draußen sah. Die Aussicht beruhigte ihn. Sie lebten auf einem Hügel über einem langen Abhang. In dem darunter liegenden Tal war es neblig. Farnkraut, Stechginster, ein paar Baumgruppen, Schafe. Er liebte die Abgeschiedenheit, das Leben auf dem Land, wo sich seit Jahrhunderten nichts geändert zu haben schien. Die Schornsteine der Reihenhäuser in einem anderen Tal waren von hier aus nicht zu sehen. Er blickte auf die Seven Sisters, die Überbleibsel eines Steinkreises auf der Weide vor dem Bauernhof, ein grauer Halbmond aus sieben steinernen Fingern.

In dem alten Bauernhaus schliefen sie zu fünft in einem Zimmer. Der Raum, in dem er sich jetzt mit Gemma aufhielt, war die Ausnahme, wenn man einmal von Henrys Zimmer absah, der dort allein schlief. Der Besitzer des Bauernhofes schlief in einem Zimmer im Erdgeschoss. John dachte nicht gern daran, weil der alte Mann vernachlässigt wurde. Er war zu gebrechlich, um allein klarzukommen.

Hinter sich hörte er ein Geräusch. Er wandte sich um. Gemma hatte sich aufgesetzt und lächelte ihn an. Er ging los, weil er glaubte, seine Scham bedecken zu müssen, doch sie lachte nur.

»Jetzt ist es zu spät für Schamgefühle«, sagte sie leise. »Nichts Schönes kann falsch sein, du weißt es. Henry hat es gesagt.«

»Ich weiß, aber ...« Er zuckte die Achseln.

Sie kramte in ihrer neben der Matratze stehenden Handtasche, zog einen Joint heraus und zündete ihn an. Der süßliche Duft von Marihuana stieg ihm in die Nase. Sie inhalierte tief, musste husten und lächelte dann. Der erste Zug des Tages war immer der schlimmste. Sie streckte ihm den Spliff entgegen. »Nur zu, Babe. Vergiss deine Sorgen.«

Er zögerte.

»Komm schon, es ist in Ordnung«, sagte sie.

John trat zu ihr, nahm ihr den Joint aus der Hand, drehte ihn zwischen den Fingern und betrachtete die glühende Spitze, wo die Asche sich grau färbte. Er nahm vorsichtig einen Zug und musste ebenfalls husten, als er inhalierte.

Sie lachte. »Ich dachte, du würdest dich daran gewöhnen«, sagte sie, bevor sie sich wieder auf den Rücken fallen ließ.

»Wie alt bist du?«, fragte er. Seine Augen tränten von dem Hustenanfall.

Gemma hob einen Zeigefinger. »Ich hab doch gesagt, dass zu viel Neugier einem den Spaß verdirbt.«

»Für mich ist es trotzdem wichtig.«

»Aber warum?«

»Wegen dem, was wir letzte Nacht getan haben.«

»Du hast noch eine Menge zu lernen«, sagte sie kopfschüttelnd. »Für dich gelten die alten Regeln nicht mehr. Freiheit. Denk immer daran, John. Nur darum geht es hier bei uns. Hast du nicht gehört, was Henry gesagt hat? Die gesellschaftlichen Konventionen wollen uns vorschreiben, was wir tun dürfen und was nicht, aber wir sind nicht mehr Teil dieser Gesellschaft. Wir sind unabhängige, freie Menschen.« Sie stützte sich auf die Ellbogen, mit dem Kinn in den Händen. »Hat es dir keinen Spaß gemacht?«

John blickte auf ihren nackten Körper, ihren Rücken, den knackigen Hintern. Er dachte an die letzte Nacht. »Ja, ich habe es genossen«, sagte er errötend.

Sie kicherte. »Ich weiß.«

Er zog noch einmal an dem Joint und gab ihn ihr zurück. Sie nahm ihn lächelnd, und als sie inhalierte, war ihr Gesicht von einer Rauchwolke eingehüllt. Da war es wieder, dieses ungute Gefühl. Etwas an ihr war noch zu kindlich.

»Wo ist Henry gestern Abend hingegangen?«, fragte er.

Sie antwortete nicht sofort, weil sie den Rauch in ihren Lungen hielt. Dann blies sie ihn aus und fragte lächelnd: »Warum willst du das wissen?«

»Henry ist ausgegangen, und er geht oft aus. Es irritiert mich, das ist alles. Von mir verlangt er, dass ich für ihn, für unsere Gruppe alles aufgebe, aber gibt er alles für mich auf?«

Gemma setzte sich auf, und jetzt war ihre Miene ernst. »Du weißt, dass etwas geplant ist. Er muss die Dinge arrangieren und Leute treffen.«

»Aber er könnte anrufen oder eine E-Mail schicken.«

»Ist dir noch nicht aufgefallen, dass wir keine Telefone und keinen Computer haben? Sie könnten herausfinden, wo wir uns aufhalten, und Gespräche abhören. Er hat es dir gesagt. Hast du es nicht verstanden?«

»Natürlich habe ich es verstanden. Ich habe mir nur gedacht, es müsste einen besseren Weg geben, die Dinge zu organisieren.«

Gemma runzelte die Stirn. »Du stellst eine Menge Fragen.«

Er antwortete nicht sofort. »Ich bin nur neugierig, das ist alles«, sagte er dann.

Gemma blickte ihn ernst an. »Und wie alt bist du? Dreißig?«

»Fünfundzwanzig. Mein Gesicht wirkt älter.«

»Ich mag dein Gesicht«, sagte sie leise. »Komm zu mir.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass wir es noch mal tun sollten. Ich höre die anderen nebenan.«

»Henry hat gesagt, ich soll dich glücklich machen.« Sie kicherte und hielt eine Hand vor den Mund. »Ich sehe, dass du glücklich bist.« Sie spreizte die Beine. Ihre Hüften waren mager und schmal.

John schloss für einen Augenblick die Augen und versuchte, nicht an die letzte Nacht zu denken.

»Muss Henry immer alles genehmigen?«, fragte er, als er die Augen wieder öffnete. »Wie können wir frei sein, wenn wir seine Zustimmung brauchen?«

»Stellst du Henrys Entscheidungen in Frage?«

Er schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich das nie tun würde.«

»Wir müssen für unsere Freiheit kämpfen«, sagte Gemma. »Daran glaubst du doch, oder? Wir bereiten etwas Großes vor, das alle aufhorchen lassen wird. Wenn du nicht daran glaubst ... Nun, dann ist es sinnlos.«

Er atmete tief durch. »Ich glaube an uns.«

»Dann komm zurück ins Bett. Wenn Henry entscheidet, dass es nicht mehr passieren darf, ist es vorbei, und ich möchte das nicht, weil ich dich glücklich machen will. Und du möchtest doch sicher auch Henry glücklich machen, oder?«

Er nickte. »Ja«, antwortete er kleinlaut.

Er legte sich wieder zu ihr ins Bett. Gemma schlang die Arme um seinen Rücken und presste sich fest an ihn. Er wurde schwach und schloss die Augen.

Kapitel 6

Sheldons Herzschlag beschleunigte sich wieder, als er die Treppe vor dem Redaktionsgebäude des Lancashire Express hinaufeilte, dicht gefolgt von Tracey Peters und einem Mann von der Spurensicherung. An einer Ecke des Gebäudes stand eine Polizistin in einer reflektierenden grünen Jacke, ein Stück weiter, an einer niedrigen Mauer, hatten sich ein paar Leute versammelt.

Die Zeitung residierte in einem großen alten Gebäude an der Straße, die ins Tal hinabführte. Sie berichtete über die Ereignisse in den Städten und Dörfern an der Grenze zu Yorkshire, über Gerichtsverhandlungen und Sitzungen des Stadtrats, über Autounfälle und Sommerfeste. Als Lückenfüller dienten Texte, die aus dem Internet gezogen wurden. Wenn es in Oulton, dem Sitz der Zeitung, eine große Story gab, wurde diese so lange ausgequetscht, wie die Leute Interesse zeigten, und manchmal noch länger.

Als Sheldon sich der großen hölzernen Eingangstür näherte, trat ihm jemand in den Weg. Er erkannte Jim Kelly, den Chefredakteur der Nachrichtenabteilung. Er war Mitte fünfzig und roch nach Zigaretten. Sein Äußeres entsprach ganz dem Klischeebild eines Journalisten, von dem fleckigen Blazer bis zu der zerknitterten Kordhose.

»Ich hatte gehofft, dass Sie kommen würden, Inspector Brown«, sagte Kelly, während er sein fettiges Haar zurückstrich.

Sheldon blieb stehen. In der Vergangenheit hatte die Presse ihn nicht besonders gut behandelt, besonders der Express nicht. »Ich hoffe, das ist kein Trick, um eine Information aus mir herauszuholen.«

Kelly lächelte. »Sie werden Ihren Besuch nicht bereuen. Folgen Sie mir.« Er eilte los, und Sheldon hatte Mühe, ihm zu folgen.

»Wo Sie schon mal hier sind, Inspector Brown«, sagte er über die Schulter. »Haben Sie irgendwas, das ich drucken kann?«

Sheldon antwortete nicht. Die Polizei war immer nur schlecht weggekommen in Kellys Artikeln. Er hatte nicht vor, ihm einen Gefallen zu zun.

Kelly zuckte die Achseln und ging weiter. Sheldon glaubte den Anflug eines Lächelns zu erkennen.

In dem Redaktionsbüro war niemand mehr. Schreibtische, Computer, an den Wänden gerahmte Titelseiten. Die Stühle waren von den Schreibtischen zurückgezogen, ganz so, als hätten die Mitarbeiter schnell den Raum verlassen. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Die Decken waren hoch und gewölbt. Das Gebäude war früher eine Kapelle der Methodisten gewesen und vor fünf Jahren umgebaut worden.

Kelly musste bemerkt haben, dass Sheldon das leere Büro aufgefallen war. »Wir haben uns gesagt, dass sie besser draußen warten sollten, bis Sie hier fertig sind«, sagte er. Er zeigte auf einen Schreibtisch ganz im hinteren Teil des Redaktionsbüros, von dem aus man alles im Blick hatte. Darauf lag eine weiße Schachtel, wie für einen Kuchen. »Die wurde am Empfang in einer Plastiktüte abgegeben.«

»Von wem?«

»Keine Ahnung. Bei uns ist der Empfang nicht immer besetzt. Soweit ich weiß, wurde die Schachtel einfach auf dem Schreibtisch zurückgelassen.«

Tracey näherte sich als Erste dem Schreibtisch, ließ aber dann dem Mann von der Spurensicherung den Vortritt, damit der ein paar Fotos schießen konnte. Als er fertig war, machte er Tracey Platz.

»Da steht was drauf«, sagte sie.

Sheldon blickte Kelly an, und der nickte. »Das Gesicht der Gier. Wenn das keine großartige Schlagzeile ist.«

»Haben Sie die Schachtel geöffnet?«, fragte Sheldon. Sein Mund wurde trocken, während er darüber nachdachte, was sich in der Schachtel befinden mochte.

»Ich hatte ja keine Ahnung, was da drin sein könnte«, sagte Kelly defensiv.

Der Kriminaltechniker reichte Sheldon eine Papiermaske und eine Haube für sein Haar. Sheldon setzte sie auf, näherte sich der Schachtel und streifte Latex-Handschuhe über. Tracey trat einen Schritt zur Seite. Er packte die Ecken der Schachtel. Schweiß sickerte ihm in die Augen, als er langsam den Deckel hob.

Als er sah, was sich in der Schachtel befand, musste er ein paarmal tief durchatmen, um sich zu beruhigen. Er würgte und biss die Zähne zusammen, musste darum kämpfen, nicht die Selbstkontrolle zu verlieren. Er blickte den Journalisten an.

»Ich habe die ersten zehn Jahre meiner beruflichen Laufbahn damit verbracht, Fotos von Unfallopfern zu schießen«, sagte Kelly. »Mir machen diese Dinge nichts aus.«

Sheldon warf ihm einen finsteren Blick zu und schloss die Augen, um sich auf den nächsten Blick in die Schachtel vorzubereiten. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Er zählte bis drei und öffnete die Lider.

Weißliches Hautgewebe, größtenteils dunkelrot verschmiert. In der Mitte, eingeschmiegt in das Papier, ein Gesicht, eigentlich eher eine groteske Maske. Die Ränder waren glatt, als hätte man das Gesicht mit dem sauberen Schnitt eines sehr scharfen Messers entfernt, doch Sheldon sah die zerfaserten Fetzen von Fleisch und Muskeln am unteren Ende. Es sah so aus, als hätte jemand mit den Fingern zugepackt und das Gesicht mit einem Ruck weggezogen.

Doch es war nicht nur der Anblick des Gesichts, der Sheldons Puls rasen und ihm den Schweiß ausbrechen ließ. Es war das Gefühl, dass er zu wissen glaubte, wem dieses Gesicht gehört hatte, selbst wenn es jetzt formlos war, nachdem man es von den Knochen heruntergerissen hatte.

Er dachte an die Leiche auf dem Hotelbett. Es war schwer gewesen, das Alter des Toten zu schätzen. Die Tätowierungen hatten ihn vielleicht jünger erscheinen lassen. Maori-Tattoos auf den Schultern und Oberarmen. Aber der Körper hatte älter gewirkt, bleich und aufgedunsen.

Das Gesicht in der Schachtel beantwortete diese Frage; schlaffe Haut, ein kleines Soulpatch am Kinn.

Sheldon spürte, dass seine Knie nachzugeben drohten. Er konnte es nicht sein. Jim Kelly sagte etwas, doch für ihn war es nur ein unverständliches Gemurmel.

Die Erinnerungen kamen zurück. Eine tote Frau, ein großes Haus, Schnapslachen auf dem Boden. Aber keine Gläser. Die Spülmaschine lief, doch es war niemand da. Er war durch die Zimmer gegangen, auf der Suche nach einer Antwort, warum man ihn angerufen und gesagt hatte, eine junge Frau sei tot. Dann hatte er sie gefunden, mit dem Gesicht nach unten im Swimmingpool treibend, fast auf dem Grund, nackt.

Kellys Stimme wurde lauter. Sheldon öffnete die Augen. »Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

»Bekomme ich jetzt mein Statement?«, fragte er. »Habe ich recht, dass das Billy Privett ist?«

»Scheiße«, sagte Tracey hinter ihm.

Sheldon schüttelte den Kopf. »Das kommt noch nicht in die Zeitung.«

Kelly lächelte. Sheldon vermutete, dass er selbst bereits Fotos gemacht hatte, die er zum richtigen Zeitpunkt exklusiv veröffentlichen würde.

Sheldon wandte sich um und ging Richtung Ausgang, ohne sich zu verabschieden. Ihm war klar, dass ein sehr schwieriger Tag vor ihm lag.

Kapitel 7

Meistens ging Charlie zu Fuß zum Gericht. Das gab ihm die Gelegenheit, sich über seinen Tagesablauf klar zu werden. Er überlegte, wie lange ihn jeder Fall in Anspruch nehmen würde, dachte darüber nach, was er seinen Mandanten und was den Richtern sagen würde. Heute war es allerdings nicht die übliche Routine, denn Donia war bei ihm. Er hörte das Klackern ihrer Absätze, und es kam ihm so vor, als würde er dadurch die Nachwirkungen des Katers abschütteln und wieder einen klaren Kopf bekommen. Aber es nervte.

»Sie sind nicht gerade gesprächig«, sagte Donia mit leicht bebender Stimme, als sie das Gerichtsgebäude fast erreicht hatten.

Für einen Augenblick dachte er darüber nach. Sie schaute ihn erwartungsvoll an. Er blieb stehen, sie auch. Wenigstens ließ es das Klackern ihrer Absätze verstummen.

»Ich habe meine Gewohnheiten«, sagte er. »Ich mache diesen Job schon lange, und eine meiner Gewohnheiten ist ein gemütlicher Gang zum Gericht. Daran habe ich mich gerade gehalten.«

»Okay, entschuldigen Sie bitte.« Er empfand ein Schuldgefühl, als er sie erröten sah. »Glauben Sie, dass die Polizei die Einbrecher fassen wird, die in Ihre Praxis eingedrungen sind?«

Ihre Naivität ließ ihn lächeln. »Wir haben die Polizei nicht benachrichtigt«, sagte er. »Sie würden sich sowieso nicht richtig darum kümmern, besonders jetzt nicht, wo es in der Stadt einen Mord gegeben hat. Ein Einbruch in die Praxis eines Strafverteidigers ist für sie keine große Sache, und was ist, wenn es einer meiner Mandanten war? Sich auf die Seite der Polizei zu schlagen wäre nicht gut fürs Geschäft.«

»Also werden Sie es einfach ignorieren?«

»Es ist sinnlos zu versuchen, die Dinge ändern zu wollen.« Er ging weiter. »Was erwarten Sie von dieser Woche?«, fragte er, als er das Klackern der Absätze wieder hörte.

Sie schien sich lange Zeit zu nehmen, um darüber nachzudenken. »Ich möchte einfach nur mehr über die Arbeit eines Rechtsanwalts erfahren.«

»Warum Jura? Haben Sie einen Studienplatz?«

»Ja, in Manchester«, antwortete Donia. »Ich wollte aber erst ein Praktikum machen.«

»Und da haben Sie sich gedacht, meine kleine Praxis könnte Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, worum es geht?« Er musste lachen. »Sehen Sie es so: Wie immer Ihre Zukunft als Juristin aussehen wird, diese Woche wird Ihnen zeigen, wie es in diesem Leben zugeht.«

»Was soll das heißen?«

»Kein Geld und kein Spaß.«

»Denken Sie immer so?«

Er blickte sie an, und für einen Augenblick verfinsterte sich seine Stimmung. Nein, er hatte nicht immer so gedacht, aber die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie er es sich erhofft hatte.

Dann fiel ihm etwas an ihrem Blick auf. War sie ihm böse? Er machte ihre künftige Laufbahn schlecht, noch bevor sie begonnen hatte. Und dabei hatte er vor vielen Jahren dieselben Entscheidungen getroffen wie sie.

»Es tut mir leid«, sagte er. Dann lächelte er. »Versuchen Sie die Woche zu genießen. Vielleicht machen Sie ja mehr aus Ihrem Leben als ich.«