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England, 1811. Frederica, die älteste Tochter des verstorbenen Viscounts of Panswick, träumt von einer glanzvollen Saison in London. Doch ihr Vater hat der Familie einen Berg Schulden hinterlassen. Um wenigstens das Anwesen Lancroft Abbey zu retten, beschließt ihre Mutter, alles auf eine Karte zu setzen. Anstelle von Frederica soll zuerst die zweitälteste und schönste Tochter Penelope in London debütieren - ausgestattet mit dem letzten Bargeld der Familie. Als sich Penelopes Anstandsdame das Bein bricht, übernimmt Frederica, als verwitwete Cousine verkleidet, ihren Part. Die ersten Versuche, Kontakt zur vornehmen Gesellschaft aufzunehmen, scheitern kläglich. Kann Frederica ihre Aufgabe doch noch erfüllen, einen reichen Junggesellen für ihre Schwester finden und damit die Familie und Lancroft Abbey retten?
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Über das Buch:
England, 1811. Frederica, die älteste Tochter des verstorbenen Viscounts of Panswick, träumt von einer glanzvollen Saison in London. Doch ihr Vater hat der Familie einen Berg Schulden hinterlassen. Um wenigstens das Anwesen Lancroft Abbey zu retten, beschließt ihre Mutter, alles auf eine Karte zu setzen. Anstelle von Frederica soll zuerst die zweitälteste und schönste Tochter Penelope in London debütieren - ausgestattet mit dem letzten Bargeld der Familie. Als sich Penelopes Anstandsdame das Bein bricht, übernimmt Frederica, als verwitwete Cousine verkleidet, ihren Part. Die ersten Versuche, Kontakt zur vornehmen Gesellschaft aufzunehmen, scheitern kläglich. Kann Frederica ihre Aufgabe doch noch erfüllen, einen reichen Junggesellen für ihre Schwester finden und damit die Familie und Lancroft Abbey retten?
Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Agency GmbH, München.
Der Titel ist in der gebundenen Ausgabe (ISBN 978-3-94085-560-2) beim Dryas Verlag erschienen. www.dryas.de
Covergestaltung: Eden & Höflich, Berlin
Lektorat: Vera Baschlakow
Korrektorat: Dr. Rainer Schöttle
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-744-8
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Lancroft Abbey, Tunbridge Wells, Kent, April 1811
„Er ist da! Penelope, er ist gekommen! Ist das nicht aufregend?“ Frederica hatte kaum das Zimmer betreten, das sie mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester teilte, da riss sie auch schon die Tür des wuchtigen Kleiderschranks mit heftigem Schwung auf, dass diese laut in den Angeln knarrte. „Unsere Trauerzeit ist vorbei. Endlich ist Schluss mit diesen tristen, hässlichen Kleidern!“
Penelope sah nur kurz auf, um sich dann wieder der kleinen getigerten Katze zuzuwenden, die auf ihrem Schoß lag und die sie hingebungsvoll streichelte.
„Von wem sprichst du, Frederica? Ich wusste gar nicht, dass Mama Besuch erwartet.“
Etwas Weiches landete neben ihr auf der bestickten Bettdecke. Es war ein schlichtes Tageskleid in düsterem Violett, der Kragen hochgeschlossen, nicht die kleinste Spitze am schmalen Ärmel. Gleich darauf folgte ein schwarzes Leinenkleid, grob, einfach und ohne jeden Zierrat.
Frederica hielt kurz inne. „Aber natürlich weißt du das, Lämmchen! Es ist nur so, dass es dich nicht interessiert. Mr Grittleton ist eingetroffen. Das ist der Vermögensverwalter, den Mamas Halbbruder, Onkel Chedworth, zu uns geschickt hat. Endlich werden wir erfahren, wie viel Geld für mein Debüt zur Verfügung steht. Cousine Agatha und ich können nun nach London aufbrechen. Und endlich, endlich brauchen wir diese Scheußlichkeiten nicht mehr zu tragen. Findest du das nicht herrlich, Penelope?“
Ihre Schwester schüttelte den Kopf: „Ich habe die Trauerkleidung eigentlich recht praktisch gefunden. Man wurde im Stall nicht so schnell schmutzig.“
„Wie dem auch sei, nun wird alles anders!“, rief Frederica, während ihre Wangen voll Vorfreude glühten. „Fast habe ich das Gefühl, mein Leben würde erst jetzt richtig beginnen.“
Die kleine Katze auf Penelopes Schoß rekelte sich ausgiebig, bevor sie wohlig zu schnurren begann. Für einen kurzen Augenblick war Frederica von ihrem eigentlichen Thema abgelenkt. „Mama mag es nicht, wenn du Tiere mit in unser Schlafzimmer bringst, Lämmchen.“
Der Protest folgte umgehend. „Aber das ist doch kein Tier! Das ist bloß ein Kätzchen. Sieh nur, wie sauber es ist. Und wie süß. Außerdem wirst du mich sicher nicht bei Mama verpetzen.“
Frederica lachte. „Nein, natürlich nicht.“
Sie griff zum nächsten Kleiderbügel, und ein schlichtes dunkelgraues Kleid landete neben den beiden anderen auf dem Bett.
„Weißt du, wie lange ich schon von meinem Debüt in London geträumt habe? Seit meinem sechzehnten Geburtstag. Seit sage und schreibe sechs Jahren male ich mir alle Einzelheiten aus. Wie oft habe ich Papa darum gebeten, aber er wollte bekanntlich nichts davon hören. Er hasste die Hauptstadt ebenso sehr, wie Mama sie hasst. Wenn es nicht Cousine Agatha gäbe, die bereit ist, mich als Chaperone zu begleiten, käme ich wohl nie im Leben dazu, vor der Königin und unserem neuen Prinzregenten einen Knicks zu machen.“
„Ich stecke mein Geld lieber in Edwards Ausgrabungen, als es den Putzmacherinnen für Rüschen und Tand in den Rachen zu werfen.“ Penelope imitierte die tiefe Stimme ihres Vaters so gekonnt, dass Frederica laut auflachen musste.
„Wer braucht schon neue Stiefelchen, wenn man ein Stück des Schuhs von Ramses II. haben kann?“, ergänzte sie.
Nun lachten sie beide.
Doch Frederica wurde schnell wieder ernst. „Du weißt, dass ich Papa geliebt habe, Lämmchen. Und doch hätte ich mir gewünscht, er hätte sich mehr für seine eigenen Kinder interessiert als für Cousin Edwards Ausgrabungen. Der war schließlich nicht einmal sein echter Neffe, sondern bloß der Gatte von Mamas Nichte.“
„Ich denke, er hat Edward für seine Leistungen bewundert“, wandte Penelope ein. „Dafür, dass er seine Gesundheit und ein bequemes Leben aufs Spiel setzte, um im Wüstensand nach Schätzen längst vergangener Tage zu graben.“
„Wenn er Edward bewunderte, dann hätte er Cousine Agatha noch viel mehr bewundern müssen“, antwortete Frederica. „Sie ist schließlich eine Lady. Und doch hat sie mit ihrem Gatten in Ägypten gelebt und ihn bei seiner Arbeit unterstützt.“
„Das ist richtig. Und jetzt nimmt sie auch noch das Abenteuer auf sich, dich als Anstandsdame nach London zu begleiten. Sie ist wirklich unerschrocken, das muss ich zugeben.“
Penelope hatte bei den letzten Worten zu lachen begonnen. Ihre Schwester ließ sich neben ihr auf dem Bettrand nieder und stimmte in das Lachen ein.
„Ich denke, es wird wirklich ein Abenteuer. All die Gesellschaften, Theater, Museen, ich kann es kaum mehr erwarten.“ Sie hielt kurz inne: „Möchtest du nicht doch mit uns kommen, Lämmchen?“
Erschrocken riss Penelope die Augen auf und schüttelte energisch ihre blonden Locken.
„Oh nein, meine Liebe, es gibt nichts, was mir die Hauptstadt reizvoll erscheinen lässt. Hast du Mamas Erzählungen vergessen? Wie laut es in London ist und wie schmutzig? Die Luft ist schlecht, und häufig löst sich der Nebel tagelang nicht auf.“ Angeekelt verzog sie das Gesicht.
„Das wird mir nichts ausmachen …“
„Warte nur ab! Papa reiste stets widerwillig zu den Sitzungen des House of Lords. Und Mama hasste es geradezu, wenn sie ihn begleiten musste.“
„Ja, aber London hat sicher auch seine gute Seiten“, ließ sich Frederica in ihren hoffnungsfrohen Zukunftsträumen nicht beirren.
„Das mag schon sein, doch sicher nicht für mich. Warum sollte ich in eine stinkende, große Stadt wollen, wenn es auf dem Lande so schön ist? Hier habe ich Natur ringsherum. Ich kann alles zu Pferd erkunden. Bunte Blumenwiesen, duftendes Heu! Und dann sind da noch die vielen anderen Tiere. Vögel, Kühe und die Schafe. Habe ich dir schon erzählt, dass Aphrodite, das hübsche, schwarze Schaf mit den besonders dunklen Augen, Nachwuchs erwartet, Freddy?“
„Ach, tatsächlich?“, fragte Frederica mehr ihrer Schwester zuliebe als aus wirklichem Interesse. Sie stand auf und wandte sich wieder dem Schrank zu, um das nächste Kleid kritisch in Augenschein zu nehmen.
„In London soll es auch große Parks mit blühenden Wiesen geben, in denen man ausreiten kann“, sagte sie. „Und dazu noch viele andere verlockende Dinge.“
Eine graue Pelerine landete auf dem Kleiderstapel.
„Denk doch nur an die wunderbaren Buchgeschäfte, Penelope. Prall gefüllt mit den interessantesten Reisebeschreibungen und den aufregendsten Romanen. Am Piccadilly soll es einen besonders großen Laden geben, der dir jedes Buch besorgt, das du lesen möchtest. Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Immerhin bist du auch schon zwanzig Jahre alt und damit längst im passenden Alter für ein Debüt.“
„Ich will aber nicht!“, beharrte Penelope trotzig und so laut, dass das Kätzchen erschrocken von ihrem Schoß sprang und sich unter das Bett verkroch. „Ich hoffe darauf, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft hier in Tunbridge Wells einen Landedelmann kennen- und liebenlerne. Dann könnte ich für immer in der Nähe von Lancroft Abbey bleiben, und ein Aufenthalt in der Hauptstadt bliebe mir erspart.“
Frederica sank wieder aufs Bett und ergriff die Hand ihrer Schwester: „Wenn du dir das so sehr wünschst, dann wünsche ich es dir natürlich auch.“ Sie seufzte. „Obwohl es in London ohne dich schrecklich einsam sein wird.“
Penelope drückte ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. „Auch wenn ich nicht mitkommen möchte, finde ich es lieb von dir, dass du das sagst.“
„Ich nehme Papa übel, dass er unsere Debüts immer wieder hinausgeschoben hat“, meinte Frederica nach kurzem Überlegen. „Vermutlich wären wir beide sonst längst unter der Haube. Wie schade, dass ihn seine Kinder so wenig interessiert haben.“
Ihre Schwester widersprach ungewohnt energisch: „Oh, das stimmt so nicht, Freddy! Für unsere Brüder Bertram und Niki hat er sich doch stets interessiert. Er war mehrfach in Eton, um nach dem Rechten zu sehen. Weißt du noch, wie glücklich er war, als Bertram sein Studium in Cambridge aufgenommen hatte? Noch nie habe ich ihn so stolz gesehen wie an diesem Tag.“
Frederica gab ihr recht. „Also gut, dann finde ich es eben schade, dass sich Papa für seine drei Töchter so wenig interessierte. Findet diese Formulierung Gnade vor deinen gestrengen Ohren?“
Penelope nickte ernst. „Wir drei Töchter konnten Papas Aufmerksamkeit wohl tatsächlich nie lange fesseln.“
„Wobei es dir noch am ehesten gelang, Lämmchen, denn euch verband die Liebe zu Tieren“, revidierte Frederica ihr harsches Urteil.
„Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass er dich Schach spielen gelehrt hat und dir erlaubte, jedes Buch aus der Bibliothek auszuleihen.“
„Das stimmt allerdings …“, gab Frederica zu.
„Weißt du noch, als wir Kinder waren? Papa hat eigenhändig den Efeu ausgerissen, der den Boden rund um die kleine Kapelle bedeckte“, erzählte Penelope.
Und ob sich Frederica daran erinnerte: „Wir hatten Fangen gespielt, ich war hingefallen und mit dem Gesicht mitten im Efeu gelandet. Wie schrecklich ich die nächsten Tage ausgesehen habe! Die vielen Pusteln an Gesicht und Händen.“
„Du hast uns allen mit deinem schlimmen Ausschlag so leidgetan, Freddy. Dein Gesicht war rot wie Feuer, die Augenlider geschwollen …“
„Und wie das juckte! Ich durfte mich nicht kratzen, weil Miss Wollbridge sagte, das würde schlimme Narben hinterlassen.“
„Ach, die gute Miss Wollbridge“, seufzte Penelope. „Wir hatten großes Glück mit unserer Gouvernante.“
Frederica gab ihr unumwunden recht. „Das stimmt! Und dass Papa den Efeu ausgerissen hat, damit ein weiteres Missgeschick verhindert wurde, war wirklich sehr väterlich von ihm.“
„Ja, und es zeigt, dass wir drei Mädchen ihm wohl doch nicht egal waren. Manchmal fand er sogar Vivians stürmisches Temperament amüsant, auch wenn Mama sie dafür tadelte.“
Frederica ergriff wieder die Hand ihrer Schwester. „Ich vermisse ihn“, sagte sie leise.
„Ich vermisse ihn auch“, gab Penelope zu. Doch als sie Fredericas traurige Miene sah, wollte sie die trüben Gedanken ihrer großen Schwester verscheuchen. „Wie stellst du dir denn dein Debüt in London vor? Wirst du mit Cousine Agatha viele Bälle besuchen? Und dann gibt es ja noch diesen berühmten Almack‘s Club, in dem sich jede junge Debütantin unbedingt sehen lassen muss. Denkst du, Agatha kann euch Eintrittskarten dafür besorgen?“
Mr Grittleton saß auf der vorderen Kante des Sessels, den man ihm angeboten hatte, doch er hatte das Gefühl, als säße er auf Nadeln. Gut, er hatte geahnt, dass seine Mission heikel war, aber er hatte nicht gewusst, wie schwer sie tatsächlich werden würde. Er nahm die Teetasse, die ihm Ihre Ladyschaft persönlich eingegossen hatte, dankend entgegen, griff zu einem Stück Shortbread, das auf einer silbernen Etagere bereitstand, und wünschte sich weit weg.
Dafür gab es mehrere gute Gründe. Zum einen hatte er die beschwerliche Reise von London hierher nördlich von Tunbridge Wells mit nur einer Übernachtung in Hildenborough hinter sich gebracht. Jetzt war er müde und sehnte sich nach einem sauberen, ruhigen Zimmer. Außerdem hatte er gehofft, Lady Panswick würde ihrem Bruder, seinem Auftraggeber, ähneln. Wenn ihn irgendjemand direkt darauf angesprochen hätte, dann hätte er über Archibald Dalfort, den Baron of Chedworth, nur anerkennende Worte gefunden. Seine Lordschaft war ohne Zweifel ein Ehrenmann, Baron in bereits neunter Generation, der Kunst ebenso zugetan wie edlen Portweinen. Da Mr Grittleton sich selbst für einen recht passablen Schachspieler hielt, konnte er die Meisterleistungen, die der Baron auf dem Schachbrett vollführte, mit aufrichtiger Anerkennung würdigen. Und er hatte sich gefreut, als dem Baron diese Fertigkeit sogar bewundernde Worte des Prince of Wales eingetragen hatte. Als Mr Grittleton nun daran dachte, musste er sich in Gedanken korrigieren. Prince George war nicht länger nur der Prince of Wales, nein, seit 6. Februar dieses Jahres war er Herrscher über das Königreich, da er als Prinzregent die Geschäfte seines Vaters führte. Armer King George! Von einer schlimmen Krankheit geplagt und dann auch noch solch einen verschwenderischen Stellvertreter!
Mr Grittleton biss in sein Shortbread, seufzte und dachte erneut über seinen Auftraggeber nach. Insgeheim hielt er ihn für einen trägen, weinerlichen Tagträumer, der sich nur für sich selbst interessierte. An seine Vorliebe für exaltierte Westen aus geblümter chinesischer Seide wollte er erst gar nicht denken. Was für modische Torheiten eines jungen Stutzers, der noch nie den Ernst der wirklichen Welt kennengelernt hatte. Aber er bezahlte ihn gut und sorgte dafür, dass ihm die Arbeit nicht ausging. Selbst wenn er immer jammerte und ihm mit seinen Allüren wertvolle Zeit stahl, so tat er letzten Endes doch stets das, was er, Grittleton, ihm geraten hatte. Der Baron war, wie er erst kürzlich im kleinen Kollegenkreis unter dem Siegel der Verschwiegenheit stolz erklärt hatte, Wachs in seinen Händen. Was auch gut war, denn sein Auftraggeber hatte von der Verwaltung seiner Besitztümer keine Ahnung. Und er wollte sich auch gar nicht damit befassen. Als dem Baron vor gut einem Jahr die Verwaltung des Vermögens seines verstorbenen Schwagers und die Vormundschaft über fünf unmündige Neffen und Nichten übertragen worden war, hatte er keinen Augenblick gezögert und alles in seine bewährten Hände gelegt. Mr Grittleton seufzte. Es hatte geraume Zeit gedauert, bis seine Angestellten alle Unterlagen so weit aufbereitet hatten, dass er sich ein klares Bild von den Vermögensverhältnissen der Hinterbliebenen machen konnte. Und dieses Bild war alles andere als erfreulich.
Während seiner ihm endlos vorkommenden Kutschenfahrt nach Lancroft Abbey zur Halbschwester seines Auftraggebers hatte er genügend Zeit gehabt, seine Wortwahl mit Bedacht zu treffen. Er erwartete eine Gesprächspartnerin, die ihrem Bruder glich, hoffte darauf, dass sie weniger anstrengend sein würde, und ging davon aus, dass auch sie widerspruchslos all das umsetzen würde, was er ihr vorschlug.
Als Erstes hatte ihn der Anblick des Herrenhauses aus der Bahn geworfen. Lancroft Abbey war so groß! Vier zweigeschossige Gebäudeflügel, die von vier achteckigen Ecktürmen flankiert waren, umschlossen einen Innenhof. Es würde viel mehr finanzielle Mittel erfordern, dieses aus Backstein errichtete Bauwerk aus der Tudorzeit zu erhalten, als er gehofft hatte. Was ihn als Nächstes aus der Bahn warf, war seine Gastgeberin selbst, die alles andere als die weinerliche, zartbesaitete Elfe war, die er erwartet hatte. Er saß einer robusten, korpulenten Witwe gegenüber, die ihn soeben mit lauter Stimme unverblümt fragte: „Warum in aller Welt haben Sie sich so lange Zeit gelassen, um uns diesen Besuch abzustatten, Mr Grittleton? Wir hatten Sie bereits vor Monaten erwartet.“
Er schreckte aus seinen Gedanken auf.
„Ja, äh, also“ war alles, was er herausbrachte. Wie hätte er der resoluten Lady auch klarmachen können, dass es nicht einfach gewesen war, ihren Bruder zu überreden, dieser Reise überhaupt zuzustimmen.
„Schreiben Sie ihr, was zu tun ist, das reicht“, hatte er gesagt und dabei dem Kammerdiener die Hand zur Maniküre gereicht. „Das Weib hat sich nach Ihren Befehlen zu richten. Kein Grund, sich wegen einer Reise zu echauffieren. Ich brauche Sie hier in London.“
„Seine Lordschaft hielt es nicht für angebracht, Mylady während der Trauerzeit mit finanziellen Angelegenheiten zu behelligen“, sagte Mr Grittleton nun, während er sich im Stillen zu seinem diplomatischen Geschick beglückwünschte.
Eine Augenbraue schnellte in die Höhe. Seine Gastgeberin kannte ihren Halbbruder offensichtlich zu gut, als dass sie diesen Worten Glauben schenken konnte. Keine Frage, Lady Panswick war aus einem anderen Holz geschnitzt als der Baron. Sie unterschied sich allerdings auch von all den adeligen Damen der Londoner Gesellschaft, die er kannte. Als sie ihm eine Tasse Tee gereicht hatte, war sein Blick auf ihre Hände gefallen. Diese Hände konnten zupacken, und wenn man sich die Schwielen und Risse ansah, dann taten sie es auch.
„Reichst du mir die Liste herüber, Agatha?“, fragte sie.
Lady Panswicks Stimme klang rau und ungewöhnlich tief. Ihre Worte waren an die große, hagere junge Frau gerichtet, die aufgerichtet neben ihr auf dem ausladenden Diwan saß. Sie trug ein hochgeschlossenes, äußerst schlichtes Kleid. Die dunkelblonden Haare waren streng aus dem Gesicht gekämmt, zu einem Zopf geflochten und am Oberkopf festgesteckt. Sie war ihm als Lady Alverston vorgestellt worden. Anscheinend war sie die Nichte von Lady Panswick. Er hatte da so eine Geschichte im Hinterkopf. War es nicht Lord Alverston gewesen, der ein gefährliches Fieber aus Ägypten mitgebracht hatte, von dem letztlich nicht nur er selbst, sondern auch der Viscount of Panswick, der Herr dieses Anwesens, dahingerafft wurde? Mr Grittleton war ganz in Gedanken versunken. Er hatte es immer schon gewusst. Reisen brachten unkontrollierbare Gefahren mit sich und sollten daher vermieden werden. Im schönen Königreich hatte man alles, was der Mensch begehrte. Und was es hier nicht gab, das brauchte man auch nicht. Ja, er war ein Mann mit festen Grundsätzen. Erschrocken zuckte er zurück. Um Himmels willen, was war denn das?
Ihre Ladyschaft wedelte mit einem Bogen Papier vor seiner Nase herum.
„Hier, Mr Grittleton, habe ich Ihnen all die Ausgaben notiert, die ich in den nächsten Monaten zu tätigen beabsichtige. Es wird höchste Zeit, dass wir bei den Häusern unserer Pächter ein paar Dächer ersetzen. Im Nordturm regnet es herein, einige Fenster bedürfen eines neuen Anstrichs, und meine Älteste muss dringend ihr Debüt in London geben. Wenn Sie sich also die Zahlen ansehen … Warum entgleiten Ihnen denn die Gesichtszüge?“, fragte sie überrascht.
Der Vermögensverwalter nahm ihr das Blatt ab und versuchte sich auf die Zahlen zu konzentrieren, doch bald schon verschwammen sie vor seinen Augen. Die Ausgaben schienen alle wohldurchdacht und höchst berechtigt zu sein, allein es stand kein Geld dafür zur Verfügung. Nicht ein einziger Shilling. Wie sehr fürchtete er sich davor, diese Worte laut auszusprechen!
Die raue Stimme seiner Gastgeberin riss ihn erneut aus seinen Gedanken. „Ich habe Sie hoffentlich nicht dadurch schockiert, dass ich so frei und offen über Geld spreche? Mein seliger Panswick hätte das nie getan. Wenn ihn eines nicht interessierte, dann waren das die Verwaltung dieses Landsitzes und finanzielle Dinge. Er fand beides zu bourgeois.“
Oh ja, dachte der Vermögensverwalter, das glaube ich gern.
„Geld ist zum Ausgeben da, hat er immer wieder gepredigt, und nicht dazu, sich den Kopf darüber zu zerbrechen!“, fuhr Ihre Ladyschaft auch schon fort.
Mr Grittleton glaubte ihr, dass auch diese Worte der Wahrheit entsprachen, denn er kannte die Zahlen.
„Meinen verstorbenen Gatten haben nur zwei Dinge interessiert“, fuhr sie gut gelaunt fort, „seine Familie und die Archäologie. Darum hat er ja auch die Grabungen, die mein Neffe und meine Nichte, hier zu meiner Linken, in Ägypten durchführten, großzügig unterstützt.“
Die große, hagere Frau neben ihr seufzte.
„Das Studium der griechischen, römischen und altägyptischen Antike war sein Lebensinhalt. Und es hat ihm dann den Tod gebracht. Indirekt natürlich nur, aber doch!“, merkte Lady Alverston traurig an.
Jetzt seufzte auch Lady Panswick.
„Sie haben mehrere Kinder, Lady Panswick?“ Mr Grittleton, der die Wahrheit so lange es ging hinauszögern wollte, beeilte sich, sie auf andere Gedanken zu bringen.
Der Versuch glückte.
„Wir haben fünf Kinder“, erwiderte seine Gastgeberin und klatschte in die Hände, sodass ihre Spitzenmanschetten raschelten. Sie trug ein blasslila Kleid mit kleinen Knöpfen an der Brust und den Ärmeln. Nicht mehr das tiefe Schwarz, das ihre Nichte trug, obwohl ihre beiden Gemahle in derselben Woche gestorben waren.
„Frederica ist die älteste. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren hätte sie natürlich längst in die Londoner Gesellschaft eingeführt werden müssen. Doch durch die Erkrankung ihres Vaters hat sich dieses Vorhaben verzögert. Da das Trauerjahr nun vorüber ist, wird das umgehend nachgeholt. Penelope, die zweitälteste, wäre mit ihren zwanzig Jahren ebenfalls alt genug dafür. Sie soll im nächsten Jahr folgen.“
„Ich denke ja immer noch, dass es angebracht wäre, beide Schwestern gemeinsam in diesem Jahr …“, begann ihre Nichte, wurde aber brüsk unterbrochen.
„Nein, Agatha, mein Entschluss steht fest! Penelope ist zu schön, sie würde Fredericas Chancen auf dem Heiratsmarkt zunichtemachen.“
„Ich finde Frederica auch sehr hübsch, und daher …“, ließ Lady Alverston nicht locker, doch sie wurde abermals unterbrochen.
„Gewiss ist sie das, meine Liebe, aber wir wollen doch die Realität nicht leugnen“, entgegnete Lady Panswick resolut.
Mr Grittleton griff zum nächsten Stück Shortbread.
„Nach meinen beiden Töchtern folgt im Alter Bertram“, fuhr Lady Panswick fort, als hätte es diesen Wortwechsel nicht gegeben, „der Erbe und derzeitige Viscount. Er ist siebzehn Jahre alt und studiert in Cambridge. Ich darf sagen, dass er sich zu einem ernsthaften jungen Mann entwickelt, der es wahrlich wert ist, in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters zu treten. Er sichert die Zukunft von Lancroft Abbey und all den dazugehörenden Ländereien.“
Wohl kaum, dachte Mr Grittleton, der sich bei jedem Wort seiner Gastgeberin unwohler fühlte.
„Sicherlich“, entgegnete er stattdessen laut.
„Und dann sind da noch Vivian und Nicolas, mein Jüngster. Vivian ist ab Anfang Mai in Mrs Cliffords Institut für Höhere Töchter eingeschrieben. Und natürlich besucht mein Jüngster das Internat in Eton.“
„Natürlich!“
„Nun kennen Sie unsere familiären Verhältnisse, Mr Grittleton. Also kommen wir zurück zu meiner Liste. Da mein Sohn noch zu jung ist und unser langjähriger Verwalter vom selben Fieber hinweggerafft wurde wie unsere Gatten, habe ich die Zügel auf Lancroft Abbey in die Hand genommen. Mein werter Bruder zieht es ja bekanntlich vor, sich um nichts zu kümmern, was nicht seinem eigenen Wohlbefinden dient.“
Die letzten Worte klangen bitter. Ihre Ladyschaft atmete tief durch. Gerade als sich der Vermögensverwalter verpflichtet fühlte, etwas zur Verteidigung seines Auftraggebers einzuwenden, setzte sie fort: „Sprechen wir zuerst über Fredericas Debüt, Mr Grittleton. Ihre vordringlichste Aufgabe wird sein, den Mietern unseres Stadtpalais Lancroft House am Grosvenor Square umgehend zu kündigen. Meine Nichte Agatha wird meine Älteste nach London begleiten. Die beiden brauchen eine standesgemäße Unterkunft. Außerdem ist unsere Reisekutsche in die Jahre gekommen und muss dringend ersetzt werden. Ich darf Sie bitten, sich auch darum zu kümmern. Und dann gibt es, wie gesagt, noch einige Dinge, die wir hier auf Lancroft Abbey renovieren und verbessern müssen. Ich halte zwar nichts von modischem Firlefanz, möchte aber meine Augen auch nicht ganz vor den modernen Errungenschaften verschließen.“
Jetzt hielt Mr Grittleton den Augenblick für gekommen, Lady Panswick die Augen ganz zu öffnen.
Es wurde ein sehr langer Nachmittag für Mr Grittleton, und die Rückkehr in sein ruhiges Zimmer in der Poststation rückte in immer weitere Ferne. Lady Panswick hatte die Botschaft, die er ihr zu überbringen gezwungen war, mit heftigem Widerstand vernommen. Sie standen am Rande des Ruins? Das wollte sie nicht glauben, was Mr Grittleton ihr nicht verdenken konnte. Wer hörte denn schon gern, dass das vorhandene Geld lediglich für das nackte Leben reichte – und das auch nur für zwei weitere Jahre. Unter der Voraussetzung, dass sich alle äußerster Sparsamkeit befleißigten, die Diener bis auf ein Hausmädchen und die Köchin entlassen wurden und Bertram und Nicolas ihre teure Schulausbildung abbrachen, um auf den Ländereien mitanzupacken.
„Mein Sohn Bertram ist ein Viscount!“, hatte Ihre Ladyschaft ausgerufen und den bedauernswerten Überbringer der schlechten Nachricht angestarrt, als hätte er den Verstand verloren. „Er wurde nicht geboren, um anzupacken.“
„Dann, Mylady, so leid es mir tut, Ihnen das so schonungslos sagen zu müssen, ist er dazu geboren, im Schuldturm zu enden.“
Mr Grittleton erschrak selbst am meisten über diese Worte. Lady Panswick war nun wohl doch zu erschüttert, um ihn zurechtzuweisen.
„Gibt es denn gar keinen anderen Weg?“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu den beiden anderen.
„Nein, keinen.“ Bedauernd schüttelte Mr Grittleton den Kopf, bevor ihm plötzlich etwas einfiel. „Es sei denn“, räumte er ein, während ein Quäntchen Hoffnung in seiner Stimme mitschwang, „Sie haben Verwandte, die Ihnen unter die Arme greifen könnten, Mylady.“
Sein Blick streifte die schwarz gekleidete, schmale Gestalt auf dem Diwan, die sich auch sofort angesprochen fühlte. „Ich würde Tante Louise jeden Shilling, den ich habe, geben, glauben Sie mir, Mr Grittleton. Ich stehe tief in ihrer Schuld. Doch leider hat mich mein lieber Edward nahezu unversorgt zurückgelassen. Ich bin daher selbst auf die Großzügigkeit von Verwandten angewiesen.“
Auch das noch! Ein Mund mehr zu stopfen, dachte Mr Grittleton, und auch Lady Panswicks folgende Worte waren nicht geeignet, das kleine Flämmchen der Hoffnung, das kurz aufgeflackert war, tatsächlich zum Brennen zu bringen.
„Nein, diese Idee müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen. Mein seliger Gatte hatte einen jüngeren Bruder, doch der ist tot. Es gibt einen Sohn, der als Soldat in Spanien kämpft. Bei dem ist mit Sicherheit nichts zu holen. Ich hatte eine Schwester, die gemeinsam mit ihrem Mann bei einem Kutschenunfall ums Leben kam. Das Erbe ging an irgendeinen entfernten Cousin, zu dem wir keinen Kontakt haben. Agatha hat kein Geld, ihre Schwester Cecilia noch weniger. Bleibt nur mein Halbbruder Lord Chedworth, den Sie ja selbst am besten kennen. Er ist gute zwölf Jahre jünger als ich, denn er entstammt der zweiten Ehe meines Vaters. Wir standen uns nie sehr nahe.“ Weil er schon immer ein verzogener, verweichlichter Bengel war, der zu nichts nütze ist, setzte sie in Gedanken dazu.
Das verstand Mr Grittleton auch ohne Worte.
„Natürlich bin ich ihm sehr dankbar, dass er die Vormundschaft für meine Kinder übernommen und Sie mit der Prüfung unserer finanziellen Lage betraut hat“, fühlte sich Lady Panswick verpflichtet, hinzuzufügen.
„Warum verkaufst du nicht Landbesitz?“, schlug ihre Nichte vor und bewies damit ihren pragmatischen Verstand. „Damit müssten sich doch die Schulden meines Onkels abdecken lassen.“
Doch auch hier konnte der Vermögensverwalter nur den Kopf schütteln: „Laut Erbverfügung, die der vierte Viscount anno 1690 anlässlich der Geburt seines Erstgeborenen erließ, darf das Land, das damals bereits zu Lancroft Abbey gehörte, nur gemeinsam mit dem Herrenhaus veräußert werden. Und das ist so gut wie alles, denn die späteren Viscounts haben kaum Landbesitz dazu erworben. “
„Lancroft Abbey verkaufen? Haben Sie den Verstand verloren? Das Anwesen, auf dem die Familie meines seligen Mannes seit acht Generationen lebt? Das ist undenkbar! Dazu gebe ich nie meine Zustimmung!“
„Gemäß derselben Erbverfügung wurde festgelegt, dass nur der jeweilige Inhaber des Titels einen solchen Verkauf veranlassen könnte“, setzte Mr Grittleton fort, eisern bemüht, sich Lady Panswicks strenge Bemerkung nicht so sehr zu Herzen zu nehmen. „Und dies auch nur nach Erlangen seiner Großjährigkeit.“
„Cousin Bertram ist noch nicht einmal achtzehn“, rechnete Lady Agatha vor. „Da dauert es noch ein paar Jahre bis zu seiner Großjährigkeit. Wenn die finanziellen Lage so verheerend ist, wie Sie ausführten, dann können wir wohl kaum so lange warten.“
„Schluss jetzt!“ Die Hand der Viscountess schlug so laut auf den kleinen Beistelltisch, dass sich Mr Grittleton erschrocken zu ihr umwandte. „Lancroft Abbey wird nicht verkauft! Das ist mein letztes Wort! Das bin ich meinem verstorbenen Gatten schuldig.“
„Ich darf einwenden, dass er es war, der durch seine Entscheidungen diese missliche Lage erst herbeigeführt hat“, entgegnete der Vermögensverwalter mit einem scharfen Unterton in der Stimme, was ihm die nächste Rüge einbrachte.
„Nein, das dürfen Sie nicht! Sie sind nicht hier, um über uns zu urteilen. Sie sind hier, um Lösungen für unser unerfreuliches Schicksal zu finden.“ Lady Panswick blieb hart.
„Wenn ich daran denke, dass es unsere Expeditionen waren, die Lancroft Abbey in den Ruin gestürzt haben, dann plagt mich das schlechte Gewissen, Tante Louise. Wie könnt ihr mir das je verzeihen?“ Lady Alverston seufzte tief.
„Kein Grund, melodramatisch zu werden, meine Liebe. Das war eine Übereinkunft unter Männern, an der du ohnehin nichts hättest ändern können.“ So streng Lady Panswicks Tonfall auch war, ihre Rechte tätschelte begütigend die Hand ihrer Nichte. Es war auch für Mr Grittleton nicht zu übersehen, dass die beiden Frauen einander herzlich zugetan waren.
„Oh, es waren nicht nur Ihre Expeditionen, Mylady“, fühlte sich auch der Besucher verpflichtet, die schmale junge Witwe zu beruhigen. „Der verstorbene Viscount hatte unerfreulicherweise höchst selten Glück am Spieltisch.“
Damit hatte er vielleicht sein Ziel erreicht, das Gewissen der jungen Witwe zu besänftigen, dafür zog er sich endgültig den Unmut der älteren Witwe zu. Diese schnappte empört nach Luft.
„Das ist doch allerhand!“, brauste sie auf. „Über Tote spricht man kein schlechtes Wort, das sollte Ihnen Ihre Mutter beigebracht haben, Mr Grittleton.“
Der Vermögensverwalter war in seiner Ehre gekränkt und konnte seine Empörung nur mühsam unterdrücken. „Selbstverständlich hat sie das, Mylady“, sagte er und presste die blassen Lippen zusammen.
Seine Gastgeberin reagierte versöhnlich. „Gut, nachdem wir das also geklärt haben, kommen wir …“
„… wieder auf den Boden der Tatsachen zurück“, ergänzte er ihren Satz, bevor sie sich abermals in Wunschvorstellungen hineinsteigerte, die keine Aussicht auf Erfüllung hatten. „Möchten Sie die Schuldscheine sehen, die ich in den Unterlagen gefunden habe?“
Lady Panswick schnaufte unwillig, sagte jedoch kein Wort. Ganz offensichtlich wollte sie das nicht.
„Was ist mit dem Haus in London?“, warf Lady Agatha ein. „Kannst du das nicht verkaufen, liebe Tante? Es stellt sicher einen erheblichen Wert dar, und ihr nutzt es ohnehin nicht.“
„Das wäre eine Idee …“, gab Lady Panswick zu.
„… aber keine, die sich umsetzen lässt“, machte Mr Grittleton auch diese Hoffnungen umgehend wieder zunichte. „Gemäß Erbverfügung des vierten Viscount …“
„Das hätte ich mir denken können“, unterbrach seine Gastgeberin ihn bitter. „Es scheint, als hätte dieser Vorfahre meines Gatten nicht an Notsituationen in der Zukunft gedacht.“
Oder er hat genau das getan, dachte Mr Grittleton. Er wollte seinen Nachfahren ihr Erbe sichern. Laut sagte er: „Grämen Sie sich bitte nicht allzu sehr, Mylady. Ihr Stadtpalais ist sehr gut vermietet und bringt Ihnen ein erfreuliches monatliches Einkommen ein.“
„Na, wenigstens etwas.“ Es klang nicht so, als wäre Ihre Ladyschaft tatsächlich begeistert. Dann herrschte Stille im hochherrschaftlichen Wohnzimmer. Nur die große Standuhr schlug laut und vernehmlich vier Mal.
Es war, als würde dieser Glockenschlag Lady Panswicks Lebensgeister wieder wecken: „Die Uhr gehörte meiner Großmutter mütterlicherseits! Wie konnte ich das nur vergessen? Bertram hat von ihr ein beträchtliches Vermögen geerbt. Das wird uns jetzt retten.“
Mr Grittleton seufzte vernehmlich. „Sie vergessen, Mylady, dass Ihre werte Großmutter testamentarisch festlegte, dass Ihr Sohn erst mit Vollendung seiner Großjährigkeit über das Geld verfügen kann.“
„Aber das ist erst in über drei Jahren!“, fuhr Lady Agatha auf.
„Sehr richtig, Mylady“, bestätigte Mr Grittleton.
Nachdem diese letzte Hoffnung also rasch wieder im Keim erstickt worden war, schwiegen alle drei.
„Es bleibt uns nichts anderes übrig“, sagte die Hausherrin schließlich, und auch ein unbeteiligter Beobachter hätte erkannt, wie schwer ihr das fiel. „Wir müssen eine Hypothek aufnehmen.“
Mr Grittleton schüttelte den Kopf: „Es ist bereits alles belehnt, was belehnt werden konnte. Ich habe diesbezüglich mit dem Direktor Ihrer Bank gesprochen.“
Dann herrschte wieder Schweigen, das von Minute zu Minute erdrückender wurde. Mr Grittleton wagte es nicht mehr, seiner Gastgeberin ins Gesicht zu blicken. Es erschien ihm wie der Todeskampf eines waidwunden Rehs. Es gab nichts mehr, das helfen konnte. Angestrengt betrachtete er die Szenen auf dem großen Gobelin an der Wand vor ihm. Er zeigte eine Gruppe Männer auf der Jagd. Wie passend, dachte er.
Nach einer gefühlten Ewigkeit – Mr Grittleton fürchtete schon, die Nacht hier im Sitzen zubringen zu müssen – räusperte sich Ihre Ladyschaft laut und vernehmlich und sagte dann mit einer resoluten Stimme, die so gar nichts mit einem waidwunden Tier gemeinsam hatte: „Wie viel Barmittel hätten wir zur Verfügung, wenn wir die dringendsten Schulden beglichen haben, Mr Grittleton?“
Er nannte ihr die Summe, die für die nächsten Monate reichen sollte, wenn sie alle äußerst sparsam …
„Papperlapapp!“, unterbrach sie ihn, „Denken Sie doch nach! Was nützt uns ein sparsames Leben, wenn wir es damit nicht schaffen, die Zeit bis zu Bertrams Großjährigkeit im Juni 1814 zu überbrücken?“
Der Blick, den sie Mr Grittleton zuwarf, war ebenso erwartungs- wie vorwurfsvoll.
„Ja, also, äh, Mylady … Niemand kann genau sagen, was die Zukunft bringt. Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben, dass …“
„Pah, Hoffnung! Heute Morgen hatte ich Hoffnung. Das letzte Jahr hatte ich Hoffnung. Mein ganzes Leben lang hatte ich Hoffnung. Und wohin hat mich diese Hoffnung gebracht? An den Rand des Abgrunds! Nein, Mr Grittleton, ich gründe meine Zukunft, die Zukunft von Lancroft Abbey und die meiner Kinder nicht länger auf Hoffnung. Meinen Söhnen die bestmögliche Ausbildung zu verwehren, kann nicht die Lösung unserer Probleme sein. Die Diener, die seit Jahren treu in unseren Diensten stehen, zu entlassen, um ein paar Guineen zu sparen, das kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.“
Es klang so energisch, dass er kaum wagte, ihr zu widersprechen, allein seine Rechtschaffenheit ließ nichts anderes zu. „Ich bedaure es inständig, mich wiederholen zu müssen, Mylady, aber ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl!“, entgegnete er.
„Und ob ich die habe!“ Lady Panswick sprang von ihrem Sessel auf und zog am Klingelstrang. „Ich werde alles auf eine Karte setzen.“
Der Butler erschien noch in derselben Minute.
„Ah, Shipton, richten Sie Lady Frederica und Lady Penelope aus, sie mögen zu uns in den Salon kommen. Umgehend, ohne Aufschub!“
„Sehr wohl, Mylady.“ Der Diener machte sich sogleich auf den Weg, um die Anweisung seiner Herrin auszuführen.
„Was hast du vor, Tante Louise?“, wollte Agatha wissen.
„Das erzähle ich dir, sobald die Mädchen sich zu uns gesellt haben. Bist du immer noch bereit, mit Frederica nach London zu reisen?“
Lady Agatha nickte: „Aber selbstverständlich.“
Die Tante tätschelte ihr wieder die Hand und sank in ihrem Sessel zurück. „Das ist gut!“, sagte sie. „Das ist sehr gut!“
Als Erste betrat Frederica den Raum. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein Tageskleid aus feinem Musselin. Das zarte Violett der Halbtrauer ließ sie etwas blass erscheinen. Die braunen Haare waren locker aufgesteckt, die dunklen Augen strahlten vor Vorfreude. Ihr Kinn war vielleicht etwas zu energisch, doch das war ein Makel, über den man gern hinwegsehen konnte.
Was für ein hübsches Mädchen, dachte der Vermögensverwalter. Doch dann ging die Tür abermals auf, und Penelope betrat den Raum. Mr Grittleton hielt den Atem an. Die zweite Miss Barnett war eine wahre Schönheit! Dabei war ihr Kleid zerknittert und die Unterarme zeigten vereinzelte Kratzspuren. Anders als bei ihrer Schwester harmonierte das Violett ihres zarten Oberteils perfekt mit dem Teint ihres fein geschnittenen Gesichtes. Hatte er jemals so tiefblaue Augen gesehen? Eine so schmale, wohlgeformte kleine Nase? Einen herzförmigen, rosa Mund? Die jungen Männer in London würden sich überschlagen, dieser jungen Lady den Hof machen zu dürfen. Dabei war sie blond und trug ihre Haare offen, während die herrschende Mode dunkelhaarige Damen bevorzugte, die ihre Haarpracht im griechischen Stil, aufgesteckt mit kleinen Stoppellöckchen an der Seite, trugen.
Nachdem Lady Panswick dem Verwalter ihre Töchter vorgestellt und die beiden aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, ließ sie die Katze aus dem Sack.
„Was ich euch jetzt zu erzählen habe, ist sehr ernst, meine Lieben. Darum möchte ich, dass ihr mir ganz genau zuhört und mich nicht unterbrecht, so schwer es euch vielleicht auch fallen mag. Ich habe eine Entscheidung getroffen, an der es nichts zu rütteln gibt, also versucht erst gar nicht, mit mir darüber zu diskutieren.“
Das Lächeln war aus den Gesichtern der Mädchen gewichen. Gespannt und voll banger Vorahnung warteten sie auf die nächsten Worte. Damit erweichten sie endgültig das Herz des Vermögensverwalters. Wenn er nur irgendetwas tun könnte, um das Schicksal der beiden jungen, hoffnungsvollen Frauen zu erleichtern!
„Euer lieber Vater“, begann Lady Panswick, „war, wie ihr beide selbst am besten wisst, ein herzensguter Mensch. Doch seine Gabe, mit Geld umzugehen, war nicht sehr ausgeprägt. Wie wir heute von Mr Grittleton erfahren mussten, haben wir nicht nur kaum Barmittel, nein, euer lieber Bruder Bertram sitzt auf einem Berg Schulden. Und wir mit ihm.“