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Ein hinreißend romantischer Regency-Roman – von der Autorin des Bestsellers "Die Braut des Herzogs"! England im 19. Jahrhundert: Die lebenslustige Kitty überredet ihre Freundin Mary Ann gemeinsam aus dem Internat zu fliehen. Nach London zieht es die beiden jungen Damen. Hier wohnt Kittys bislang unbekannter Vormund, der Earl St. James. Entgegen Kittys Annahme, ist der Earl keinesfalls ein älterer Herr, sondern ein junger, attraktiver Mann mit Liebeskummer: Seine Braut ist vor dem Traualtar ohnmächtig geworden und anschließend spurlos verschwunden. Kitty und Mary Ann begeben sich auf die Suche nach der Braut. Während ihrer Reise durch das ländliche England finden die beiden jungen Damen tatsächlich, was sie sich so sehnlich wünschen: ein aufregendes Abenteuer und die große Liebe.
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Seitenzahl: 520
Sophia Farago
Schneegestöber
Roman
Edel Elements
Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel Elements, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.
Copyright © 2003 by Sophia Farago
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-106-4
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Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
»Du wirst nie erraten, wen ich eben gesehen habe!« Kitty nahm sich nicht die Zeit, die Türklinke in die Hand zu nehmen. Mit einem undamenhaften Stoß beförderte sie die Zimmertür ins Schloss. Ein lautes Krachen erschütterte die stillen, weitläufigen Gänge von Mrs. Cliffords Institut für höhere Töchter.
Mary Ann war eben dabei, den Brief zu öffnen, den ihr eine der jüngeren Schülerinnen vorbeigebracht hatte. Nun fuhr sie erschrocken zusammen und hielt in ihrer Tätigkeit inne: »Mr. Simmons, nehme ich an«, sagte sie trocken.
Kitty hatte die Bänder ihres kecken Reithutes gelöst und warf diesen im hohen Bogen auf ihr Bett. »Mr. Simmons?«, wiederholte sie erstaunt.
Mary Ann nickte. »Ja, Mr. Simmons, den Musiklehrer.«
Sie nahm den weißen Bogen aus dem Briefumschlag. »Wenn ich mich nicht irre, dann ist heute Dienstag. Und da steht die Klavierstunde bei Mr. Simmons auf deinem Stundenplan.«
»Ach so, ich habe die Stunde abgesagt.« Kitty machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir haben heute so schönes Wetter. No puede ser mejor! Zu Mittag hat sogar die Sonne durch die Wolkendecke geblinzelt. Da habe ich beschlossen, den Tag nicht nur zwischen den dicken Mauern des Hauses zu vergeuden. Ich bin stattdessen ausgeritten. Und ich bin so froh, dass ich es getan habe! Denn es war ein wunderbarer Ritt. Und was das Allerschönste ist: Ich habe ihn gesehen.«
»So, und wer hat dich gesehen?«, erkundigte sich Mary Ann, ohne von dem Schreiben aufzublicken, das sie in beiden Händen hielt. Sie war weit davon entfernt, die Begeisterung ihrer Freundin zu teilen.
»Niemand. Estoy seguro. Ich bin ganz sicher. Wirklich, Annie, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich passe immer sehr gut auf, wenn ich alleine ausreite. Wenn mich Mrs. Clifford dabei erwischt, dann ist es sicherlich aus mit diesem Vergnügen. Und es werden uns hier wahrlich nicht sehr viele Vergnügungen geboten. Aber nun muss ich dir von meinem Erlebnis erzählen. Mary Ann, hörst du mir überhaupt zu?«
Ihre Freundin saß reglos in ihrem Sessel und starrte auf das Blatt Papier in ihren Händen. Und doch hatte es den Anschein, als nehme sie nicht wahr, was dort geschrieben stand. Ihr Blick war traurig und abwesend. Mit raschen Schritten war Kitty bei ihr und legte fürsorglich den Arm auf ihre Schulter: »Um Himmels willen, Annie. Was ist passiert? Was steht denn in diesem Brief, das dich so erschreckt hat?«
Mary Anns Blick löste sich langsam von dem Schreiben. Tränen waren in ihre Augenwinkel getreten, als sie sich nun ihrer Freundin zuwandte: »John hat den Vertrag mit Mrs. Clifford verlängert«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.
Kitty war, als könne sie ihren Ohren nicht trauen. »Er hat was getan?« rief sie aus. »Aber Annie, du wirst im Dezember einundzwanzig Jahre alt!«
»Das weiß ich auch«, bestätigte diese mutlos.
»Dein Bruder kann dich doch nicht bis zu deinem Lebensende hier auf diese Schule schicken! Du bist doch jetzt schon viel zu alt für das Internat. Alle Mädchen verlassen das Haus mit siebzehn, spätestens mit achtzehn Jahren. Wenn ich im nächsten Februar achtzehn werde, ziehe ich zu Tante Jane und werde in die Gesellschaft eingeführt. Dein Bruder hätte dich längst nach London holen müssen, um dein Debüt für dich auszurichten.«
Mary Ann zuckte resigniert mit den Schultern. »Hätte er wohl«, bestätigte sie. »Aber er tat es nicht.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«, ereiferte sich ihre Freundin. »Dein Bruder, der hoch ehrenwerte Lord Ringfield, bewohnt eines der schönsten Häuser im vornehmen Stadtteil Mayfair. Wenn man den Gesellschaftsspalten der Gazetten glauben darf, gibt er in jeder Saison einen Ball und zahlreiche Soireen. Deine Schwägerin ist tonangebend in der mondänen Damenwelt. Es sollte doch ein Leichtes für die beiden sein, dich in die Gesellschaft einzuführen.«
»Ach, Kitty, dieses Thema haben wir doch schon so oft besprochen. Denkst du denn, ich wäre nicht gerne in London? Denkst du denn, ich mache mir keine Gedanken über das Verhalten meines Bruders?«, entgegnete Mary Ann, und Unmut war aus ihrer Stimme zu hören.
»Tatsache ist, dass mein Bruder mich nicht bei sich haben will. Es scheint, als müsste ich mich damit abfinden. In den Wochen, die ich in den Ferien auf seinem Landsitz Ringfield Place verbringe, ist er eigentlich immer ganz freundlich und nett zu mir.«
»Warum sollte er das auch nicht sein!«, warf Kitty spöttisch ein. »Wenn ich mich recht entsinne, besteht deine Hauptbeschäftigung in Ringfield Place darin, dich um seine beiden kleinen Söhne zu kümmern.«
Mary Ann überhörte diesen Einwand. »Warum habe ich nur ständig das Gefühl, als stehe eine Art unsichtbare Mauer zwischen meinem Bruder und mir?«, fragte sie mehr an sich selbst als an Kitty gerichtet. »Eine Mauer, die ich nicht durchbrechen kann. Schon als Kind konnte ich nie voraussagen, wie mein Bruder denken oder handeln würde. Stets ging er seinen eigenen Weg, und ich hatte das Gefühl, ihm als Schwester eine Belastung zu sein.«
»Wie du weißt, habe ich keinen Bruder«, antwortete Kitty. »Ich habe das immer bedauert. Doch wenn ich dich so sprechen höre, bin ich geradezu froh darüber. Bruder und Schwester, das scheint eine höchst komplizierte Beziehung zu sein. Auf wie lange, sagtest du, hat dein Bruder den Vertrag mit dem Internat verlängert?«
Mary Ann reichte ihr wortlos den Brief. Kitty überflog die mit steiler Handschrift flüssig zu Papier gebrachten Zeilen. »Bis zu deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag!«, rief sie schließlich aus. »Ja, ist denn dieser Mann verrückt geworden? Qué mala suerte! Du kannst doch nicht bis zu deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag in diesen Mauern eingesperrt sein! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mrs. Clifford dem zustimmt.«
Mary Ann lachte bitter auf. »Natürlich tut sie das! John zahlt einen guten Preis.«
»Aber du wirst doch in Kürze volljährig«, wandte Kitty ein, die es nicht glauben konnte. »Dann kannst du selbst entscheiden, wo du leben und wie du deine Zukunft gestalten willst.«
»Du vergisst die Klausel in Papas Testament. Ich werde zwar im Dezember dieses Jahres volljährig. Doch die Verfügungsgewalt über mein Vermögen bekomme ich erst nach meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Bis dahin verwaltet John meinen Besitz. Es sei denn, ich heirate vorher.«
Kitty, die sich auf der Bettkante niedergelassen hatte, war wieder aufgesprungen. »Jetzt ist mir alles klar!«, rief sie aus. »Das ist der Grund, warum dein Bruder dich hier einsperren will. Er weiß genau, dass du im Pensionat keine Gelegenheit hast, einen passenden Ehemann zu finden. Und so kann er in aller Ruhe noch vier weitere Jahre über dein Eigentum verfügen. Ist es ein großes Vermögen?«
Mary Ann schüttelte den Kopf. »Nein, nur gerade das, was man ein Auskommen nennt. Ein paar wertvolle Schmuckstücke aus Großmutters Besitz und etwas Geld, das mir monatlich ausbezahlt werden soll. Bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr habe ich aber nicht einmal das. Ich bin auf das Taschengeld angewiesen, das John mir zukommen lässt. Und du weißt, wie wenig das ist.« Sie war nun ebenfalls aufgesprungen und riss mit einer ungeduldigen Handbewegung die Tür des breiten Schranks auf, den sie sich mit ihrer Freundin teilte. »Sieh dir nur meine Garderobe an! All diese Kleider aus derbem Wollstoff. Die altmodische Façon, die entsetzlich düsteren Farben! Ich höre Johns Stimme förmlich noch vor mir: Du bist kein dahergelaufenes junges Ding, du bist eine Lady, Mary Ann. Bei deiner Figur und deinem Stand ist diese Garderobe angemessen. Edel und korrekt.« Sie hatte den schulmeisterlichen Tonfall ihres Bruders so treffend nachgemacht, dass sie selbst wider Willen lachen musste.
Kitty stimmte in das Gelächter ein. »Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. Sie selbst zählte sehnsüchtig jeden Tag bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Dann würde Tante Jane sie abholen und endlich, endlich mit nach London nehmen. Dort würde ihr »wahres« Leben beginnen. Allein die verbleibenden vier Monate erschienen ihr wie eine halbe Ewigkeit. Und jetzt sollte ihre liebe Freundin Annie noch weitere vier Jahre hier im Internat verbringen? Nein, das konnte sie nicht zulassen. Sie musste etwas unternehmen. »Hast du denn keine anderen Verwandten, zu denen du ziehen könntest?«
Mary Ann schüttelte den Kopf und seufzte. »Leider nein. Meine Eltern sind tot. Meine Mama hatte keine Geschwister. Papas Schwester war die letzte Verwandte, bei der ich hätte leben können. Doch sie starb im Vorjahr bei diesem schrecklichen Unfall mit der Postkutsche. Ich habe dir davon erzählt. Nun gibt es nur noch eine Cousine meines Vaters. Sie wohnt irgendwo in Schottland, aber wir haben jeden Kontakt zu ihr verloren. Wenn ich ehrlich bin, habe ich weder das Geld noch die Lust, sie zu suchen.«
»Dann musst du eben heiraten«, schlug Kitty energisch vor. Ihre Augen leuchteten auf. Warum war sie nicht schon längst auf diese glänzende Idee gekommen? Wenn Mary Ann erst einmal mit einem passenden jungen Mann verheiratet war, dann konnte sie nach London gehen und ihr Debüt nachholen. Sie konnte frei über ihr Geld verfügen und sich in all die Vergnügungen stürzen, die ihr bisher verwehrt wurden.
Mary Ann, die eben den Kleiderschrank wieder zugesperrt hatte, fuhr herum und blickte mit spöttischem Lächeln zu ihrer Freundin hinüber. »Was für eine großartige Idee! Und wer ist der Bräutigam, wenn ich fragen darf?«
»Na, dein Bernard natürlich«, entgegnete Kitty, als sei dies das Natürlichste auf der Welt.
»Bernard? Bernard Westbourne?«, rief Mary Ann aus. »Du willst mir doch nicht im Ernst vorschlagen, dass ich Reverend Bernard Westbourne heiraten soll!«
»Aber warum denn nicht?«, entgegnete Kitty mit vor Begeisterung glühenden Wangen. »Du bist doch schon seit Jahren in ihn verliebt.«
Mary Ann errötete leicht, widersprach jedoch nicht. »Er ist unser Lehrer. Er sieht mich als Schülerin wie jede andere auch. Er wird niemals um meine Hand anhalten.«
»Aber natürlich wird er das!«, rief Kitty aus. »Wir müssen es nur schaffen, dass er dich einmal nicht als Schülerin sieht. Wir müssen ein Treffen außerhalb dieses Gemäuers arrangieren. Ihn dazu bringen, dich als Frau zu sehen«, erklärte sie bestimmt. »Als sehr hübsche Frau …«
»… mit zu breiten Hüften und einem üppigen Oberkörper, der ganz und gar nicht der herrschenden Mode entspricht«, vollendete Mary Ann diesen Satz. Es klang mutlos und bitter.
Kitty wurde schlagartig ernst. »Wer sagt das?«
»John sagt das«, erklärte Mary Ann. »Und das nicht nur ein Mal. Seit meinem zwölften Lebensjahr höre ich diese Kritik. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe.«
»Dein Bruder ist ein Dummkopf«, erklärte Kitty in entschiedenem Tonfall. »Männer lieben Frauen mit großem Busen, das kannst du in jedem Roman nachlesen. Sieh mich an, ich bin so klein und zart. Jeder könnte mich für einen Knaben halten! Ich habe mir schon manchmal eine andere Figur gewünscht.«
Mary Ann blickte fassungslos zu ihrer Freundin hinüber. Kitty war ein Bündel an Energie. Die dunklen, großen Augen blickten interessiert und lebhaft aus ihrem fein geschnittenen Gesicht. Die langen, fast schwarzen Locken, die sie normalerweise im Nacken zusammengesteckt trug, hatten sich selbstständig gemacht und fielen in dichten Wellen auf ihre Schultern. Die Lippen ihres vollen Mundes waren fein geschwungen und von einem natürlichen, leuchtenden Rot. Niemand konnte die südländische Herkunft ihrer spanischen Mutter übersehen. Und niemand hätte sie je für einen Knaben gehalten. Sie wollte ihr das eben sagen, als Kitty bereits weitersprach. »Weil wir gerade von Bernard reden«, sagte sie und nahm auf dem Stuhl vor dem hohen Spitzbogenfenster Platz, »ich habe ihn vor nicht ganz einer Stunde am Waldrand gesehen. Hinter dem kleinen Ententeich.«
Mary Ann setzte sich ihr gegenüber. »Ach, er war es, den du gemeint hast, als du vorhin das Zimmer betratst.«
»Ja und nein. Nein, eigentlich meinte ich jemand anderen.« Kitty beugte sich vor und sagte mit leuchtenden Augen: »Ich habe dir doch von dem Gentleman erzählt, mit dem ich vor zwei Tagen vor der Trinkhalle in Bath beinahe zusammengestoßen wäre? Jenem ungeheuer imposanten Herrn mit den durchdringenden grauen Augen und den längeren, glänzenden braunen Locken?«
Mary Ann nickte belustigt. »Nicht nur einmal, hundertmal.«
»Ich habe ihn wiedergesehen.«
»Er war mit Reverend Westbourne zusammen?«, erkundigte sich Mary Ann interessiert. Kitty nickte. »Am Waldrand hinter dem Ententeich? Welch seltsamer Ort für eine Begegnung. Hast du mit den beiden gesprochen?«
»No, no! Wo denkst du hin! Ich bin mit ›Salomon‹ hinter einer dichten Eibenhecke gestanden und habe mich mucksmäuschenstill verhalten. Bis das Pferd plötzlich unruhig wurde, weil ihm eine Biene zu nahe an die Nüstern gekommen war. Es begann laut zu wiehern. Jas blickte auf, und ich beeilte mich, so schnell ich konnte, das Weite zu suchen.«
»Jas?«, wiederholte Mary Ann irritiert.
»Jas, der Gentleman, von dem ich dir erzählt habe. Reverend Westbourne nannte ihn so. Vermutlich ist sein wirklicher Vorname Jasper. Wir müssen in deinem dicken Buch über die adeligen Familien im Königreich nachschlagen. Sicher finden wir einen Jasper passenden Alters. Ich möchte so gerne wissen, wer er wirklich ist. Bestimmt ist er von hohem Adel. Diese Ausstrahlung, dieses Auftreten – ich kann mich nicht irren.« Kitty war aufgesprungen und suchte das Bücherregal neben Mary Anns Bett ab. »Wo hast du das Buch hingestellt, Annie?«, wollte sie wissen. »Hier kann ich es nicht sehen.«
»Es liegt in der Schublade meines Nachttisches. Was haben die beiden Herren denn am Waldrand gemacht? Einen Spaziergang?«, wollte Mary Ann wissen.
Kitty nahm das Buch aus der Lade. »Sagte ich das nicht?« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Stuhl zurück, den Kopf bereits in die ersten Seiten des Adelsregisters vergraben. »Sie trugen einen Fechtkampf aus. Ein Duell, nehme ich an. Sieh nur, was hier steht …«
Mary Anns Augen weiteten sich. »Was hast du gesagt?«, rief sie fassungslos. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Niemand ficht ein Duell am helllichten Nachmittag. Überdies, wenn ich mich recht entsinne, dann sind Duelle verboten.«
Kitty hielt im Blättern inne. »Wirklich?«, erkundigte sie sich leicht zerstreut. »Nicht bei uns in Spanien.«
»Du bist hier aber nicht in Spanien. Du bist in England.« Mary Ann unterbrach sie mit deutlicher Ungeduld. »Würdest du jetzt bitte die Freundlichkeit haben, das Buch wegzulegen und mir alles haargenau zu schildern? Ich bestehe darauf, jedes Detail zu hören. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Bernard, ich meine, Reverend Westbourne, duelliert. Er ist so ein ernsthafter, vernünftiger Mann. Stets der perfekte Gentleman, korrekt und überlegt …«
Kitty nickte. »Ich weiß, was du sagen willst: ein steifer Mensch ohne jedes Temperament. Ich kenne ihn nur zu gut. Und dennoch, er hat sich duelliert. Ich war selbst überrascht.«
Mary Ann entschied sich, auf diese wenig schmeichelhafte Beschreibung ihres Schwarms nichts zu erwidern. Gebannt wartete sie, dass Kitty in ihrer Erzählung fortfuhr. »Ich war gerade eine gute Viertelstunde geritten, als ich an dem Teich vorbeikam. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, über die großen Felder in Richtung Radstock zu reiten. Die sind längst abgeerntet und liegen brach. Eine geradezu endlose Weite. Wie geschaffen für einen schnellen Galopp. Was ist schon eine langweilige Klavierstunde gegen einen flotten Ritt? Gibt es etwas Schöneres, als auf einem Pferderücken im gestreckten Galopp durch die Gegend zu fliegen, den Wind in den Haaren zu spüren, die …?«
»Also, ich könnte dir da eine ganze Menge aufzählen«, unterbrach Mary Ann sie trocken. »Aber wie du weißt, reite ich überhaupt nicht. Könntest du jetzt bitte zur Sache kommen?«
»Aber ich bin doch schon mitten in meiner Geschichte«, verteidigte sich Kitty. »Ich wollte eben am Teich vorbeireiten, als mir eine Entenfamilie auffiel. Ich hatte für Salomon einige Brotrinden in meiner Satteltasche. Da dachte ich, er könnte es verschmerzen, wenn er diese mit den Enten teilen müsste. Ich weiß nicht, ob du dich erinnern kannst, aber an der südlichen Seite des Teiches ist dieser durch eine Eibenhecke vom Weg getrennt. Ich wollte eben absitzen, da hörte ich Stimmen hinter der Hecke. Und das Geklirr von aufeinandertreffendem Stahl. Du kannst dir vorstellen, dass ich sofort neugierig wurde und wissen musste, was hier vor sich ging. Ich brachte Salomon ganz nahe an die Hecke heran und suchte eine unbelaubte Stelle im Gebüsch, um das Geschehen beobachten zu können. Oh, Annie, du hättest Jas sehen sollen.« Kitty sprang auf, machte einen Ausfallschritt und tat so, als ob sie mit einem Degen gegen einen nicht vorhandenen Gegner vorgehen wollte. »Wenn du gesehen hättest, wie elegant er den Degen führt, wie leichtfüßig er sich bewegt! Dabei ist er doch so groß und fornido, ich meine, er hat so breite Schultern.« Ihre Hände zeichneten seinen Oberkörper nach, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Dann ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl zurückfallen und sagte mit verträumtem Blick: »Und er ist so schön. So außergewöhnlich schön. Annie, ich habe noch nie so einen gut aussehenden Mann gesehen. Groß und stattlich. Er überragt den Reverend sicher um einen ganzen Kopf.«
»Das muss ja ein Riese sein!«, rief Mary Ann mit leichtem Spott. »Ich kann ihn schon fast vor mir sehen. Ein Ungeheuer mit enormen Ausmaßen und langer, wallender Mähne.«
»Er hatte die Haare zu einem Zopf zusammengebunden«, berichtigte ihre Freundin.
Mary Ann starrte sie mit offenem Mund an. »Er trug einen Zopf?«, wiederholte sie ungläubig. »Meine Liebe, du machst Scherze. Schon als du die schulterlangen Haare erwähntest, konnte ich es kaum glauben. Seit Beau Brummel in London das Sagen hat, sind Kurzhaarschnitte in der mondänen Herrenwelt en vogue. Lange Haare erscheinen mir bereits völlig unpassend … ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert. Aber ein Zopf! Weißt du, Kitty, ich denke, du irrst dich: Einen bezopften Riesen, der mitten am Tag Duelle ficht, wirst du im Adelsregister nicht finden. Den suchst du am besten auf der Liste der entsprungenen Patienten aus der Anstalt für Geisteskranke.«
Kitty, weit davon entfernt, über die Worte ihrer Freundin gekränkt zu sein, kicherte belustigt. »Du vergisst, dass auch dein Bernard den Degen schwang. Steht er ebenfalls auf dieser Liste?«
»Es ist mir unerklärlich, wie Reverend Westbourne in diese Lage gekommen sein könnte«, gab Mary Ann zu. »Vielleicht hat ihn das Ungeheuer dazu gezwungen? Hast du ein Gespräch zwischen den beiden verfolgen können?«
Kitty kräuselte die Stirn, wie sie es immer tat, wenn sie angestrengt nachdachte. »Es ging alles sehr schnell«, sagte sie schließlich. »Das Duell war bereits in vollem Gange, als ich beim Ententeich ankam. Ich hörte, wie der Reverend sagte: ›Du wirst doch nicht im Ernst angenommen haben, Jas, dass du von mir auch nur ein Wort erfährst‹, und darauf erwiderte dieser: ›Das werden wir schon sehen‹, oder so ähnlich. Erwidern ist eigentlich nicht das richtige Wort. Er zischte es durch die geschlossenen Zähne. Sein Gesicht war angespannt, das energische Kinn vorgestreckt. Er unternahm einen ungestümen Angriff …«
Mary Ann schrie erschrocken auf. Kitty schreckte aus ihren Gedanken. »Keine Angst. Dein Bernard schlug sich sehr tapfer. Und dabei hätte ich bisher nicht angenommen, dass er überhaupt in der Lage ist zu fechten. Ich habe den guten Reverend nie für einen Sportsmann gehalten.«
»Du meinst, das Ungeheuer hat ihn nicht getötet?«, vergewisserte sich Mary Ann.
Kitty schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht, solange ich dabei war. Dann begann allerdings Salomon laut zu wiehern, und ich beeilte mich, so schnell ich konnte davonzureiten. Ich hatte keine Lust, von den beiden Männern als Spionin hinter dem Busch zur Rede gestellt zu werden.«
»Zu dumm.« Mary Ann seufzte. »Ich hätte so gern den Ausgang des Duells erfahren. Sicher war dein Ungeheuer dem armen Reverend bei diesem Fechtkampf überlegen. Wenn er ihn nur nicht ernsthaft verletzt hat. Der Reverend wollte erst nächste Woche wieder zum Schachspielen kommen! So lange kann ich nicht warten. Ich muss wissen, was es mit diesem seltsamen Abenteuer auf sich hat. Und ob der Geistliche das Duell unverletzt überstanden hat. Glaubst du, wir finden einen Grund, im Pfarrhaus vorzusprechen?«
Kitty erhob sich. »Ich glaube, das wird gar nicht notwendig sein«, sagte sie langsam. »Ich habe eine viel bessere Idee. Ich wollte zwar zuerst absagen, aber das werde ich jetzt natürlich nicht tun.« Mit diesen rätselhaften Worten schritt sie zu ihrem Sekretär, schloss ihn auf und klappte die Schreibplatte herunter. Dann entnahm sie einem der Fächer eine violette Karte aus schwerem Büttenpapier und reichte sie an ihre Freundin weiter.
»Das ist eine Einladung«, las Mary Ann ungläubig. »Wie kommst du denn zu dieser Einladungskarte?«
»Du kennst doch Mrs. Nestlewood«, erklärte Kitty. »Du weißt, diese entsetzlich überschwängliche, dicke Dame, die vorgibt, eine entfernte Cousine meines verstorbenen Vaters zu sein. Kannst du dich erinnern, wie überrascht ich war, als sie vor einigen Monaten hier vorsprach und mich ›ihre liebe Nichte‹ nannte? Ich habe so meine Zweifel, ob sie tatsächlich meine Tante ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Papa derart vulgäre Verwandte besaß. Mrs. Clifford scheint sie jedoch überzeugt zu haben, sonst würde diese die zahlreichen Besuche nicht gestatten. Das wäre mir im Grunde auch lieber. Natürlich würden wir die Schokolade und die anderen Süßigkeiten vermissen, die Mrs. Nestlewood mir mitbringt, nicht wahr, Annie? Doch auf die Plaudereien könnte ich gerne verzichten. Ich weiß nie, worüber ich mich mit der Dame unterhalten soll. Und gestern Nachmittag hat sie dann überraschend diese Einladungskarte mitgebracht. Ich habe ganz vergessen, sie dir zu zeigen. Allerdings hielt ich es auch nicht für wichtig, denn ich hatte ja nicht vor, die Einladung anzunehmen. Du hättest Mrs. Nestlewood sehen sollen, als sie mir das Kuvert überreichte. Ich solle unbedingt kommen, hat sie geflötet, und es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte mich wieder an ihren mächtigen Busen gedrückt. So, wie sie es einmal tat, als ich noch nicht vorgewarnt war und mich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Sie meinte, ich müsse unbedingt kommen, um ihren Sohn Arthur kennenzulernen. Er sei ein so hübscher, aufstrebender junger Mann. Das hat mich in meinem Entschluss, nicht hinzugehen, natürlich bestärkt. Der Sohn von Mrs. Nestlewood! Entsetzlich! Sicher ähnelt er seiner Mama.«
Mary Ann musste über das Gesicht ihrer Freundin lächeln, in dem sich die Abscheu nur allzu deutlich widerspiegelte. »Wie auch immer Mr. Nestlewood aussieht, Kitty, du wirst ihn nicht sehen. Zumindest nicht auf dem Ball, den seine Mutter gibt.«
»Aber natürlich werde ich das!«, widersprach diese resolut. »Und du wirst auch das Vergnügen haben. Denn natürlich wirst du mich begleiten. Mrs. Nestlewood hat mir erlaubt, eine Freundin mitzubringen. Wir werden also beide den Ball besuchen. Ist das nicht ein verlockender Gedanke? Die gesamte vornehme Gesellschaft der Umgebung wird sich in Mrs. Nestlewoods Haus einfinden.«
»Meinst du das im Ernst?« Mary Ann war hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und Vernunft. »Du wirst doch nicht annehmen, dass uns Mrs. Clifford erlaubt, einen Ball zu besuchen?«
Kitty machte eine ungeduldige Handbewegung: »Natürlich weiß ich, dass der Besuch von Abendveranstaltungen ohne Mrs. Cliffords Begleitung streng verboten ist. Und sicher ist diese nicht bereit, uns auf einen Ball zu begleiten. Ich glaube, sie hält die langweiligen Musikabende in unseren Assembly Rooms bereits für den Gipfel der Frivolität.« Kitty kicherte und senkte ihre Stimme. »Wir werden uns daher hüten, Mrs. Cliffords Erlaubnis einzuholen. Wenn sie nichts von unserem Unternehmen weiß, kann sie es auch nicht verbieten.«
»Du meinst, wir sollten uns heimlich aus dem Haus schleichen?«, fragte Mary Ann mit großen Augen. »Und wie, bitte, willst du das Haus der Nestlewoods erreichen?«, setzte sie hinzu, als Kitty nickte.
»Die liebe Tante hat versprochen, eine Kutsche zu schicken«, erklärte Kitty fröhlich. »Sicher hat sie nichts dagegen, wenn ich sie bitte, diese beim Seiteneingang warten zu lassen. Wir können uns dann nach dem Abendessen über die Hintertreppe in den Garten schleichen. Diesen Weg nehme ich immer, wenn ich unerlaubterweise ausreiten will. Wir müssen nur den Kiesweg überqueren, und schon erreichen wir die Fliederbüsche. In deren Schatten können wir uns ohne Probleme bis zu der schmalen schmiedeeisernen Pforte schleichen. Am besten, ich verschaffe mir den Schlüssel der Pforte. Dann sind wir sicher, dass niemand den geheimen Weg versperrt. Obwohl diese Tür anscheinend keiner kennt. Zumindest dürfte sie nicht kontrolliert werden.«
»Du willst wirklich, dass wir bei Nacht und Nebel aus der Schule durchbrennen?« Mary Ann war unschlüssig, ob ihre Abenteuerlust oder ihre Angst überwog. »Was ist, wenn man uns erwischt? Ist dieses Risiko nicht zu hoch für einen Abend sorgenfreien Vergnügens?«
»Wer soll uns denn erwischen? Ach, Annie, sei doch nicht so ein Angsthase. Wir werden es so geschickt anstellen, dass niemand unser Weggehen bemerkt.« Kitty tanzte durch den Raum. »Und dann werden wir die Männer wiedersehen, die wir lieben. Ich werde in Jaspers Armen liegen und im Walzertakt über das Parkett wirbeln.«
»In Jaspers Armen?«, unterbrach Mary Ann, »du denkst doch nicht wirklich, dass du das bezopfte Ungeheuer auf dem Ball von Mrs. Nestlewood wiedertriffst!«
»Aber natürlich glaube ich das!«, widersprach Kitty voll Überzeugung. »Der Ball ist in dieser Gegend ein herausragendes Ereignis. Sicher hat Jasper hier Freunde, die ihn mit nach Nestlewood Manor bringen. Ach, querida, glaube mir, es wird traumhaft werden! Und du hast Gelegenheit, dich persönlich vom Wohlergehen des guten Bernard zu überzeugen. Und ihm zu beweisen, dass du kein Schulmädchen mehr bist, sondern eine erwachsene Frau. Bezaubernd und aufregend und genau jenes weibliche Wesen, dem er gerne einen Heiratsantrag machen möchte. Na, sag selbst, ist das nicht ein bisschen Risiko wert?«
Bernard Westbourne war ein ernster, beherrschter junger Mann mit festen Grundsätzen und strengen Moralvorstellungen. Wie dies in adeligen Familien üblich war, hatte er als dritter Sohn die Laufbahn eines Geistlichen eingeschlagen. Sein ältester Bruder Joseph würde einst das Erbe seines Vaters in Lincolnshire antreten und auch den Titel eines Earl of Westmore übernehmen. Der zweite Bruder Richard fuhr als Marineoffizier zur See. Er selbst hatte nach dem Studium in Eton und Cambridge die Stelle des Pfarrers von St. Ermins nahe Bath übernommen, was den Ausgangspunkt für einen Aufstieg in der kirchlichen Hierarchie bilden sollte. Neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit hatte er sich entschlossen, dem Vorbild seines Vorgängers zu folgen und den jungen Damen im Institut von Mrs. Clifford Religionsunterricht zu erteilen. Dies brachte nicht nur eine angenehme Abwechslung im oft eintönigen Alltag mit sich, sondern auch eine höchst willkommene Aufbesserung der Finanzen der Pfarre. Dort stand es mit dem Geld wahrlich nicht zum Besten. Der alte Pfarrer hatte seinem Nachfolger nichts als Schulden hinterlassen. Von seinem Vater, dem Earl, der neben seinen drei Söhnen auch noch drei Töchter zu versorgen hatte, konnte Mr. Westbourne keinerlei Unterstützung erwarten. Mrs. Cliffords Angebot, den Religionsunterricht weiterzuführen, hatte er daher mit großer Freude angenommen. Die Stunden selbst gestaltete er anschaulich und abwechslungsreich, und es war ihm bald gelungen, die Mädchen für sein Fach zu interessieren. Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, dass die Begeisterung, mit der die Schülerinnen seinem Vortrag folgten, weniger dem Inhalt seiner Worte galten als seinem Äußeren. Man hielt ihn allgemein für einen hübschen jungen Mann, mit gepflegtem, streng gescheiteltem, brünettem Haar, tief liegenden blauen Augen und fein geschwungenen Lippen. Er war nicht allzu groß, doch durchaus stattlich. Für die Mädchen, die selten Gelegenheit hatten, mit heiratsfähigen, jungen Männern zu verkehren, wurde er bald zum begehrtesten Schwarm.
Eines Tages hatte der Reverend zu seiner Überraschung festgestellt, dass es Schülerinnen gab, die sich nicht nur für Religion, sondern auch für das Erlernen der lateinischen Sprache interessierten. So hatte er in Absprache mit Mrs. Clifford begonnen, auch diese zu unterrichten. Er bemühte sich dabei auch, die geschichtlichen Hintergründe herauszuarbeiten und die Mädchen in die Welt der römischen Kultur einzuweihen. Eine höchst angenehme Aufgabe, da sich zumindest zwei der Damen wirklich für das Altertum zu interessieren schienen. Die eine war Miss Eliza Boulington, nicht hübsch, doch klug und belesen. Ihre detaillierten Zwischenfragen machten deutlich, dass sie sich auch nach den Unterrichtsstunden intensiv mit der Materie beschäftigte. Die zweite Dame war Miss Mary Ann Rivingston, die nicht minder klug war als ihre Schulkollegin, doch bei Weitem erfreulicher anzusehen. Natürlich war er als ehrbarer Geistlicher stets bemüht, die Menschen nur nach ihren inneren Werten zu beurteilen. Und dennoch waren ihm die äußeren Vorzüge von Miss Rivingston nicht verborgen geblieben, obwohl ihre Formen in den schlichten, dunklen Schulkleidern, die ihr Bruder ihr zugestanden hatte, gar nicht richtig zur Geltung kamen. Nicht auszudenken, wie reizvoll Miss Rivingston aussehen würde, wenn sie erst die eleganten, dezent dekolletierten Roben trug, die ihr ihrem gesellschaftlichen Rang nach zukamen. Eine Vorstellung, in der Reverend Westbourne gerne schwelgte, bevor er sich selbst streng zur Ordnung rief.
Miss Rivingston war seine Schülerin und sollte es, wie ihm Mrs. Clifford mitgeteilt hatte, noch einige Zeit bleiben. Er konnte den Entschluss von Lord Ringfield nur gutheißen. Es war ihm eine große Beruhigung, das Mädchen noch weitere vier Jahre hier in den geschützten, ehrbaren Hallen des Internats zu wissen. Um nichts in der Welt wollte er es vermissen, wie sie ihre wissbegierigen Augen auf ihn richtete, wenn sie interessiert seinem Unterricht folgte. Und er freute sich jede Woche erneut auf die Stunden, die sie gemütlich vor dem Kamin in der Bibliothek des Schulhauses verbrachten, in ein Schachspiel vertieft. Stolz konnte er feststellen, dass sich sein Schützling zu einer wahren Meisterin in diesem Spiel entwickelt hatte. Vielleicht würde es ihm mit der Zeit auch noch gelingen, durch sanftes Einwirken Miss Rivingstons Temperament zu zügeln und sie so zu einer passenden Braut für einen aufstrebenden Geistlichen zu erziehen. Eine ebenso reizvolle Vorstellung wie die andere. Und doch: Ihre feuerroten, dichten, langen Locken deuteten darauf hin, dass ihm noch viel Mühe bevorstand, wollte er dieses Ziel erreichen.
An diesem Nachmittag war er, wie er es gerne tat, wenn seine Pflichten es zuließen, auf dem ruhigen Weg entlang des Waldrandes spazieren gegangen. Das kleine schwarze Büchlein in seiner Rechten, in das er während der Studienzeit Verse von Ovid geschrieben hatte und in das er sich immer wieder gerne vertiefte. Es war einer jener Spätherbsttage, in denen die schwachen Sonnenstrahlen kaum wärmend ihren fahlen Schein durch die dichte Wolkendecke warfen. Die Saatkrähen hatten schon Einzug gehalten und suchten mit lautem Gekreisch auf den abgeernteten Feldern nach übrig gebliebenen Körnern. Bald würden die Tage kommen, an denen sich die dichten Nebel auch bis zum Nachmittag nicht auflösten. Tage, die er lieber vor dem wärmenden Kaminfeuer verbrachte und an denen er das Haus nur dann verließ, wenn unaufschiebbare seelsorgerische Pflichten dies erforderten.
Doch noch war es nicht so weit. Noch luden einzelne Sonnenstrahlen zum Spazieren über Wald und Flur, boten ausgedehnte Wanderungen in der Natur willkommene Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen und Pläne für die Zukunft zu überdenken. Natürlich wäre er zu Hause geblieben, wenn er geahnt hätte, dass er an diesem Nachmittag Besuch erhalten würde. Seine eigenen vier Wände hätten ihm mehr Schutz vor dessen aufgebrachtem Zorn geboten – hier auf dem freien Feld war er dessen Launen nahezu schutzlos ausgeliefert.
Justin Tamworth, der zweite Earl of St. James, hatte bereits am Vortag vergeblich im Pfarrhaus von Reverend Westbourne vorgesprochen. Mrs. Blooms, die Köchin, hatte ihm die Tür geöffnet, ihn jedoch nicht ins Haus gebeten. Weitschweifig, wie das ihre Art war, hatte sie Auskunft darüber gegeben, dass der Geistliche nach Bradford-upon-Avon gefahren war. Der alte Nichols würde begraben werden, der vergangene Woche von der Leiter gefallen war. Ob er denn das nicht wisse, da doch Mrs. Nichols auch Doctor Rilly-Bengstonfield hatte rufen lassen. Dabei hatte doch schon Mrs. Fisher, die Mutter von Mrs. Mouhan …
Seine Lordschaft hatte nicht die Höflichkeit gehabt, der alten Frau länger zuzuhören. Er war derart erzürnt, den Pfarrer nicht zu Hause angetroffen zu haben, dass er sie grußlos in der offenen Tür stehen ließ. Es war ihm nicht aufgefallen, dass er weder seinen Namen genannt noch angekündigt hatte, abermals vorsprechen zu wollen. Als der Geistliche am späten Abend erschöpft von dem langen Ritt nach Bredford-upon-Avon zurückgekommen war, hatte ihm Mrs. Blooms von dem seltsamen, ja geradezu furchteinflößenden Besucher erzählt. Mr. Westbourne konnte sich keinen Reim auf das Gehörte machen. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, bei dem aufbrausenden, unbeherrschten Fremden mit dem unhöflichen Betragen könnte es sich um Justin Tamworth gehandelt haben. Justin Tamworth, ein Freund aus seiner Studienzeit. Ein Mann, den er jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Tamworth hatte die Offizierslaufbahn eingeschlagen und in Spanien gegen Napoleon gekämpft. Später war er zurückgekehrt, um das nicht unbeträchtliche Erbe seines Vaters anzutreten und den Titel eines Earl of St. James zu übernehmen. Er, Westbourne, war inzwischen der Pfarrer der Gemeinde St. Ermins geworden, und es schien, als hätte er seinen Studienkollegen für immer aus den Augen verloren. Doch dann, vor drei Wochen, hatten sich überraschend ihre Wege wieder gekreuzt. Er war nach London gereist, da seine jüngste Schwester Silvie heiraten wollte. Die Trauung fand in der Kirche zu St. George am Hanover Square statt. Zu seiner Überraschung war sein Studienfreund der Bräutigam. Justin Tamworth war immer ein Musterbeispiel an kühler Gelassenheit gewesen. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Immer umgab ihn die Aura unnahbarer Arroganz. Natürlich, er war herablassend und bisweilen zynisch. Ohne Frage konnte er bei Weitem selbstsicherere Gemüter als Mrs. Blooms durch seine hochfahrende Art erschüttern. Doch die Köchin hatte den Fremden ganz anders beschrieben: unbeherrscht und wild. Nein, er hatte wirklich nicht damit rechnen können, dass es Justin Tamworth war, der ihn da aufgesucht hatte. Als dieser nun am Tag darauf abermals energisch an die Pfarrhofstür klopfte, versetzte er Mrs. Blooms allein schon durch seinen Anblick derart in Angst und Schrecken, dass sie ihm den Waldweg beschrieb, auf dem der Geistliche gerne spazieren ging. Der Wunsch, den unangenehmen Fremden loszuwerden, siegte über die Angst, einem ausdrücklichen Befehl ihres Herrn zuwiderzuhandeln.
Und so kam es, dass der Reverend nichtsahnend, in die Lektüre seines Büchleins vertieft, sich langsam der Stelle näherte, an der sich der Waldweg und die kaum befahrene Straße kreuzten, die zu einer kleinen Siedlung westlich von Bath führte. Dort angekommen, fiel sein Blick auf ein sportliches schwarzes Kutschgefährt. Er wäre achtlos daran vorbeigegangen, hätte er nicht durch Zufall zu dem Gentleman aufgeblickt, der regungslos auf dem Kutschbock saß. Dessen Miene verriet nichts Gutes.
»Tamworth!«, rief Westbourne überrascht. »Ich meine natürlich: St. James. Sei mir gegrüßt, alter Freund. Was treibt dich denn in diese einsame Gegend?«
»Es nützt dir nichts, so zu tun, als wüsstest du nicht, dass ich dich suche«, entgegnete der so Angesprochene anstelle einer Begrüßung. Sein Ton klang unüberhörbar gereizt. Mit einer eleganten Bewegung ließ er sich vom Kutschbock gleiten. »Ich habe dich bereits gestern in deinem Haus aufgesucht. Man sagte mir, du seist nicht anwesend. Und heute finde ich dich hier …« Er blickte sich um und setzte mit spöttischem Blick fort: »… versteckt zwischen Bäumen und Büschen. Wenn du schon vor mir davonläufst, dann solltest du dein Personal besser abrichten. Ohne die Wegbeschreibung deiner Köchin hätte ich dich hier sicher nicht gefunden.«
Reverend Westbourne presste die Lippen zusammen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Tamworth mit barschen Worten zurechtgewiesen. Wie kam dieser Mann dazu, ihn bei seinen einsamen Gedanken so rüde zu unterbrechen? Dazu die aus der Luft gegriffenen Vorwürfe! Eine Ungeheuerlichkeit! Doch schon als Kind hatte Westbourne gelernt, sich zu beherrschen, das unselige aufbrausende Temperament zu zügeln, das ihm, wie anderen Mitgliedern seiner Familie, zu eigen war. Und überhaupt: diese unglaublichen Vorwürfe waren es nicht wert, dass er weiter darauf einging. »Du suchst mich?«, fragte er daher schlicht.
»So ist es. Und du weißt auch, was ich von dir wissen will: Wo ist meine Frau, Westbourne? Wo hältst du Silvie versteckt?« entgegnete der Earl. Obwohl diese Sätze mit ruhiger Stimme vorgebracht worden waren, klangen sie wie eine Drohung.
Reverend Westbourne seufzte indigniert. »Hast du denn meinen Brief nicht gelesen?«, erkundigte er sich in einem Tonfall, den er pflichtvergessenen Schülern gegenüber gerne anschlug. »Ich habe dir doch mitgeteilt, dass ich nicht bereit bin, dieses Thema mit dir zu besprechen.«
Mit diesen Worten schickte er sich an, an der Kutsche Seiner Lordschaft vorbeizugehen und seinen Spaziergang fortzusetzen, so als habe diese Unterhaltung nicht stattgefunden. Im Innersten war er jedoch beunruhigt und aufgewühlt. Auch er machte sich Sorgen um seine jüngste Schwester. Große Sorgen. Hatte diese mit ihrer überstürzten Abreise nicht doch eine nicht wiedergutzumachende Fehlentscheidung getroffen? Wäre es nicht ihre Pflicht gewesen, bei Tamworth zu bleiben? Ein Leben zu führen im gesicherten Wohlstand? Doch diese Gedanken würde er gewiss nicht mit Justin besprechen – dem Mann, vor dem Silvie davongelaufen war.
Der Earl hatte die Reise nach Bath mit den besten Vorsätzen begonnen. Er wollte mit seinem alten Studienfreund ein ernstes Gespräch führen. Seine Braut war verschwunden – da war es doch natürlich, dass er nach ihr suchte. Bernard Westbourne, sein alter Schulfreund, konnte ihm nicht ernsthaft seine Hilfe verweigern. Natürlich hatte er bereits mit Silvies Eltern gesprochen. Der Besuch in ihrem Elternhaus, einen Tag nach der Hochzeitsfeier, brachte jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Silvies Vater hatte sich ihm, dem Jüngeren, gegenüber bisher stets devot, um nicht zu sagen unterwürfig verhalten.
Nun empfing er ihn mit einem seiner cholerischen Ausbrüche, derentwegen er in der ganzen Stadt bekannt und gefürchtet war. Er hatte gezetert und getobt. Er hatte Justin mit geröteten Wangen und hervorquellenden Augen beschuldigt, am Unglück seiner Tochter schuld zu sein. Lady Westmore, Silvies Mutter, war während dieser unangenehmen Unterredung still in einer Ecke des kahlen Wohnzimmers gesessen. Sie tat so, als sei sie in eine Stickerei vertieft, während ihr die Tränen unablässig über ihre weißen, früh gealterten Wangen liefen. Um die Peinlichkeit ins Unerträgliche zu steigern, hatte Lord Westmore sich nicht nur nicht gescheut, seine Gattin vor dem Besucher mehrmals zurechtzuweisen. Er bezeichnete sie darüber hinaus als hysterisches Weib, das schuld daran sei, dass ihre Jüngste verwöhnt und aufmüpfig geworden war. Eine Tochter, die sich erdreistete, sich über die Befehle ihres Vaters hinwegzusetzen, sei nicht länger seine Tochter. St. James erkannte nach wenigen Worten, dass Lord Westmore wohl der letzte Mann war, dem Silvie ihr Vertrauen geschenkt haben würde. Er beeilte sich, die Unterredung zu beenden und das Haus am Hanover Square eilends zu verlassen. Zwei Tage später kehrte er jedoch noch einmal dahin zurück. Er hatte von Bekannten erfahren, dass der Hausherr in Begleitung zweier Freunde aufs Land gereist war, um an einer Fuchsjagd teilzunehmen. Vielleicht hatte sich Lady Westmore in der Zwischenzeit beruhigt. Vielleicht war sie in Abwesenheit ihres gestrengen Gatten redseliger. Mylady ließ ihn umgehend in ihren Salon bitten. Doch seine Hoffnungen wurden auch diesmal herb enttäuscht. Bereits sein Anblick reichte aus, um die unglückliche Dame abermals in Tränen ausbrechen zu lassen. Sie schluchzte und zitterte und konnte sich kaum beruhigen. Zwischendurch stammelte sie in unüberhörbarer Aufregung Sätze, die St. James seltsam wirr erschienen und deren Zusammenhang ihm nicht klar wurde. Hauptaussage schien zu sein, dass Mylady ihren Gatten zutiefst fürchtete und sich, gleich nachdem sie dies bekannt, erschrocken und schuldbewusst dafür entschuldigte und erklärte, Westmore sei ein wackerer Mann mit aufrichtiger Gesinnung. Es dauerte nicht lange, und St. James verlor die Geduld. Er sah ein, dass ihn dieser Besuch auf seiner Suche nach Silvie nicht weiterbringen würde. Also erhob er sich, verabschiedete sich brüsk und ließ Mylady allein.
Eine Vorsprache bei Mr. Joseph Westbourne, Silvies ältestem Bruder, war nicht minder verlorene Zeit. Joseph hatte sowohl die klein gewachsene, gedrungene Gestalt seines Vaters geerbt als auch dessen cholerisches Temperament. Zudem schien er schon am frühen Nachmittag ausgiebig dem Alkohol zugesprochen zu haben. Als St. James in dessen Wohnung vorsprach, fand er ihn zum Ausgehen gekleidet in der Eingangshalle. Mr. Westbourne erklärte unumwunden, dass er nicht viel Zeit für eine Unterredung habe, da er sich mit ein paar Freunden zum Hahnenkampf verabredet habe. »Nichts für ungut, St. James. Aber das soll der Kampf des Jahres werden. Greenhood hat einen roten Hahn erworben, der schlägt sie alle. Kommen Sie doch mit mir, wir plaudern unterwegs weiter.«
Der Earl lehnte entschieden ab. Hahnenkämpfe gehörten nicht zu den Belustigungen, für die er etwas übrig hatte. »Ich will Sie nicht aufhalten, Westbourne«, bemerkte er stattdessen und schlug ungeduldig mit der Reitgerte gegen den Schaft seines Stiefels. »Sagen Sie mir nur, wo ich Ihre Schwester finde, und Ihre Freunde brauchen nicht auf Sie zu warten.«
Joseph war nicht überrascht. »Ja, ja, Sie kommen wegen Silvie. Dacht ich’s mir doch.« Er kramte ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich ausgiebig. »Eine verdammte Sache ist das. Ich hab keine Ahnung, wo sich das undankbare Weibsstück aufhält. Auf meine Ehr’. Aber eins weiß ich: Ich dreh ihr eigenhändig den Hals um, wenn ich sie erwische. Das versprech ich Ihnen, Mylord.« Der Earl erklärte angewidert, dass dies nicht nötig sei. Er forderte Mr. Westbourne stattdessen auf, sich bei ihm zu melden, falls er etwas von Silvie erfuhr.
Dann machte er eilends kehrt und bestieg seine Kutsche. Es war zum Verrücktwerden! Gab es denn wirklich niemanden, der wusste, wo sich Silvie aufhielt? St. James überlegte. Der zweite Sohn aus dem Hause Westbourne kreuzte mit seiner Fregatte soeben im Mittelmeer. Er war nicht einmal zur Hochzeit erschienen und schied als Auskunftsperson aus. Blieb also nur der dritte Bruder: Bernard. Und doch: St. James war sich sicher, dass Silvie sich nicht an diesen Bruder gewandt hatte. Wer würde sich dem steifen Geistlichen mit der belehrenden Art in seiner seelischen Not anvertrauen? Er kannte Bernard. Nicht umsonst hatte er in Eton jahrelang das Zimmer mit ihm geteilt. Erst mit den Jahren war es ihm gelungen, nicht jedes Mal die Geduld zu verlieren, wenn Bernard mit seinen weitschweifigen Ausführungen anfing, die Welt verbessern zu wollen. Nie hätte er sich an ihn gewandt, wenn er Hilfe brauchte. Schon gar nicht dann, wenn diese Hilfe aufgrund eines Verstoßes gegen die Konventionen – ja, gegen alle guten Sitten – notwendig geworden wäre. Es schien ihm unvorstellbar, dass der Geistliche eine Frau schützte, die ihrem Mann davongelaufen war. Oder war St. James sich nur deshalb so sicher, dass Bernard nichts über das Verschwinden seiner jüngsten Schwester wusste, weil er die weite Fahrt nach Bath scheute? Jedenfalls entschied er sich, dem Geistlichen einen Brief zu schreiben, und machte sich auf den Weg nach Hempsteade Heath, wo die älteste der Schwestern mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn lebte. Lady Mancroft war ihrem Vater und ihrem Bruder Joseph wie aus dem Gesicht geschnitten. Klein, untersetzt, mit hektischen roten Flecken auf den Wangen. Ein energisches Kinn unter ihrem schmalen, blassen Mund. Nein, sie wisse nicht, wo Silvie sich aufhalte, wurde ihm mit lauter Stimme erklärt. Und ihre Schwester täte gut daran, sich nicht bei ihr blicken zu lassen. Sie hatte Silvie den eindringlichen Rat gegeben, ihn, St. James, zu ehelichen. Schließlich kam dann das Vermögen des Earls den Westbournes zugute, wie sie ungeschminkt verkündete. Es war Silvies gottverdammte Pflicht, die Gelegenheit zu ergreifen, wenn sie sich schon so überraschend bot. stattdessen habe sie aus irgendwelchen Flausen heraus die Chance in den Wind geschlagen, ihren Geschwistern finanziell unter die Arme greifen zu können.
Bevor sie den Earl fragen konnte, ob er sich nicht dennoch moralisch verpflichtet fühle, einen Scheck zugunsten der Familie Mancroft auszustellen, verließ dieser fluchtartig das Haus. Welche Familie hatte er sich da ausgesucht, um einzuheiraten! Aber Silvie war so ganz anders als ihre Eltern und Geschwister. Sie war bezaubernd, zart und zerbrechlich. In ihrem Aussehen kam sie wohl mehr nach der Mutter, die in jungen Jahren eine sehr hübsche Frau gewesen sein dürfte. Bevor sie durch ihre Heirat mit dem aufbrausenden Earl und die Geburt von sechs Kindern in vierzehn Jahren rasch gealtert war. St. James sah Silvie vor sich: Die langen blonden Locken, im Nacken aufgesteckt, schienen fast zu schwer zu sein für ihren kleinen Kopf. Die dunklen Augen, die stets ernst und ein wenig traurig blickten. Der kleine, wohlgeformte Mund, der nie lächelte. Der Earl stutzte: Hatte er eben gedacht, Silvies Augen seien traurig gewesen? Unsinn, er musste sich irren. Welchen Grund hätte sie gehabt, traurig zu sein? Sie bekam ihn, den angesehenen, wohlhabenden Earl of St. James zum Mann. Sie hatte ihm selbst gesagt, wie ehrend sie seinen Antrag gefunden hatte und wie glücklich er sie machte.
Vielleicht konnte Silvies zweite Schwester Licht ins mysteriöse Dunkel dieser Angelegenheit bringen. Diese lebte von der Umwelt abgeschieden als Klosterfrau in der Abtei von St. Ann nahe Woborn. St. James hatte sie vorher noch nicht kennengelernt. Die Äbtissin hatte ihr keine Erlaubnis erteilt, zur Hochzeit ihrer Schwester nach London zu reisen. Als der Earl nunmehr im Kloster vorsprach, wollte man ihn erst gar nicht vorlassen. Er musste all seine Autorität und eine beträchtliche Spende für die Armen in die Waagschale werfen, ehe man ihm eine Viertelstunde Sprechzeit im Beisein zweier weiterer Nonnen gewährte. Doch auch dieses hart erkämpfte Gespräch brachte Justin nicht weiter. Für Barbara war Silvie noch ein Kind, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese überhaupt schon im richtigen Alter war, eine Ehe einzugehen.
»Silvie ist achtzehn«, hatte der Earl daraufhin ungeduldig eingewandt. Das schien Schwester Barbara zu überraschen. Sie lebte hier seit Jahren hinter Klostermauern, jenseits der Wirklichkeit. Der spärliche Kontakt zu ihrer Familie ließ sie in dem Glauben, die Welt jenseits der Klostermauern würde stillstehen. Alles würde so bleiben, wie sie es in Erinnerung hatte. Und in ihrer Erinnerung war Silvie vierzehn. Ein wildes, fröhliches, stets zu Scherzen und verwegenen Streichen aufgelegtes Mädchen. Schwester Barbara lächelte in Gedanken versunken. Der Earl erhob sich. Es war eindeutig, dass die Klosterfrau nichts wusste, ja, sich nicht einmal richtig erinnerte. Die stille, sanfte Silvie als wildes Mädchen zu beschreiben, schien ihm geradezu absurd.
Am nächsten Tag erreichte er London in den frühen Mittagsstunden. Sein Kopf schmerzte, als würde er zerbrechen. Es war eine ungeheure Dummheit gewesen, in dem Wirtshaus, in dem er übernachtet hatte, eine derart große Menge eines drittklassigen Brandys in sich hineinzuschütten. Damit waren seine Probleme auch nicht gelöst. Er beschloss, sich zu Bett zu begeben, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen. Doch ein Blick in seine Post, die ihm Butler Higson noch in der Halle überreichte, änderte seine Pläne schlagartig. Zu seiner Überraschung fand er nämlich einen Brief von Bernard Westbourne vor. Er hatte nicht erwartet, dass ihm dieser so rasch antworten würde. St. James riss mit den Fingern achtlos den Briefumschlag auf und überflog die Zeilen. »Ich bin nicht bereit, mit dir dieses Thema zu besprechen«, las er. Der Earl stieß einen triumphierenden Schrei aus. Bernard schrieb nicht, dass er nicht wisse, wo Silvie sich aufhalte. Er schrieb lediglich, dass er nicht darüber sprechen wollte. Also wusste er Bescheid! Bernard war der Schlüssel zum unergründlichen Geheimnis. Endlich ein Lichtstreifen am Horizont. Er würde ihn schon zum Sprechen bringen, da hatte St. James keine Angst.
So kam es, dass er den übermüdeten Kammerdiener anwies, abermals die Koffer zu packen, und noch am selben Nachmittag mit leichtem Gepäck in Richtung Bath reiste. Es sollte zwei Tage dauern, bis er endlich jemanden gefunden hatte, der die kleine Pfarre von St. Ermins westlich der Stadt kannte und der ihm den richtigen Weg weisen konnte. Er hatte die halbe Stadt nach seinem Freund abgesucht. War in der Trinkhalle gewesen und hatte eine Soiree in den Assembly-Rooms besucht. Doch seine Hoffnung, Reverend Westbourne bei diesem gesellschaftlichen Ereignis zufällig zu treffen, wurde enttäuscht. Der Abend erschien ihm im Vergleich zu den Veranstaltungen, die er in der Hauptstadt besuchte, ungewöhnlich langweilig. Bath mochte ja vor vielen Jahren einmal ein mondäner Kurort gewesen sein, der auch die adelige Gesellschaft aus London anlockte. Doch die Zeiten waren vorbei. Nun waren es wirklich vor allem alte und leidende Menschen, die hierherkamen, um die Wasser der Heilquellen zu trinken und auf eine Linderung der Schmerzen zu hoffen. Zudem schrieb man Mitte November – ein Monat, in dem die Jagd das herausragende Betätigungsfeld der noblen Gesellschaft war und nicht der Ballsaal einer Provinzstadt. Der Umstand, dass St. James an diesem Abend vergeblich nach dem Reverend Ausschau hielt, verdross ihn noch mehr. Als er tags darauf endlich vor dem Pfarrhaus stand und ihm eine ältere Frau eine umständliche Geschichte über Personen erzählte, die er nicht kannte, war es da ein Wunder, dass er nahe daran war, die Geduld zu verlieren? War der Reverend wirklich nicht zu Hause, oder hatte er Anweisungen gegeben, sich verleugnen zu lassen? Als er ihn am nächsten Tag abermals nicht im Pfarrhaus antraf, da hegte St. James keinerlei Zweifel mehr. Westbourne wich ihm aus. Und nun fand er ihn hier am Waldrand – einer Stelle, die doch kein vernunftbegabter Mensch freiwillig aufsuchen würde. Es sei denn, er hätte etwas zu verbergen. Dieses Verhalten war geradezu lächerlich. Allerdings war das Verhalten, zu dem er sich nun selbst hinreißen ließ, noch bei Weitem lächerlicher.
Das sollte er sich allerdings erst später eingestehen. In diesem Augenblick hatten der Zorn, die lange aufgestaute Ungeduld seine Sinne vernebelt. Dazu kam, dass er sich dem Pfarrer gegenüber ungewohnt hilflos fühlte. Er kannte Bernard, sein stures, hartnäckiges Wesen. Die Art, wie er ein frommes, lehrerhaftes Gesicht aufsetzte, um sich unliebsame, neugierige Fragen vom Hals zu halten. Und er hatte nicht die geringste Lust, sich wieder eine Abfuhr von einem Mitglied der Familie Westbourne zu holen. Da doch der Reverend seine letzte Hoffnung war. Wen sollte er denn noch fragen, wo noch suchen? Es war genug Zeit vergangen – es wurde Zeit, dass er Silvie fand.
»So kommst du mir nicht davon, mein Freund. Du wirst mir sofort sagen, wo Silvie ist«, fuhr er den Geistlichen an, ihn fest am rechten Arm packend. »Ich bin ihr Mann. Ich habe das Recht zu erfahren, wo sie sich befindet.«
Der Reverend sagte kein Wort, sondern blickte indigniert vom Gesicht seines Angreifers zu dessen Hand, die seinen Oberarm umklammerte, und wieder zurück. St. James ließ ihn abrupt los. Daraufhin strich der Geistliche betont langsam seinen Ärmel glatt, bevor er erwiderte: »Dieser Ansicht bin ich nicht.« Es schien, als sei mit diesen knappen Worten das Gespräch für ihn beendet.
»So, du bist nicht dieser Ansicht?!«, brüllte Seine Lordschaft, nun wirklich völlig außer sich. »Dann wird es Zeit, deine Ansichten zu ändern!« Er griff hinter sich auf den Kutschbock und holte mit raschem Handgriff zwei Duelldegen hervor. Einen davon drückte er dem fassungslosen Geistlichen in die Hand. Dann schlüpfte er aus seinem warmen Kutschiermantel aus braunem Wollstoff, dessen zahlreiche Schulterkragen ihn als Mitglied des »Four Horses Club« auswiesen. Er zog den Degen aus der Scheide und ging in Angriffsstellung. »En garde, Monsieur!«, rief er aus.
Der Geistliche wusste nicht, wie ihm geschah: »Jus! Bist du verrückt geworden? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich mit dir duelliere?« Der Degen Seiner Lordschaft strich haarscharf an seinem Ohr vorbei. Der Reverend ließ vor Schreck sein Buch fallen. Dann zückte er den Degen, um den nächsten Angriff abzuwehren.
»Also noch einmal, Bernard: Wo ist Silvie?«, wiederholte sein Widersacher und zielte gekonnt auf den Oberarm des Reverends. Dieser parierte und wich auch den nächsten Angriffen geschickt aus.
»Lass es genug sein!«, rief er schwer atmend.
»Nicht, bevor du mir sagst, wo Silvie ist«, beharrte St. James hartnäckig.
»Du wirst doch nicht im Ernst annehmen, Jus, dass du das auf diese Weise erfährst«, entgegnete der Geistliche.
»Das werden wir ja sehen«, zischte der Earl zwischen geschlossenen Zähnen zurück. In diesem Augenblick wieherte ein Pferd ganz in der Nähe. Reverend Westbourne war sofort abgelenkt. Erschrocken fuhr er herum. In diesem Augenblick spürte er einen stechenden Schmerz im rechten Oberarm. Er stolperte und fiel der Länge nach auf den Rücken. Sein Kopf schlug auf dem festgefrorenen Boden des Weges auf. Benommen blieb er einige Augenblicke liegen.
Als er wieder zu sich kam, blickte er in das wutentbrannte Gesicht seines Widersachers, der sich zu ihm hinabbeugte. »Bist du verrückt geworden, Westbourne!«, fuhr ihn Seine Lordschaft mit scharfer Stimme an. »Wie konntest du so unvorsichtig sein, dich mitten im Duell abzuwenden? Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte dich niedergestochen.«
Der Reverend setzte sich stöhnend auf. »Ich dachte, das wäre von Anfang an deine Absicht gewesen«, sagte er trocken und griff sich aufseufzend an den schmerzenden Hinterkopf.
»Unsinn«, wiedersprach St. James entrüstet. »Ich wollte nichts dergleichen. Du weißt genau, dass ich nie ernsthaft vorhatte, dich zu verletzen. Es ging mir einzig und allein darum zu erfahren, wo Silvie …« Er unterbrach sich, als sein Blick auf den Ärmel des Geistlichen fiel. Aus einem glatten Riss begann Blut zu sickern.
»Zieh deine Jacke aus!«, forderte er mit befehlsgewohnter Stimme.
»Ich scheine dich doch ärger getroffen zu haben, als ich zuerst angenommen hatte.«
Reverend Westbourne stützte sich auf seine linke Hand und erhob sich mühevoll. Es fiel ihm nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten. Schwankend ging er ein paar Schritte zur Seite, um seinen Hut aufzuheben, den er beim Fallen verloren hatte. Dieser sah reichlich mitgenommen aus. Es war schwer, ihn mit einer Hand halbwegs wieder in Form zu bringen. Der rechte Arm brannte. Er wagte nicht, ihn zu bewegen. So drückte er mit der Linken den Hut auf seine kurzen Locken und machte sich daran, das Versbuch zu suchen.
St. James verstellte ihm den Weg. »Sei kein Kindskopf, Bernard«, sagte er, und ein reuevolles Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Lass mich die Wunde ansehen. Du weißt, ich war Offizier. Ich habe schon ganz andere Schnittwunden verbunden.«
»Wenn du mir bitte aus dem Weg gehen würdest …« Der Reverend fuhr sich mit erschrockener Geste an den Hals. Seine Lordschaft hatte ungerührt damit begonnen, ihm die Jacke aufzuknöpfen. Energisch schlug er ihm mit seiner Linken grob auf die Hand. »Du denkst doch nicht, dass ich mich von dir auf offenem Feld entkleiden lasse«, fuhr er ihn gereizt an.
»Du wirst verbluten«, prophezeite ihm der Earl düster.
»Deine Sorge ehrt mich«, entgegnete der Reverend spöttisch. »Dennoch fällt es mir schwer, sie ernst zu nehmen. Hättest du mich nicht in dieses haarsträubende Duell verwickelt, so hätten wir uns unterhalten können, wie es zivilisierten Menschen zukommt. Doch dazu sehe ich mich nunmehr außerstande. Leb wohl, St. James. Ich mache mich jetzt auf den Heimweg. Mein Pfarrdiener ist ein heilkundiger Mann. Er wird wissen, was zu tun ist.« Mit schwankenden Schritten, das Versbuch unter den linken Arm geklemmt, den rechten Arm auf die linke Hand gestützt, machte er sich auf den Weg. St. James, der eben die Degen im Kutschkasten verstaut hatte, rief über die Schulter hinweg: »Komm zurück, Bernard, und steig auf. Ich fahre dich nach Hause.«
Der Geistliche zögerte. Eigentlich hatte er genug von St. James, doch dieses verlockende Angebot konnte er nicht ablehnen. Widerwillig ließ er sich auf den Kutschbock helfen. Der Earl nahm auf dem Fahrersitz Platz und ergriff die Zügel. Obwohl er in seinem Vorhaben keinen Schritt weitergekommen war, hatte sich sein Temperament merklich abgekühlt. Er sah ein, dass er Bernard unterschätzt hatte. Vermutlich würde nicht einmal die Folter diesem Mann ein Geheimnis entlocken. Und dennoch ließ ihm dieses Thema keine Ruhe. »Gib wenigstens zu, dass du weißt, wo Silvie ist«, forderte er ihn auf, nachdem sie den ersten Teil des Weges schweigend zurückgelegt hatten.
Der Geistliche nickte. »Natürlich weiß ich das«, bestätigte er gelassen.
»Ich habe deine Eltern aufgesucht, war bei allen deinen Geschwistern. Keiner wusste Bescheid. Warum hat sich deine Schwester gerade dir anvertraut? Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
Der Reverend nickte. »Das ist gut möglich.«
»Wenn ich wenigstens wüsste, warum sie verschwunden ist. Dann wüsste ich vielleicht auch, wo ich sie suchen soll.«
Der Reverend nickte schweigend und hielt seufzend seinen verletzten Arm fest.
»So kann ich nur Vermutungen anstellen«, fuhr St. James fort. »Vermutungen, die sich alle in Luft auflösen. Ich verstehe das alles nicht.«
»Silvie ist eine Frau«, erklärte ihm der Geistliche schlicht. »Welcher Mann kann schon von sich behaupten, die Frauen wirklich zu verstehen?«
Für kurze Zeit war der Earl von seinen Grübeleien abgelenkt. Mit großen Augen sah er den Reverend an. Er kannte eine ganze Anzahl von Frauen. Und er hatte noch nie Probleme damit gehabt, sie zu verstehen. Was sollte daran auch schwierig sein?
»Ich denke manchmal, dass nur eine Frau eine Frau wirklich verstehen kann«, erklärte ihm der Reverend. »Wir Männer denken doch zu logisch, zu verstandesbetont. Wenn du jetzt bitte stehen bleiben würdest. Wir sind eben an meinem Haus vorbeigefahren.«
Mit einem Ruck straffte St. James die Zügel. Er sprang ab und half seinem Freund aus der Kutsche. Der Abschied war knapp und wenig herzlich. Nachdenklich sah er dem Reverend nach, bis dieser im Pfarrhaus verschwunden war. Was hatte ihn bloß dazu getrieben, den Geistlichen in ein derart sinnloses Duell zu verwickeln? Das hätte schlimm ausgehen können. Die Verletzung, die er ihm zugefügt hatte, war peinlich genug. Auch wenn es sich vermutlich um nicht viel mehr als einen Kratzer handelte. Es war Zeit, dass er seine Pläne neu überdachte. Zeit für etwas Erholung und Entspannung. Weilte sein Cousin Albert nicht eben auf seinem Gut nahe Bristol, um Rotwild zu jagen? Nun, er würde sich ihm anschließen. Vielleicht kam ihm die rettende Idee, wo er Silvie suchen konnte, wenn er nicht den ganzen Tag angestrengt über dieses Thema nachdachte.
Das Institut von Mrs. Clifford war in einem weitläufigen Backsteingebäude untergebracht. Dieses lag inmitten ausgedehnter Parkanlagen am äußersten Stadtrand von Bath. Dreißig Schülerinnen im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren lebten und lernten hier und wurden in exklusiver Atmosphäre auf ihr späteres Leben vorbereitet. Mary Ann Rivingston war die einzige Schülerin, die sich länger als die üblichen Jahre im Internat aufhielt. Mrs. Clifford hatte den Ruf, jeder jungen Dame den nötigen Schliff fürs gesellschaftliche Parkett zu geben. Das Schulgeld war hoch, die Auswahlkriterien streng, und nur Mädchen aus den ersten Häusern fanden Aufnahme in diesem Institut. Dafür war die Ausbildung, die man hier bot, bei Weitem umfangreicher als in anderen derartigen Schulen. Nicht nur trockenes Wissen in Geschichte, Religion und Geographie wurde vermittelt. Auch auf die korrekte Erlernung der Muttersprache in Wort und Schrift wurde Wert gelegt. Dazu kamen Grundkenntnisse in Französisch, seit Mademoiselle Jeanette Berais, eine zu Zeiten der Revolution geflohene Lehrerin, dem Institut zur Verfügung stand. Der Umstand, dass Reverend Westbourne begonnen hatte, einigen Mädchen Lateinunterricht zu geben, wurde von Mrs. Clifford eher geduldet als geschätzt. Dafür hielt sie die Anstellung von Miss Sarah Chertsey für einen wahren Glückstreffer. Miss Chertsey war eine verarmte Landadelige unbestimmten Alters. Lange Jahre hatte sie als Gouvernante in einem hochherrschaftlichen Haus im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia gedient. Sie kannte eine ganze Anzahl der tonangebenden Mitglieder der besten Gesellschaft persönlich und verfügte über ein weitreichendes Wissen über die Geschichte der hochadeligen Familien.
Vor zwei Jahren, als die letzte der drei Töchter des Hauses das Schulzimmer verlassen hatte, war Miss Chertsey in ihre Heimatstadt Bath zurückgekehrt, mit einem exzellenten Zeugnis in der Tasche, in dem ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in höchsten Tönen gelobt wurden. Sie hatte sich bei Mrs. Clifford beworben und wurde auf der Stelle eingestellt. Seit diesem Tag unterrichtete sie die Mädchen in »Geschichte adeliger Häuser«, wie Mrs. Clifford diesen Unterrichtsgegenstand nannte. Miss Chertsey konnte den Stammbaum der wichtigsten Familien auswendig auf die Tafel zeichnen. Wusste die Lebensgeschichte der wichtigsten Persönlichkeiten, klärte die Schülerinnen über verwandtschaftliche Beziehungen innerhalb der Familien auf und zeigte Bilder der Adeligen und beschrieb deren Landsitze. Da sie ihren Vortrag flott und lebendig zu gestalten wusste – und da sie diesen auch mit zahlreichen den Klatschspalten der Zeitungen entnommenen Tratschgeschichten garnierte, ein Umstand, der der gestrengen Mrs. Clifford keinesfalls zu Ohren kommen durfte –, war ihr Unterricht das Lieblingsfach der meisten Mädchen. Besonders Mary Ann folgte gebannt ihren Ausführungen. Sie hatte sich bereits selbst von ihrem spärlichen Taschengeld eine Ausgabe von Kenneth’ Adelsregister gekauft, in dem sie in freien Stunden gerne schmökerte. Natürlich gab es dann auch noch Unterricht in Zeichnen, Malen, Gesang und Klavierspiel. Jeden Donnerstag kam ein Tanzlehrer, um die Mädchen in die Kunst der Quadrille und der ländlichen Tanzfolgen einzuweihen. Und erst kürzlich hatte Mrs. Clifford sich erweichen lassen, den