Sophia Farago
Elizas zauberhafte Weihnacht
Roman
Edel Elements
Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel Elements,
einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.
Copyright © 2014 by Sophia Farago
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München
Konvertierung: Jouve
Inhaltsverzeichnis
ImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Ein kleiner Blick auf den historischen HintergrundDie handelnden Personen
1
„Pfui Teufel! Da ist der Köchin wohl der Topf mit Piment in die Taubenpastete gefallen! Du musst sie auf das Schärfste rügen, Martha!“ Mrs. Fenwich warf ihrer Tochter einen strengen Blick zu. Ihre Jüngste, die ohnehin schon von so kleiner Statur war, dass sie in ihrem hohen Lehnstuhl eher wie ein Schulmädchen wirkte, das sich an die Tafel der Erwachsenen verirrt hatte, als wie die Hausherrin, die sie in Wirklichkeit war, schien noch ein wenig mehr zu schrumpfen. „Selbstverständlich, Mama.“
„Man hat sein Personal im Griff zu haben! Ich dachte, das hätte ich dir beigebracht.“ „Selbstverständlich hast du das, Mama.“
Eliza, die hochaufgerichtet zur Linken ihrer kleinen Schwägerin saß, konnte nur mit Mühe ein unwilliges Schnaufen verhindern. So setz dich doch endlich gegen deine Mutter zur Wehr, Martha, du Hasenfuß!, dachte sie im Stillen. Du bist eine verheiratete Frau, du brauchst dir nicht mehr alles gefallen zu lassen! Nur dein Ehemann könnte dir verbieten zu sagen, was du denkst.“
Sie blickte zu Fred, ihrem Bruder, hinüber, der mit regungsloser Miene am Kopfende des Tisches saß und schweigend aß. Er hätte Martha sicher nicht den Mund verbeten. Andererseits: Konnte er ihr nicht einmal beistehen? Er musste doch längst erkannt haben, wie sehr seine Frau unter dem Besuch ihrer Mutter zu leiden hatte.
Doch Fred Granwood, Viscount of Shedwire, dachte offensichtlich gar nicht daran, einzugreifen, sondern nahm mit stoischer Ruhe den nächsten Bissen des Kräuterpuddings, der mit der Taubenpastete serviert wurde. Fred war ein phlegmatischer Mann Ende zwanzig. Seine füllige Statur wies auf die Vorliebe für gutes Essen, seine gebräunte Gesichtsfarbe auf die Tatsache hin, dass er sich bevorzugt in freier Natur aufhielt. Er hasste jede Art von Auseinandersetzung und liebte stattdessen die Beschaulichkeit und Harmonie. Nicht nur in der Vorweihnachtszeit. Leider war seine verwitwete Schwiegermutter am Vortag überraschend wie ein eisiger Sturm in seine beschauliche Welt gefegt und hatte verkündet, bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag bleiben zu wollen. Nun, wenn die Gute schon meinte, seine Ruhe so brüsk stören zu müssen, so würde er ihr zumindest keinen Anlass geben, sie restlos zu zerstören. Man schrieb den 22. Dezember 1811, es war drei Tage vor Weihnachten. Irgendwie würde er die Zeit schon überstehen, und in einer Woche war Mylady längst wieder abgereist und niemand mehr würde sich für ihre spitzen Bemerkungen interessieren. Wozu sollte er sich also unnötig echauffieren?
Eliza konnte sich nicht entscheiden, was sie wütender machte: Myladys ungebetene Angriffe oder die Gelassenheit, mit der ihr Bruder diese hinnahm. Sie selbst hatte gute
Lust einzugreifen, allerdings keine Ahnung, wie sie dies mit der gebotenen Höflichkeit tun könnte, ohne zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen. Mrs. Fenwich hatte ihre drei Töchter zu kleinen, stillen Duckmäuserchen erzogen. Elizas selbstständige Art und ihr offenes, selbstbewusstes Wesen waren ihr daher ein Gräuel. Sie konnte machen, was sie wollte, stets hatte Mylady etwas an ihr auszusetzen. Eliza seufzte.
Das hätte sie wohl besser nicht getan. Mrs. Fenwich, die sich trotz ihrer Rüge wieder hingebungsvoll der Taubenpastete gewidmet hatte, fuhr auf. Hatte dieses unmögliche Wesen, das ihr gegenüber saß, wirklich unwillig geschnauft? Höchste Zeit, dass sie das Mädchen in die Schranken wies, wenn das hier schon sonst niemand tat. Sie musterte Eliza mit einem unverhohlen prüfenden Blick. Ein Blick, den die andere, statt sittsam die Augen zu Boden zu schlagen, wie es sich für eine unverheiratete Frau geziemt hätte, mit einem ebenso offenen, ja fast schon trotzigen Blick beantwortete.
„Entdecke ich da ein graues Haar in deinen dunklen Locken, Elizabeth?“, lautete Myladys ebenso überraschende wie bösartige Frage.
„Aber, Mama!“, entfuhr es ihrer Tochter. Erschrocken legte sie sich die Hand vor den Mund und murmelte eine Entschuldigung. Es stand ihr nicht zu, ihre Mutter zu korrigieren. Selbst jetzt nicht, da sie den Viscount of Shedwire geheiratet hat und nun als Viscountess eigentlich im Rang über ihrer Mutter stand. Sie hatte keine Hoffnung, dass Mama das ebenso sah. Ihr Gatte blickte kurz von seinem Mahl auf und schwieg weiterhin. Was hätte man auch anderes erwarten können?
„Mein Name ist Eliza, Mylady. Und ich bin froh, sagen zu können, dass Sie sich sicher irren. Ich bin schließlich erst dreiundzwanzig.“ Es klang etwas zittrig und daher nicht ganz so souverän, wie es sich Eliza gewünscht hätte. Darum blieb der Blick trotzig.
„Das Licht ist schlecht. Man kann sich leicht irren“, meldete sich seine Lordschaft nun doch zu Wort. Das war seine Art, den Versuch zu unternehmen, die Harmonie wieder herzustellen. Er hatte es nicht für notwendig empfunden, seine Frau zu verteidigen, doch er kannte seine Schwester. Sie würde nicht so schnell klein beigeben. Und er kannte seine Schwiegermutter … O Gott, o Gott, was hatte er sich bloß dabei gedacht, ihrem Bleiben zuzustimmen?
„Dreiundzwanzig Jahre!“ Mrs. Fenwich hatte keine Ohren für ihren Schwiegersohn. Stattdessen hob sie theatralisch die Hände gegen die Zimmerdecke. „Und noch immer nicht unter der Haube! Ja, bist du dir deiner Pflichten nicht bewusst? Man sollte meinen, eine junge Lady aus einer der ältesten Familien des Landes wüsste, was man von ihr erwartet.“
Das war einer der seltenen Augenblicke, in denen es sogar dem Viscount zu dumm wurde. „So ein Blödsinn!“, fuhr er auf. „Eliza war verlobt, das wissen Sie doch. Ihr
Verlobter ließ vor drei Jahren auf dem Schlachtfeld in Spanien sein Leben für König und Vaterland. Also lassen Sie meine Schwester in Ruhe!“
Eliza warf ihm einen dankbaren Blick zu. Manchmal benahm sich sogar Fred wie ein Mann. Sie selbst hätte beim besten Willen nicht gewusst, wie sie dem ungehörigen Angriff mit Anstand hätte begegnen sollen.
Es stimmte, Edward war am 21. August 1808 in der Schlacht von Vimeiro in Spanien gefallen. Die englischen Truppen hatten damals die Franzosen zwar bravourös besiegt, doch die Auseinandersetzung hatte viele Opfer gefordert. Edward war eines von ihnen gewesen.
Während Fred, in der trügerischen Hoffnung, dass nun Ruhe einkehren würde, schweigend das nächste Stück Taubenpastete in Angriff nahm, seufzte Eliza abermals. Dieses Mal aufgrund ihrer Erinnerungen. Wie lange war das doch schon her! Drei Jahre und vier Monate, wenn sie es genau bedachte. Die Trauer hatte sich in der Zwischenzeit verflüchtigt, der Schmerz, einen engen Vertrauten verloren zu haben, war geblieben. Edward war ein guter Kamerad gewesen, ihr Spielgefährte seit Kindertagen. Natürlich hatte sie ihn geliebt. So wie man einen guten Freund eben liebt. Nein, es war nicht diese romantische Verbundenheit gewesen, über die man in Romanen gerne las. Nicht die tiefe Liebe, die ihre beste Freundin und Nachbarin Clara mit Lord Robert Linward, dem Earl of Bromley, Edwards älterem Bruder, offensichtlich erlebte. So groß ihre Trauer auch gewesen war, Edwards Tod war sicher nicht der Grund dafür, dass sie noch immer unverheiratet war. Der Grund war eher der, dass es keinen geeigneten Bewerber gab. Sie kannte alle jungen Männer im Umkreis seit vielen Jahren. Unter ihnen war keiner, der in ihr auch nur den Hauch eines romantischen Gefühls zu erwecken vermochte. Sie war schon einmal eine rein freundschaftliche Beziehung eingegangen, sie wollte dies nicht noch einmal tun. Das nächste Mal, so hatte sie sich an Edwards Grab geschworen, würde sie auf den Richtigen warten. Auf ihre große Liebe. Dumm nur, dass sich diese bisher noch nicht hierher nach Salisbury verirrt hatte. Und von einem Debüt in London hat sie leider vergeblich geträumt. Ihr Bruder war viel zu bequem und dem Landleben viel zu zugeneigt, um sich den Qualen der Großstadt, wie er es nannte, auszusetzen. Andere Verwandte, die sie um Hilfe hätte bitten können, gab es nicht. Also blieben die harmlosen Vergnügungen in Salisbury, die sie in Begleitung ihrer Schwägerin besuchte, und das ständige Hoffen, es möge eines Tages ein Wunder geschehen und den Mann ihrer Träume wahrhaftig werden und erscheinen lassen. Und da gab es noch etwas, was ihre Partnersuche in höchstem Maße erschwerte: Immer wenn sich ein Fremder in die Gegend verirrte und sie das Glück hatte, dass man sie einander vorstellte, dann … Myladys nächste Worte rissen sie aus ihren Gedanken.
„Es ist Krieg, mein Guter, da gehört das Sterben nun einmal dazu“, antwortete sie seiner Lordschaft kühl. „Wenn ihr wüsstet, wie viele Freunde ich bereits auf dem Schlachtfeld verloren habe. Da hätte ich sicher jede Menge Grund zur Klage. Aber weder jammere ich herum, noch vernachlässige ich meine Pflichten. Ich weiß eben, was von einer Lady aus bestem Haus erwartet wird.“
Also das war ja wohl wirklich zu arg! Während Eliza nach Luft schnappte, war Mrs. Fenwich nicht zu bremsen: „Von einer Lady erwartet man, dass sie ab einem gewissen Alter ihren eigenen Haushalt führt und nicht mehr ihrem Bruder auf der Tasche liegt.“
Seine Lordschaft brummte etwas Unverständliches und leerte sein Weinglas mit einem Zug. Eliza hatte gute Lust, aus dem Zimmer zu stürmen.
„Man erwartet von einer Lady, dass sie aufhört, ihrer Schwägerin ständig in die Angelegenheiten der Haushaltsführung hineinzureden. Martha und nur Martha ist jetzt die Herrin auf Granwood Manor. Das muss auch eine alte Jungfer, wie du es bist, zur Kenntnis nehmen, Elizabeth.“
Die kleine Lady Martha erwies sich überraschend als die Mutigste am Tisch, wenn auch nur für einen Augenblick: „Mama, also wirklich, du bist zu streng … Entschuldigung!“ Ein eisiger Blick ließ sie wieder in ihr Schweigen zurückfallen.
„Wenn du schon keinen passenden Gatten findest, Elizabeth, was aufgrund deiner aufmüpfigen Art niemanden ernsthaft verwundert, dann …“ Mylady tupfte ihren Mund mit der Serviette ab, um die Dramatik ihrer nächsten Worte zu steigern. Wenn die wüsste, dachte Eliza bitter. Von wegen aufmüpfige Art! Ganz, ganz dumme, schüchterne Art hätte es bei Weitem besser getroffen. Es war eine unerwartete Scheu, die sie in den letzten Jahren immer dann überkam, wenn ihr ein halbwegs passender Gentleman vorgestellt wurde. Bei Frauen, Verwandten und gegenüber der Dienerschaft war sie fröhlich und selbstbewusst. Kaum streifte sie jedoch der prüfende Blick eines passenden Heiratskandidaten, da überfiel sie der innige Wunsch, es möge diesmal endlich der Richtige sein. Damit wuchs die Angst, einen Fehler zu begehen, und ihr Selbstbewusstsein sank in derselben Minute auf den Nullpunkt. Wie auf Kommando schlug sie stets die Augen zu Boden. Gut, das konnte man als mädchenhaft und einer jungen Lady von Stand für geziemend erachten. Viel schlimmer war, dass sie nicht wagte, den Blick wieder zu heben, und dass sie zudem kein vernünftiges Wort herausbrachte. Wenn sie all ihren Mut zusammennahm und doch versuchte, Konversation zu betreiben, dann begann sie aus heiterem Himmel zu stottern und niemand wurde aus ihrem Gestammel schlau. Die Herren verabschiedeten sich schnell wieder und mit ihnen Elizas Hoffnung, jemals vor den Traualtar geführt zu werden. Aber das würde sie Mrs. Fenwich sicher nicht auf die Nase binden.
Zum Glück war die Dame ohnehin viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt: „… dann suche dir eine Stelle als Gouvernante. Ich bin gerne bereit, mich in meinem Bekanntenkreis umzuhören. Wenn ich mich recht entsinne, sucht meine teure Freundin Ethel Laverstoke eine Gesellschafterin …“
Zum zweiten Mal bei diesem Lunch verlor der Hausherr seine Gelassenheit: „Ethel Laverstoke ist die furchterregendste Person, die ich kenne. Eliza bleibt, wo sie ist!“
Er warf die Serviette neben den Teller. Dann legte er die Hände auf die Tischplatte und stemmte sich hoch: „Wenn mich die Damen entschuldigen wollen … Ich muss hinaus auf die Felder. Wartet mit dem Dinner nicht auf mich, es kann spät werden.“
Er sagte es und verließ strammen Schrittes den Raum.
Das war wieder einmal typisch für Fred, dachte Eliza. Es war zwar nett, dass er sie kurz verteidigt hatte, aber jetzt hatte er offensichtlich keine Lust mehr, seiner Schwiegermutter die Stirn zu bieten, also zog er sich durch Flucht aus der Affäre. Anscheinend war auch Mrs. Fenwich zu diesem Schluss gekommen. Sie begann lautstark zu protestieren und ging sogar so weit, das Verhalten des Hausherrn als eines rüpelhaften Bauern würdig zu erachten. Martha brach in Tränen aus.
2
Nicht, dass Weihnachten auf Granwood Manor besonders feierlich begangen worden wäre. Das Fest war keinesfalls der Höhepunkt des Jahres. Seine Lordschaft gab, wie sein Vater vor ihm, wenig auf alte Bräuche und duldete auch keine Dekoration im Haus. Eliza dachte mit Wehmut an die fröhlichen Festtage ihrer Kindheit zurück. Wie anders war es doch gewesen, als Mama noch lebte! Das Wohnzimmer war mit bunten Girlanden geschmückt gewesen und der Duft des Festtagsbratens hatte verlockend das Haus erfüllt. Seit sie alt genug dafür war, hatte sie Mama dabei helfen dürfen, Geschenke für die Kinder der Pächter zusammenzustellen. Diese wurden dann traditionellerweise am zweiten Weihnachtsfeiertag, dem Boxing Day, übergeben. Eliza liebte diese Vorbereitungen. Ihre Mutter wusste dabei immer so spannende Geschichten zu erzählen!
Doch Mama war lange tot. Fred hatte nichts dagegen, dass Eliza die Tradition, die Kinder der Pächter zu beschenken, beibehalten hatte. Doch es gab weder Geschichten noch Girlanden. Aber zumindest gab es ein paar gemütliche gemeinsame Stunden vor dem Kamin.
In diesem Jahr würde es wohl auch damit nichts werden, dafür würde Mrs. Fenwich sorgen. Wieder hatte Eliza Grund zu seufzen. Ihr Leben war so still, öde und langweilig geworden, seit Mama und Edward nicht mehr lebten. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, als würde sich die Einsamkeit wie ein eisiger Mantel um ihren Körper legen. Sie war so allein und ihre Lage so hoffnungslos! Wenn kein Wunder geschah, dann musste sie ihr Leben lang mit ihrem muffigen Bruder und seiner schüchternen Ehefrau in deren Elternhaus leben. Und beiden auch noch dankbar dafür sein. Doch damit nicht genug: Zweimal im Jahr würde Mrs. Fenwich auf Granwood Manor erscheinen und ihr das Leben zur Hölle machen. War es ein Wunder, dass ihr bei diesen Gedanken die Tränen der Verzweiflung in die Augen stiegen? Wenn Clara und ihr Mann Robert nicht wären, die einzigen Lichtblicke in ihrem trostlosen Dasein, dann … Die Wanduhr schlug laut und vernehmlich zwei Uhr. Eliza schreckte aus ihren Gedanken auf. Zwei Uhr? War es wirklich schon so spät? Clara wollte am Nachmittag mit ihrer Familie die Reise nach Westham House nahe Winchester antreten, um mit ihren Eltern und den Familien ihrer Geschwister das Weihnachtsfest zu begehen. Höchste Zeit, dass sie aufbrach, wenn sie Clara noch Auf Wiedersehen sagen wollte.
Was auch immer Mrs. Fenwich soeben mit ihrer Tochter besprach, Eliza unterbrach sie: „Es tut mir leid, Martha, ich habe völlig die Zeit vergessen. Lady Clara erwartet mich vor ihrer Abreise. Du gestattest, liebe Schwägerin …“
Ohne die Antwort abzuwarten, warf nun auch sie die Serviette auf den Tisch, knickste, schürzte die Röcke und stürmte, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Halle hinaus.
Mrs. Fenwich war einige Sekunden lang fassungslos.
„Aber, das ist doch … das kann doch … das geht doch …“ Es fiel ihr offensichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. Doch nicht lange, dann keifte sie los: „Was sind denn das für Sitten in deinem Haus, Martha? Das ist eine Unverschämtheit! Wie kommt das freche Ding dazu, die Tafel zu verlassen, wenn zwei höhergestellte Ladys anwesend sind? Hol sie sofort zurück! Das darfst du keineswegs dulden!“
Ihre Tochter versuchte einen zögernden Widerspruch: „Weißt du, Mama, Lady Clara ist die Countess of Bromley. Sicher hat sie Eliza beauftragt …“
„Und wenn sie die Queen persönlich wäre, so wäre das immer noch keine Entschuldigung für das unmögliche Verhalten des dummen Dings, das du leider zur Schwägerin hast. Also, worauf wartest du? Hol sie zurück, damit ich ihr ordentlich die Leviten lesen kann!“
Diese Worte wurden in einer derartigen Lautstärke geäußert, dass sie durch die geschlossene Tür laut und deutlich in die Eingangshalle drangen. Eliza wusste also, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Sie hätte es zwar vorgezogen, sich noch umzukleiden. Das Kleid und die Schuhe, die sie beim Mittagessen getragen hatte, waren viel zu dünn und völlig unpassend für eine Fahrt durch die nasskalte Winterlandschaft. Doch die Worte von Mrs. Fenwich ließen ihr keine Wahl. Mit raschen Schritten strebte sie dem Eingangstor zu. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie erwartete jede Sekunde, die Stimme ihrer Schwägerin zu hören, die sie zum Bleiben aufforderte. Im Vorbeieilen riss sie den schweren Umhang von einem hinter dem Vorhang versteckten Haken, der Charlie, dem Diener, zur Verfügung stand, wenn er an kalten Tagen das große Tor öffnen musste, um die Herrschaft oder Gäste ins Haus zu lassen. Einen Butler gab es auf Granwood Manor nicht, dazu war Fred zu sparsam. Charlie erledigte dessen Aufgaben. Er war außerdem auch noch Mylords Kammerdiener und bei manchen Ausfahrten, die die Familie unternahm, auch der Kutscher.
Eliza schob den schweren Riegel zur Seite und trat ins Freie. Ein eisiger Windstoß fuhr ihr durch die Haare und unter ihr dünnes Kleid. Wie frisch es geworden war! Um diese Zeit des Jahres war man hier, im Süden Englands, eigentlich mildes, wenn auch meist nasses Wetter gewöhnt. Aber dieser Winter schien besonders kalt zu werden. Rasch legte Eliza sich den schweren wollenen Umhang um die Schultern und zog ihn fest an der Brust zusammen. Zum Glück waren es nur wenige Schritte zu den Stallungen. Jetzt war
es die Kälte, die sie trieb, und nicht mehr die Angst vor ihrer Schwägerin. Martha würde sie nie und nimmer auf den Vorplatz hinaus verfolgen. Sie würde nie riskieren, dass ihre kleinen Schühchen aus zartem Kalbsleder Gefahr laufen könnten, ruiniert zu werden. Außerdem hätte sie es nie und nimmer zugelassen, dass ihre kunstvoll aufgedrehten, blonden Löckchen durch einen Windstoß in Unordnung geraten könnten. So still und schüchtern Martha war, so eitel war sie auch. Und langweilig obendrein, dachte Eliza und musste über ihr strenges Urteil lachen. Sie atmete befreit auf. Wieder einmal hatte sie es geschafft, Granwood Manor den Rücken zu kehren. Wenn ihr das doch endlich für immer gelänge!
Sie betrat den Stall, in dem der Knecht dabei war, das Futter für die Tiere zu verteilen.
„Spann mir bitte das Karriol an, Henry, ich muss nach Linward Place.“
Der Diener grüßte, lehnte die Heugabel an die Wand und machte sich sofort daran, den Wunsch seiner jungen Herrin auszuführen. Es war nichts Besonderes daran, dass Lady Eliza die einfache Holzkutsche selbst lenkte. Das machte sie seit Jahren mindestens einmal die Woche, um die Countess of Bromley zu besuchen. Und auch wenn ihn ihr seltsamer Aufzug vielleicht verwundern mochte – er hatte sie noch nie in Charlies Umhang gesehen und seiner Ansicht nach stand er ihr auch nicht –, so war er sich sehr wohl bewusst, dass ihn niemand nach seiner Meinung fragte, und daher enthielt er sich jeden Kommentars.
Schon war Eliza auf dem Weg. Ikarus, der Hengst, den Henry vor das Fahrzeug gespannt hatte, war zwar schon alt, aber ausgeruht. So fuhr sie in flottem Tempo die breite Auffahrt hinunter und dann einige Minuten die gut ausgebaute Poststraße entlang, bevor sie in das Wäldchen links der Straße einbog. Dieses galt es zu durchqueren und dann auf ein freies Feld hinaus zu kutschieren. Oben auf dem Hügel erblickte sie bereits die mit Efeu überwachsene Mauer, die Linward Place umgab. Zum Glück hatte es in den letzten Tagen nicht geregnet, so war der Boden trocken und sie kam ohne Schwierigkeiten voran. Den Weg kannte sie wie ihre Westentasche. Als Kinder waren Fred und sie beinahe täglich hier entlang kutschiert worden, damit sie mit Robert, dem jetzigen Träger des Titels und Herrn von Linward Place, und seinem Bruder Edward, ihrem späteren Verlobten, sowie deren Schwestern Deidre und Prudence spielen konnten. Deidre und Prudence waren längst weggezogen. Die eine lebte in Yorkshire, glücklich und zufrieden mit Mann und drei Kindern. Die andere, wohl ebenso glücklich mit Mann und Tochter, in Hartfordshire. Edward war tot, Fred zu sehr mit seinem eigenen Anwesen beschäftigt. Blieben nur Robert und sie übrig, um die innige Freundschaft aus Kindertagen aufrechtzuerhalten.
Vor fünf Jahren hatte Robert Clara geheiratet. Die beiden waren nun nicht nur Elizas beste Freunde und Vertraute, sie waren auch zu so etwas wie einer zweiten Familie geworden. Einer Familie, die einen liebevollen Umgang pflegte. In der es, im Gegensatz zu ihrer eigenen, viel zu erzählen und zu lachen gab. Wo die Atmosphäre geprägt war von liebevollen Neckereien und manch freimütigem Meinungsaustausch. Das hatte sich auch nicht geändert, als Master Billy, der kleine Sohn von Clara und Robert, vor einem Jahr das Licht der Welt erblickte, und ebenso wenig durch die Tatsache, dass vor einem halben Jahr die verwitwete Viscountess of Applebee, Roberts Großtante, bei Ihnen eingezogen war. Eine reizende alte Dame, die Eliza sofort in ihr Herz geschlossen hatte.
Wie jeden Tag hatte der aufmerksame Torwärter den Hufschlag ihres Pferdes längst vernommen. Er war bereits aus seinem Häuschen gekommen und hatte das ausladende Tor geöffnet, als Eliza mit ihrem einachsigen Holzfuhrwerk um die Kurve kam. Sie winkte ihm fröhlich zu, er griff sich zum Zeichen des Grußes mit der Hand an die Mütze.
Nun lag nur mehr die lange, von Platanen gesäumte Auffahrtsallee vor ihr, die zum Herrenhaus hinaufführte. Eliza spornte das Pferd für diese letzte Anstrengung noch einmal an. Sie liebte dieses Anwesen und konnte es gar nicht erwarten, bis es in voller Pracht vor ihren Augen auftauchen würde. Insgeheim malte sie sich aus, wie schön es wäre, die Weihnachtsfeiertage hier bei ihren besten Freunden zu verbringen. Dabei wusste sie nur zu gut, dass dieser Wunsch keine Aussicht auf Erfüllung hatte. Robert und Clara verbrachten die Festtage wie jedes Jahr bei Claras Eltern. Warum konnten sie nicht einmal eine Ausnahme machen und sie zu sich einladen? Im Geiste sah sie sich schon den Kamin im Salon mit einer Girlande schmücken, die aus Zweigen angefertigt wäre, die sie zu dritt in den Wäldern gesammelt hätten. Natürlich würde auch ein großer Julscheit verbrannt werden, wie das in anderen vornehmen Familien üblich war. Sie würden sich von Herzen „Merry Christmas“ wünschen und sich gegenseitig in die Arme fallen. Vielleicht würden sie sogar einige fröhliche Lieder miteinander singen. Robert hatte einen so klangvollen Bariton. Clara könnte sie am Klavier begleiten … Und wie so oft an diesem Tag hatte Eliza den nächsten Grund zu seufzen. Diesmal aus Enttäuschung darüber, dass nichts von alldem je wahr werden würde. Stattdessen stand ihr ein Weihnachtsfest bevor, an dem nichts, aber auch rein gar nichts ihr Herz erwärmen würde. Weder das Feuer im Kamin, das sich auf Granwood Manor am Heiligen Abend in der Intensität durch kein anderes Feuer im Jahr unterscheiden würde, noch gar durch die anwesenden Menschen. Und statt fröhlicher oder besinnlicher Lieder würde Myladys keifende Stimme das Einzige sein, was es zu vernehmen gab, und diese war wahrlich nicht melodiös.
Vor dem Herrenhaus standen bereits zwei Kutschen reisefertig auf dem bekiesten Vorplatz. Nur die Pferde waren noch nicht angespannt. Da hieß es, keine Zeit mehr zu verlieren. Ein Bursche kam eilig herbei und nahm ihr die Zügel ab, bevor er ihr vom Kutschbock half. Als er den dicken, einfachen Mantel wahrnahm, den die junge Lady mit klammen Fingern vor der Brust zusammenhielt und der so gar nicht zu ihrem Erscheinungsbild passte, das sie für gewöhnlich bot, huschte für kurz der Ausdruck des Erstaunens über seine Gesichtszüge. Eliza bemerkte es nicht. Sie versuchte zu erkennen, was hinter den Kutschenscheiben vor sich ging.
„Sind die Herrschaften bereits im Wagen?“
„Nein, Lady Eliza, es scheint eine Verzögerung zu geben. Ich bringe Ihr Pferd besser in den Stall. Es ist zu kalt, um es im Freien stehen zu lassen.“
Eliza nickte zustimmend.
„Auf den Butler zu warten hat heute keinen Sinn. Der ist schon in Richtung Heimat abgereist. Wenn ich Sie wäre, Mylady, würde ich jetzt ins Haus gehen.“
3
Sie war eben dabei, mit einigen weiteren eiligen Schritten die Stufen zum Tor hinaufzulaufen, als dieses aufgerissen wurde und Robert Linward, der fünfte Earl of Bromley, höchstpersönlich ins Freie trat. Seine finsteren Gesichtszüge hellten sich auf. „Oh, Eliza, gut, dass du kommst! Vielleicht kannst du sie ja zur Vernunft bringen!“
Eliza blickte erstaunt hoch. So mutlos und ohne Zweifel verärgert hatte sie ihren sonst so fröhlichen Freund noch selten erlebt.
„Einen schönen Nachmittag, Robert! Was ist denn geschehen? Du hast doch nicht etwa mit Clara gestritten?“
Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Die beiden waren ein so glückliches Paar, so liebevoll und wertschätzend im Umgang miteinander. Sie führten genau die Art von Ehe, die sie sich selbst so sehnlich wünschte.
Mylords wegwerfende Handbewegung vertrieb ihre Befürchtungen: „Ach, nein, natürlich nicht! Es geht um Tante Aby. Sie weigert sich entschieden, die Kutsche zu besteigen. Dabei müssten wir dringend losfahren. Wir haben eine Fahrt von gut zwei Stunden vor uns, bis wir Claras Elternhaus erreichen, und ich möchte auf keinen Fall riskieren, in die Dunkelheit zu geraten.“
„Das verstehe ich natürlich, Robert.“