Die Suche nach Heimat - Indra Maria Janos - E-Book
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Die Suche nach Heimat E-Book

Indra Maria Janos

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Beschreibung

Aus ihrer Heimat vertrieben, verlor sie ihr Herz an Berlin In Berlin findet die Galizierin Mascha Engel endlich eine Heimat und im Romanischen Café und im Künstler-Kabarett Freunde, die nicht an ihrer Herkunft, sondern an ihrer Kunst interessiert sind. Und die lebt sie in ihrer Großstadtlyrik aus. Als sie 1928 den Hebräischlehrer Saul Kaléko heiratet, hat sie sich, blutjung, bereits einen Namen als Lyrikerin gemacht. Ihre Gedichte erscheinen in Zeitungen und mit dem ›Lyrischen Stenogrammheft‹ erstmals in Buchform. Dann kommt das Jahr 1933, und plötzlich ist Mascha weder Galizierin noch Berlinerin, sondern nur noch Jüdin. Immer mehr Freunde und Schriftstellerkollegen verlassen Berlin, doch Mascha will die Zeichen der Zeit nicht sehen. Und sie verliebt sich in den Musiker Chemjo Vinaver …

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Über das Buch

In Berlin findet die Galizierin Mascha Engel endlich eine Heimat und im Romanischen Café Freunde, die nicht an ihrer Herkunft, sondern an ihrer Kunst interessiert sind. Und die lebt sie in ihrer Großstadtlyrik aus. Als sie 1928 den Hebräischlehrer Saul Kaléko heiratet, hat sie sich, blutjung, bereits einen Namen als Lyrikerin gemacht. Ihre Gedichte erscheinen in Zeitungen und mit dem ›Lyrischen Stenogrammheft‹ erstmals in Buchform. Dann kommt das Jahr 1933, und plötzlich ist Mascha weder Galizierin noch Berlinerin, sondern nur noch Jüdin. Immer mehr Freunde und Schriftstellerkollegen verlassen Berlin, doch Mascha will die Zeichen der Zeit nicht sehen. Und sie verliebt sich in den Musiker Chemjo Vinaver …

Von Mascha Kaléko sind bei dtv u. a. erschienen: Sei klug und halte dich an Wunder Wir haben keine andre Zeit als diese – Gedichte über das Leben Mein Lied geht weiter – Hundert Gedichte

INDRA MARIA JANOS

DIE SUCHE

NACH

HEIMAT

MASCHA KALÉKOSLEUCHTENDE JAHRE

ROMAN

 

 

 

 

 

Für meinen Vater und alle Emigrantenkinder dieser Welt

Prolog

Berlin, März 1956

Zum ersten Mal wieder in Berlin. Achtzehn Jahre ist Mascha nicht hier gewesen, sie hat lange mit sich gerungen, noch einmal herzukommen. In diese Stadt, mit der sie eine seltsame Liebe verbindet, die sie einst verstoßen hat und nun seit Jahren um sie buhlt. Die ersten Jahre nach dem Krieg hat Mascha geglaubt, nie wieder etwas mit dieser Stadt, mit diesem Land zu tun haben zu wollen, das sie einst Heimat nannte. Aber die Liebe erlischt nie vollkommen, und auch wenn sie sich eingeredet hat, die New Yorker Minetta Street sei ihre neue Heimat geworden – spätestens jetzt weiß sie, dass es für sie kein Zuhause mehr geben wird, zumindest keines wie dieses.

Es ist Mitternacht. Dieser Tag war turbulent. Mascha ist heute Nachmittag in Hamburg in den Flieger gestiegen, um acht Uhr dann in Berlin gelandet. Ein Blizzard hat sie empfangen, innerhalb weniger Minuten war alles um sie herum weiß gewesen. Berlin im Schnee. Längst vergangene Bilder steigen in ihr auf und befördern Mascha in eine Zeit, in der diese Stadt voller Lachen, voller Leben und Leichtigkeit war. Oder war sie das in Wirklichkeit nie gewesen? War es Mascha nur so vorgekommen? Sie zuckt mit den Schultern und geht im schwachen Schein der Straßenlaternen die Bleibtreustraße entlang.

Was für eine Aufregung das war, als sie heute Abend in die Pension kam, die sie im Vorfeld gebucht hatte, und feststellen musste, dass sie dort nicht willkommen war. Vielleicht hatte es tatsächlich eine Doppelbuchung gegeben, wie der Gastwirt behauptete, vielleicht aber … Nein, Mascha will gar nicht erst anfangen, so zu denken. Dann würde sie diese Reise nicht überstehen. Berlin ist nicht mehr Berlin. Nicht mehr so, wie sie es kannte.

Mascha hat ihr Ziel erreicht. Sie bleibt vor dem Haus in der Bleibtreustraße 10/11 stehen. Tränen treten ihr in die Augen. Im Licht der Laternen und inmitten des allerletzten bisschen schimmernden Schnees liegt es vor ihr. Ein kleines Wunder, dass dieses Haus noch steht. Vor neunzehn Jahren hat sie hier gelebt. In diesem Haus hat sie geliebt, gelitten, geweint, gelacht, gehofft und gebangt. Hier kam ihr Sohn Steven zur Welt, hier hat sie ihren ersten Mann Saul betrogen und Chemjo geliebt. Hierher hat sie sich zurückgezogen, wenn die SS durch die Straßen marschierte und das Horst-Wessel-Lied aus der Kneipe tönte. Nachts ratterten die Züge der Stadtbahn vorbei.

Mascha bleibt noch einen Moment vor dem Haus stehen. Dann reißt sie sich von ihren Erinnerungen los und geht langsam zurück in die Pension, in die sie vorübergehend eingezogen ist. Morgen muss sie sich nach etwas Preiswerterem umsehen. Während sie die Bleibtreustraße zurückschlendert, fällt ihr auf, wie ruhig hier alles ist. In New York, das sie seit achtzehn Jahren ihr Zuhause nennt und das doch niemals Heimat geworden ist, brummt und summt es um diese Zeit. Hier scheint alles zu schlafen. Kaum ein Mensch begegnet ihr. Alles ist still, unheimlich still.

Mascha erinnert sich an den Lärm der Lautsprecher, die in den schlimmen Tagen damals in den Bäumen hingen und unablässig Propagandageschrei und Nachrichten absonderten. Sie denkt an die Scharen von Hitlerjungen, SA- und SS-Männern, die über das Pflaster marschierten. An die Lieder, die aus den Kneipen gegrölt wurden. Diese Ruhe heute ist beinahe unheimlich.

Am nächsten Tag liegt Berlin zum ersten Mal im Licht des Tages vor ihr. Der Schnee ist geschmolzen, und plötzlich kann sie den Frühling erahnen. Ein Spatz hat sie heute Morgen mit seinem Gezwitscher geweckt. Der Himmel ist von einem strahlenden Blau.

Mascha steht auf dem Auguste-Viktoria-Platz, und Tränen laufen ihr über die Wangen. Die Gedächtniskirche ist nur noch eine Ruine, der obere Teil zertrümmert. Der Eingang vorn und der Ausgang hinten sind noch intakt, dazwischen ist Luft. Wo das Romanische war, ist jetzt ein leerer Platz.

»Wat da so durchschimmert, det is Bahnhof Zoo«, sagt die Zeitungsfrau im Kiosk vor Hilbrich gegenüber der Gedächtniskirche zu Mascha.

Und noch während Mascha ihr zuhört, schlägt es von dem zertrümmerten Kopf der Gedächtniskirche halb elf.

Mascha zuckt erschrocken zusammen. »Ja, wieso geht denn die Glocke noch?«

»Die ham wa geschenkt gekriecht von Köln. Is ’ne neue Glocke. Von de Parfümfabrik mit die Nummer … Se wissen schon.«

»Ach, 4711 wohl«, vermutet Mascha.

»Ja, richtig, 4711.«

Die Frau folgt Maschas Blick zu dem zerstörten Kirchturm. »Ick bin aus Pankow. Hatten wa schon alles zusammenjespart für unser Alter, als die Russen kamen. Und wat hab ick jerettet? Den kleenen Köter hier.« Der Hund zu ihren Füßen reagiert mit lautem Bellen. Sein Frauchen fährt fort: »Ja, det is man alles nich mehr so richtig. Hätten eigentlich nich mehr arbeiten müssen … is alles anders gekommen, durch den Krieg. Aber imma mit die Ruhe. Auch jetzt noch. Na, jetzt wohl jerade.«

Mascha kauft ihr eine Zeitung ab. Sie hat Mitleid mit der Frau und überlegt, ob sie vielleicht eine von denen war, die vor achtzehn Jahren mit dem Finger auf sie gezeigt haben. Hat sie damals ihre Kolleginnen, Nachbarn oder Freunde bei der Gestapo verraten? Hat sie dafür gesorgt, dass ihre Wohnsiedlung von Juden »gesäubert« wurde?

Mascha geht über den leeren Platz, an dem einst das Romanische Café gestanden hat. Sie betrachtet die Menschen, die ihr entgegenkommen. Sie gehen gebeugt, die Last der Welt auf ihren Schultern. Mascha erinnert sich an eine Zeit, als dieser Platz voller Leben war, als hier Lachen erklang und die Menschen sich fröhlich zugewunken haben. Berlin hat seine Leichtigkeit verloren. Die Menschen sind ernst geworden. Hitler, die Nationalsozialisten und ihre Ideologie haben über sie alle großes Leid gebracht, und doch fällt es Mascha schwer, zu verzeihen. Sie hasst es, jeden Menschen, den sie auf deutschen Straßen sieht, unter Generalverdacht zu stellen, von jedem anzunehmen, er wäre damals einer von ihnen gewesen. Aber es waren so viele, und irgendwo müssen sie heute ja alle sein … Mascha seufzt. Aus diesem Grund hat sie sich so lange geweigert, ihre Texte wieder in Deutschland zu veröffentlichen. Sie kann nicht verzeihen. Nicht dieses Verbrechen.

Sie hat dieses Land und besonders diese Stadt geliebt und ist von ihr verraten worden. Und doch ist dieser Verrat nichts gegen das, was sie im Nachhinein über die Verbrechen der Nazis erfahren hat. Als Mascha in New York zum ersten Mal den Dokumentarfilm »Die Nürnberger Prozesse« gesehen hat, ist sie zusammengebrochen. Zu schrecklich waren die Bilder von den unsagbar vielen Toten, von den Gräueltaten und Folterungen, zu grausam war der Anblick der Leichenberge. Voller Entsetzen hatte Mascha sich gefragt, ob ihre Freunde aus dem Romanischen Café wohl darunter waren oder ihre Schwester Lea, deren Spur sich im Krieg verloren hatte. Auch Mascha, Chemjo und ihr Sohn Steven hätten unter den Ermordeten sein können, wenn sie nicht nach Amerika geflohen wären.

Sie bleibt vor dem Romanischen stehen, vor dem Gebäude, das nur noch in ihrer Erinnerung existiert. In Schutt und Asche liegt das Café, das einst der Mittelpunkt ihrer Welt war, und gleich daneben das Kü-Ka, das Künstler-Kabarett. Hier ist sie zur Dichterin geworden, zur Ehefrau und Geliebten. Alle Fäden in ihrem damals noch jungen Leben liefen in diesem Kaffeehaus zusammen. Saul hat ihr seinen Heiratsantrag im Romanischen gemacht, mit Franz Hessel, ihrem Freund und Lektor, hat sie hier an ihren Gedichten gefeilt und Verträge geschlossen. Doch das Romanische Café wird nie wiederauferstehen. Wo sind heute all die Freunde, mit denen sie hier gesessen, diskutiert, gefeiert und von der Zukunft geträumt hat? Nie wiedersehen werden sie einander, zumindest nicht auf Erden.

Mascha blinzelt, versucht, die verstörenden Bilder zu verdrängen und Platz zu machen für das, was davor war – vor dem Bösen. Aber das Böse hinterlässt Spuren … Mit Vergessen lässt sich das nicht ausradieren. Eher mit stillem Zuhören, Stellungnehmen, Neinsagen zu dem, was war. Laut Nein sagen.

Jetzt steht Mascha an dem Platz, der einst Heimat für sie gewesen ist, fühlt sich schutzlos, verloren und entwurzelt. An diesem Ort, im Romanischen Café, hat sie ihre ersten unbeholfenen Schritte als Dichterin unternommen, hier ist sie mit offenen Armen aufgenommen worden in das literarische Berlin, hat Freunde gefunden und ihre große Liebe. Im Kü-Ka hat sie zum ersten Mal auf der Bühne gestanden und ihren ersten Cognac getrunken, als Medizin gegen das Lampenfieber.

Mascha betrachtet die leere Stelle. Wenn sie die Augen schließt, kann sie Nietz und Lehmann sehen, die Portiers des Romanischen, die die Gäste in die Schwimmbecken schickten, die zwei Gasträume des Cafés. Sie sieht die Schauspielerinnen Claire Waldoff, Rosa Valetti und Annemarie Hase vor sich, die auf der kleinen Bühne des Kü-Ka Maschas Verse rezitierten. Mascha bemerkt erst jetzt, dass ihr die ganze Zeit Tränen über die Wangen laufen. Sie wischt sie fort.

Mascha reißt sich los von dem trostlosen Anblick der Gegend um die Gedächtniskirche und geht weiter. Auf ihrem Herzen geht sie durch die Straßen, wo oft nichts steht als nur ein Straßenschild. Aber wenn sie die Augen schließt, sieht sie es wieder vor sich, ihr altes Berlin. Nur finden kann sie es nicht mehr. Sie denkt an Berlin im Frühjahr und Berlin im Schnee, an ihren ersten Versband in den Bücherläden …

Die Sonne strahlt von einem wolkenlosen Märzhimmel. Mascha hat den Duft vermisst, den all das Blühen hier sendet, sie hat die Farben vergeblich gesucht, die nur die Jahreszeiten in Europa hervorbringen. Sie freut sich auf den ersten Specht, der auf die Birkenrinde klopft, und auf die Spatzen, die morgens an ihr Fenster klopfen.

Und doch fühlt sie sich allein in Berlin, auf ihrer Wanderung durch das Mark dieser Stadt. Sie hat Heimweh nach ihrem Berlin, mitten in Berlin …

Wiedersehen mit Berlin

Berlin, im März. Die erste Deutschlandreise,

seit man vor tausend Jahren mich verbannt.

Ich seh die Stadt auf eine neue Weise,

so mit dem Fremdenführer in der Hand.

Der Himmel blaut. Die Föhren rauschen leise.

In Steglitz sprach mich gestern eine Meise

im Schloßpark an. Die hatte mich erkannt.

Und wieder wecken mich Berliner Spatzen!

Ich liebe diesen märkisch-kessen Ton.

Hör ich sie morgens an mein Fenster kratzen

am Ku-Damm in der Gartenhauspension,

komm ich beglückt, nach alter Tradition,

ganz so wie damals mit besagten Spatzen

mein kleines Tagespensum durchzuschwatzen.

Es ostert schon. Grün treibt die Zimmerlinde.

Wies heut im Grunewald nach Frühjahr roch!

Ein erster Specht beklopft die Birkenrinde.

Nun pfeift der Ostwind aus dem letzten Loch.

Und alles fragt, wie ich Berlin denn finde?

– Wie ich es finde? Ach, ich such es noch!

Ich such es heftig unter den Ruinen

der Menschheit und der Stuckarchitektur.

Berlinert einer: »Ick bejrüße Ihnen!«,

glaub ich mich fast dem Damals auf der Spur.

Doch diese neue Härte in den Mienen …

Berlin, wo bliebst du? Ja, wo bliebst du nur?

Auf meinem Herzen geh ich durch die Straßen,

wo oft nichts steht als nur ein Straßenschild.

In mir, dem Fremdling, lebt das alte Bild

der Stadt, die Tausende vergaßen.

Ich wandle wie durch einen Traum

durch dieser Landschaft Zeit und Raum.

Und mir wird so ich-weiß-nicht-wie –

vor Heimweh nach den Temps perdus …

Berlin im Frühling. Und Berlin im Schnee.

Mein erster Versband in den Bücherläden.

Die Freunde vom Romanischen Café.

Wie vieles seh ich, was ich nicht mehr seh!

Wie laut »Pompejis« Steine zu mir reden!

Wir schluckten beide unsre Medizin.

Pompeji ohne Pomp. Bonjour, Berlin!

Literarische Träume

Berlin, Frühsommer 1928

»Lass uns heiraten!«

Mascha verschluckte sich an dem kalten Kaffee, vor dem sie seit fast einer Stunde saß. Sie musste husten, Tränen traten ihr in die Augen. Dann keuchte sie: »Was?«

Saul schnippte die Asche seiner Zigarette auf den Boden des Lokals.

»Ich liebe dich, Mascha, und ich habe es so satt, dass wir nirgendwo allein sein können. Wir wohnen beide möbliert, und nur sonntags, wenn wir ausnahmsweise mal in Karls Wohnung dürfen, können wir …«

»Ja, ja«, unterbrach Mascha ihn schnell und sah zum Nachbartisch, an dem eine junge Schauspielerin – Mascha kannte ihren Namen nicht – ihre Nase in eine der Tageszeitungen steckte. Richard, der rothaarige Zeitungskellner mit den vielen Sommersprossen, hatte sie ihr gebracht. »Aber deshalb gleich heiraten?«

»Wir lieben uns doch, oder nicht?« Saul schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen durch die Rauchschwaden an, die das Café einhüllten. »Und für gewöhnlich tun Liebende das doch: heiraten.«

»Ja«, antwortete Mascha und lehnte sich auf dem unbequemen Stuhl zurück. »Aber ich bin doch nicht einmal einundzwanzig.«

»In zwei Wochen wirst du es sein. Und damit auch alt genug zum Heiraten, mein Liebling«, sagte Saul. »Und da ich etwas Geld bei der Jüdischen Rundschau verdiene und endlich die Anstellung als Hebräischlehrer bekommen habe, was auch ein bisschen was einbringt, könnten wir uns eine gemeinsame Wohnung suchen, nichts Möbliertes mehr …«

»Vielleicht unterm Dach, oder etwas im Hinterhaus?« Mascha lächelte. Sie strich sich ihre schwarzen Locken aus der Stirn, die zu einer modernen Kurzhaarfrisur geschnitten waren, und betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe des Cafés. Ihre dunklen Augen blitzten frech und fast ein wenig herausfordernd in die Welt. Auf ihre vollen Lippen war sie stolz. Wenn sie nur ein wenig größer wäre, aber das konnte man sich leider nicht aussuchen.

Mascha wandte sich wieder Saul zu. Es wäre wunderbar, endlich eine eigene Wohnung zu haben und nicht mehr auf Schritt und Tritt von ihrer Wirtin kontrolliert zu werden. Ihre Arbeit als Kontoristin bei der Jüdischen Organisation würde sie natürlich behalten, auch wenn sie viel lieber von morgens bis abends an ihren Versen schmieden würde und die stupide Arbeit im Büro sie langweilte. Aber die Dichtkunst brachte leider kein Geld, und obwohl sie im Büro nur einhundertzwanzig Mark verdiente, war es doch eine sichere Einnahme, die ihr und Saul half.

Sie seufzte. Momentan blieb ihr kaum Zeit zum Dichten. Wenn sie um fünf Uhr am Nachmittag – freitags schon um drei – endlich müde aus dem Büro kam, wollte sie sich nur noch ausruhen, ein bisschen mit Saul durch den Grunewald oder Kladow schlendern, auf einer versteckten Parkbank in seinem Arm liegen oder sich mit den letzten fünfzig Pfennigen eine Tasse Kaffee hier im Romanischen Café gönnen.

Sie sah sich in dem großen, eher ungemütlichen Raum um. Ihr Blick glitt über die dicken Säulen, die bis zur Mitte mit Holz verkleideten Wände und die vom Nikotin gelb gefärbte, hohe Zimmerdecke. Die Milchglasscheiben der Fenster ließen keinen Blick nach draußen zu, verhalfen dem Raum aber zu viel Helligkeit, was seine hässliche Einrichtung noch mehr hervorhob. Die runden Marmortische standen dicht an dicht, die Holzstühle waren abgenutzt, ihre Farbe an vielen Stellen abgesplittert, und die Plätze waren alle besetzt. Mascha rutschte auf dem harten Kaffeehausstuhl hin und her. Das Romanische bestach nicht gerade durch seine Atmosphäre, aber es zog alle wichtigen Künstler, Journalisten und Verleger Berlins an. Das, was einst das Café des Westens für die Szene gewesen war, war heute – in den 1920er-Jahren – das Romanische Café.

Und Mascha verbrachte viele Nachmittage und Abende hier, wann immer sie die fünfzig Pfennige übrig hatte, um die obligatorische Tasse Kaffee bezahlen zu können. Denn nur hier konnte sie die Kontakte knüpfen, die nötig waren, um eins ihrer Gedichte zu verkaufen. Natürlich hätte sie ihre Texte auch einfach an eine der Zeitungsredaktionen schicken können, aber sie wusste, was dann passieren würde. Einige Wochen später würde ein Brief eintreffen, der mit den Worten begann: »Die Redaktion bedauert …« Nein, Mascha wollte einen persönlichen Kontakt herstellen, vielleicht mit einem der wichtigen Männer ins Gespräch kommen, dann würden ihre Gedichte eine ganz andere Beachtung finden.

Oft begleitete Saul sie – wie heute –, und sie unterhielten sich an einem der Tische im Nichtschwimmerbassin, dem größeren der zwei Gasträume, und beobachteten all die merkwürdigen Leute, die hereinkamen. Ein paar Schriftsteller, die an ihren Werken arbeiteten, saßen auf der Galerie. Aber die meisten, die das Café besuchten, wollten sich mit Verlegern, Kritikern oder Künstlerkollegen treffen. Mascha konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als eines Tages dazuzugehören und ihren eigenen Namen in der Zeitung zu lesen, über einem ihrer Texte.

Sie strich über die marmorne Tischplatte und sah Saul über das Stimmengewirr und Gläserklirren hinweg an, das den Raum füllte.

»Dann heiraten wir also?«, fragte Saul, während er seine Tasse leerte.

Mascha atmete tief durch. »Ja, tun wir es.«

Ein kribbliges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Sie würde heiraten! Bislang hatte sie noch nie darüber nachgedacht, sie war jung, und das Leben lag vor ihr. Sie war ihrem strengen Elternhaus entkommen, als sie letztes Jahr ein möbliertes Zimmer zur Untermiete bezogen hatte. Über ihre Zukunft hatte sie sich kaum Gedanken gemacht, sie wusste nur, dass sie Gedichte schreiben wollte. Und auch über eine Ehe hatte sie sich noch nie den Kopf zerbrochen.

Plötzlich sah sie Saul erschrocken an. »Aber ich werde nur deine Frau, wenn ich weiterhin Verse schreiben darf. Ich will kein Heimchen werden, das den ganzen Tag am Herd steht. Ich bin eine Schriftstellerin, und du musst mir versprechen, dass ich das immer sein darf.«

»Hoch und heilig«, Saul griff nach ihrer Hand, »Mascha, ich freue mich so sehr, dass du …«

»Oh, da kommt der Jacobs von der Vossischen«, unterbrach Mascha ihn aufgeregt und spähte über Sauls Schulter ins Schwimmerbassin. Unwillkürlich tastete ihre Hand nach dem Blatt Papier in ihrer Hosentasche. Seit Wochen trug sie es mit sich herum, in der Hoffnung, es Monty Jacobs, Egon Jacobsohn oder einem der anderen Kulturjournalisten zustecken zu können. Es enthielt eins ihrer Gedichte, aber sie hatte bislang nicht die Gelegenheit und, wenn sie ganz ehrlich war, auch nicht den Mut gefunden, sich einem dieser namhaften Männer vorzustellen.

Saul legte die Stirn in Falten. »Ich verstehe nicht, was du an diesem Laden hier findest. Es ist eher ein Wartesaal als ein Kaffeehaus, vollkommen ungemütlich.«

»Wenn det jemietlich haben wills, denn musste auffet Soffa«, übte sich Mascha im Berlinern.

Saul betrachtete sie liebevoll. »Unglaublich, wenn du Berliner Mundart sprichst, meint man, du wärst hier geboren.«

»Wir hatten immer deutsche Kindermädchen, als ich klein war, und sie kamen alle aus Berlin«, erklärte Mascha. »Da habe ich den Zungenschlag schon gehört.«

»Sozusagen mit der Muttermilch eingesogen«, erwiderte Saul mit einem Lächeln.

Mascha grinste. »Jenau.«

»Von deiner polnischen Herkunft merkt man gar nichts mehr«, sagte Saul, noch immer lachend.

Mascha biss sich auf die Unterlippe. Es wurde Zeit, dass sie ihm die Wahrheit sagte. Wenn sie wirklich heirateten, käme es sowieso heraus. Bislang hatte sie Saul wie alle anderen glauben lassen, ihre Familie käme aus Polen. Seit zwei Jahren belog sie ihn.

Sie räusperte sich und erklärte dann leise: »Das ist eigentlich nicht ganz richtig.«

»Was?« Saul sah sie fragend an.

Mascha rückte etwas näher an den Tisch heran. »Wir stammen aus Galizien.«

»Wirklich?«, erwiderte Saul erstaunt. »Warum hast du mir das denn nicht gesagt?«

»Pst, nicht so laut.« Mascha zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. »Wenn du als Kind immer damit gehänselt worden wärst, wenn man dich in der Schule ausgeschlossen und mit dem Finger auf dich gezeigt hätte, weil du in dem Land geboren wurdest, das alle am meisten verachten, dann würdest du es dir auch gut überlegen, wem du das auf die Nase bindest.«

Mascha dachte wieder an jenen Montag, sie war damals sieben oder acht Jahre alt gewesen und gerade nach Frankfurt gezogen, als eine der Lehrerinnen von einem Wochenendausflug zurückgekehrt war. Sie hatte für jedes Kind in der Klasse ein kleines Püppchen mitgebracht, nur für Mascha war keins dabei gewesen. »Kinder von dort brauchen kein Spielzeug«, hatte sie abfällig erklärt. »Das wird von dem Pack doch nicht gewürdigt und nur verkauft.«

Mascha hatte früh gelernt, dass über Galizien so gehässig gesprochen wurde wie über kein anderes Land. Warum das so war, hatte sie nie verstanden. Aber sie hatte sich dafür geschämt, Galizierin zu sein, deshalb hatte sie sich eine polnische Abstammung ausgedacht.

Saul hob beschwichtigend die Hände. »Allen musst du es ja auch nicht erzählen, aber vielleicht dem Mann, mit dem du dich seit zwei Jahren regelmäßig triffst.«

»Nun hab dich nicht so.« Mascha schob die leere Tasse auf dem Tisch hin und her. »Warum ist das wichtig?«

»Es prägt einen, oder nicht?«, fragte Saul.

Sie zuckte mit den Schultern. »Mich nicht. Ich war noch klein, als wir von dort weggegangen sind. Und jetzt lass uns von etwas anderem reden. Ich will an all das nicht mehr denken, es ist vorüber und vergessen.«

»Aber du wirst meine Frau werden, ich interessiere mich für dich, für deine Kindheit …« Saul wollte wieder nach ihrer Hand greifen, aber Mascha zog sie weg.

»Warum? Ich habe dir nur davon erzählt, weil du es ja doch erfahren wirst, wenn wir heiraten. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.« Sie lehnte sich auf ihrem harten Stuhl zurück und sah sich um. Das Café war nun zum Bersten voll, kaum ein Platz war mehr frei. Rauchschwaden hüllten sie ein. »Wir leben jetzt, heute! Und ich muss mir unbedingt überlegen, wie ich ins Schwimmerbassin komme.«

Mascha sah sehnsuchtsvoll zu dem kleinen rechteckigen Raum hinüber, in den nur hineinkam, wer bereits einen Namen hatte. Dort drüben gingen Leute wie Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky, aber auch Else Lasker-Schüler oder Ernst Rowohlt ein und aus. Wenn Mascha es dorthin schaffen würde, konnte sie vielleicht einen Verleger von ihren Werken überzeugen.

Saul sah ebenfalls in Richtung des Ausgangs, um einen Blick in den Nebenraum zu erhaschen. »Was ist das überhaupt für eine alberne Bezeichnung mit diesen Schwimmbassins? Wir sind im Nichtschwimmerbereich, die da drüben im Schwimmerbecken?«

Mascha lachte auf, erleichtert darüber, dass Saul das Thema ihrer Herkunft nun ruhen ließ. »Keine Ahnung, wer sich das mal ausgedacht hat. Jedenfalls dürfen drüben nur berühmte Leute rein, da passen Nietz und Lehmann, die Portiers, ganz genau auf. Und oben auf der Galerie treffen sich die Spieler.« Mascha schielte zu der massiven Brüstung aus Eichenholz hinauf. Dahinter konnte sie Menschentrauben erkennen, die sich um die Tische drängten, an denen Schach oder Dame gespielt wurde.

»Wann wollen wir denn heiraten?«, riss Sauls Stimme sie aus ihren Betrachtungen.

»Hm?« Mascha nahm den Blick von der Galerie und sah Saul an. »Ich weiß nicht. Wir haben doch Zeit, es drängt uns niemand.«

»Mascha, wenn du nicht bei mir bist, sehne ich mich immerfort nach dir«, sagte Saul beinahe flehentlich.

Mascha nickte. »Ich doch auch. Ich wäre am liebsten den ganzen Tag mit dir zusammen.«

»Und die Nacht«, Saul zwinkerte, »besonders die Nacht. Ich habe keine Lust mehr auf die gestohlenen Stunden in Karls Wohnung.«

Mascha nickte. Karl war ein ehemaliger Schulkamerad von Saul, der ihnen hin und wieder seine Wohnung zur Verfügung stellte.

»Und wenn du dir jetzt, da du mehr Geld verdienst, erst mal was Eigenes suchst? Dann könnte ich dich immer besuchen, keine Wirtin mehr, an der man vorbeimuss …« Mascha lehnte sich zurück. »Heiraten können wir dann doch immer noch.«

Saul schüttelte den Kopf. »Das gibt ganz schnell Gerede. Das kann ich mir nicht leisten, nicht wenn ich meine Promotion abschließen und dann eine Stelle an der Hochschule bekommen möchte.«

Mascha nickte zerstreut, sie hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört, denn zwei beleibte Herren betraten gerade das Nichtschwimmerbassin.

»Mascha, was ist los? Willst du mich nicht?« In Sauls Augen trat ein neuer Ausdruck, den Mascha noch nie bei ihm gesehen hatte. »Ich … du bist der wichtigste Mensch für mich.«

»Ich weiß.« Mascha fasste nach seinen Händen und hielt sie fest. »Ich liebe dich, Saul. Von ganzem Herzen, und ich will dich heiraten. Es kommt nur alles so plötzlich, so schnell. Ich fühle mich noch so jung …«

»Du bist jung.« Saul drückte ihre Hände. »Aber ich nicht mehr. Ich bin neunundzwanzig. Verstehst du nicht, dass ich gern heiraten möchte? Ich will eine Familie gründen …«

»Eine Familie?« Mascha sah ihn entsetzt an. »Kinder?«

Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Nein, im Augenblick wollte sie noch nicht Mutter sein. Sie wollte Verse schreiben.

Saul sah ihr tief in die Augen. »Ich werde dich zu nichts drängen, mein Liebling. Wir lassen uns Zeit, so viel du willst. Aber ich wünsche mir, dass wir zusammengehören.«

»Saul, das alles wünsche ich mir doch auch.« Mascha strich ihm zärtlich über die glatt rasierte Wange. »Ich will deine Frau werden, mein Liebster.«

Saul führte ihre Hand an seinen Mund und küsste sie sanft. »Du machst mich unendlich glücklich.« Er schob sich seine runde Brille nach oben, die ihm immer wieder auf die Nasenspitze rutschte.

»Die Maler sind da!«, flüsterte Mascha aufgeregt mit einem weiteren Blick auf die beiden Herren, die gerade das Café betreten hatten.

Emil Orlik und Max Grossmann ließen sich ganz in Maschas Nähe am ersten Tisch neben dem Eingang nieder, der immer für sie reserviert war. Der Malerstammtisch, so hatte Mascha schnell erfahren, war der einzige Stammtisch mit namhaften Personen, der im Nichtschwimmerbassin angesiedelt war. Neben Orlik und Grossmann war wohl Max Liebermann das berühmteste Mitglied dieses Stammtisches. Allerdings hatte Mascha ihn bislang noch nie hier gesehen.

»Guten Abend, die Herren!« Ein schlanker, leicht gebeugt gehender Mann mittleren Alters war an den Stammtisch der Künstler getreten, noch bevor die Männer Gelegenheit gehabt hatten, ihre Bestellung bei dem Kellner aufzugeben, der nun diensteifrig neben ihnen wartete.

»John Höxter!« Orlik lehnte sich auf der Polsterbank zurück, die an der Wandseite des Tisches stand. »Alles in Ordnung?«

»Es geht, es geht. Hätten Sie wohl fünfzig Pfennige für eine Tasse Kaffee? Morgen zahl ich es zurück, versprochen.«

Orlik strich sich über den buschigen Bart und lachte laut. »Höxter, Sie und Ihre Beteuerungen! Eigentlich dürfte Nietz Sie gar nicht mehr reinlassen. Sie stehen bei jedem Stammgast des Romanischen in der Kreide. Aber eine Tasse zahle ich Ihnen.« Er machte dem Kellner ein Zeichen.

»Danke, Orlik.« John Höxter entfernte sich unter einigen Verbeugungen und nahm an einem Tisch in der Nähe der Maler Platz.

»Hast du das gesehen?«, fragte Saul. »Er ist sich nicht zu schade, die Herren anzuschnorren.«

»Er ist dafür bekannt«, erklärte Mascha nachdenklich. »Höxter malt und schreibt, und er kennt jeden hier. Er kann im Schwimmerbassin ein und aus gehen und an beinahe jedem Stammtisch Platz nehmen. Er hat angeblich noch nie eine Tasse Kaffee selbst bezahlt. Und er ist nicht der Einzige. Es gibt noch mehr Schnorrer hier. Sie essen und trinken und warten, bis jemand kommt, der sie auslöst.«

»Dass die sich gar nicht schämen, so offenkundig um eine Tasse Kaffee zu betteln«, stellte Saul erstaunt fest.

Mascha hob eine Augenbraue. »Ich wette, mindestens jeder Zweite hier müsste darum betteln, einschließlich wir selbst. Das, was ich verdiene, reicht ja kaum für das möblierte …«

»Das ist bald vorbei, Mascha«, unterbrach Saul sie. »Ich bekomme endlich ein bisschen mehr, mach dir keine Sorgen.«

Mascha sog den Duft des Kaffees ein, den ein Kellner gerade an ihrem Tisch vorbeitrug. »Uns geht es besser als vielen anderen hier, aber trotzdem können wir uns den Kaffee kaum leisten. Und John Höxter ist vollkommen ehrlich, was seine finanzielle Lage angeht. So kommt er zu viel mehr Getränken als wir.«

Saul schmunzelte. »Du meinst, wir sollten uns auch durchs Romanische Café schnorren?«

Mascha musste lachen. Sie beobachtete, wie John Höxter den Kaffee vom Kellner entgegennahm. »Wenn ich fünfzig Pfennige übrig hätte, würde ich ihn auch auf eine Tasse einladen. Wir kämen ins Gespräch, und ich könnte ihn bitten, mich Jacobsohn oder Jacobs vorzustellen oder irgendeinem anderen einflussreichen Menschen.«

»Meinst du, die würden deine Gedichte annehmen, wenn du ihnen von einem Schnorrer vorgestellt wirst?« Saul sah sie zweifelnd an.

»Wenn sie Höxter verachten würden, hätten sie ihm doch schon lange keinen Kaffee mehr bezahlt.« Mascha schüttelte den Kopf. »Aber so funktioniert das Romanische nicht. Hier ist es ganz gleich, was einer ist oder woher er kommt und was er hat. Es geht nur darum, was er tut. Um seine Kunst oder seine Arbeit, sein Wissen – es geht um ihn selbst.«

»Eine flammende Rede auf das Romanische Café«, stellte Saul belustigt fest.

Mascha seufzte und stand auf. »Ich wünschte nur, ich würde auch zum engeren Kreis gehören.«

Saul legte eine Mark auf den Tisch und winkte dem Kellner. Dann geleitete er Mascha, die Hand auf ihrem Rücken, zum Ausgang. »Eines Tages, Mascha, eines Tages …«

Mascha warf im Hinausgehen einen Blick ins Schwimmerbassin, das jetzt, um halb neun Uhr abends, langsam leerer wurde. Die beste Zeit fürs Romanische war zwischen fünf und sechs, hatte ihr ein namenloser Schauspieler verraten, der einmal neben ihr am Tisch gesessen hatte. Dann kamen die Berühmtheiten, bevor sie ins Theater oder zu dem angesagten Restaurant Schwannecke gingen. Aber Mascha musste bis fünf Uhr arbeiten, oft sogar länger, wenn ihr Chef Überstunden verlangte, weil wichtige Briefe diktiert oder Rechnungen geschrieben werden mussten.

Jetzt waren nicht mehr alle Tische im Bassin für Schwimmer besetzt. Mascha sah den Verleger Bruno Cassirer, der mit einer älteren Dame diskutierte, die Mascha nicht kannte. Die Schauspielerin Claire Waldoff lachte laut über einen Scherz, den der Herr neben ihr gemacht hatte. Mehr konnte Mascha nicht erkennen, weil sie mit einem jungen Mann zusammenstieß, ehe sie sich hastig wieder nach vorn drehte.

»Entschuldigung«, murmelte sie.

Der Herr lüftete seinen Hut »Verzeihung.« Dann grüßte er den Portier. »Guten Abend, Nietz.«

»Guten Abend, Herr Kästner«, antwortete der Portier.

Mascha sah dem Mann nach, der ins Schwimmerbassin abbog, das sich links hinter der Drehtür am Eingang befand. Wer auch immer der junge Mann namens Kästner war, er schien es geschafft zu haben.

Saul griff nach Maschas Arm. Sie nickten Nietz zu und traten durch die Eingangstür auf den Auguste-Viktoria-Platz hinaus. Mascha sog die warme Luft des Maiabends ein. Nach den Stunden im verrauchten Kaffeehaus tat es ihr gut. Vor ihnen erhob sich die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, eine Straßenbahn rasselte vorbei. Eine Gruppe junger Frauen in modischen Cocktailkleidern und Mary Janes kam lachend auf sie zu. Reklametafeln leuchteten vom Capitol und vom Gloria-Palast herüber.

Mascha hakte sich bei Saul unter, während sie in die Tauentzien einbogen.

Er sah sie liebevoll an. »Eine große Feier können wir uns nicht leisten, aber was hältst du davon, wenn wir gleich am siebten, an deinem Geburtstag, das Aufgebot bestellen und dann Mitte Juni heiraten? Wenn wir eine Wohnung finden, ziehen wir da ein, mehr als ein Bett brauchen wir doch erst mal nicht.«

Mascha lachte. »Saul Kaléko, du bist schrecklich. Kannst du denn nur an das eine denken?«

»Ja«, gab Saul zu. »Weil wir es so selten tun können. Wenn wir erst verheiratet sind, werde ich nicht mehr so viel daran denken müssen.«

Saul beugte sich zu ihr herunter und küsste sie. Mascha genoss die Wärme seiner Haut, sie versank in seinen weichen Lippen. Ihr Bauch begann zu kribbeln. Sie schmiegte sich an ihn, und einen Moment lang gab es nur sie beide. Berlin und sein nächtliches Gewimmel waren plötzlich weit weg. Doch dann rempelte sie eine Gruppe junger Leute an, die auf dem Weg in das Tanzlokal waren, vor dem sie standen, und Saul und Mascha lösten sich seufzend voneinander.

Ja, auch Mascha wünschte sich mehr Privatsphäre mit Saul, sie sehnte sich danach, neben ihm einzuschlafen und aufzuwachen. Und sie wurde in zwei Wochen volljährig, dann brauchte sie nicht mehr das Einverständnis ihrer Eltern. Nicht, dass sie daran zweifelte, dass Fischel und Rozalia Engel ihr das verweigern würden – Saul war immerhin ein Jude und Akademiker, der bald einen Doktortitel tragen würde, was ihre Eltern sicher zu schätzen wüssten. Aber Mascha ging ihnen lieber aus dem Weg. Zu dunkel waren die Erinnerungen an ihre Kindheit, zu stark der Wunsch, alles hinter sich zu lassen, was sie an früher erinnerte. Ihre Mutter war ihr gegenüber stets streng und wenig liebevoll gewesen. Sie hatte Maschas jüngere Schwester Lea immer als Musterbeispiel angeführt und ihr vorgezogen. Von der engen Beziehung zwischen Lea und ihrer Mutter hatte Mascha sich immer ausgeschlossen gefühlt. Andererseits hätte sie die Erwartungen an eine brave Tochter nie so gut erfüllen können, wie Lea es tat. Mascha war wild und temperamentvoll. Sie fuhr oft aus der Haut und konnte leidenschaftlich und ehrgeizig sein. Das waren Eigenschaften, die ihre Mutter verachtete. Sie wünschte sich Töchter, die zu Hause saßen und Handarbeiten erledigten und ihre Nase nicht den ganzen Tag in Bücher steckten. Maschas Vater hingegen, zu dem sie sich mehr hingezogen fühlte als zu ihrer Mutter, hatte als Russe viele Jahre in Internierungshaft verbracht und war Mascha daher immer fremd geblieben.

Mascha vermisste nur ihre jüngste Schwester Rachel und besuchte sie so oft wie möglich. Die Kleine war geboren worden, als Mascha bereits dreizehn Jahre alt war, und von Anfang an bestand eine enge Bindung zwischen ihnen.

Plötzlich blieb sie stehen. »Wenn wir heiraten, muss ich es meinen Eltern sagen. Sonst halten sie mir das ein Leben lang vor. Und du weißt doch, wie gläubig sie sind. Wir müssen dann ein traditionelles Hochzeitsfest über uns ergehen lassen.«

Wenn sie nur daran dachte, wurde ihr schlecht. Jüdische Hochzeiten dauerten zwei Tage, und Mascha wusste nicht, ob sie ihre Verwandtschaft, allen voran ihre Mutter, so lange ertragen konnte. Vermutlich würde sie ihr die ganze Zeit wegen der schlechten Wahl ihres Kleides und ihrer Gäste Vorhaltungen machen und weil sie sich angeblich nicht ausreichend um ihre Verwandtschaft kümmerte, oder was auch immer.

»Lass uns heimlich heiraten, nur vor dem Standesbeamten, es braucht doch niemand zu erfahren«, schlug Saul vor.

Mascha schüttelte den Kopf und wich den Passanten aus, die gerade aus der Stadtbahn gestiegen waren. »Das können wir nicht lange verheimlichen. Und es würde sich auch nicht richtig anfühlen.«

»Ganz, wie du willst, mein Liebling.« Saul legte liebevoll den Arm um sie. »Ich bin zu allem bereit, Hauptsache, wir können endlich zusammenziehen.«

Mascha erschrak, als es neben ihnen laut knallte. Ein Laubfrosch hatte eine Fehlzündung. Mascha mochte die modernen grünen Wagen der Firma Opel, aber sie waren anfällig für Fehlzündungen und Reparaturen, wie sie gehört hatte. Ein anderes Automobil hatte inzwischen am Fahrbahnrand angehalten, und zwei Frauen stiegen aus. Dahinter wurde schon ungeduldig gehupt. Es stank nach Treibstoff. Das war Berlin! Und Mascha liebte Berlin und sein Gewimmel.

Als sie Frau Schuhmachers Haus erreicht hatten, bei der Mascha möbliert wohnte, zog Saul sie noch einmal an sich.

»Mascha, ich kanns kaum erwarten. Werde bald meine Frau!«

Sie fuhr mit ihren Fingerspitzen über Sauls Augenbrauen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um seinem Gesicht näher zu sein. Ihre Nase berührte seine, sie sog den herben Duft seiner Haut tief ein. Saul küsste sie zärtlich. Mascha schloss die Augen und genoss seine sanften Berührungen, die allmählich drängender wurden.

»Fräulein Engel!«

Mascha zuckte zusammen und ließ von Saul ab. Sie fuhr herum.

Frau Schuhmacher stand mit verschränkten Armen in der geöffneten Tür. »Schämen Sie sich, Kind! Und jetzt schnell rein mit Ihnen! Und Sie, junger Mann, machen Sie, dass Sie nach Hause kommen!«

Mascha hörte Saul leise stöhnen. Sie drückte noch einmal kurz seine Hand, dann sprang sie die Treppenstufen zum Eingang hinauf. Hinter ihr schloss die Wirtin laut schimpfend die Eingangspforte. Mascha stieg die knarrende Stiege empor in die zweite Etage, wo sich ihr Zimmer befand. Als sie allein in ihrem stillen Kämmerchen war, lehnte sie sich einen Moment lang gegen die dünne Zimmertür. Was für ein Tag! Sie würde heiraten. Sie würde Frau Kaléko werden. Ob diese Entscheidung richtig war? Es kam ihr vor, als wäre sie eben noch in Kniestrümpfen und mit langen geflochtenen Zöpfen seilgesprungen und zur Schule gegangen. Und während all der Jahre musste sie sich bei Tisch auf die Zunge beißen, um ihrer Mutter nicht zu widersprechen, die von ihr nur verlangte, eine folgsame Ehefrau zu werden. Dabei hatte Mascha sich geschworen, das Leben zunächst in vollen Zügen zu genießen, bevor sie sich an einen Mann band. Und jetzt hatte sie Saul ihre Hand versprochen, obwohl sie kaum einundzwanzig war.

Mascha streifte die Schuhe ab und warf ihre zerschlissene Handtasche auf die Kommode. Dann ging sie zum Fenster und ließ sich auf die breite Bank davor fallen. Am Ende der Straße konnte sie Saul noch um die Ecke biegen sehen. Sie lächelte. Saul war ein großartiger Mann, und sie war schrecklich verliebt in ihn. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, als sie sich daran erinnerte, wie sie ihn vor zwei Jahren an der Universität kennengelernt hatte, wo sie einen Abendkurs zum Thema Behaviorismus belegt hatte. Das Seminar entpuppte sich jedoch als sehr theoretisch, und schon am fünften Abend schob sie Kopfschmerzen vor, um die letzte halbe Stunde zu schwänzen. Sie hatte sich von ihren Abendstudien mehr erwartet. Den Menschen wollte sie kennenlernen, das Menschsein überhaupt. Das waren die Themen, die Mascha interessierten, in Psychologie- und Philosophiekursen wollte sie mehr darüber erfahren. Aber der Kurs über den Behaviorismus war nicht das, was sie gesucht hatte.

Als sie also verfrüht und mit schlechtem Gewissen aus dem Lehrsaal trat, stieß sie mit einem Studenten zusammen und ließ vor Schreck ihre Bücher fallen. Er half ihr, sie aufzuheben, und begleitete sie zur Stadtbahn. So hatte sie den Philologen Saul Kaléko kennengelernt, der gerade damit begonnen hatte, an seiner Dissertation zu arbeiten.

Mascha lehnte ihre Stirn gegen die kühle Scheibe. Was waren das für stürmische Wochen, die auf diese erste Begegnung folgten! Erst achtzehn war sie gewesen und hatte alles noch sehr schwergenommen. Ein falsches Wort von Saul, und sie war in Tränen oder Tobsucht ausgebrochen. Inzwischen gehörte er so selbstverständlich zu ihrem Leben wie ihr eigenes Spiegelbild. Ja, Saul war der Mann, der sie glücklich machen würde, davon war sie überzeugt.

Und doch war da dieser leise Zweifel in ihrem Inneren, der jetzt, da sie allein war, immer lauter wurde. Mascha hatte vor Saul nur einen einzigen anderen festen Freund gehabt, und das Leben lag noch vor ihr. Sie fühlte sich einfach noch nicht bereit, eine Entscheidung zu treffen, die für die nächsten Jahrzehnte gelten sollte. Mascha war eine junge Frau, sie wollte leben, sie wollte Berlin genießen, und sie wollte dichten. Schreiben – das war, was sie vor allem wollte. Sie hatte so viele Ideen, so viel zu sagen, aber statt an der eigenen Schreibmaschine saß sie im Büro und tippte Diktate ab und schrieb Rechnungen. Als Ehefrau würden vermutlich weitere Pflichten hinzukommen, und Saul hatte ja bereits gesagt, dass er sich Kinder wünsche. Irgendwann würde Mascha sicher auch einen Sohn oder eine Tochter haben wollen, aber doch nicht gleich! War es wirklich richtig, jetzt schon den Bund der Ehe einzugehen?

Mascha schüttelte den Kopf und stand auf. Was war nur los mit ihr? Sie liebte Saul, er war ein fürsorglicher, guter, treuer Mann, und sie war eine undankbare Frau. Statt sich zu freuen, saß sie hier oben, in ihrem schäbigen möblierten Zimmer, und wollte nicht so recht in Freudenstimmung kommen. Dabei sehnte sie sich genauso wie Saul nach Zeit, die sie zu zweit genießen konnten, nach einem Winkel, der ihnen gemeinsam gehörte.

Während sie ihre Bluse auszog, lachte sie, um die Zweifel zu vertreiben. Aber so ganz wollte es ihr nicht gelingen.

Nachdem sie sich mit dem kalten Wasser gewaschen hatte, das noch vom Morgen im Krug war, schlüpfte sie in ihr Nachthemd und unter die Bettdecke. Aber sie konnte lange Zeit nicht einschlafen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Saul und der bevorstehenden Hochzeit, die sie genauso fürchtete, wie sie sie herbeisehnte.

So schnell, wie sich das der Bräutigam wünschte, konnten sie dann ohnehin nicht heiraten. Mascha hatte ihren Eltern von ihrem Vorhaben erzählt, woraufhin Fischel und Rosa Engel darauf bestanden, dass die Hochzeit von einem Rabbiner in der Neuen Synagoge abgehalten würde. Dafür kam nur ein Dienstag infrage, nach jüdischer Tradition der Tag, der am meisten Glück brachte, aber auch nicht jeder Dienstag, es durfte nämlich kein Feiertag sein. Nachdem der Rabbiner hinzugezogen worden war, diverse Termine ausgeschlossen und schließlich eine Handvoll übriggeblieben waren, entschieden sich Mascha und Saul für den ersten möglichen Tag. Das war der 31. Juli 1928.

Am 7. Juni, Maschas einundzwanzigstem Geburtstag, überraschte Saul sie während eines Spaziergangs im Grunewald, indem er erklärte, für den Abend einen Tisch im feinen Restaurant Schwannecke reserviert zu haben.

»Im Schwannecke?« Mascha sah ihn ungläubig an. »Aber da ist doch gar kein Platz für Leute wie uns. Dahin gehen nur die Großen, die Berühmten.«

Saul strich ihr über den Arm. »Und Geburtstagskinder. Ich habe erklärt, dass meine zukünftige Braut etwas zu feiern hat.«

Mascha machte einen kleinen Luftsprung, besann sich jedoch gleich wieder darauf, dass sie ja bald eine verheiratete Frau sein würde. Derartige Albernheiten wären dann vorbei. Das waren genau die Temperamentsausbrüche, mit denen sie ihre Mutter seit jeher zur Weißglut getrieben hatte. Aber in diesem Moment musste sie sich zwingen, nicht vor lauter Aufregung über den Asphalt zu hüpfen.

»Ich habe gar nichts Geeignetes anzuziehen«, stellte sie besorgt fest, während sie sich bemühte, wieder gesittet neben Saul herzulaufen.

»Im Schwannecke verkehren auch viele Menschen mit wenig Einkommen, die sich von den anderen aushalten lassen. Ich habe schon darüber nachgedacht. Wir ziehen einfach unsere besten Kleider an.« Saul sah einer Meise nach, die, von ihnen aufgeschreckt, davonflog. »Ich bringe dich jetzt zu Frau Schuhmacher, und in zwei Stunden hole ich dich ab. Dann feiern wir zusammen deinen Geburtstag.«

»Oh, Saul, das ist großartig!« Mascha hakte sich bei ihm ein und wich einem alten Herrn aus, der, auf seinen Stock gestützt, unter einer Kastanie verschnaufte.

»Mascha, Liebes. Unser gemeinsamer Abend soll nicht nur deine Geburtstagsfeier sein, sondern wir feiern auch unsere Hochzeit vor, nur wir zwei. Ehrlich gesagt, graut mir vor den zweitägigen Feierlichkeiten.«

Mascha grinste. »Ich verstehe dich so gut. Aber wir werden diese jüdische Feier schon irgendwie aushalten.«

Maschas Eltern waren orthodoxe Juden und strenggläubig. Sie hielten sich an die jüdischen Gesetze und Rituale. Mascha hingegen hatte sich in der Synagoge nie sonderlich wohlgefühlt und sich auch nicht ernsthaft mit ihrer Religion auseinandergesetzt. Sie glaubte an Gott und an die Tora und kannte die biblischen Geschichten, aber sie hätte gut auf die jüdische Zeremonie verzichten können. Sie wusste jedoch, wie wichtig die Traditionen für ihre Eltern waren.

An Sauls Arm spazierte Mascha zwei Stunden später durch das abendliche Berlin, vorbei an Menschen, die nach ihrer Arbeit nach Hause gingen, an Feierlustigen, feinen Herrschaften in Abendgarderobe und leichten Mädchen in weniger eleganter Aufmachung. Über das Schwannecke, das nur drei Gehminuten vom Romanischen Café entfernt lag, hatte Mascha schon viel gehört. Im Romanischen wurde immer wieder darüber gesprochen, und in den Zeitungen fanden sich Berichte über rauschende Feste dort nach Theater- und Opernpremieren.

Als sie die Rankestraße erreicht hatten und das Restaurant vor ihnen auftauchte, holte Mascha aufgeregt Luft. Wie oft schon war sie an dem Gebäude vorbeigegangen und hatte die Menschen mit neidischen Blicken bedacht, die in dem Lokal einkehrten. Jetzt würde sie selbst die heilige Schwelle übertreten.

Saul hielt ihr die Schwingtür auf, und sie kamen in einen kleinen Vorraum. Ein Ober im Frack trat auf sie zu. Er stellte sich als Johnny und Oberkellner des Etablissements vor und führte sie in den Gastraum.

Mit großen Augen sah Mascha sich um. Weiß gedeckte Tische standen in großzügigem Abstand voneinander im Raum, kleine Nischen sorgten für eine gewisse Privatsphäre. An den Wänden hingen Porträtbilder und Gemälde berühmter Schauspieler und Theaterleute. Johnny führte Mascha und Saul in eine der Nischen, und kein Geringerer als Viktor Schwannecke höchstpersönlich erschien, um Mascha zum Geburtstag zu gratulieren und ihr ein Glas Sekt zu kredenzen. Sein Haaransatz war schon etwas zurückgewichen, das Gesicht rundlich, die dunklen Augen wirkten stechend, mit einem humorvollen Funkeln darin. Er war recht beleibt und trug einen eleganten Frack mit weißer Fliege.

»Und Sie werden in Kürze heiraten?«, fragte Herr Schwannecke und reichte ihnen die Speisekarte, die in weinrotes Leder gebunden war.

»Im nächsten Monat«, erwiderte Saul, während er die Karte entgegennahm.

»Wunderbar!« Viktor Schwanneke verneigte sich. »Ich freue mich immer wieder, wenn ich junge Leute treffe, die den Schritt in die Ehe wagen.«

Saul strahlte, und Mascha lächelte verbindlich.

Als sie wieder allein waren, erklärte Mascha aufgeregt: »Herr Schwannecke kommt vom Theater. Er ist eigentlich ein Schauspieler. Ich glaube, manchmal führt er auch Regie. Und bis heute steht er hin und wieder auf der Bühne – zum Beispiel, wenn Kollegen erkrankt sind, dann springt er gern ein.«

»Ich weiß, Liebes.« Saul griff nach ihren Händen. »Gefällt es dir hier?«

»Und wie!«, rief Mascha begeistert.

Saul betrachtete sie liebevoll. »Die Überraschung ist mir also gelungen?«

»Auf jeden Fall.« Mascha beugte sich zu Saul hinüber und flüsterte: »Aber es ist viel zu teuer für uns.«

Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Saul hatte selbst nicht viel Geld, obwohl er neuerdings neben seiner Stelle als Journalist für die Jüdische Rundschau auch Fernunterricht in Hebräisch erteilte. Mit seinen hervorragenden Hebräischkenntnissen verfasste er Lektionen und Aufgaben, die in der Jüdischen Rundschau abgedruckt wurden. Die Kursteilnehmer konnten die Aufgaben, die Saul ihnen in den Artikeln stellte, einsenden und gegen eine Gebühr von ihm korrigieren lassen.

»Wir feiern ein besonderes Ereignis, das wichtigste unseres ganzen Lebens«, sagte er leise. »Ich möchte, dass wir diesen Abend nie vergessen.«

»Oh, Saul, wie könnten wir ihn je vergessen?« Mascha lächelte ihn verliebt an. Ihr war klar, dass er dieses Restaurant ausgesucht hatte, weil hier bekannte Literaten und Kritiker verkehrten. Saul war das nicht wichtig, aber er wusste, wie viel es Mascha bedeutete. Trotzdem wurde ihr ganz mulmig, als sie auf die Speisekarte sah. Das preiswerteste Gericht kostete beinahe ihren ganzen Wochenlohn.

»Erlaube mir, Liebste«, begann Saul, nachdem die Gläser gefüllt waren, »dir ein Geschenk zu überreichen.«

Er holte eine Schatulle hervor und gab sie Mascha.

»Oh, Saul.« Mascha schlug die Hand vor den Mund. »Das Essen hier ist doch schon mehr als genug.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Dann öffnete sie mit zitternden Fingern das in dunkelblauen Samt eingeschlagene Kästchen. Tränen traten ihr in die Augen, als sie den Inhalt sah.

Vorsichtig nahm sie das Fünfzigpfennigstück von dem Samtkissen. »Fünfzig Pfennige.«

»Eine Tasse Kaffee für den Höxter«, sagte Saul lächelnd.

Mascha beugte sich zu ihm. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz müsse in diesem Moment vor Liebe überlaufen. Diese fünfzig Pfennige waren für sie so viel mehr als fünfzig Pfennige. Sie sagten Mascha, dass Saul ihren Wunsch zu schreiben, ihre Sehnsucht, eines Tages zum literarischen Kreis Berlins zu gehören, aus vollem Herzen unterstützte.

Mascha genoss das köstliche und sehr vornehme Essen im Schwannecke. Sie war streng orthodox erzogen worden und die Tochter eines Maschgiach, der sich vor der Flucht aus Galizien um die Befolgung der Speisegesetze in ihrer Gemeinde gekümmert hatte. Und obwohl Mascha längst nicht mehr nach den strengen jüdischen Regeln lebte, schlich sich immer noch ein Rest schlechtes Gewissen ein, wenn sie unreine Speisen aß. Schnell schüttelte sie diesen Gedanken ab.

Aber weil auch der schönste Abend einmal zu Ende gehen musste, winkte Saul wenig später dem Kellner und stand auf. Während er die Rechnung bezahlte, ließ Mascha sich von Herrn Schwannecke in ihren schäbigen Sonntagsmantel helfen.

»Vielen Dank für Ihren Besuch.« Viktor Schwannecke deutete eine Verbeugung an. »Alles Gute für Ihr gemeinsames Eheleben.«

»Oh? Ein Hochzeitspaar?« Eine füllige ältere Dame, mit Perlenketten und Edelsteinen behängt, trat auf sie zu. Ihre volltönende, resolute Stimme faszinierte Mascha sofort. »Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich.«

»Danke«, erwiderte Mascha verlegen und musste sich zwingen, die Dame nicht zu sehr anzustarren. Ihr Herz schlug schneller, als ihr bewusst wurde, wer sie da gerade angesprochen hatte. »Aber wir heiraten erst in einigen Wochen. Heute ist nur mein Geburtstag, Frau Valetti.«

»Na, wenn das nicht ebenso ein Grund zum Feiern ist«, sagte die Schauspielerin lachend. »Besonders, wenn man noch so jung ist wie Sie, Fräulein.«

Mascha wollte etwas antworten, aber noch bevor sie den Mund öffnen konnte, hatte sich Rosa Valetti abgewandt. Mascha sah ihr noch einen Moment nach, dann nahm Saul ihren Arm und führte sie nach draußen.

»Das war Rosa Valetti!«, rief sie, während sie die Rankestraße hinunterliefen. »Ist sie nicht unglaublich? Diese Stimme! Die Ausstrahlung. Unvorstellbar, dass sie uns zur Hochzeit gratulieren wollte.« Sie kicherte. »Schade, dass heute nicht unser Hochzeitstag ist. Das hätte uns bestimmt Glück gebracht.«

»Wir brauchen kein Glück, Mascha. Wir haben doch uns.« Saul schmunzelte.

»Irgendwann wird sie meine Verse rezitieren!« Mascha strahlte Saul von der Seite her an. »Ich danke dir für diesen wunderschönen Geburtstag.«

»Ich wünschte nur, wir könnten ihn fortsetzen«, seufzte Saul. »Noch fünf Wochen, ich weiß nicht, wie ich es so lange aushalten soll.«

Der 31. Juli kam dann doch sehr bald und war ein grauer Dienstag. Die Sonne versteckte sich hinter dichten Wolken. Nachdem Mascha und Saul, beide ganz in Weiß gekleidet, aus dem Standesamt in Berlin Mitte traten, riss die Wolkendecke für einen kurzen Moment auf, und einige Sonnenstrahlen beleuchteten das frischgebackene Ehepaar Kaléko mit ihrem schwachen Licht. Aber so unvermittelt sie erschienen war, so schnell verschwand die goldene Kugel auch wieder hinter ihrem dunklen Vorhang.

Die eigentliche Vermählung nach jüdischem Brauch fand in der Neuen Synagoge statt. Nachdem Saul nach alter Tradition ein Weinglas zertreten hatte, begann die ausgelassene Feier in einem Nebenraum der Synagoge, und sie dauerte bis in den späten Abend. Es waren Verwandte aus dem ganzen Land gekommen, an die Mascha sich größtenteils nicht einmal erinnern konnte. Ein üppiges Büfett war aufgebaut worden, eine Gruppe Musiker spielte zum Tanz auf, Reden wurden gehalten, Geschenke überreicht, und es wurde viel gelacht. Mascha genoss es, ihre jüngste Schwester Rachel, die den Spitznamen Puttel trug und sich den ganzen Tag an Mascha hängte, um sich zu haben.

»Darf ich dann auch mal bei euch schlafen?«, fragte die inzwischen Achtjährige ihre große Schwester, als die eine Tanzpause eingelegt hatte, um ein Stück Kuchen zu essen.

»Auf jeden Fall«, sagte Mascha lächelnd und strich Puttel einen Krümel von der Wange. »Ich vermisse dich doch auch.«

Seit sie vor fast zwei Jahren von zu Hause in das Zimmer bei Frau Schuhmacher gezogen war, hatte sie keine Übernachtungsgäste dorthin mitbringen dürfen, nicht einmal ihre kleine Schwester.

»Warum konntest du nicht einfach bei uns bleiben?«, fragte Puttel jetzt.

»Ach, meine Süße.« Mascha seufzte. »Du weißt doch, dass Mama und ich uns immer streiten müssen, wenn wir zusammen sind. Dabei hat sie so schwache Nerven – es war besser so, glaub mir.«

Dass ihre Mutter ihr seit dem Tag, an dem Mascha ihre Ausbildung bei der Jüdischen Organisation begonnen hatte, damit in den Ohren gelegen hatte, dass sie endlich ausziehen solle, verschwieg sie ihrer Schwester. Mascha hatte ihr Leben lang den Eindruck gehabt, ihre Mutter wisse nichts mit ihrer ältesten Tochter anzufangen, und dass sie sie so schnell wie möglich aus dem Haus haben wollte, lag vermutlich nicht nur an den engen Wohnverhältnissen, wie ihre Mutter immer behauptet hatte. Vielmehr kam es Mascha so vor, als fühlte Rozalia sich in Maschas Gesellschaft nicht wohl, weil sie so vollkommen anders dachte als sie selbst. Für Rozalia Engel war der Haushalt und das Bild, das man nach außen hin abgab, immer am wichtigsten, Mascha hingegen wollte ihre Träume leben, egal was andere davon hielten.

»Vielleicht war es besser für Mama, aber nicht für mich.« Puttel verschränkte ihre Arme trotzig vor der Brust und machte einen Schmollmund.

Mascha unterdrückte ein Lachen, um ihre Schwester nicht zu kränken. »Na ja, jetzt habe ich eine eigene Wohnung, und da darfst du auch bei mir übernachten. Dann machen wir uns abends Kakao und essen Kekse und Süßigkeiten, und von alldem sagen wir Mama nichts.«

»Au ja!«, rief Puttel begeistert und steckte sich ein Stück Kuchen in den Mund.

In diesem Moment kam Saul an den Tisch, an dem die beiden saßen.

»Das ist meine Schwester«, erklärte ihm Puttel und griff demonstrativ nach Maschas Hand. »Und ich darf bei ihr schlafen, hat sie gesagt.«

Saul lächelte sie an. »Natürlich, denn ich weiß ja, dass Mascha dich unendlich liebhat. Das hat sie mir gestern noch verraten.«

»Wirklich?« Die Kleine sah ihn stolz an.

Mascha musste unwillkürlich schmunzeln. Sie hatten gar nicht über Puttel gesprochen, aber Saul erkannte die Sorge des Kindes, er könnte ihr die geliebte Schwester nehmen.

»Ja, ja, sie hat sogar gesagt, dass sie mich nur heiratet, um endlich eine eigene Wohnung zu haben, damit du sie immer besuchen kannst, wenn du willst.« Er ließ sich auf den leeren Stuhl neben Mascha fallen. »Ich bin sehr eifersüchtig auf dich, Puttel.«

Die Kleine nickte zufrieden und warf ihre Arme um Maschas Hals.

Mascha drückte ihre Schwester fest an sich.

Puttel küsste sie auf die Wange. Dann lief sie davon, weil in einer anderen Ecke gerade Süßigkeiten an die Kinder verteilt wurden.

»Mascha, ich wünsche mir so sehr, von hier zu verschwinden«, flüsterte Saul seiner jungen Frau zu.

Mascha stand auf. Sie hatte heute Morgen ihr Möbliertes bei Frau Schuhmacher gekündigt und ihr bescheidenes Hab und Gut, das in zwei Koffer und einen Karton passte, in die neu angemietete Dachwohnung in der Waitzstraße, einer Querstraße des Kurfürstendamms, gebracht.

»Noch diesen Tanz, dann gehen wir.« Sie zog ihn auf die Tanzfläche und ließ sich zur Fiedelmusik in seinen Arm fallen.

Und als sie wenig später in ihrer spärlich möblierten, kargen Wohnung unter dem Dach auf der Matratze lagen, küssten sie sich und hörten nicht mehr damit auf, bis der neue Morgen begann.

Der brachte strömenden Regen und die Fortsetzung der Hochzeitsfeierlichkeiten, denn es hieß, dass eine Hochzeit über zwei Tage gefeiert werden müsse, damit die Ehe glücklich werde. Die Feier des zweiten Tages war jedoch notgedrungen eher klein, weil die Wohnung von Maschas Eltern in der Grenadierstraße im Scheunenviertel nicht viel Platz bot. Maschas jüngere Schwestern Rachel und Lea sowie ihr Bruder Chajim wünschten noch einmal Masel Tov