Ein Bild von einem Mann - Sophia Farago - E-Book
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Sophia Farago

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Beschreibung

Als sich Harold, Elliot, Reginald und Oscar eine Ecke im Schlafsaal der altehrwürdigen Universität Oxford teilten, malte der Hausmeister die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen auf die Betthäupter: H, E, R, O – die Regency Heroes waren geboren. Jetzt 1812, fünf Jahre nach Studienende sind sie die tonangebendsten Gentlemen in ganz London und ihre Freundschaft ist wichtiger denn je. Elliot Sandhill-Jones, dem Sohn eines hochverschuldeten Barons, war seit seiner Kindheit bewusst, dass ihn weder Schönheit noch Charme davor retten würden, reich heiraten zu müssen. Da knüpft sein Vater einen Pakt mit einem vermögenden Webereibesitzer. Wenn Elliot dessen Enkelin Corinna zur Frau nimmt und damit der Familie den Einstieg in den Hochadel ermöglicht, würde der Weber für sämtliche Schulden aufkommen. Elliot hat Corinna einmal gesehen und hält sie für schrill und vulgär. Die Verlobung findet ohne die Braut statt, doch kurz darauf erreicht ihn ihr seltsamer Wunsch: Er möge sich noch vor der Hochzeit für die Ahnengalerie porträtieren lassen. Wie es der Zufall will kennt Harold eine Malerin und wie es das Schicksal will, verliebt sich Elliot über beide Ohren in sie.

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Edel Elements

Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe

Copyright © 2021 Edel Verlagsgruppe GmbH

Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edelelements.com

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Tatjana Weichel

Vermittelt durch: Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Cover: Designomicon, München

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

ISBN 978-3-96215-416-5

Anmerkung:

Dies ist der zweite Band der Regency Heroes-Reihe. Ich verspreche dir, dass in jedem der Bände die Liebesgeschichte fertig erzählt wird. Die Rahmenhandlung geht jedoch weiter. Darum beginnst du am besten mit Band 1, »Die skandalöse Verwechslung«, denn so bereiten dir die Geschichten bestimmt noch mehr Vergnügen.

Eine Liste der wichtigsten Personen dieses Bandes und der Fachausdrücke findest du im Anhang.

Regency Heroes – Wie alles begann

Während der Schulzeit im noblen Privatinternat von Harrow hatten sie sich noch misstrauisch beäugt. Harold, der trotz seiner Fröhlichkeit und dem Mut, der bisweilen an Übermut grenzte, äußerst pflichtbewusst war, betrachtete Elliot mit all seinen Streichen und dem lauten Gelächter, das durch die weiten Flure der Schule hallte, als kindischen Nichtsnutz. Dieser verstand nicht, wie man so wissensdurstig und vernünftig sein konnte wie Oscar, der sich wiederum vor der scharfen Zunge und dem Sarkasmus von Elliots Cousin Reginald hütete. Und der wiederum konnte mit den anderen drei überhaupt nichts anfangen, weil er sich ihnen überlegen fühlte.

Doch dann kam das Studium in Oxford. Die vier erkannten schnell, dass sie nur gemeinsam gegen die Übermacht der Schüler aus Eton bestehen und die Mutproben, die ihnen die Älteren abverlangten, bewältigen konnten. Fortan teilten sie Freud und Leid sowie eine Ecke im geräumigen Schlafsaal. Der Hausknecht hatte auf die Betthäupter die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen gemalt: H E R O – die Regency Heroes waren geboren.

Nun, 1812, fünf Jahre nach dem Studienabschluss, beweist sich die Wichtigkeit der Freundschaft einmal mehr. Oscar bittet Harold, seine Schwester Emily vom Durchbrennen nach Gretna Green abzuhalten. In der Poststation von Watford kommt es zu einer skandalösen Verwechslung. Harold verliebt sich in Amabel Cavendish und nun soll in vier Tagen die Hochzeit stattfinden. Allerdings fehlt von Amabels Zwillingsbruder Sebastian jede Spur. Elliot wird ausgeschickt, ihn zu suchen.

Kapitel 1

Maidenhead, acht Meilen südwestlich von BeaconsfieldAnfang Juni 1812, vier Tage vor der Hochzeit von Lady Amabel Cavendish mit Major Harold Westfield

Mr Elliot Sandhill-Jones stand auf einer Anhöhe und spürte seine Zuversicht schwinden. Dabei war er sich so sicher gewesen, bei dem Wanderzirkus, der sich da zu seinen Füßen erstreckte, fündig zu werden. Die provisorische Schaubude, in der die Vorstellungen täglich um drei Uhr nachmittags und sechs Uhr abends stattfanden, hatte noch recht ordentlich, ja, geradezu einladend ausgesehen. Doch nun hatte er mit der alten Reisekutsche seines Freundes Reginald das Areal umrundet und sah von hinten auf die eilig zusammengezimmerten Bretterverschläge. Mussten die Artisten tatsächlich in solch dreckigen, windschiefen Zelten und Schuppen hausen? Anscheinend reisten sie mit ihren ganzen Familien, denn kleine Kinder spielten kreischend Fangen, alle naselang fiel eines von ihnen auf den aufgeweichten Lehmboden. Ein Stimmengewirr aus lauten Rufen und Gezeter klang zu ihm nach oben. Gleich darauf vernahm er ein Brüllen, das ihm durch Mark und Bein ging. Er sah, etwas abseits von den behelfsmäßigen Behausungen, zwei rostige Käfige stehen. In einem hatte sich ein wuchtiger Tanzbär aufgebäumt und stieß soeben den nächsten verzweifelten Schrei aus. Im zweiten lag ein abgemagerter Löwe. Regungslos, als wäre er tot. Elliots Zweifel verstärkten sich. Sollte das wirklich die Umgebung sein, in die sich Sebastian Cavendish, der junge Marquess of Beaconsfield, freiwillig begeben hatte? Er sprang vom Kutschbock, band die Pferde an einen nahen Eichenbaum und beschloss, einige Schritte zu Fuß zu gehen, um die Gedanken zu ordnen und zu entscheiden, was als Nächstes zu tun war.

Sein Freund Harold würde, als Erster der vier Heroes, in wenigen Tagen heiraten. Warum bloß hatte er sich dazu bereit erklärt, bis dahin den verschwundenen, ihm unbekannten Bruder der Braut aufzuspüren? Elliot schnaufte missmutig und rief sich in Erinnerung, was er über den Gesuchten wusste.

Die Zwillinge Amabel und Sebastian Cavendish waren mit neunzehn Jahren zu Waisen geworden, als der Marquess und seine Gattin bei einem Kutschenunglück in den Hochwasser führenden Fray’s River gestürzt waren. Der Titel ging auf den Sohn über, die Vormundschaft an einen entfernten Cousin namens Edgar Prestwood. Da er Europa bereiste, ließ sich der zuerst ein ganzes Jahr lang nicht blicken, kam dann zurück und versetzte alle in Angst und Schrecken. Wenn man den übereinstimmenden Aussagen von Lady Amabel, Mrs Allington, der Haushälterin, und den Dienern Jack und Marie Glauben schenken wollte, dann trachtete er dem Marquess nach dem Leben, um sich dessen hohen Titel, den weitläufigen Landbesitz Millcombe Castle und das gesamte Vermögen für sich selbst zu sichern. Sebastian hatte keinen anderen Ausweg gesehen als unterzutauchen, bis er im kommenden Januar die Volljährigkeit erreicht haben und damit der Gewalt des Vormunds entkommen sein würde.

Seit Wochen war er nun wie vom Erdboden verschluckt. Niemand wusste, wo er sich aufhielt. Da er bis auf eine Notration von drei Goldmünzen über keinerlei finanzielle Mittel verfügte, hatte er sich bestimmt irgendwo eine Anstellung gesucht, um über die Runden zu kommen. Anscheinend war der junge Marquess ein fröhlicher junger Mann, eher ein Feingeist denn ein Kämpfer. Jemand, mit dem man sich vortrefflich unterhalten konnte und der das Spinett so meisterhaft zu spielen verstand, dass er oftmals gebeten worden war, die Sonntagsmesse darauf zu begleiten. Alles in allem fand Elliot, dass es so einiges gab, worin er und der Gesuchte sich ähnelten. Also fragte er sich, was er an dessen Stelle getan hätte, um zu Geld zu kommen. Dabei konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Hochadeliger, der die meiste Zeit seines Lebens im Wohlstand gelebt hatte und von Dienern umschwirrt worden war, in der Lage sein sollte, die schwere Arbeit eines Knechts oder Handwerkers zu verrichten. Sonntagsmessen musikalisch zu untermalen würde ihm kein Auskommen sichern. In jeder Pfarre gab es zumindest ein Gemeindemitglied, das dazu in der Lage war, ohne dafür Geld zu verlangen. Und auf Virtuosität kam es dabei, seiner Erfahrung nach, meist wirklich nicht an.

Doch dann hatte Elliot etwas erfahren, was ihn aufhorchen ließ. Anscheinend war der Marquess in der Lage, so gekonnt mit Pfeil und Bogen umzugehen, dass er sogar Fasane und Wildenten aus der Luft erlegen konnte. Damit hatte er im letzten Jahr für das heiß ersehnte Fleisch am Mittagstisch gesorgt, das ihnen das knappe Haushaltsbudget anderenfalls vorenthalten hätte. Wäre Elliot an seiner Stelle gewesen, hätte er sich genau diese Fähigkeit zunutze gemacht. Allerdings hatte er zuerst keine Ahnung gehabt, wo und wie man damit Geld verdienen könnte, bis ihm in einer Schankstube ein vergilbtes Plakat aufgefallen war. Es pries einen Wanderzirkus an, der zuerst in Wooburn Green, nahe der Heimatstadt der Zwillinge, gastiert hatte und inzwischen nach Maidenhead weitergezogen war. Mit einem Schlag war er sich sicher gewesen, auf der richtigen Spur zu sein. Der Vormund hatte nämlich inzwischen eine Belohnung auf den ausgesetzt, der sein Mündel zu ihm zurückbrachte. Also hatte der Marquess rasch aus der Gegend verschwinden müssen, wo ihn jeder kannte. Außerdem: Was konnte als Versteck besser geeignet sein als das fahrende Volk, wo bestimmt niemand einen Mann aus dem Hochadel vermutete? Und da stand Elliot nun, starrte auf das Zirkusgelände zu seinen Füßen und schüttelte den Kopf über die erbärmlichen Zustände.

Nun gut, er presste die Lippen zusammen und gab sich selbst einen Ruck, zögern und zaudern hilft mir nicht weiter.

Er musste hinunter, um sich in die, im wahrsten Sinne des Wortes, Höhle des Löwen zu begeben. Allerdings hätte er sich um einiges wohler gefühlt, hätte er gewusst, unter welchem Namen der Marquess dort untergekommen war – wenn er sich denn überhaupt dort aufhielt. Elliot straffte die Schultern und machte sich mit weit ausholenden Schritten auf den Weg. Bei jeder Bewegung raschelte ein Stück Papier in seiner Rocktasche. Das war noch etwas, was seine Laune nicht eben verbesserte. Just in dem Augenblick, als er London verlassen wollte, hatte ihm der Postillion einen Brief übergeben. Es handelte sich um ein Schreiben seines Vaters, Baron Sandhill-Jones, dem er einst nachfolgen sollte. Elliot wusste aus leidvoller Erfahrung, dass dieses Schriftstück nichts als Vorwürfe und Belehrungen enthalten würde. Nicht zu vergessen die immer wiederkehrende Forderung, sich endlich eine reiche Braut zu suchen, um die Familie vor dem Schuldturm zu bewahren. So blieb das unliebsame Schreiben ungeöffnet. Er würde sich ihm widmen, sobald er das Problem mit dem Marquess gelöst hatte. Eines nach dem anderen.

»He, du, Bursche, ich suche euren Schützenmeister«, sprach er die erste Person an, die ihm über den Weg lief. Der Mann trug eine über und über mit Lehm bespritzte Hose, die mit einem Strick am Bund zusammengehalten war, dazu eine dicke Wolljacke und eine verbeulte Kappe auf viel zu langen, fettigen Haaren. »Bring mich zu ihm.«

Der so Angesprochene stutzte kurz und verzog dann sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, das mehrere schwarze Zahnstummel ans Tageslicht beförderte. Sein Atem stank nach billigem Fusel.

»Du bist ja ein ganz ein Hübscher.« Er schnalzte mit der Zunge und fasste Elliot am Ärmel. »So nobel und fein. Was willst du denn vom Schützen? Magst du nicht lieber mit mir kommen und mir mein Bett wärmen?«

Entsetzt schüttelte Elliot den Griff ab und wandte den Kopf etwas zur Seite, um der Alkoholfahne nicht länger ausgesetzt zu sein. »Ich mag zwar ein Hübscher sein«, erwiderte er gelassen, »aber vor allem bin ich ein Starker. Darum merke dir: Wenn du mich noch einmal anfasst, dann schlage ich dir deine letzten Zähne auch noch aus. Und jetzt bring mich, wohin ich verlangt habe.«

Der Bursche schien ihm die offenen Worte nicht krumm zu nehmen. Er kicherte scheppernd, machte kehrt und gab Elliot mit einer Handbewegung zu verstehen, ihm zu folgen. Der Weg durch das Zirkusgelände erwies sich als Spießrutenlauf. Von überall traten Leute aus ihren Behausungen, gafften oder schrien spöttische Bemerkungen zu Elliot hinüber. Dirnen traten an ihn heran, knöpften die Blusen auf und lockten mit ihren Angeboten. So manche wurde von männlicher Hand brutal zurückgerissen und fand sich auf dem lehmigen Boden wieder. Wüste Beschimpfungen von beiden Seiten waren die Folge. Endlich trat der Bursche gegen eine der roh zusammengezimmerten Türen, die knarzend nachgab, und betrat mit geducktem Kopf einen der Bretterverschläge.

»Geoffrey, Besuch für dich!«

Er trat zur Seite und gab den Blick auf einen Mann frei, der mit gekrümmtem Rücken bei einer Fensteröffnung saß und an einem Pfeil schnitzte. Zwei Ziegen lagen zu seinen Füßen. Eine stand auf, kam näher und begann mit dem Kopf gegen Elliots Oberschenkel zu stoßen. Er versuchte sie mit einer Hand abzuwehren, während er die andere schützend vor die Nase hob, da es in dem kleinen Raum geradezu erbärmlich stank. Der Ekel über den strengen Geruch war jedoch lang nicht so groß wie die Enttäuschung, die sich in seiner Brust breitmachte. Der Mann da am Fenster, der ihn kaum eines Blickes würdigte, war bestimmt doppelt, wenn nicht gar dreimal so alt wie der gesuchte Marquess. Es fiel Elliot schwer, einsehen zu müssen, dass er einem Phantom nachgejagt war und sich falschen Hoffnungen hingegeben hatte. Zum Frust gesellte sich Hilflosigkeit. In wenigen Tagen war die Hochzeit und er hatte keine Ahnung, wo er stattdessen nach dem Bruder der Braut suchen sollte. Als er sich eben abwenden und den Verschlag verlassen wollte, wurde die Tür abermals aufgestoßen, und eine Stimme meldete sich hinter ihm zu Wort.

»Hier bitte, Mr Geoffrey, der Grog, um den Sie mich gebeten haben. Wie gewünscht, mit doppelt so viel Zucker.«

Elliot hätte am liebsten laut aufgejubelt. Auch ohne sich umzudrehen, hätte er gewusst, dass seine Suche zu guter Letzt doch noch erfolgreich war. Er wandte sich um und sah einen jungen Mann vor sich, der seiner Schwester derart ähnlichsah, dass es keine Zweifel gab, wer da vor ihm stand. An seiner Aufmachung erinnerte allerdings nichts an ein Mitglied des Hochadels. Das ehemalige Weiß des Hemds war einem undefinierbaren Graubraun gewichen. Die Manschetten zum Großteil abgerissen, auch einige Knöpfe fehlten. Die mittelbraunen Locken hatten schon lange keine Bürste mehr gesehen, das Kinn ebenso lange keine Klinge. Ein dunkelroter, kaum verheilter Kratzer lief quer über die von Bartstoppeln übersäte Wange.

»Wer bist du?«, fragte ihn Elliot, da er nicht wusste, wie er das Gespräch sonst am besten beginnen sollte.

Der Marquess war blass geworden und sah ihn mit erschrockenen Augen schweigend an.

»Das geht Sie gar nichts an, Sie Schnösel. Verschwinden Sie aus meiner Hütte!«, war es der Alte, der stattdessen das Wort ergriff. »Lassen Sie meinen Lakaien in Frieden!«

Er nahm den Pfeil, an dem er geschnitzt hatte, zwischen Daumen und Zeigefinger und warf ihn in Elliots Richtung. Der konnte nur froh sein, dass der Bogen nicht in Reichweite gewesen war, sonst hätte ihm der Alte noch glatt die Brust durchbohrt. Elliot wusste, dass er die ungastliche Stätte möglichst schnell verlassen musste. Doch das würde er nicht allein tun. Also sah er zum Marquess hinüber, zog die Stirn zu einem prüfenden Blick kraus und fragte streng: »Nun? Hast du meine Frage nicht verstanden?«

Dieser hob trotzig das Kinn. Sein Gesicht blieb unbewegt, er wich Elliots Blick nicht aus.

Du musst noch viel lernen, wenn du willst, dass man dich nicht auf den ersten Blick als Mann von Stand erkennt, dachte Elliot. Er wusste nicht, ob er spöttisch oder gerührt sein sollte. Er spürte eine Mischung aus beidem.

»Mein Name ist Sebo, Sir, Sebo Brown aus Worcester«, kam schließlich die unwillig vorgebrachte Antwort. »Es gibt nichts, was einen … äh … noblen Mann wie Sie an mir interessieren könnte.«

»Sebo Brown?«, wiederholte Elliot und schlug sich entschlossen mit der Rechten auf den Oberschenkel. »Aber im Gegenteil. Du bist genau der Mann, nach dem ich suche. Man hat mir nämlich gesagt, dass du mit Pfeil und Bogen meisterhaft umzugehen verstehst. Ich brauche deine Hilfe, Sebo Brown aus Worcester.«

Er fasste den Marquess am Arm und ließ auch nicht los, als ihn dieser mit aller Kraft abzuschütteln versuchte. In den Gesichtszügen des jungen Mannes spiegelte sich nun blanke Panik.

»Keine Sorge, es ist alles gut«, beeilte sich Elliot ihm zuzuflüstern und gab ihn frei. Mit Schrecken war ihm klar geworden, dass ihn der Jüngere offensichtlich für einen Häscher seines Vormunds hielt. Dann wandte er sich an den Alten, der immer noch am Fenster saß und über die Tasse seines Grogs regungslos zu ihm hinüberstarrte. »Sie bekommen Ihren Diener in Kürze wohlbehalten zurück, Mister. Er muss mir nur rasch helfen, meinen … äh … Hut vom Baum zu schießen.«

»Ihren verdammten Hut?« Nun war es der Mann mit den schwarzen Stummelzähnen, der grölend auflachte. Sein ausgestreckter Finger zeigte auf Elliots Kopf. »Aber den tragen Sie doch ohnehin auf dem Schädel!«

»Ich habe zwei Hüte«, lautete die emotionslose Antwort.

»Und wie kommt einer davon auf den Baum?«, ließ der Bursche nicht locker. »Kann der fliegen, oder was?«

Elliot hatte keine Lust, wertvolle Zeit damit zu vergeuden, dass er die Neugier eines Knechts befriedigte.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte er daher vage und warf wieder einen raschen Blick zum Fenster hinüber. Der Alte schien inzwischen das Interesse an seinem Besucher verloren zu haben. Er schlürfte an seinem Grog und befahl den Knecht zu sich, um mit ihm über irgendetwas zu streiten, was sich am Vorabend zugetragen hatte.

»Die Gelegenheit ist günstig, komm!« Elliot ergriff abermals Sebastians Arm und wollte ihn ins Freie ziehen, hätte sich der nicht wie ein störrischer Esel dagegengestemmt.

»Hör auf, dich zu wehren«, flüsterte er. »Wir müssen hier weg, bevor die anderen merken, was ich vorhabe.«

»Und das wäre?«, fragte der Marquess, das Kinn nun noch ein Stück weiter angehoben, nicht bereit, den Bretterverschlag kampflos zu verlassen.

»Dich zu deiner Schwester Amabel zu bringen, du junger Narr. Sie heiratet am Dienstag und wünscht sich deinen Segen.«

Kapitel 2

Gravesend, 28 Meilen südöstlich von LondonEnde Mai 1812, einige Tage zuvor

Die Tatsache, dass man Mr Beowulf Semley im gesamten Umkreis von Gravesend als Webereibaron bezeichnete, wurde weder seiner Stellung noch seinem Einfluss wirklich gerecht. Er war so reich und mächtig, dass man ihn mit Fug und Recht als Webereikönig hätte bezeichnen können. Und doch hatte sich seit vielen Jahren die durchaus respektvoll gemeinte Bezeichnung Webereibaron durchgesetzt. Semley, der inzwischen etwas mehr als siebzig Jahre zählte, hatte bereits mit Anfang zwanzig den Geldbetrag, den ihm ein Onkel vererbt hatte, in seinen ersten Webstuhl investiert. Findig, wie er war, hatte er dabei auf einen sogenannten Schnellschützen gesetzt, mit dem man die Webgeschwindigkeit gegenüber herkömmlichen Stühlen auf das Doppelte erhöhen konnte. Rasch zahlte sich der teure Kauf aus, und bald schon konnte er es sich nicht nur leisten, die geliebte Nachbarstochter zur Frau zu nehmen und mit ihr eine Familie zu gründen, sondern nach und nach noch weitere solcher Webstühle anzuschaffen.

Zwanzig Jahre später, er hatte eben seinen 43. Geburtstag gefeiert, meinte es das Schicksal noch einmal besonders gut mit ihm. Bei einer seiner jährlichen Trinkkuren in Bath kam er im römischen Bad zufällig neben dem Domherrn von Lincoln zu sitzen, der sich ihm als Mr Edmund Cartwright vorstellte. Wie sich im Gespräch herausstellen sollte, hatte der Kirchenmann eben einen vollmechanisierten Webstuhl zum Patent angemeldet, den er Power Loom nannte. Mit dieser Erfindung gelang ihm etwas, was sich vor ihm niemand hätte vorstellen können. Die drei Grundbewegungen des Webens, nämlich das Heben oder Senken der Schäfte, das Eintragen des Schusses mit dem Werfen des Schiffchens durch das Fach und das Anschlagen der Lade wurde einem einzigen, gemeinsamen Antrieb übertragen. Semley war begeistert. Er erwarb nicht nur umgehend zwei dieser Power Looms, sondern führte in der Folge auch einen regen Briefwechsel mit dem Erfinder, indem er ihn an den Herausforderungen des Webereialltags teilhaben ließ. Dieser Gedankenaustausch gipfelte schließlich in mehreren weiteren Patenten und der Gründung einer Fabrik für Webstühle, an der sich Semley großzügig beteiligte. Es überraschte niemanden, dass er dann auch einer der Ersten war, der 1788 eine der modernen Dampfmaschinen als Antriebsaggregat zum Einsatz brachte.

Doch damit nicht genug. Als der Webereibaron von der französischen Jacquardmaschine erfuhr, die das Herstellen gemusterter Gewebe revolutionierte, scheute er weder Kosten noch Mühen, um gleich mehrere dieser Maschinen nach England verschiffen zu lassen.

Zu seinem Leidwesen wurde der immense berufliche Erfolg durch sein privates Schicksal überschattet. Von den Kindern, die ihm seine geliebte Frau gebar, überlebte nur ein einziger Sohn, bevor sie mit dem siebten Nachkommen im Kindbett verstarb. Beowulf junior war zeit seines Lebens kränklich, interessierte sich ausschließlich für die Natur und die Malerei und konnte den Webereifabriken, die sein Vater in der Zwischenzeit aufgebaut hatte, nicht das Geringste abgewinnen. Er heiratete früh, bekam drei gesunde Kinder und verstarb an Tuberkulose, als er kaum dreißig Jahre alt war. Also blieb es seinem Vater überlassen, die Kinder gemeinsam mit ihrer Mutter großzuziehen.

Die Schwiegertochter war eine handfeste, fleißige Frau, die der Webereibaron dereinst selbst für den Sohn ausgesucht hatte, und so bestand in Erziehungsfragen meist Einigkeit. Die beiden älteren Kinder wuchsen zu tüchtigen Burschen heran, die die Fabriken mit Bravour weiterführen würden.

Das jüngste Enkelkind war Corinna, ein durchaus hübsches, wenn auch etwas dralles Mädchen, das nun schon über zwanzig Jahre zählte, ohne einen geeigneten Gatten gefunden zu haben. Dafür gab es mehrere gute Gründe. Zum einen starb ihre Mutter, als Corinna in die Gesellschaft eingeführt werden sollte, und die Trauerzeit ließ lange keinerlei Vergnügungen zu. Dazu kam, dass sie das künstlerische Talent ihres Vaters geerbt hatte und die Staffelei jeder gesellschaftlichen Verpflichtung vorzog. Und dann gab es noch einen ganz anderen triftigen Grund, der sie davon abhielt, einem Verehrer die Hand zum Bund zu reichen: Sie hatte sich vor zwei Jahren unsterblich in einen gewissen Mr Elliot Sandhill-Jones verliebt und gönnte seither keinem anderen Gentleman mehr als nur einen Blick.

Der Webereibaron hatte sich zwar in den Kopf gesetzt, seine einzige Enkelin in den Hochadel zu verheiraten, aber gerade dieser als Mitgiftjäger bekannte Schönling musste es nun wirklich nicht sein. Gut, er würde nach dem Tod des Vaters den Titel eines Barons übernehmen. Doch, wie Beowulfs Recherchen ergaben, war das sein einziges Erbe von Wert. Der jetzige Inhaber des Titels hatte in jungen Jahren ein ausschweifendes Leben geführt, alles zu Geld gemacht, was zu Geld zu machen war, und lebte nun mehr schlecht als recht von dem, was sein heruntergekommener Landbesitz hergab. Dazu kam, dass Beowulfs Vertrauter aus der Hauptstadt zu berichten wusste, dass der junge Sandhill-Jones dort ein wahres Lotterleben führte, sich von diversen verheirateten Geliebten aushalten ließ und ein Mitglied jener Gruppe junger Stutzer war, die, soweit er das beurteilen konnte, in den Tag hineinlebten und sich selbstgefällig Heroes nannten.

All das ließ in ihm nicht den Wunsch reifen, ihn als Ehemann seiner einzigen, geliebten Enkelin in Betracht zu ziehen. Stattdessen hatte er ihr in den letzten Monaten alle adeligen Männer vorgestellt, die bereit waren, eine Frau aus dem Volk zur Gemahlin zu nehmen. Die Höhe der Mitgift schien für viele junge Gentlemen verlockend zu sein, doch dann kamen die Väter oder Vormunde ins Spiel und schoben einen Riegel vor. Die Enkelin eines Webers konnte noch so viel Geld in die Ehe mitbringen, man war sich zu gut, um sie in einer hochherrschaftlichen Familie willkommen zu heißen. Wenn sie wenigstens dem gängigen Schönheitsideal entsprochen hätte! Eine gertenschlanke Feengestalt, die dunklen Haare à l‘Aphrodite aufgesteckt, hätte, einer römischen Göttin gleich, dem Gatten zur besonderen Ehre gereicht. Doch Corinna war blond, ihre Augen blau und der Busen so rund und prall, dass sie in den Kleidern mit hochgezogener Taille, die die herrschende Mode vorschrieb, so gar nichts von einer Römerin an sich hatte. Dennoch hatte eines Tages sogar ein wahrhaftiger Earl schriftlich sein Interesse an ihr bekundet. Beowulf hatte seine Freude kaum fassen können und sich sofort aufgemacht, um seiner Lordschaft einen Besuch abzustatten. Der Verehrer erwies sich als Greis mit gichtigen Beinen, der sich nur mehr am Stock fortbewegen konnte. Er hatte sich mit seinem Erben überworfen und wollte nun den Versuch unternehmen, auf seine alten Tage doch noch Vater eines Sohnes zu werden.

»Ihre Enkelin ist nicht nur jung, sie scheint mir auch ein recht gebärfähiges Becken zu haben«, erklärte er dem Weber, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Bringen Sie sie her, wir holen den Pfaffen und dann will ich einen Versuch unternehmen. Viel Zeit bleibt mir ja nicht mehr.«

Beowulf sah ein, dass er Corinna doch nicht um jeden Preis als Countess sehen wollte, und setzte seine Suche anderweitig fort. Im Hochadel blieb er jedoch erfolglos, wenn man von einem kleinwüchsigen Viscount aus Yorkshire und einem trunksüchtigen Baron aus Sussex absah, der seine Hunde schlug. Unter den Landadeligen war die Ausbeute dann um einiges größer, doch nun war es Corinna, die an allen etwas auszusetzen fand. War der eine zu groß, war der andere zu klein, zu dick, zu dünn, zu laut, zu leise, alles in allem: Er war nicht Elliot Sandhill-Jones. Schließlich musste Beowulf einsehen, dass seine sonst so stille Enkelin nicht nur die Statur ihrer Großmutter und die künstlerische Begabung ihres Vaters, sondern auch etwas von ihm geerbt hatte. Nämlich eine Hartnäckigkeit, die an Sturheit grenzte. Also fügte er sich schweren Herzens ihrem Wunsch, beriet sich mit seinem Rechtsvertreter und bat dann Baron Sandhill-Jones, den Vater von Corinnas Auserwähltem, um ein Treffen.

Dass sich die beiden Männer vom ersten Augenblick an unsympathisch fanden und einander nicht über den Weg trauten, änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich schnell handelseinig wurden. Eine Verbindung zwischen ihren Nachkommen war zwar nicht das, was sie sich erhofft hatten, aber immerhin ein Kompromiss, mit dem sie beide leben konnten. Baron Sandhill-Jones hatte auf einen ebenso eitlen wie dummen Goldesel gehofft, der von seinem Titel und seiner hohen Stellung derart geblendet war, dass er ihn jahrelang nach Strich und Faden hätte ausnehmen können. Er bemerkte bereits in den ersten Minuten des Gesprächs, dass er diese Hoffnung beim selbstbewussten Weber begraben konnte. Aber immerhin würde ihm die Heirat ausreichend Geld zur Verfügung stellen, um nicht nur den desolaten Herrensitz wieder auf Vordermann zu bringen, sondern auch bis zum Tod ein gutes Auskommen zu haben. Seinem Sohn würde die Mitgift ein sorgenfreies, standesgemäßes Leben sichern, sofern er sie nicht am Spieltisch durchbrachte. Aber, so dachte er, das würde dann nicht länger sein Problem sein.

Der Webereibaron wiederum sah die Heirat seiner Enkelin als einzig reelle Chance an, enge Bande zum Hochadel zu knüpfen. Außerdem war es ihm ein Herzensanliegen, Corinna einen Wunsch zu erfüllen, und er wollte sie zudem sicher unter der Haube wissen, bevor er selbst das Zeitliche segnete. Natürlich hätte er es vorgezogen, sofort nach der Hochzeit Meine Enkelin, die Baronin sagen zu können, statt zuerst den Tod ihres hochfahrenden Schwiegervaters abwarten zu müssen. Allerdings war der schon so kurzatmig, dass Semley guter Hoffnung war, sich nicht mehr allzu lange gedulden zu müssen. Er wollte es unbedingt noch erleben, dass seine kleine Corinna zur wahrhaftigen Baronin wurde.

Man vereinbarte, einen Rechtsvertreter mit dem Aufsetzen des Ehekontrakts zu beauftragen, und der Baron versprach, seinen Sohn davon in Kenntnis zu setzen, dass er nunmehr ein Bräutigam war. Für Ende Juni wurde der Verlobungstermin festgelegt, der auf dem Landsitz des Barons im ganz kleinen Kreis stattfinden sollte. Was die Hochzeit betraf, so bestand der Weber auf der Kirche St. George am Londoner Hanover Square. Wenn man in Adelskreisen dort zu heiraten pflegte, dann würde keine andere Kirche für seine Enkelin gut genug sein. Da er versprach, für sämtliche Kosten aufzukommen, war Sandhill-Jones nur zu gern mit diesem Plan einverstanden.

Von all dem ahnte Elliot nichts. Er hatte dem jungen Marquess of Beaconsfield alles über die skandalöse Verwechslung seiner Schwester erzählt und ihn dann in seinem eigenen Gasthauszimmer versteckt. Die Trauung in der kleinen Kapelle von Millcombe Castle war eine herzerwärmende Zeremonie in kleinem Kreise. Mit Freudentränen bemerkte die Braut, dass es ihr Bruder war, der das Spinett auf der hölzernen Empore spielte und ihr so seinen Segen gab. Anschließend gelang es den Heroes mit List und Tücke, ihn am Vormund und dessen Freunden vorbeizuschmuggeln, und Elliot brachte ihn an den sicheren Ort, wo er bis zu seiner Volljährigkeit in Ruhe leben konnte. Erst nach der Rückkehr in seine kleine, muffige Absteige in der Londoner City erinnerte sich Sandhill-Jones an den Brief in der Rocktasche.

Kapitel 3

Sohn!

Ich gewährte dir ausreichend Zeit, dir eine passende Gemahlin zu suchen. Da dir bis heute kein Mädchen genehm war, habe ich nun für dich entschieden. Du wirst Miss Corinna Semley heiraten, die Enkelin eines Webereibesitzers, der vor Geld stinkt. Sie lernte dich angeblich vor zwei Jahren in Bath kennen und ist, wohl wegen deiner hübschen Larve, von dir angetan. Finde dich zu deiner Verlobung und zur Unterzeichnung des Heiratskontrakts am 29. dieses Monats hierorts ein. Die Hochzeit wird nach Ablauf der Aufgebotsfrist in St George stattfinden. Der Weber mag es anscheinend nobel.

Baron Sandhill-Jones

Elliot ließ das Schreiben sinken und starrte nachdenklich auf den bröckelnden Putz an der Wand, die seinem Stuhl gegenüberlag. Seit seiner Geburt hatte man ihm immer wieder eingetrichtert, dass es seine heilige Pflicht und Schuldigkeit sein würde, das Anwesen der Vorfahren vor dem Untergang zu retten. Da es ihm, als zukünftigem Baron, nicht gestattet war, einer bezahlten Arbeit nachzugehen und da sein Vater bereits alles von Wert verkauft hatte, kam dafür nur eine vorteilhafte Heirat infrage. Elliot hatte mehr als einmal am Spieltisch versucht, diesem Schicksal zu entgehen, doch leider war ihm Fortuna nur selten hold gewesen. Wenn man dem Sprichwort Glück in der Liebe, Pech im Spiel Glauben schenken konnte, dann müsste er bei all dem Pech, das ihn beim Cribbage oder Whist ereilte, irgendwann einmal enormes Glück in der Liebe haben. Elliot lachte bitter auf. Nun ging also seine unbeschwerte Zeit als Junggeselle endgültig zu Ende. Er hatte gewusst, dass es nur mehr eine Frage von Monaten war, bis Vater die Geduld verlieren und von sich aus tätig werden würde. Immerhin zählte er, Elliot, inzwischen achtundzwanzig Jahre und war damit längst im richtigen Alter, um eine Familie zu gründen. Bei der Braut kam es einzig und allein auf die Höhe der Mitgift an, von Liebe war nie die Rede gewesen. Also war diese ihm unbekannte Miss Semley so gut wie jede andere. Eines machte ihn allerdings stutzig: Was sollte das heißen, die junge Frau habe ihn vor zwei Jahren in Bath kennengelernt und sei von ihm angetan gewesen? Wann, bitte, war er denn jemals in Bath gewesen? Ach ja, richtig, fiel ihm ein, das muss gewesen sein, als ich Großtante Joanne anlässlich ihrer Trinkkur besuchte.

Joanne war die Tante seiner verstorbenen Mama gewesen, hatte selbst keine Nachkommen, besaß aber ein recht hübsches Anwesen in Kent und ein kleines Stadthaus in London. Darum, so hatte er damals gedacht, konnte es nicht schaden, sich ein wenig Liebkind zu machen. Also hatte er sie in Bath besucht, ihr in der Wandelhalle Gläser mit scheußlich schmeckendem Heilwasser besorgt, Ausflüge in die Umgebung organisiert und sie zu so mancher Veranstaltung begleitet. Dabei hatte sie ihn ihren Freundinnen wie einen exotischen Vogel präsentiert, und eine der älteren Damen ging so weit, ihm heimlich zuzuflüstern, dass er ein ganz Schnuckeliger sei, und ihm in das Hinterteil zu zwicken. Wenn Elliot daran dachte, bekam er noch heute eine Gänsehaut. All der Aufwand hatte nichts genützt. Die Großtante hinterließ ihm keinen einzigen lumpigen Penny. Ihr sämtliches Hab und Gut ging an seinen kleinen Bruder Simon, der das Haus in London vermietete und nun mit Frau und Kindern sorgen- und schuldenfrei in Kent lebte. Auch wenn er selbst leer ausgegangen war, freute sich Elliot dennoch darüber. Zum einen, weil er Simon mochte, und zum zweiten, weil ihm das die Last von den Schultern nahm, als zukünftiges Familienoberhaupt auch noch für dessen Wohlergehen sorgen zu müssen.

Tante Joanne hat damals darauf bestanden, dass ich sie zu einem öffentlichen Ball in den Assembly Rooms begleite, fiel ihm ein. Gleich darauf stockte ihm der Atem.Jetzt erinnerte er sich daran, dort tatsächlich eine junge Frau kennengelernt zu haben.

Nein, bitte nicht die!, war sein nächster Gedanke, und das Herz sank ihm vor Entsetzen in die Hose. Von allen weiblichen Wesen auf Gottes weiter Flur, bitte nicht ausgerechnet die!

Mit einem Schlag kamen Einzelheiten jenes denkwürdigen Abends in ihm hoch. Er stand auf und begann hektisch damit, seine wenigen Schränke nach einer Flasche Hochprozentigem abzusuchen. Vergeblich. Er würde seine Erinnerungen ohne tröstenden Alkohol ertragen müssen.

Das Jahr 1810 gönnte den Besuchern von Bath ungewöhnlich warme, sonnige Spätherbsttage. Elliot war mit seiner Großtante von einem der Ausflüge zurückgekehrt und hatte gehofft, die alte Lady wäre zu müde, um auch noch den öffentlichen Ball in den Assembly Rooms zu besuchen, wie sie es geplant hatte. Doch Joanne war voller Tatendrang. Also ließ er sich von einem Diener in die Abendkleidung helfen, bot der unternehmungslustigen Tante den Arm und fragte sich insgeheim, ob sie gar erwartete, dass er sie und am Ende auch noch all ihre gleichaltrigen Freundinnen zum Tanz führen würde. Sie hatten kaum den Veranstaltungsort betreten, da bekam er die Antwort. Die Großtante ließ ihn nämlich links liegen, um sich zu den Spieltischen zu begeben. Sie zeigte auf eine der grünen Lederbänke, die zwischen den ionischen Säulen aufgereiht standen.

»Warte hier auf mich und rühre dich nicht von der Stelle«, forderte sie. »In drei Stunden bringst du mich dann in mein Quartier zurück.«

Natürlich hatte er keine Lust, wie ein Schoßhund auf sie zu warten. Stattdessen wanderte er ziellos durch die Räume, begutachtete Einrichtung und Gäste und traf schließlich am Eingang des Ballsaals auf einen Studienkollegen aus Oxford, einen Baronet aus Wiltshire, an dessen Namen er sich nun beim besten Willen nicht mehr erinnerte. Sie unterhielten sich geraume Zeit über irgendwelche Banalitäten, als Elliots Blick auf ein hübsches Mädchen fiel.

»Weißt du, wer diese junge Lady ist?«, wollte er wissen.

»Das ist die schöne Corinna«, antwortete der Freund. Elliot hielt in Gedanken inne. Er hatte eigentlich im Gedächtnis gehabt, sie hätte Cordula geheißen, aber nach zwei Jahren war die Erinnerung wohl doch schon etwas verblasst.

Dann hieß sie eben Corinna, so dachte er, soll mir auch recht sein.

»Ihr Verlobter ist vor einem Jahr ganz plötzlich dahingeschieden. Na ja, …« Der Freund hatte sich unterbrochen und den Mund zu einem spöttischen Grinsen verzogen. »So plötzlich nun auch wieder nicht, denn es war ein ziemlich alter Knacker, den ihr Vormund zum passenden Gemahl ausersehen hatte. Wie ich sehe, ist die Trauerzeit vorüber. Ich weiß auch schon, wer sie trösten und um den nächsten Tanz bitten wird. Du hast keine Chance gegen mich, mein Guter!«

Der Baronet grinste Elliot frech an und machte sich auf den Weg quer durch den Ballsaal zur hübschen jungen Lady hinüber. Dort verbeugte er sich formvollendet, schenkte ihr ein bewunderndes Lächeln und brachte sie dazu, den angebotenen Arm zu ergreifen. Sein Blick glitt triumphierend zu Elliot zurück.

Nun denn, dachte der amüsiert, dann lass uns die Spiele beginnen!

Der Baronet hatte einen Wettstreit eröffnet, den er, Elliot Sandhill-Jones, zu gewinnen gedachte. Er musste es nur schaffen, in die Nähe der Schönheit zu gelangen und ihr vorgestellt zu werden. Alles Weitere, so wusste er, konnte er getrost seinem guten Aussehen und seinem Charme überlassen.

In diesem Augenblick kündigte der Zeremonienmeister eine Quadrille an und ersuchte die Paare, Aufstellung zu nehmen. Elliot sah noch einmal zu seinem Studienfreund hinüber und erkannte, dass sich die junge Lady zu amüsieren schien. Ein glockenhelles Lachen drang zu ihm hinüber. Dass es auch etwas schrill klang, schrieb er ihrer Aufregung zu. Ihm war bewusst, dass er rasch handeln musste, wollte er den Baronet noch ausstechen. Ohne lange nachzudenken, drehte er sich um und warf einen kurzen prüfenden Blick über die Mauerblümchen, die, wie üblich, mit sehnsuchtsvollen Augen und unter der Aufsicht ihrer Anstandsdamen am Rand des Ballsaals warteten, ob sich nicht doch ein junger Stutzer ihrer erbarmen würde. Er verbeugte sich vor der Duenna, die ihm am nächsten stand, und führte ihren Schützling aufs Parkett. Elliot hielt in Gedanken inne, konnte sich aber von diesem Mädchen kein Gesicht mehr vor Augen führen. Alles, was ihm noch in Erinnerung kam, war ein vages Bild voller rosaroter Rüschen und Schleifchen. An jenem Abend in Bath hatte er sich innerlich zu dem grandiosen Schachzug gratuliert, sie aufgefordert zu haben, und dann seinen Standort strategisch so günstig gewählt, dass er bei den Figuren der Quadrille immer wieder mit der schönen Corinna zusammenkam. Obwohl sie einander nicht vorgestellt worden waren, gelang es ihm, während des Tanzes ein paar Worte mit ihr zu wechseln und sich ihr angenehm zu machen.

Seine Zuversicht sollte sich bewahrheiten. Sein schönes Äußeres, gepaart mit Eleganz und Witz, brachte die junge Dame dazu, ihm den übernächsten Tanz zu versprechen. Für den nächsten hatte sich bereits ein anderer Gentleman in die Tanzkarte eingetragen. Elliot war mehr als zufrieden. Er hatte den Baronet in die Schranken gewiesen und außerdem noch genügend Zeit, seine rosarote Tanzpartnerin zu ihrer schnatternden Begleiterin zurückzubringen und ihr auch noch ein Glas Limonade zu besorgen. Dann stellte er sich der anderen mit all der angemessenen Höflichkeit vor und führte sie zu einem Walzer. Miss Corinna wusste diesen Tanz gar vorzüglich auszuführen und lag wie eine Feder in seinen Armen. Elliot überlegte bereits, wie er am besten herausfinden konnte, welcher Familie sie entstammte und ob sie über ausreichend Vermögen verfügte, dass es ihm lohnenswert erschien, ihr ernsthaft den Hof zu machen, als sich das Blatt überraschend wendete.

Es begann damit, dass das Mädchen nach dem Tanz über Schwindel klagte und nicht nur den Drehungen, sondern auch der Hitze im Saal dafür die Schuld gab. Ha, der Hitze im Saal! Elliot konnte nur empört schnaufen, wenn er jetzt daran dachte. Seinen Vorschlag, sie zu ihrer Anstandsdame zu bringen und ihr ein Glas Wasser zu holen, lehnte sie mit dem Hinweis ab, sie wolle die liebe Tante nicht stören und stattdessen auf der Terrasse ein wenig promenieren. Ob er wohl die Liebenswürdigkeit hätte, sie zu begleiten? Da er bemerkte, mit welch eifersüchtigen Blicken der Baronet sie beobachtete, bewies er diese Liebenswürdigkeit nur allzu gern. Und er war auch bereit, ihr in den Park zu folgen, als sie voll Enthusiasmus einen blühenden Busch bewunderte. Aber als sie dann hinter dem Strauch verschwand, ihn mit sich zog und aufstöhnend ihre Lippen auf die seinen legte, war er etwas irritiert. Während sie ihm Komplimente ins Ohr hauchte, machte sie sich dann sogar daran, sein Halstuch zu lockern. In Windeseile verabschiedete sich nicht nur ihr Schwindelgefühl, sondern auch sein Interesse an ihr. Also umfasste er ihre Handgelenke und zerbrach sich den Kopf, wie er sie am besten zurückweisen konnte, ohne ihre Gefühle allzu sehr zu verletzen. Da lachte sie schrill auf, rief, er solle kein solcher Hasenfuß sein, und begann sich dann über ihren Vormund zu beklagen, der sie von allem fernhielt, was ihr Vergnügen bereitete.

Dass sie vor allem an frivolem Vergnügen interessiert war, überraschte ihn nicht mehr. Ihre vulgäre Wortwahl jedoch schon. Sie hätte besser in den Schankraum einer heruntergekommenen Kaschemme gepasst als in das elegante Ambiente der Assembly Rooms. Elliot verfügte über keine besonders strengen Moralvorstellungen und hatte jede Menge Erfahrung darin, mit Mädchen vom Ballett und Schauspielerinnen zu tändeln. Aber eine junge Frau, die ihm in einem öffentlich zugänglichen Park die Kleider vom Leib reißen wollte, war nun doch des Guten zu viel. Außerdem küsste sie wie ein kalter, schlabbriger Fisch. Es ekelte ihn heute noch, wenn er daran dachte. Zu seinem Glück näherten sich an diesem Abend andere Nachtschwärmer dem Busch, hinter dem sie standen. So gelang es ihm, seine Tanzpartnerin zu überreden, in den Saal zurückzukehren und dann das Weite zu suchen.

Am nächsten Morgen musste er Tante Joanne zu einem Picknick begleiten und traute seinen Augen nicht. Wer grinste ihm aus dem Landauer erwartungsvoll entgegen? Richtig, die nun gar nicht mehr so schöne Corinna. Ohne zu zögern, nahm sie ihn nicht nur in der Kutsche, sondern später auch während des Essens vollständig in Beschlag. Dabei fasste sie ihn immer wieder an den Arm, einmal sogar an den Oberschenkel, lachte schrill, schäkerte und flüsterte ihm kleine, unanständige Bonmots ins Ohr. Joanne und andere Mitglieder der Tischgesellschaft blickten befremdet zu ihnen hinüber und gaben offensichtlich ihm die Schuld an ihrem Verhalten. Schließlich hielt er es nicht mehr länger aus. Er sprang auf und erklärte, sich die Beine vertreten zu wollen. Sofort war sie wieder an seiner Seite. Sie gingen einige Schritte nebeneinanderher, bevor er ihr Geplauder schroff unterbrach: »Ich würde gern ein wenig allein sein, wenn Sie gestatten!«

Natürlich war sie damit nicht einverstanden.

»Aber warum denn, mein Hübscher?!« Sie schlug ihm mit dem zusammengeklappten Fächer auf die Schulter und ließ ihr schrilles Lachen hören. »In weiblicher Gesellschaft ist doch alles viel amüsanter. Was wollen Sie denn machen, so ganz allein?«

»Mein eitriges Furunkel unter die Lupe nehmen«, war das Erste, was ihm in den Sinn kam. Dabei konnte er sich nicht entscheiden, ob er über diese grauenhafte Lüge lachen oder sich dafür genieren sollte. Also blieb er dabei, dass Angriff die beste Verteidigung war und setzte barsch hinzu: »Wollen Sie mir etwa auch dabei Gesellschaft leisten?«

Sie blieb mit offenem Mund stehen und er eilte von dannen, bevor sie sich von ihrem Schreck erholen und ihm weiter hätte folgen können. Mit weit ausholenden Schritten durchquerte er ein kleines Wäldchen und kam schließlich auf eine Wiese. Dort traf er auf zwei Mädchen, die mit ihren Skizzenblöcken im Gras saßen und irgendwelche Blumen zu Papier brachten. Sie mochten so um die achtzehn Jahre alt gewesen sein. Da er weder Lust verspürte, weiterzueilen und Gefahr zu laufen, sich in der ihm unbekannten Landschaft zu verirren, noch bereit war, allzu bald zur Picknickgesellschaft zurückzukehren, leistete er den beiden Gesellschaft. Er hatte keine Ahnung mehr, worüber sie sprachen, wusste aber noch, dass er sich mit einer von ihnen angeregt und auch recht amüsant unterhalten hatte. So kam es, dass er die Zeit übersah und Joanne und ihr Gefolge mit der Rückfahrt auf ihn warten mussten. Damit war das Vorhaben, die Großtante für sich einzunehmen, endgültig gescheitert. Und nun sollte er die ordinäre, schrille Corinna, vor der er damals geflohen war, zur nächsten Baronin Sandhill-Jones machen? Das Schicksal bewies wahrlich einen seltsamen Humor.

Fragte man hingegen Miss Corinna Semley nach besagtem Abend, so erfuhr man eine ganz andere Geschichte. Aufmerksame Beobachter bemerkten als Erstes ein Aufleuchten in ihren Augen. Großvater Beowulf hatte darauf bestanden, dass sie sich anlässlich ihres Besuches während seiner jährlichen Trinkkur in Bath auch dort in Gesellschaft zeigte. Als kleine Überraschung hatte er ihr für den öffentlichen Ball in den Assembly Rooms extra ein Kleid bei der örtlichen Schneiderin anfertigen lassen. Die Maße seiner Enkelin waren ihm seit Langem bekannt, und dass sie seine Vorliebe für opulente Stoffe ebenso wenig teilte wie für die Farbe Altrosa, scherte ihn keinen Pfifferling. Als Anstandsdame konnte er die Gattin eines anderen Kurgasts, eine gewisse Mrs Bromley, gewinnen, die sich rühmte, einmal bei Lady Jersey, einer der bekanntesten Patronessen des Londoner Almack’s Clubs, zum Tee eingeladen gewesen zu sein. Sie war eine besonders redselige und, wie seine Enkelin fand, auch eine besonders dumme Person.

An besagtem Abend stand Corinna am Rand des Ballsaals und ließ die ausschweifenden Erzählungen ihrer neuen Duenna mit gelangweiltem Gleichmut über sich ergehen. Währenddessen beobachtete sie das Geschehen auf der Tanzfläche und rechnete sich im Kopf aus, wie viele Stunden sie noch warten musste, bis sie wieder zum Gasthof zurückfahren durfte. Da war, wie ein Geschenk aus heiterem Himmel, ein junger Mann vor sie hingetreten. Ein junger Mann? Nein, ein griechischer Gott. Mit einem bezaubernden Lächeln, das ihr Herz erwärmte und die Knie erzittern ließ, hatte er sich formvollendet vor ihr verbeugt. Mr. Elliot Sandhill-Jones bat zwar nur um die Ehre eines Tanzes, hob damit aber gleichzeitig ihre ganze Welt aus den Angeln. Immer wenn sie bei den Figuren der Quadrille zusammenkamen, brachte er sie mit einer launigen Bemerkung zum Lächeln. Er sah dabei so glücklich und fröhlich aus, dass sie wusste, dass auch er ihr Zusammensein genoss. Als die Musik wieder schwieg, bedankte er sich nicht nur für den Tanz und brachte sie zu Mrs Bromley zurück, nein, er besorgte ihr auch noch ein Glas Limonade und überreichte es ihr mit ausgesuchter Höflichkeit. Dann lächelte er ihr noch einmal zu und ward von diesem Augenblick an nicht mehr gesehen. Corinna schwebte wie auf Wolken. Anscheinend strahlte sie dieses Glücksgefühl auch aus, denn noch nie zuvor und auch nie mehr danach hatten sich so viele junge Männer darum gedrängt, sich in ihre Tanzkarte eintragen zu dürfen.

In der folgenden Nacht lag sie lange wach und ließ sich jede Einzelheit der Begegnung immer und immer wieder durch den Kopf gehen. Voller Sehnsucht träumte sie davon, dem liebenswerten Gentleman ein weiteres Mal über den Weg zu laufen. Mit ihm zu sprechen, seine Nähe zu spüren, sich in seinem Lächeln zu sonnen. Und dann geschah das Unglaubliche. Es war am nächsten Nachmittag, da trat er völlig unverhofft aus einem kleinen Wäldchen auf eben jene Wiese hinaus, die sie, begleitet von ihrer Zofe Ann, für Naturstudien gewählt hatte. Sie hatte es zuerst gar nicht glauben wollen. Ihr Herz drohte sich zu überschlagen, als sie gegen die Sonne blinzelte und feststellte, dass tatsächlich er es war, der da so nonchalant auf sie zu schlenderte. Was dann geschah, war schier noch unglaublicher. Zuerst stellte er sich ihr noch einmal vor, und diesmal merkte sie sich seinen Namen, den sie in der Aufregung des Tanzes wieder vergessen hatte. Sandhill-Jones. Mr Elliot Sandhill-Jones. Dann setzte er sich neben sie ins Gras und wollte alles über ihre Skizzen und ihre Motivation zu malen wissen. War es da ein Wunder, dass es nun vollkommen um sie geschehen war? Sich gleich zwei Mal hintereinander zu treffen, konnte kein Zufall sein. Das war Schicksal. Ihr Schicksal. Und obwohl sie den jungen Mann danach nie wieder zu Gesicht bekam, wusste sie, dass sie sich nur in Geduld üben musste. Hieß es nicht immer, dass aller guten Dinge drei waren?

Inzwischen waren beinahe zwei Jahre vergangen. Zwei Jahre, in denen sie den Großvater immer wieder bat, ja geradezu bestürmte, herauszufinden, wo Mr Sandhill-Jones wohnte, und Kontakt zu ihm aufzunehmen. Wenn er schon darauf bestand, dass sie in den Hochadel einheiratete, dann würde nur Elliot dafür infrage kommen. Sie hatte ihr Herz bereits an den jungen Gentleman verloren. Wer konnte es ihr verdenken, dass sie alles daransetzen wollte, nun auch das seine zu erobern?

Kapitel 4

London, Berkeley Squareeine Woche nach der Hochzeit von Harold und Amabel WestfieldJuni 1812

Da dies der einzige Ort in der Hauptstadt war, an dem sie sich ungestört unterhalten konnten, trafen sich die vier Heroes regelmäßig im Stadtpalais von Reginald Ashbourne. Die anderen drei verfügten über keine geeignete Unterkunft. Oscar hatte sein Stadthaus in der Mount Street vermietet, da er jeden Penny benötigte, um für die teuren Eskapaden seines exzentrischen Großonkels aufzukommen, und die anderen weigerten sich, wöchentlich zu seinem Anwesen nach Hampstead hinauszureiten. Elliot wohnte in einem kleinen, dunklen Appartement in der City, das seine Freunde nur das grässliche Loch nannten und wohin sie nach einem ersten Kurzbesuch niemals wieder eingeladen werden wollten. Und Harold war erst kürzlich aus Spanien zurückgekehrt, wo er als Major unter Wellington gedient hatte, und musste sich noch entscheiden, ob er ein Haus in Mayfair kaufen oder doch lieber mieten wollte. Das Treffen an diesem Vormittag hätte aber nicht nur wegen neugieriger Ohren nicht im White’s Club stattfinden können, sondern auch deshalb, weil Harold angekündigt hatte, seine frischangetraute Gattin mitbringen zu wollen.

Elliot erreichte das Palais am Berkeley Square als Erster und wurde vom Butler in die Bibliothek geleitet, die zugleich das Arbeits- und Musikzimmer des Hausherrn war, und wo sie sich bei ihren Zusammenkünften am liebsten aufhielten.

»Bitte nehmen Sie Platz, Sir, Mr Ashbourne wird sich in Kürze zu Ihnen gesellen.«

Elliot, der sich hier, bei seinem Cousin, wohler als bei sich zu Hause fühlte, ließ sich in einen der tiefen, schwarzen Ledersessel fallen, fuhr erschrocken zusammen und stieß einen Schmerzensschrei aus. Etwas Spitzes hatte seine Hose durchdrungen und stach ihn nun höchst unangenehm in den rechten Oberschenkel. Sofort verlagerte er das Gewicht und holte den Verursacher seines Unbehagens unter dem Bein hervor. Es war ein Steckkamm mit langen Zinken, der, obwohl er schwarz war, ganz sicher nicht zur üblichen Aufmachung des Hausherrn gehörte. Elliot grinste. Als er hörte, wie sich die Zimmertür öffnete und Reginald ihn begrüßte, vertiefte sich das Grinsen noch etwas mehr.

»Auch von mir einen guten Morgen, mein Lieber«, sagte Elliot und erhob sich. »Du hattest gestern Damenbesuch, wie ich soeben schmerzhaft feststellte.« Er hielt den Steckkamm triumphierend in die Höhe.

»Erzähl mir lieber etwas, was ich noch nicht weiß«, antwortete sein wie stets ganz in Schwarz gekleideter Gastgeber trocken, schnappte sich den Kamm und ging zum Schreibtisch hinüber, um ihn in der obersten Schublade zu verstauen.

»Da gibt es tatsächlich etwas«, meinte Elliot ohne sichtliche Emotionen, innerlich aber doch erfreut, den stets so gelassenen Cousin in Erstaunen versetzen zu können. »Ich heirate Anfang August. Willst du mir die Ehre erweisen, einer meiner Trauzeugen zu sein?«

Während ihm Ashbourne die Freude machte, ihn ungläubig anzustarren, ging die Tür abermals auf und Oscar Bradford trat ein, gefolgt vom jungverheirateten Paar Westfield. Man begrüßte einander auf das Herzlichste, bevor alle auf der bequemen Sitzgruppe vor dem leeren Kamin Platz nahmen. Der Butler stellte Erfrischungen bereit.

Elliot blickte vergnügt in die Runde. Amabel sah in ihrem lindgrünen Tageskleid mit der zarten Stickerei am Kragen und dem dazu passenden Schutenhut entzückend aus. Was ihn besonders freute, war die Tatsache, dass sie mit ihrem Gatten um die Wette strahlte. Harold, der für den Freundschaftsbesuch auf seine blaue Uniform verzichtet hatte, lächelte stolz und glücklich zu ihr hinüber. Es gibt sie also doch, die große Liebe, dachte Elliot bei sich. Auch wenn sie manchmal ungewöhnliche Wege geht. Bei den beiden waren es keine finanziellen, sondern moralische Gründe gewesen, die sie vor den Altar geführt hatten, und doch war es zweifellos Liebe, was sie verband. Wer sagte es denn? Vielleicht würde er mit der Enkelin des Webers ja auch das große Glück finden? Da hörte er im Geiste ihr schrilles Lachen, schalt sich einen naiven Narren und begrub die aufkeimende Hoffnung.

»Wovon habt ihr gerade gesprochen, als wir hereingeplatzt sind?«, erkundigte sich Oscar. Er war wie immer schlicht und zweckmäßig in Braun- und Beigetönen gekleidet und hatte auf jedes modische Detail verzichtet. Unnötigen Schnickschnack nannte er alles, was zusätzliches Geld kostete, ohne die Kleidung dadurch besser geschnitten, wärmer oder zumindest komfortabler zu machen. Elliots Blick wanderte von seinem praktisch veranlagten Freund zu den weißen Stulpen auf seinen eigenen, auf Hochglanz polierten Stiefeln, die ihm seine derzeitige Geliebte erst kürzlich spendiert hatte. Modische Quasten baumelten bei jeder seiner Bewegungen. Er grinste amüsiert. So sehr er Ossi auch mochte, in Modefragen waren sie beide nur selten einer Meinung.

»Reginald war begierig darauf, etwas zu erfahren, was er noch nicht weiß«, begann er dann und wollte eben wieder auf seine bevorstehende Verlobung zu sprechen kommen, als ihn Oscar unterbrach.

»Zu diesem Thema kann ich tatsächlich etwas beitragen«, sagte er und griff zu seinem Glas. »Jasper Tuckenhay ist seinen Verletzungen erlegen.«

»Jasper Tuckenhay war verletzt?« Das hörte Elliot zum ersten Mal. Nicht, dass er dessen Tod besonders betrauert hätte. Tuckenhay war der beste Freund von Mr Prestwood, Amabels und Sebastians grässlichem Vormund. Ein unangenehmer Mann, in dessen Vertrauen er sich geschlichen hatte, um mehr über die schändlichen Pläne zu erfahren, die den jungen Marquess betrafen. Bei Harolds Hochzeit hatte Tuckenhay allerdings noch gesund und munter unter der Empore der kleinen Kirche gestanden. »Was ist denn passiert?«

»De mortuis nihil nisi bene«, meldete sich Amabel zu Wort. Niemand wunderte sich über die ungewöhnliche Art, sich auszudrücken, kannten sie inzwischen doch alle ihre Vorliebe für lateinische Sätze. »Über Tote soll man ja bekanntlich nichts Schlechtes sagen. Aber dass der unmögliche Mensch auch noch Sebastians goldene Uhr gestohlen hat, schlug dem Fass dann doch wirklich den Boden aus.« Sie wandte sich an Elliot. »Ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du meinen Bruder in Sicherheit gebracht hast.« Sie kniff die Augen zusammen. »Er ist doch in Sicherheit?«

»Ist er«, bestätigte Elliot rasch. »Kann mir trotzdem jemand in Ruhe erklären, was es mit Tuckenhays Tod auf sich hat?«

Wenn jemand etwas in Ruhe erklären sollte, dann war das meist das Stichwort für Oscar Bradford. So auch heute: »Du erinnerst dich vielleicht, dass sich Prestwood bei der Trauung in die erste Reihe gesetzt hat, sein Bruder und sein Freund Tuckenhay jedoch bei der Empore stehen geblieben waren? Direkt unter dem Spinett, das der Marquess spielte?«

»Es ist ewig schade um das Instrument«, hörten sie Amabel ihrem Gatten zuflüstern, »Sebastian hat es geliebt.«

»Das weiß ich natürlich noch«, bestätigte Elliot, »schließlich habe ich direkt neben ihnen beim Eingang gesessen.«

»Anscheinend haben die beiden in der Nacht die Stützpfeiler angesägt. Als du, die Gäste und dann auch noch das Brautpaar die Kirche nach der Trauung verlassen hatten, bemerkte ich zufällig, wie Prestwood der Tür einen Stoß gab, sodass sie krachend ins Schloss fiel. Das war anscheinend das Zeichen für die beiden anderen, sich gegen die Pfeiler zu lehnen und die Empore zum Einsturz zu bringen. Eigentlich hätte es ja wohl den Marquess erwischen sollen, aber stattdessen traf ein Holzbalken Tuckenhay am Kopf.«

»Das geschieht ihm so recht!« Amabel ballte die Fäuste, und niemand widersprach ihr.

»Wir hatten das Instrument zur versteckten Tür gerückt«, erklärte Elliot. »So konnte Sebastian die letzten Töne bereits vom schmalen Geheimgang aus anschlagen, bevor er direkt auf den Friedhof hinauslief, wo unsere Kutsche wartete. Jetzt, da du es erwähnst, fällt mir ein, dass ich ein Krachen gehört habe. Damals war ich so damit beschäftigt, schnellstmöglich wegzukommen, dass ich es nicht weiter beachtete.«

»Zum Glück ist euch die Flucht gelungen«, meinte Harold. »Wo ist denn der Junge jetzt?«

Elliot lachte auf. »Netter Versuch, mein Freund. Wir haben vereinbart, dass ich zu seiner Sicherheit niemandem verrate, wohin ich ihn gebracht habe, schon vergessen?« Dann wurde er schlagartig wieder ernst. »Ihr habt mir ja soeben deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass wir Sebastian beschützen. Sein Vormund schreckt anscheinend tatsächlich vor nichts zurück. Kann man ihn für das Ansägen der Empore nicht zur Verantwortung ziehen?«

Oscar überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf: »Wohl kaum. Die ganze Konstruktion ist in sich zusammengefallen, das Holz geborsten. Auch wenn man vielleicht feststellen kann, dass eine Säge am Werk gewesen war, wie will man beweisen, dass er dazu den Auftrag gegeben hat? Im Gegenteil, Prestwood hat den Pfarrer wüst beschimpft, nicht besser auf seine Kirche aufgepasst zu haben. Er meinte mit seine übrigens nicht die des Pfarrers, sondern seine eigene, so als würde sie ihm gehören.«

»Was für ein unmöglicher Kerl«, murrte Harold und beugte sich dann zu seiner Gattin hinüber, die ihm offensichtlich etwas ins Ohr flüstern wollte.

»Was hat es mit der erwähnten Uhr auf sich?«, begehrte Elliot zu wissen.

»Die beiden Diener, die als Erstes in die Kirche zurückgelaufen sind, als sie das Gepolter hörten …«, begann Oscar.

»Jack und Marie«, warf Amabel ein.

»Ganz genau, Jack und Marie«, wiederholte Oscar, bevor er seine Erzählung fortsetzte, »entdeckten einen regungslosen Mann unter den Trümmern, der eine goldene Taschenuhr in der Hand hielt, deren Gravur das Wappen derer von Beaconsfield trug. Sie schrien: Hilfe, der Marquess ist tot!«

»Ich habe gedacht, mein Herz bliebe mir stehen«, erklärte Amabel und griff sich an die Brust.

»Ich auch.« Harold tätschelte ihre Hand.

»Wie kam Tuckenhay an Sebastians Uhr?«, wollte Elliot wissen.

»Amabels Bruder hat alles Wertvolle in seinem Zimmer zurückgelassen, als er abgereist ist«, erklärte Harold. »Anscheinend hat sich Tuckenhay großzügig davon bedient. Eine Nachschau bei seinen Sachen ergab, dass die Uhr nicht das Einzige war, was er meinte, brauchen zu können.« Seine Gattin stupste ihn am Arm, und er fuhr fort. »Meine liebe Gemahlin möchte wissen, ob Sebastian wirklich in Sicherheit ist.«

»Ich schwöre es«, bestätigte Elliot und hob zwei Finger. »Er ist bei alten Freunden von mir untergekommen und hat sich dort sofort häuslich eingerichtet. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Prestwood ihn dort aufspüren kann. Daher könnt ihr nun in Ruhe euren Geburtstag im Januar abwarten.«

»Womit wir dieses Thema, das uns die letzten Wochen beschäftigt hat, ausreichend besprochen hätten«, setzte Ashbourne einen Schlusspunkt. »Also nun zu dir.« Er wandte sich an Elliot. »Was soll das heißen, du heiratest im August?«

»Wie bitte?«, riefen Harold und Amabel wie aus einem Mund.

»Ist es nun also so weit?«, fragte Oscar und schien als Einziger nicht wirklich überrascht zu sein.

Elliot zog das Schreiben seines Vaters aus der Rocktasche und reichte es an die anderen weiter.

»Kennst du diese … Miss Semley?«, wollte Harold wissen.

Und dann erfuhren sie alles über das unglückselige Zusammentreffen in Bath. Wäre Amabel nicht anwesend gewesen, so hätte er seine Freunde mit erheblich mehr der schlüpfrigen Details erfreut, die das Mädchen in seine Ohren geträufelt hatte, doch so beließ er es bei bloßen Andeutungen.

»Wahrlich nicht der Typ Frau, den man sich an seiner Seite wünscht«, lautete Ashbournes nüchterner Kommentar. »Und dann noch dazu die Enkeltochter eines Webers. Du bist nicht zu beneiden, mein Freund. Gibt es denn wirklich keinen anderen Weg, um aus eurem finanziellen Desaster herauszukommen?«

»Als da wäre?«, fragte Elliot mutlos.

Reginald zuckte mit den Schultern und wusste keine Antwort.

»Möchtest du, dass dich einer von uns zur Verlobung begleitet?«, wandte sich Oscar wieder der Realität zu.

Elliot lachte auf, doch es war kein fröhliches Lachen. »Danke, mein Lieber, aber das werde ich schon noch allein hinbekommen. Ich muss schließlich dann ja auch allein mit ihr verheiratet sein.«

»Ich finde, du solltest dich mit der jungen Lady bereits vor dem Verlobungstermin treffen«, war es Amabel, die das Wort ergriff.

»Also, erstens ist das keine Lady, sondern, wie gesagt … äh … die Enkelin eines Webers«, setzte sich Elliot zur Wehr, »und zweitens beginnt mein Leben an ihrer Seite noch früh genug.«

»Warum hältst du das für notwendig, Amy?«, erkundigte sich hingegen ihr Gatte interessiert.

»Nun«, sie blickte in die Runde, »ich kann mir vorstellen, dass die junge Frau mindestens ebenso aufgeregt ist wie Elliot. Aber im Unterschied zu ihr kann er sein gewohntes Leben auch nach der Hochzeit noch weiterführen. Für sie jedoch ändert sich alles. Derzeit ist die Miss von ihm angetan …«

»Keiner weiß, warum«, warf Ashbourne spöttisch ein.

Amabel ging darüber hinweg. »… was ich für eine erfreuliche Tatsache halte. Wenn ihr schon zusammenleben müsst, bis dass der Tod euch scheidet, ist es doch besser, wenn sie von ihm angetan ist, als wenn sie ihn verabscheuen würde.«

Elliot nickte zwar, war aber nicht wirklich überzeugt.

»Darum«, beharrte Amabel, »solltest du zu ihr fahren, mit ihr sprechen und mit ihr gemeinsam Pläne für die Zukunft schmieden. Also alles daransetzen, dass dieses Angetansein bestehen bleibt.«

»Das erscheint mir vernünftig«, erklärte Oscar, und Amabel schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

»Aber«, wollte es Elliot dennoch nicht unwidersprochen hinnehmen. Natürlich konnte er Amabels Argumenten einiges abgewinnen, verspürte aber nicht die geringste Lust, seiner Zukünftigen einen Besuch abzustatten.

»Amabel hat recht«, kam Zustimmung von überraschender Seite. Jeder Spott war aus Ashbournes Stimme verschwunden. »Wenn du es schon machen musst, dann mach es richtig.«

Alle vier sahen ihn daraufhin so erwartungsvoll an, dass Elliot auf einen Schlag die besten Absichten verspürte, in den nächsten Tagen tatsächlich nach Kent zu fahren, um bei der schrillen Miss Semley vorzusprechen. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse, und er schaffte es schließlich nur mit Müh und Not noch rechtzeitig in sein Elternhaus, sonst hätte er glatt die eigene Verlobung versäumt.