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Sophia Farago

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Beschreibung

Lady Vivian Barnett, die dritte Tochter der Viscountess of Panswick, eine willensstarke, stürmische junge Dame, freut sich auf ihre erste Saison in London. Dort will sie sich einen reifen, weisen Ehemann suchen, der sie dabei unterstützen soll, die Rechte und die Ausbildung adeliger Mädchen zu verbessern. Als Justin Rawling nach dem Tod seines verhassten Vaters und seines älteren Bruders überraschend den Titel eines Viscounts of Badwell erbt, beschließt er, nicht auch die dazugehörigen Pflichten zu übernehmen. Er vergnügt sich lieber am Spieltisch, bei Alkohol und in den Betten verheirateter Frauen. Da fällt eines stürmischen Abends im März 1814 Vivian vom Pferd, Badwell vor die Füße und damit mitten hinein in sein Leben. Der Sturm verhindert ein Weiterreiten. Die beiden verbringen die Nacht gemeinsam in einer Fischerhütte und tauschen die ersten Küsse. Sie hatten sich einander nicht vorgestellt und rechnen nicht damit, sich je im Leben wiederzusehen. Als sie sich kurz darauf doch wieder begegnen, stehen sie vor einem Traualtar …

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Kurzbeschreibung:

Lady Vivian Barnett, die dritte Tochter der Viscountess of Panswick, eine willensstarke, stürmische junge Lady, freut sich auf ihre erste Saison in London. Dort will sie sich einen reifen, weisen Ehemann suchen, der sie dabei unterstützen soll, die Rechte und die Ausbildung adeliger Mädchen zu verbessern. 

Als Justin Rawling nach dem Tod seines verhassten Vaters und seines älteren Bruders überraschend den Titel eines Viscounts of Badwell erbt, beschließt er, nicht auch die dazugehörigen Pflichten zu übernehmen. Er vergnügt sich lieber am Spieltisch, bei Alkohol und in den Betten verheirateter Frauen. 

Da fällt eines stürmischen Abends im März 1814 Vivian vom Pferd, Badwell vor die Füße und damit mitten hinein in sein Leben. Der Sturm verhindert ein Weiterreiten. Die beiden verbringen die Nacht gemeinsam in einer Fischerhütte und tauschen die ersten Küsse. Sie hatten sich einander nicht vorgestellt und rechnen nicht damit, sich je im Leben wiederzusehen. Als sie sich kurz darauf doch wieder begegnen, stehen sie vor einem Traualtar …

Sophia Farago

Die stürmische Braut

Lancroft-Abbey-Reihe Band 3

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2017 by Sophia Farago

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Martha Wilhelm

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-775-2

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Die Lancroft-Abbey-Reihe

Band 3

Die Familiengeschichte von Lancroft Abbey und eine Liste der wichtigsten Personen und Begriffe finden sich im Anhang.

Kapitel 1

Landsitz des Barons of Glostershire, Südengland Anfang März 1814

Justin Rawling, der fünfte Viscount of Badwell, strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht und setzte sich dann vorsichtig auf, bemüht, die Lady zu seiner Linken nicht aufzuwecken. Die Dämmerung hatte sich bereits über die ebene Landschaft südlich von Swindon gelegt. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass es wieder leicht zu schneien begonnen hatte. Eine dünne weiße Decke legte sich über den Rasen der weitläufigen Parkanlage rund um das schlossähnliche Gebäude. Sie würde den Tag etwas länger erhellen und dennoch musste er sich beeilen, wollte er seinen eigenen Landsitz noch vor Einbruch der vollkommenen Dunkelheit erreichen. Die braunen Beinkleider lagen auf dem Lehnsessel neben dem Nachttisch, und er gratulierte sich dazu, sie einer Eingebung zufolge so günstig platziert zu haben. Das mit weinroter Seide bespannte Himmelbett zu verlassen und danach zu greifen war eins. Die Rosshaarmatratze gab ein knirschendes Geräusch von sich.

Oh Gott, hoffentlich wacht sie nicht auf!, dachte er, hielt die Luft an und warf einen schnellen Blick über die Schulter. Er hatte keine Lust auf Vorwürfe, schon gar nicht, da er wusste, dass sie ihm zu Recht gemacht werden würden. Und nach Tränen hatte er noch weniger Verlangen. Bitte, bitte keine Tränen! Er hatte sich diese Minuten ganz anders vorgestellt gehabt. In seinen Tagträumen war er mit höhnischem Grinsen an ihr Bett getreten, hatte sich in voller Größe vor Ihrer Ladyschaft aufgerichtet und ihr all die zynischen Worte entgegengeschleudert, an denen er in den letzten Jahren immer dann gefeilt hatte, wenn er es nicht hatte verhindern können, an sie zu denken. Doch jetzt wäre er am liebsten einfach gegangen. So sang- und klanglos verschwunden, dass sie sich am kommenden Morgen fragen würde, ob er überhaupt da gewesen war oder ob sie das Ganze nur geträumt hatte. Diesen Spätnachmittag im Bett mit einem Mann, der nicht ihr eigener war. Der so viel jünger, kräftiger und vitaler war als ihr Gatte.

Während Badwell in sein gestärktes weißes Hemd schlüpfte, fragte er sich stirnrunzelnd, ob sie ihr Beisammensein wohl genossen hatte. Er war sich dessen nicht sicher. Sie hatte kaum einen Laut von sich gegeben und war stocksteif dagelegen, so als würde sie alles nur gottergeben über sich ergehen lassen. Als er schließlich zumindest körperlich befriedigt von ihr herabgerollt war, hatte sie allerdings ein „So wunderbar kann es also sein. Ich danke Ihnen!“ gemurmelt. Während er noch fassungslos die Augen aufgerissen und sich gefragt hatte, ob er sich nicht vielleicht doch verhört hatte, war sie auch schon in einen tiefen Schlaf gefallen.

Was, so fragte er sich jetzt, musste sich in ihrem ehelichen Gemach abspielen, wenn sie diesen lieblosen, völlig mechanischen Akt bereits als wunderbar bezeichnete?

Er hörte in sich hinein, während er sich die hohen Stiefel schnappte. Hatte ihm dieser Nachmittag die Genugtuung verschafft, die er erwartet hatte? War er das Risiko wert gewesen? Wusste sie nun, welche Freuden ihr dadurch entgangen waren, dass sie ihn vor Jahren so kalt zurückgewiesen hatte? Würde sie das in Zukunft Tag für Tag bereuen? Badwell seufzte. Oh Gott, wie sehr hatte er damals darunter gelitten, dass sie ihn nicht zum Gatten nehmen wollte! Er erinnerte sich an jede Einzelheit des fatalen Gesprächs, so gut, als wäre es erst gestern gewesen.

Mit stolzgeschwellter Brust und ohne jeden Zweifel darüber, dass sein Vorhaben zu einem guten Ende führen würde, hatte er vor knapp vier Jahren das Haus ihres Vaters am Londoner Bruton Place betreten. Am Vorabend hatte sie am Ball von Lady Darlington dreimal mit ihm getanzt, und jedes Mitglied der Gesellschaft wusste, dass das nur die bevorstehende Verlobung bedeuten konnte. Die Blicke, die sie ihm dabei zugeworfen hatte, waren so verheißungsvoll gewesen, dass es nichts misszuverstehen gab. Sie hatte sich von ihm sogar zu einer Bank am Rand des Ballsaals führen lassen und mit Freuden das Glas Limonade entgegengenommen, das er ihr reichte. Wenn er sprach, dann schenkte sie ihm ihre volle Aufmerksamkeit, hörte mit leicht geöffneten Lippen zu und fand alles, was er erzählte, bewundernswert. Natürlich war es ihm auch eine diebische Freude gewesen zu sehen, wie der Baron of Glostershire ihr Gespräch vom Rand des Saales aus mit Argusaugen verfolgte und seine Eifersucht kaum zu zügeln wusste. Es war unübersehbar, dass dieser Gentleman ebenfalls ein Auge auf die schöne Lady Babette geworfen hatte. Und immerhin war er ein Baron, ihm also nicht nur im Alter, sondern, da er damals nur der zweite Sohn eines Viscounts war, auch an Stand und Vermögen um vieles voraus. Doch Babette hatte sich ganz offensichtlich für ihn, Justin Rawling, entschieden. Alles sprach dafür, dass sie seinen Antrag annehmen würde, er brauchte ihn ihr nur noch zu stellen. So dachte er damals zumindest, junger Narr, der er war. Als er vorsprach, um bei ihrem Vater und ihr um ihre Hand anzuhalten, erwarteten ihn beide im Salon. Der Blick, den sie einander zuwarfen, hätte ihn vielleicht warnen können, doch er schwebte so sehr in seiner Glückseligkeit und Vorfreude, dass ihm derartige Kleinigkeiten nicht auffielen. Und so gab es nichts, was ihn auf das vorbereitet hätte, was nun in diesem Salon geschah. Kaum hatte er also seinen Heiratsantrag vorgebracht und den beiden seine lauteren Absichten versichert, da waren Vater und Tochter in schallendes Gelächter ausgebrochen.

„Das kann wohl nicht Ihr Ernst sein, junger Freund“, hatte Babettes Papa gemeint und ihm mit der flachen Hand jovial auf den Rücken geschlagen. „Sie sind nichts, Sie haben nichts und Sie werden auch nie jemand sein. Wie vermessen ist es von Ihnen, anzunehmen, dass meine einzige Tochter, das schönste Mädchen dieser Saison, auch nur einen Augenblick in Erwägung ziehen könnte, sich derart wegzuwerfen?“

„Ja, aber …“, hatte sein mutiger Vorstoß gelautet, da er das Gehörte nicht glauben wollte, „Ihre Tochter schien mich zu ermutigen.“ Dann hatte er sich direkt an sie gewandt, in der Hoffnung, dass sie die Worte ihres Vaters korrigieren würde: „Meine liebe Lady Babette. Unsere Gespräche, unsere Tänze. Sie müssen doch gewusst haben, wie sehr ich Sie verehre. Ich habe aus meinen tiefen Gefühlen für Sie niemals einen Hehl gemacht …“

„Mr Rawling, mich dünkt, zu meinem großen Bedauern, dass ich Ihre Intelligenz überschätzt habe“, lautete ihre kühle Abfuhr. „Unsere Tänze dienten allein dem Zweck, den Baron dazu zu bewegen, sich mir zu erklären. Und ich kann zu meiner großen Freude verkünden, dass dies vor zwei Stunden der Fall gewesen ist. Sie dürfen mir gratulieren, Mr Rawling, ich werde in Kürze die Baronesse of Glostershire werden.“

„Aber …“, mit dem Mut des Verzweifelten hatte er einen neuen Vorstoß versuchen wollen, doch eine energische Handbewegung hieß ihn schweigen: „Verstehen Sie doch endlich, Mr Rawling, jedes weitere Wort ist überflüssig. Ich werde eine Baronesse. Glostershire macht mich zu einer der führenden Ladys des Landes. Sie hingegen haben nichts, was mich auch nur im Geringsten an Sie zu fesseln vermag.“

Die letzten Worte hatten sich für immer und ewig in seine Seele eingebrannt. Er hatte sich verbeugt, mit knappen Worten verabschiedet und, so rasch er konnte, das Weite gesucht, nicht sicher, ob er diese Schmach und das tiefe Unglück überleben würde. Nach drei durchwachten Nächten, in denen er vergeblich versucht hatte, seinen Kummer in Alkohol zu ertränken, und die schrecklichsten Rachepläne geschmiedet und wieder verworfen hatte, hatte er einen stattlichen Betrag jenes Vermögens, das ihm seine Mutter hinterlassen hatte, von der Bank abgehoben und sich ein Offizierspatent gekauft. Dass sein Vater den Plan, auf dem Kontinent für König und Vaterland zu kämpfen, nicht im Geringsten gutgeheißen hatte und wütete und tobte, hatte ihm den Abschied noch um einiges leichter gemacht.

„Sie sind schon wach?“ Eine verschlafene Stimme vom Bett her holte ihn in die Gegenwart zurück.

Badwell presste die Lippen aufeinander. Verdammt, dachte er, warum musste ich mir auch diese alte Geschichte wieder in Erinnerung rufen? Ich hätte das Zimmer längst verlassen können, wenn ich nicht so lange getrödelt hätte.

Mit energischem Griff zog er den ersten Stiefel über seine muskulöse Wade. Dann den zweiten. Er schwieg. Was sagte man denn auch am besten in so einer Situation?

„Wollen Sie mich denn schon verlassen, Geliebter?“, hörte er sie fragen.

Jetzt konnte sich Badwell ein lautes Aufstöhnen nicht verkneifen. Wie hatte sie ihn genannt? Geliebter? Wie um alles in der Welt kam sie bloß auf die Idee, ihn so zu bezeichnen? Das klang in seinen Ohren viel zu intim, völlig unangebracht nach dem kurzen, lieblosen Beisammensein. Er wandte sich zu ihr um, noch immer zögernd, wie er sich am besten aus der Affäre ziehen sollte. Warum bloß kamen ihm die Worte, die er ihr eigentlich hatte entgegenschleudern wollen, nicht über die Lippen? Warum bloß hatte er plötzlich Skrupel?

Babette hatte sich aufgesetzt und blickte ihm, in großen, bestickten Kissen lehnend, erwartungsvoll entgegen.

Badwell seufzte erneut. Hatte sie den verbitterten Zug um den Mund immer schon gehabt?, fragte er sich im Stillen. Was nur hatte er an diesem Gesicht einst so anziehend gefunden? Wie hatte er nur glauben können, ohne diese Frau nicht leben zu können? Ganz in Gedanken versunken, beugte er sich vor, um ihr eine blonde Locke aus dem Gesicht zu streichen.

Sie fing die Hand ab und zog sie an ihre Lippen.

„Oh, mein Geliebter“, flüsterte sie abermals, ließ ein gurrendes Lachen hören und begann dann seinen Handrücken mit kleinen, schmatzenden Küssen zu bedecken.

Er riss die Hand weg und beeilte sich, sie hinter seinem Rücken am Reitrock abzuwischen und sie dort dann zur Sicherheit auch zu belassen. Ihre Liebesbezeugungen waren ihm in höchstem Maße unangenehm. Sie war eine fremde Frau. Eine fremde Frau, die er nicht mehr im Geringsten begehrenswert fand. Ja, im Gegenteil, sie interessierte ihn so wenig, dass sogar die Rachegelüste, die in den letzten Jahren seine ständigen Begleiter gewesen waren, vollkommen verschwunden waren.

Er stand auf und bewegte sich langsam auf die Zimmertür zu, ohne sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Wie er gefürchtet hatte, kam nun Leben in Ihre Ladyschaft. Der schmeichelnde, gurrende Tonfall verschwand und machte der Stimmlage einer Frau Platz, die es gewöhnt war, zu befehlen und das zu bekommen, was ihren Wünschen entsprach.

„Sie bleiben sofort stehen, Sir, und sagen endlich etwas. Ihr feiges Schweigen ist fehl am Platze. Sie werden doch nicht annehmen, dass ich Sie so einfach davonschleichen lasse. Ich werde meinem Gemahl erst in ein paar Tage nach London folgen. Es gibt nichts, was uns beide daran hindern sollte, diese Zeit miteinander zu verbringen. Meine Dienerschaft ist diskret und mir sehr gewogen, wie ich Ihnen versichern möchte.“

„Wie angenehm für Sie, Mylady“, lautete seine Erwiderung, und er merkte selbst, wie sarkastisch sie klang. Rasch schlüpfte er in seinen Reitrock und steckte die Halsbinde in die Brusttasche. Er wollte keine Zeit damit verschwenden, sie stilgerecht zu binden.

Ihre Rechte schlug mit der Faust auf die Bettdecke, sodass einige Federn in alle Richtungen stoben: „Ich verbiete Ihnen, zu gehen!“ Ihre Wangen hatten einen gefährlichen Rotton angenommen.

„Und dennoch gedenke ich genau dies zu tun“, antwortete er kühl, ging zur Zimmertür und ergriff die Klinke. Dann drehte er sich noch einmal um und sagte doch den Satz, dessentwegen er das Wagnis des Ehebruchs überhaupt auf sich genommen hatte: „Sie haben nichts, was mich auch nur im Geringsten an Sie zu fesseln vermag.“

Dann öffnete er die Tür.

„Sie sind ein … ein … Teufel!“, schrie sie ihm nach.

Er hörte die Worte, doch sie interessierten ihn nicht mehr. Seine Mission war erfüllt. Und die Bezeichnung Teufel? Die hörte er heute nicht zum ersten Mal. Wahrlich nicht.

Kapitel 2

Mrs Cliffords Institut für Höhere Töchter, östlich von Bath, in der Grafschaft Somerset Ende März 1814

„Was soll denn das heißen, Freddy kommt nicht? Sie hatte doch geschrieben, sie würde mich abholen, damit wir gemeinsam zur Hochzeit unserer Schwester Penelope nach Lancroft Abbey reisen können.“

Vivian Barnett, die junge Lady, die diese empörten Worte ausstieß, war vor wenigen Tagen achtzehn Jahre alt geworden. Sie trug ihre rotbraunen Haare zu einem festen Knoten gedreht und am Hinterkopf aufgesteckt, so wie es die Schulordnung vorschrieb. Doch sie war viel zu temperamentvoll, als dass sich nicht längst ein paar Locken gelöst hätten und sich an den Schläfen und im Nacken kringelten. Das schlichte dunkelblaue Kleid ohne jede Spitze oder Verzierung wies sie als Schülerin des Instituts aus. Die Tatsache, dass sie eine Geige in der Linken hielt, zeigte, dass man sie aus dem Musikunterricht geholt hatte, als die Schulleiterin nach ihr rufen ließ. Das Instrument hielt sie jedoch nicht davon ab, lebhaft zu gestikulieren.

Mrs Clifford thronte hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch, eine große, korpulente Gestalt mit einer riesigen blassblauen Haube auf den grau-weiß melierten Haaren. Neben ihr wirkte Miss Goodhew, die Kunstlehrerin, die in ihrem Schatten Aufstellung genommen hatte, noch um einiges schmaler als sonst. Sie knetete ihre Finger und kicherte nervös. Dem schenkte keine der beiden anderen auch nur die geringste Beachtung, denn Miss Goodhew kicherte stets nervös. Wenn sie nicht gerade sprach. Und sie sprach gern und viel. Doch in diesem Augenblick schwieg sie und überließ ihrer Vorgesetzten das Wort.

„Lady Panswick, also Ihre verehrte Frau Mama, hat uns mitgeteilt, dass Ihre Schwester Frederica, die Countess of Derryhill, unpässlich sei. Es besteht kein Grund, darüber in Empörung auszubrechen, denn …“ Weiter kam sie nicht.

„Unpässlich?“, unterbrach Vivian sie mit sichtlichem Unglauben. „Unpässlich? Was soll denn das schon wieder heißen? Freddy hat doch eine Rossnatur. Die ist nie unpässlich, es sei denn, sie wäre mit dem Gesicht voran ins Efeu gestürzt. Sie ist doch nicht etwa wirklich ins Efeu gefallen, oder, Mrs Clifford?“

„Davon ist mir nichts bekannt“, erwiderte die Schulleiterin indigniert und warf einen tadelnden Blick zu der hochgewachsenen, dürren Gestalt neben sich, die noch stärker zu kichern begonnen hatte. Dann wies sie ihre Schülerin zurecht: „Es ist völlig fehl am Platze, bei einer Dame von einer Rossnatur zu sprechen, Lady Vivian“, sagte sie streng. „Diener haben Rossnaturen. Bauern sicherlich auch. Aber eine Lady, und mehr noch eine Countess, ist von jener zarten Konstitution, die ihr ihrem Rang nach zusteht.“

Vivian staunte nicht schlecht. Es war ihr noch nie aufgefallen, dass man den Schülerinnen hier im Institut eine zarte Konstitution zugebilligt hätte. Dabei waren sie doch allesamt Töchter aus den besten Häusern.

„Tatsache ist“, fuhr Mrs Clifford fort, „dass die Kutsche heute leer eingetroffen ist und die Viscountess gebeten hat, Ihnen eine Lehrerin als Duenna für die Heimreise zur Verfügung zu stellen. Miss Goodhew hat sich freundlicherweise bereit erklärt, Sie zu begleiten. Ich hoffe, Sie wissen dieses Entgegenkommen zu schätzen“, fügte sie noch hinzu, als der fassungslose Gesichtsausdruck ihres Gegenübers Widerspruch erahnen ließ.

Die Kunstlehrerin wiederum nickte begeistert und hörte zu kichern auf. Denn nun sprach sie: „Ist das nicht ein Abenteuer, meine teure Lady Vivian? Vier Tage in einer Kutsche. Was sage ich: in einer Kutsche? Nein, das ist keine gewöhnliche Kutsche. Ich habe das Gefährt von meinem Zimmer aus gesehen. Ihre verehrte Mutter war so überaus großzügig, uns ihren Reiselandauer zur Verfügung zu stellen. Sicher ist er mit allem Komfort ausgestattet und die Federung butterweich, nicht so wie die derben Holzkarren, die wir hier in unserem … äh … ich will damit sagen, es wird eine wunderbare Reise werden. Wir werden jede Menge Spaß haben, wir beide, nicht wahr?“

Sie sah Vivian erwartungsvoll und gleichzeitig flehentlich an.

Vier Tage mit dieser Schnatterliese eingesperrt auf engstem Raum?, dachte diese jedoch entsetzt. Das überlebe ich nicht. Es musste eine andere Lösung geben, und sie brauchte auch nur einige Augenblicke, um zu wissen, welche.

„Was ist mit Miss Fellows?“, dämpfte sie die Vorfreude der vorgesehenen Anstandsdame, indem sie stattdessen ihre Lieblingslehrerin ins Spiel brachte. Nämlich die Frau, der sie nicht nur geschichtliches Wissen, sondern eine breite Palette an Lebensweisheiten verdankte. Mit der es sich so vortrefflich diskutieren ließ. Die, die sie gelehrt hatte, eine Meinung zu haben. Und sie auch immer und immer wieder ermutigte, diese auch zu vertreten. In Begleitung von Miss Fellows würden die vier Reisetage nicht nur wie im Flug vergehen, sie würden auch äußerst angenehm und unterhaltsam sein.

„Also, ich muss doch sehr bitten …“ Mrs Clifford kniff ihre dünnen Lippen zusammen und mahlte mit den Backenzähnen.

„Ich habe noch einige Fragen zur Geschichte unseres Königreichs, müssen Sie wissen, Mrs Clifford“, setzte Vivian rasch hinzu, in der Hoffnung, die Schulleiterin mit Wissbegierde zu überzeugen. „Miss Fellows könnte den Unterricht auf der Reise fortsetzen …“

Miss Goodhew war blass geworden und hatte so stark zu kichern begonnen, dass sie davon Schluckauf bekam. Der Blick, den ihr ihre Vorgesetzte zuwarf, hätte vernichtender nicht sein können.

„Es ist entschieden, Lady Vivian“, fuhr sie stattdessen ihre Schülerin an. „Die Geschichtslehrerin ist unabkömmlich.“ Sie hob energisch die Hand. „Ich will keine Widerworte hören. Und nun hinauf mit Ihnen in Ihre Kemenate! Packen Sie Ihre Koffer. Morgen nach dem Frühstück geht die Reise los. Nutzen Sie den heutigen Abend, um sich von Ihren Mitschülerinnen zu verabschieden.“

Kapitel 3

„Dabei hatte ich mich so gefreut, Freddy wiederzusehen“, schloss Vivian Barnett den Bericht über die Geschehnisse in Mrs Cliffords Büro ab und warf ihrer Freundin Kate einen Blick zu, der ihre Enttäuschung klar zum Ausdruck brachte. „Ich habe doch ohnehin selten die Gelegenheit, mit einer meiner Schwestern allein zu sein. Freddy ist so klug. Sie würde sicher wissen, wie ich meine Zukunftspläne am besten in die Tat umsetzen kann. Doch stattdessen muss ich nun die lästige Goodhew aushalten. Vier Tage lang!“ Mit einer dramatischen Geste hob sie ihre Hände zum Himmel. „Kannst du dir das vorstellen, meine Liebe? Diese vier Tage werden mir wie fünf Jahre vorkommen.“

Kate hatte sich neben den großen Schrankkoffer gesetzt, den der Hausdiener auf das gemeinsame Bett gewuchtet hatte, und seufzte. Ob sie dies tat, weil sie mit ihrer Freundin mitlitt, oder ob sie damit ausdrücken wollte, wie wenig sie von deren Zukunftsplänen hielt, wusste sie selbst nicht so genau.

Vivian hatte sich in der Zwischenzeit zu ihrem Schrank umgewandt und entnahm ihm die ersten Kleider. Viele waren es nicht, denn Mrs Clifford verlangte Bescheidenheit. Die Garderobe war ohne Ausnahme dunkelblau, schlicht und ohne jeden Zierrat. Es wurde großer Wert darauf gelegt, dass sie einfach zu reinigen war, damit das Personal der Schule keinen unnötigen Aufwand damit hatte. Eigene Zofen für die Schülerinnen, wie sie, dem Vernehmen nach, in manch anderen Anstalten erlaubt waren, waren Mrs Clifford keinen zweiten Gedanken wert. Wie sollen junge Frauen künftig einen großen Haushalt leiten, wenn sie sich nicht einmal um sich selbst kümmern können?, war ihre Devise. Wenn ihre Schützlinge erst einmal verheiratet waren, dann konnten sie sich von vorne und hinten bedienen lassen. Aber nicht vorher. Und schon gar nicht in ihrem Haus.

Kate stand auf und half, Vivians Schuhe in kleinen Baumwollsäckchen zu verstauen.

„Ich weiß, du willst es nicht mehr hören“, begann sie zögerlich, „ich muss es dennoch wiederholen. Mir wird angst und bang, wenn ich an die Pläne für deine Zukunft denke. Gibt es denn nicht doch etwas, womit ich dich umstimmen könnte? Willst du sie wirklich immer noch umsetzen?“

Ihrem Blick war unschwer zu entnehmen, dass sie inständig auf ein Nein hoffte, es aber nicht wirklich erwartete. Sie kannte Vivian. Wenn die sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann brauchte es schon schwerwiegende Argumente, um sie davon abzubringen. Und diese Argumente hatte sie nicht. Vivian stopfte das Kleid, das sie eben in der Hand gehalten hatte, achtlos in den wuchtigen Koffer und ließ sich nun ihrerseits auf das Bett fallen.

„Und ob ich das will!“, rief sie aus, und es klang trotzig. Dann sprang sie wieder auf und ergriff die Hand ihrer Freundin. „Ach, Kate, kannst du dich denn nicht in meine Lage versetzen? Ich mache das doch nicht für mich. Ich mache es für uns. Für alle adeligen Mädchen Englands.“ Sie holte weit aus, um auch diese Worte mit einer dramatischen Geste zu unterstreichen. „Wir haben keine Rechte, Kate. Müssen immer still, brav und gehorsam sein. Wenn wir Vermögen haben, dann bestimmt zuerst unser Vormund und dann unser Ehegatte, was damit zu geschehen hat. Man muss uns nicht einmal nach unserer Meinung fragen. Und beim Erbe werden wir auch übergangen. Das kannst du doch nicht gutheißen, Kate.“

Ihre Freundin zuckte mit den Schultern. „Es geht nicht darum, was ich gutheiße, Vivi. Und es geht – und nun spring mir bitte nicht gleich an die Kehle – auch nicht darum, ob du das gutheißt. Es sind die Regeln unserer Gesellschaft, denen wir uns zu unterwerfen haben, ob wir wollen oder nicht.“

„Unsinn!“, fuhr Lady Vivian auf. „Memmengeschwätz!“

Sie griff nach ihrer Haarbürste aus Schildpatt, die vor dem runden Frisierspiegel auf der Kommode lag, und schleuderte sie in den Koffer.

Kate schnappte nach Luft. „Wie ungerecht du doch manchmal bist! Dein Eifer in Ehren, aber er ist noch lange kein Grund, mich zu beleidigen.“

Natürlich bedauerte Vivian die unbedachten Worte umgehend, und sie eilte zu ihrer Freundin, um sie herzlich zu umarmen. „Ich wollte damit nicht sagen, dass du ein Feigling bist, Kate. Nichts läge mir ferner. Ich wollte damit nur sagen, dass wir mutiger sein müssen, wenn wir etwas verändern wollen. Und dass wir die richtigen Männer an unserer Seite brauchen, damit so eine Veränderung gelingt. Das ist alles.“

„Die richtigen Männer“, wiederholte Kate. „Ich kann es gar nicht erwarten, den Richtigen für mich zu finden. Wie ärgerlich, dass meine erste Saison erst nächstes Jahr stattfinden wird. Du kommst in wenigen Tagen nach London. Ach, wie sehr ich dich beneide! Und wie sehr ich dich vermissen werde, Vivi! Ich werde sehr allein sein ohne dich.“

Sie umarmte ihre Freundin und drückte sie fest an sich. Diese ließ sich das gern gefallen. Als sie sich wieder freigemacht hatte, wies sie mit der Rechten auf das Ölgemälde über dem Bett: „Aber du bist doch gar nicht allein, du hast doch Raphael.“

Kate folgte ihrem Blick und lachte: „Wie recht du doch hast, meine Liebe. Raphael wird mir ein wunderbarer Gesprächspartner sein. Er hört gut zu, ohne dazwischenzureden. Vor allem aber hat er keine Zukunftspläne, die mich erschrecken.“

Nun lachten sie beide.

Ein Gönner von Mrs Cliffords Institut war vor Jahren nicht nur nach Rom gereist, er hatte dort auch die Gemälde in Kirchen, Villen und Museen studiert. Und schließlich in einem Anfall von Selbstüberschätzung einige davon mit Ölfarben nachgemalt. Diese Kunstwerke zierten nun die Schlafräume der Mädchen. So bekam Mrs Clifford sie nur selten zu Gesicht und konnte dem Gönner trotzdem ehrlich versichern, sie habe alle seine Werke im Haus aufgehängt. Womit es ihr auch noch gelang, diesen zu jährlich wiederkehrenden finanziellen Zuwendungen zu bewegen. Über dem Bett, das Kate und Vivian sich teilten, hing eine Kopie von Tobias und der Erzengel Raphael des Malers Giovanni Girolamo Savoldo. Eine wahrlich wenig gelungene Interpretation allerdings. Mit einem ernst dreinblickenden Erzengel mit dunklem Haar, schwarzen Augen und buschigen Augenbrauen.

„Du wirst sehen, das Jahr geht schneller vorüber, als du denkst“, versuchte Vivian Kate noch weiter aufzumuntern. „Und dann kommst auch du nach London. Vielleicht bin ich da ja dann schon verheiratet, führe ein großes Haus und kann dir helfen, deinen Traumprinzen zu finden.“

„Das wäre schön“, antwortete ihre Freundin sehnsuchtsvoll. „Wobei ich mir nicht sicher bin, ob wir uns je darauf einigen werden, wer der passende Gatte für mich sein könnte. Ich werde nämlich vor allem nach einem Gentleman Ausschau halten, der mich liebt und der mir Geborgenheit und Schutz bietet, und nicht nach einem, der mit mir die Weltordnung auf den Kopf stellen möchte.“

„Ach, vergiss doch die Liebe!“, rief Vivian gerade so, als hätte sie diese schon tausendmal erfahren und ihr gesamtes bisheriges Leben nicht unter den strengen Augen zuerst ihrer Mutter und dann ihrer Lehrerinnen verbracht. „Miss Fellows sagt, Liebe wird überbewertet und ist einer klugen Frau nicht würdig. Gegenseitiger Respekt ist das, worauf man eine gute Ehe aufbaut.“

„Respekt und Liebe müssen sich doch nicht ausschließen“, begehrte Kate auf und bewies damit ihren wachen Verstand. „Beides kannst du auch von einem Mann bekommen, der uns im Alter näher steht. Dazu brauchst du dir keinen Greis zu suchen, der …“

„Ich suche keinen Greis“, unterbrach sie Vivian, „sondern einen Gentleman mit Lebenserfahrung. Miss Fellows sagt, dass junge Männer nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, ausschließlich Pferde, Saufgelage und den Spieltisch im Kopf haben und sich keinen Deut um die Wünsche und Pläne ihrer Gattinnen scheren.“

„Sicher gibt es auch andere …“, warf Kate ein, die das nicht glauben wollte.

Vivian war viel zu begeistert von Miss Fellows, als dass sie irgendeinen Widerspruch zulassen konnte.

„Ich werde mir einen Gatten um die fünfzig oder sechzig suchen“, sagte sie daher, „der sich die Hörner bereits abgestoßen hat, wie Miss Fellows es nennt. Einen Gatten, mit dem ich über wichtige Dinge des Lebens diskutieren kann, der meine Meinung neben seiner gelten lässt. Der nicht annimmt, um vieles klüger zu sein, nur weil ich eine Frau bin. Natürlich kommt ausschließlich der Träger eines Titels infrage, denn ich möchte, dass er meinen Anliegen im Oberhaus Gehör verschafft …“

„Die Hörner abgestoßen?“ Kate hielt in der Aufgabe inne, Vivians Strümpfe ordentlich zusammenzulegen. „Was mag das wohl bedeuten? Ich habe noch nie einen Mann mit Hörnern gesehen, du etwa?“

Vivian musste zugeben, dass sie auch keine Ahnung hatte, was Miss Fellows genau damit gemeint haben könnte.

„Außerdem sucht ein wahrer Gentleman keine kluge Ehefrau“, ergänzte Kate und fischte die Bürste aus dem Koffer, um sie wieder auf die Kommode zu legen. Schließlich würde Vivian sie vor ihrer Abreise noch mehrfach brauchen.

„Der, den ich finden werde, schon“, erwiderte Vivian mit derselben Sicherheit. „Das ist ein weiterer Grund, warum für mich kein junger Mann infrage kommt. Miss Fellows meint nämlich, dass junge Männer sich dadurch sicherer und selbstbewusster fühlen, dass sie uns Frauen kleinmachen und uns keine Rechte zugestehen wollen. Miss Fellows meint, solche Dandys würden eine Gemahlin nur als Schmuckstück auswählen, um sie ihren Freunden als Trophäe zu präsentieren. Und dann schicken sie sie auf ihre Landsitze und kümmern sich nicht weiter um sie, während sie sich selbst in London oder bei Jagdgesellschaften vergnügen. Ihre Angetrauten fristen auf dem Land ein ödes Dasein, inmitten einer immer größer werdenden Schar von Kindern. Miss Fellows meint …“

„Ja, ich weiß, was Miss Fellows meint“, fuhr Kate dazwischen. Bemüht, das Thema zu wechseln, hob sie ein Paar Reitstiefel hoch: „Möchtest du die tatsächlich mitnehmen? Sie sind so abgetragen, dass es an der Zeit ist, sie durch neue zu ersetzen. Bestimmt gibt es in London einen Schuster, der …“

Vivian war mit einem Satz auf den Beinen und riss ihr die Schuhe aus der Hand: „Das sind meine Glücksstiefel“, rief sie aus und drückte sie an ihre Brust. „Die gebe ich nie und nimmer her. Wenn du wüsstest, auf welch fabelhaften Ausritten die mich schon begleitet haben!“

Kate hatte eine unüberwindbare Angst vor Pferden. Sie war daher bei all diesen fabelhaften Ausritten nicht mit von der Partie gewesen, aber sie kannte die begeisterten Schilderungen darüber.

„Mir sind Äußerlichkeiten so etwas von egal“, setzte Vivian da auch schon fort und erzählte ihr damit nichts Neues. „Sind Lebenserfahrung, ein wacher Verstand, ein gutes Herz und eine umfassende Bildung nicht tausendmal mehr wert als eine hübsche Fassade? Ich jedenfalls interessiere mich dafür, was auf der Welt vor sich geht. Ich will den Dingen nicht nur auf den Grund gehen, ich will sie auch verändern. Glaubst du, dabei würde mir ein hübsches Gesicht helfen …?“

„Aber du hast doch ein hübsches Gesicht“, widersprach ihre Freundin etwas ratlos. „Deine Haut ist makellos weiß, du hast eine hübsche, kleine Nase, und um deine großen blauen Augen beneiden dich die meisten hier.“

„Ich bin rothaarig und damit völlig aus der Mode“, widersprach nun Vivian ihrerseits, und es hatte nicht den Anschein, als würde ihr das etwas ausmachen. „Falls Rothaarig überhaupt je in Mode war, woran ich mich nicht erinnern kann. Und ich habe Sommersprossen.“

„Du bist nicht rothaarig, deine Locken haben einen Schimmer wie frische Kastanien im Herbst“, stellte Kate richtig und bewies damit unverkennbar ihr Faible für Poesie. „Aber lenke nicht ab. Deine Reitstiefel sind abgetragen und unbrauchbar geworden, da kannst du mir erzählen, was du willst.“

„Reden wir doch nicht stundenlang über Stiefel.“ Vivian drückte die schmutzigen Schuhe noch enger an ihre Brust. „Reden wir darüber, wie ungerecht es ist, dass wir Frauen keinen Sitz im House of Lords einnehmen können. Wir sind schließlich auch adelig.“

Sittenstrenge Personen, die Lady Vivian Barnett nicht kannten, hätten ob dieser unglaublichen Worte wohl die Nase gerümpft, doch Kate waren die Ansichten ihrer Freundin nur zu vertraut.

„Das liegt wohl daran, dass wir keine Lords sind. Sobald es ein House of Ladies gibt, kannst du dich ja um einen Sitz bewerben.“

Dann lachten sie beide. Ein House of Ladies? So etwas würde es wohl nie geben. Was sollte es auch bewirken?

„Wie dem auch sei, in jedem Fall empfahl mir Miss Fellows, nach einem freundlichen, klugen, älteren Mann Ausschau zu halten. Sie meinte, so einen würde ich am besten an den Augen erkennen. An gütigen Augen mit kleinen Fältchen drum herum.“

„Iiiih!“, rief Kate und schüttelte sich, als wäre ihr eine Spinne zu nahe gekommen oder, in ihrem Fall, wohl eher ein Pferd. „Falten um die Augen hat der Vater meiner Mama auch. Planst du allen Ernstes, dich mit einem Großvater zu vermählen, Vivi?“

„Warum denn nicht?“, fragte Vivian, die sich das insgeheim ebenso wenig vorstellen konnte. Allerdings konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, verheiratet zu sein. Und einem Mann zu gestatten, so nahe an sie heranzutreten, dass sie sich küssen konnten, das konnte sie sich am allerwenigsten vorstellen. Wenn sie das Küssen doch bloß vorher mit irgendjemandem üben könnte! Um sicherzustellen, dass nicht alles in einer Blamage endete, wenn es mit dem richtigen Verehrer tatsächlich ernst wurde. Doch das waren so intime Gedanken, die wollte sie nicht einmal mit ihrer Freundin teilen.

„Das, was ich plane, scheint mir ein fairer Tausch zu sein“, sagte sie daher. „Ich schenke dem Gentleman einen Erben und er schenkt mir die Meinungsfreiheit, die mir als unverheiratete Frau nicht zusteht. Und kämpft mit mir Seite an Seite, um mehr Rechte für junge adelige Frauen und um deren Ausbildung. Weißt du …“

„Um deren Ausbildung?“ Kate war von ihrer Freundin so manches gewöhnt, aber jetzt war sie wirklich sprachlos. „Was soll denn nun schon wieder an der Ausbildung bei Mrs Clifford auszusetzen sein?“

„Gar nichts“, beeilte sich Vivian zu versichern. „Wir bekommen hier sicher die beste Unterweisung, die es für junge Ladys geben kann. Doch dieses Institut ist kostspielig. Was ist mit all den adeligen Mädchen, deren Eltern sich keine so teure Ausbildungsstätte leisten können? Vergiss nicht, beinahe hätte mich das Schicksal ereilt. Hätte Frederica nicht den Earl of Derryhill geheiratet … Mama hätte nach Papas Tod das Schulgeld niemals aufbringen können.“

Die Erwähnung ihrer Schwester brachte sie zum Anfang des Gesprächs zurück. Zu Mutmaßungen, was diese davon abgehalten haben mochte, ihr Versprechen, sie persönlich abzuholen, einzuhalten, und zu innigen Verwünschungen darüber, dass ausgerechnet Miss Goodhew als Ersatz ausgewählt worden war.

„Wurde schon festgelegt, wo ihr die erste Nacht auf eurer Reise verbringen werdet?“, wollte Kate wissen.

„Derryhill hat an vielen wichtigen Poststationen Pferde eingestellt. So auch im Crown and Feathers in Marlborough. Ich denke, dort werden wir die erste Etappe beenden.“

Vivian stand auf, um ihrer Freundin zu helfen. Kate war auf einen Stuhl gestiegen, um die beiden Hutschachteln zu holen, die auf dem breiten Schrank gelagert worden waren. Sie nahm die zartrosa Boxen entgegen und blies den Staub von den Deckeln. Kate, die gegen so ein Vorgehen normalerweise lautstark protestiert hätte, war abgelenkt. „Marlborough?“, wiederholte sie. „Ist das nicht viel zu weit entfernt für eine Tagesreise?“

„Aber nein, mein Bruder Bertram und ich sind die Strecke hin- und zurückgeritten, als er mich letzten Herbst besuchte. An einem einzigen Tag.“

Bertram, der Viscount of Panswick, war der drittälteste der Geschwister Barnett und knappe drei Jahre älter als Vivian. Im letzten Herbst war er aus heiterem Himmel hier aufgekreuzt, um eine Woche in ihrer Nähe zu verbringen. Er litt an Liebeskummer, über den er nicht sprechen wollte, und er wusste, dass sie nicht in ihn dringen würde. Ihm tat Vivians heitere Art gut und sie genoss die waghalsigen Ausritte an seiner Seite. Wann bekam man als unverheiratetes Mädchen dazu schon die Gelegenheit?

„Ein Ritt querfeldein geht natürlich schneller, doch mit der Kutsche seid ihr an die Poststraße gebunden“, wandte Kate ein und zuckte zusammen, als Vivian die Stiefel achtlos auf den Holzboden fallen ließ, wo sie mit einem lauten Knall landeten. Dann wurde sie stürmisch von hinten umarmt und ihre Freundin rief: „Du bist die Beste!“

Kate war alarmiert. Dieses versonnene Lächeln auf Vivians Gesicht kannte sie. Es bedeutete selten etwas Gutes.

„Was ist denn los?“, fragte sie und es klang beunruhigt. „Was führst du denn nun schon wieder im Schilde?“

„Ach, ich führe doch nie etwas im Schilde“, antwortete Vivian, bemüht, ihrer Stimme einen harmlosen Klang zu geben. „Den hohen Reithut brauchst du nicht zu verstauen, den werde ich auf meiner Reise brauchen.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und warf ihrem Spiegelbild einen verschwörerischen Blick zu. Sie hatte soeben einen abenteuerlichen Plan gefasst. Zu abenteuerlich, um ihn ihrer vernünftigen Freundin zu enthüllen. Hoffentlich würde Kate nicht weiter darauf bestehen. Zu ihrem Glück steckten in diesem Augenblick zwei Mitschülerinnen den Kopf zur Tür herein: „Wir haben gehört, dass du abreist, Vivian, und sind gekommen, um uns von dir zu verabschieden.“

Kapitel 4

Landsitz des Viscounts of Badwell Avebury, in der Grafschaft Wiltshire Ende März 1814

Im Kamin prasselte ein loderndes Feuer und tauchte die ledernen Buchrücken in den hohen Regalen in ein warmes, einladendes Licht. Zahlreiche Kerzen erhellten den Spieltisch, an dem sich vier junge Männer bereits zu ihrer zweiten Partie Whist niedergelassen hatten. Der Viscount of Badwell, seit Tagen der Gastgeber dieser feuchtfröhlichen Runde, beugte sich zum Beistelltisch hinüber, auf dem der Butler diverse Karaffen bereitgestellt hatte, und schenkte dann seinen Freunden großzügig nach. Das Kerzenlicht brach sich tausendfach im Schliff der edlen Kristallgläser.

„Herz ist Trumpf“, verkündete sein Gegenüber und drehte die letzte Karte des Stapels um.

Badwell stellte die Karaffe zurück und nahm seine Karten wieder auf. Bis auf eine Acht hatte er kein Herz in der Hand, doch das bekümmerte ihn wenig. Zum einen war Hugh, mit dem er diese Partie spielte, ein wahrer Könner, und zum zweiten hieß es doch immer: Pech im Spiel – Glück in der Liebe. Und er schien derzeit geradezu unverschämtes Glück in der Liebe zu haben.

„Ach übrigens“, begann er und legte alle Karten offen auf den Tisch, da das Lizitieren ergeben hatte, dass sein Partner diese Partie spielen würde. „Für morgen Abend müsst ihr eine andere Beschäftigung finden, denn es wird euch der vierte Mann zum Kartenspielen fehlen. Morgen bin ich nämlich … verhindert.“

Er grinste zufrieden, nahm einen Schluck und lehnte sich in seinem Sessel zurück, gespannt auf die neugierigen Fragen der anderen. Diese ließen nicht lange auf sich warten. Schon schnappte Gregory, sein Freund zur Linken, hörbar nach Luft.

„Nein! Heißt das … du hast doch erst kürzlich die schöne Babette … und jetzt … also, nein!“, war alles, was er herausbrachte. Badwell liebte es, seine Freunde sprachlos zu machen. Das zufriedene Grinsen vertiefte sich.

Lester zu seiner Rechten war weit davon entfernt, beeindruckt zu sein. Badwell hörte ihn zuerst unwillig schnaufen, bevor er, ohne von seinen Karten aufzublicken, sagte: „Beabsichtigen wir hier ernsthaft Whist zu spielen, oder ziehen Eure Lordschaft es vor, eine Plauderstunde einzulegen, um mit Euren amourösen Abenteuern zu prahlen?“

Badwell lachte auf. Er mochte Lester. Sein Freund aus Kindertagen hatte sich zu einem ernsthaften Mann entwickelt, der sich mit Geschichte und Philosophie beschäftigte. Seine Ausführungen darüber interessierten Badwell mehr, als er zuzugeben bereit war. Schließlich galt er gemeinhin als jemand, der in den Tag hineinlebte und sich über nichts und niemanden Gedanken machte außer über sich selbst. Man nannte ihn nicht umsonst den Teufel, da hatte er einen Ruf zu verlieren. Kein Mensch wäre je auf die Idee gekommen, Lester mit einem solch diabolischen Beinamen zu bedenken. Er war ein Musterbeispiel an Tugend, bekannt dafür, dass er sich an Regeln und gesellschaftliche Konventionen hielt. Und die Regel bei diesem Kartenspiel lautete: Es war verboten zu sprechen.

„Ach, Les, so sei doch nicht so steif! Wir spielen hier weder ein Turnier, noch geht es um große Summen. Also schieß los, Justin. Was ahnt Gregory bereits, was wir nicht wissen?“, meldete sich nun Hugh, der Vierte im Bunde, zu Wort und spielte die erste Karte aus.

Lester stach sie und warf ihm einen Blick zu, der Habe ich dich nicht gewarnt? Du sollst konzentriert spielen und nicht reden! besagte. Zu Hughs Überraschung war es dann aber auch er, der seine Frage beantwortete: „Die schöne Daphne ist offensichtlich bereit, sich auf ein Stelldichein mit dem Teufel einzulassen.“

Es klang nicht so, als würde ihn diese Tatsache überraschen, und auch nicht so, als würde sie ihn interessieren. Hugh MacMillan spielte die nächste Karte aus und ärgerte sich über seine Wahl, noch bevor sie auf der Tischplatte gelandet war. Ihm war das Privatleben seines Gastgebers alles andere als egal. Er selbst war seit zwei Jahren glücklich verheiratet und vermisste Rose, die nach Reading gefahren war, um ihre Schwester zu besuchen, jeden Tag mehr. Die Ehe war ihm heilig. War es da ein Wunder, dass er mit den verheirateten Liebschaften seines Freundes nicht einverstanden war? Mit einem schnellen Blick sah er zu Badwell hinüber, der in seinem Sessel lümmelte, an seinem Portwein nippte und das Geschehen am Spieltisch mit trägem Blick verfolgte. Anscheinend wollte er die Spannung erhöhen, bevor er die Katze vollständig aus dem Sack ließ.

Was war Justin Rawling, der jetzige Viscount of Badwell, mit Anfang zwanzig doch für ein fröhlicher junger Mann gewesen!, dachte Hugh, während er weiterspielte. Voller Pläne, wie er seine Zukunft gestalten wollte. Bei Männern und Frauen gleichermaßen beliebt und als Gesprächspartner geschätzt, ein aufgehender Stern der Londoner Gesellschaft. Nichts, womit er seinem sittenstrengen, ja bigotten Vater eine Freude hätte machen können. Dazu kam, dass der junge Gentleman aufgrund des Erbes seiner früh verstorbenen Mama seit seiner Großjährigkeit über ausreichend finanzielle Mittel verfügt hatte, sich in der Hauptstadt eine Wohnung zu mieten. Der alte Viscount hatte die Unabhängigkeit seines zweiten Sohnes ebenso gehasst wie den Mangel an Sparsamkeit, den er ihm immer wieder vorwarf. Hugh versuchte sich aufs Spiel zu konzentrieren. Sollte er den Karo-Buben ausspielen? Eine höhere Karte, um ihn zu stechen, war doch nicht mehr im Spiel, oder etwa doch? Er beschloss es zu riskieren, und schnapp, schon machte Lester mit der Karo-Dame den nächsten Stich.

Gregory lachte laut auf. Badwell zog eine Augenbraue nach oben: „Unkonzentriert, mein Guter?“, wollte er wissen.

Lester spielte die nächsten Karten und Hugh brauchte sich nicht länger zu konzentrieren, weil er keine Chance mehr hatte, zum Stich zu kommen. Er sah zu Badwell hinüber, der mit Gleichmut hinnahm, dass sie verloren. Früher hatte er viel mehr Gefühle an den Tag gelegt. Früher konnte er sich noch freuen, aus reinem Herzen lachen, aber auch toben und lieben. Heute war er eine Mischung aus Resignation, Verantwortungslosigkeit und Sarkasmus. Hugh warf die letzte Karte auf den Tisch.

„Ich brauche eine Pause“, sagte er, stand auf und ging zum Fenster hinüber. Badwell hatte mit Lady Glostershire geschlafen, um sich an ihr zu rächen. Hugh wusste nicht, was er davon halten sollte. Ja, gut, sie hatte ihm das Herz gebrochen. Aber das war doch schon Jahre her! Und Justin war schließlich nicht nur ihretwegen auf den Kontinent gereist, um für König und Vaterland zu kämpfen. Daran trug wohl sein sittenstrenger Vater die Hauptschuld. Jener Vater, den alle gefürchtet hatten und dem es sein Zweitältester nie hatte recht machen können. Zum Unterschied von seinem Ältesten, der immer bevorzugt behandelt worden war. Und der die Kutsche lenkte, die vor einem knappen Jahr in die Hochwasser führende Wylye gestürzt war und die beiden Männer und die Pferde in den Tod gerissen hatte. Justin war mit einem Schlag der Viscount of Badwell geworden. Er kehrte dem Militär den Rücken, kam nach England zurück und begann ein wildes Leben, das zuerst so gar nicht zu ihm zu passen schien. Was hatte ihn bloß so verändert? War es der Krieg, der ihn genusssüchtig, ja geradezu verantwortungslos gemacht hatte? Oder konnte er doch, trotz all seiner gegenteiligen Beteuerungen, den Tod von Vater und Bruder nicht überwinden? Der Justin Rawling, den Hugh von früher kannte, hätte ohne zu zögern die Pflichten übernommen, die seine neue Rolle mit sich brachte, mochten sie ihm noch so überraschend zugekommen sein. Er hätte sich nicht mit Alkohol, Kartenspiel und riskanten amourösen Abenteuern die wertvolle Zeit vertrieben. Wie oft hatten Lester und er an sein Pflichtgefühl appelliert! Doch Justin hatte nur gelacht und etwas, das wie „Mein Vater soll sich im Grab umdrehen“ klang, gemurmelt. Darum hielt er, Hugh, sich inzwischen mit guten Ratschlägen zurück, wenn er auch fand, dass Justin ein denkbar schlechtes Vorbild für seinen um sechs Jahre jüngeren Freund Gregory Saville darstellte. Dieser bewunderte ihn für alles, was er tat. So anscheinend auch für das amouröse Abenteuer, das unmittelbar bevorzustehen schien und das ein noch bedeutend größeres Risiko barg als sein letztes. Hugh MacMillan beschloss, nicht länger zu schweigen.

„Daphne?“, unterbrach er das heitere Zwiegespräch, das die beiden Freunde soeben begonnen hatten, während Lester schweigend die Münzen vor sich zählte. „Wir sprechen doch hoffentlich nicht von Ihrer Ladyschaft, der Countess of Mildenhall.“

„Oh, seht nur, unser tugendsamer schottischer Freund hat Einwände“, bemerkte Badwell spöttisch.

„Und ob ich die habe“, fuhr Hugh auf, „die Countess ist schließlich verheiratet.“

„Da erzählst du mir nichts, was ich nicht schon wüsste.“ Badwell grinste über den Rand seines Glases hinweg.

„Wie hat sie denn Kontakt zu dir aufgenommen? Ist ihr Gatte verreist?“, wollte Gregory wissen. Er hatte sich im Stuhl vorgebeugt und konnte es gar nicht erwarten, nähere Einzelheiten zu erfahren.

Bevor Badwell noch antworten konnte, verlieh Hugh seinen Bedenken noch mehr Nachdruck: „Der Earl ist ein verdammt guter Schütze. Man sagt, er habe bereits drei Männer im Duell erschossen.“

„Ich würde es vorziehen, wenn du dich wieder setzen würdest, damit wir weiterspielen können“, lautete Lesters trockene Reaktion, „anstatt uns Dinge zu erzählen, die den von uns, den es betrifft, ohnehin nicht interessieren.“

„Schön gesprochen, mein Teuerster.“ Badwell war sichtlich amüsiert.

Mit einem lauten Knall landete Hughs Faust auf der Tischplatte.

„Mir ist die Lust auf dieses Spiel vergangen! Justin Rawling, ich muss ernsthaft an deinem Verstand zweifeln. Du bist jetzt, wenn ich daran erinnern darf, der Viscount of Badwell. Benimm dich entsprechend! Du bist fast dreißig Jahre alt. Du hast Verantwortung. Es liegt an dir, deine Familie zu repräsentieren …“

„Meine Worte“, warf Lester ein und nickte, während er das gewonnene Geld einstrich und in der Tasche seines Rocks verstaute.

„Stattdessen benimmst du dich immer noch wie ein … wie ein … unreifer …“ Der passende Ausdruck schien ihm nicht einzufallen. „Mildenhall war ein Freund deines Vaters“, trumpfte er stattdessen auf.

„Was denkst du denn, was das Ganze für mich so besonders vergnüglich macht?“, fragte Badwell mit einem Lachen, das Hugh nicht gefiel. „Mein Vater wird schäumen, wenn er das von oben sieht. Doch Pech für ihn, dass er nichts mehr dagegen unternehmen kann.“

Gregory lachte auf.

Hugh versuchte es auf eine andere Weise: „Mildenhall ist dein nächster Nachbar. Wenn euer … euer Getändel herauskommt, dann kannst du dich in Avebury nicht mehr blicken lassen! Zumindest nicht in den nächsten Jahren, bis Gras über die Sache gewachsen ist.“

„Hat er wirklich schon drei Männer im Duell getötet?“, wollte Gregory wissen, der sich, bei aller Verehrung, auch Sorgen um seinen Freund machte. Doch diesem war das nur eine wegwerfende Handbewegung wert.

„Das erzählt man von mir auch und wir alle wissen, dass es nicht der Wahrheit entspricht. Und selbst wenn es so wäre: Der Mann ist über siebzig. Der kann keine Pistole mehr halten, ohne zu zittern. Denkt ihr, damit könnte er mich erschrecken?“

„Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib“, hielt es Hugh für angebracht, nun aus den zehn Geboten zu zitieren. „Ist dir denn nicht bewusst, dass du dabei bist, eine Sünde zu begehen?“

„Die einzige Sünde, die ich sehe“, entgegnete Badwell, der nie um eine Antwort verlegen war, „ist die, eine Frau in der Blüte ihrer Jugend mit einem Greis zu vermählen, dessen Alter dem meines Vaters entspricht. Da ist es doch kein Wunder, dass sie sich anderweitig nach Vergnügungen umsieht.“

„Aber doch nicht drei Monate nach der Hochzeit!“, entrüstete sich Hugh. Gerade so, als wären drei Jahrzehnte nach der Hochzeit weniger Sünde gewesen.

„Worauf soll sie denn warten, mein Lieber? Bis sie selbst alt und grau geworden ist?“

„Wie hast du das bloß geschafft, du Teufelskerl?“ Gregorys Augen glänzten vor Anerkennung. Und wohl auch vom Alkohol, dem er großzügig zugesprochen hatte. „Du hast sie doch erst kürzlich auf dem Ball auf Mildenhall kennengelernt. Gut, es brauchte nicht viel Beobachtungsgabe, um zu erkennen, dass du sie beeindruckt hast. Sie erwies dir zweimal die Ehre, sie zum Tanz zu führen, aber …“

„Sie erwies mir am nächsten Tag auch noch die Ehre eines Spaziergangs“, setzte sein Freund fort. „Irgendjemand musste ihr doch ihre neue Heimat zeigen, nicht wahr?“

Lester lachte auf. Er war zum Kamin getreten, um sich seine Hände am Feuer zu wärmen. „Und dieser Jemand warst natürlich du. Ein wahrer Gentleman, ein hilfsbereiter Nachbar.“

Badwells Lächeln vertiefte sich: „Ganz genau, mein Lieber. Und da unsere Umgebung besonders malerisch ist, haben wir uns gestern auch noch zu einer Ausfahrt getroffen. Ein umfassender Eindruck über Avebury wäre nicht vollkommen ohne den berühmten Steinkreis. Er ist doch schließlich das Heiligtum der britischen Druiden.“

„Das Heiligtum …“ Hughs Backen wurden vor Entrüstung immer größer. „Als wenn dich das Heiligtum der Druiden auch nur im Entferntesten interessierte! Uns hast du weisgemacht, du würdest die Zeit mit deinem Vermögensverwalter verbringen. Schließlich geht das Trauerjahr um deinen Vater in wenigen Tagen zu Ende. Du hast doch versprochen, dass du dich dann um deine Pflichten kümmern wirst.“

„Ich habe lediglich versprochen, es in Erwägung zu ziehen …“, lautete Badwells Kommentar, und er hörte selbst, wie halbherzig, ja geradezu erbärmlich das klang. Seine gute Laune verflog und machte jener Art von Ärger Platz, die ihn immer dann erfasste, wenn er wusste, dass einer seiner Freunde recht hatte, er dies aber nicht zugeben wollte. Nicht einmal vor sich selbst.