Die Teufelsbibel - Richard Dübell - E-Book
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Die Teufelsbibel E-Book

Richard Dübell

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Beschreibung

Böhmen 1572. In einem halb zerstörten Kloster wird der achtjährige Andrej Zeuge eines schrecklichen Blutbads. Zehn Menschen, darunter seine Eltern, werden brutal ermordet. Andrej kann fliehen und nimmt eines der am besten gehüteten Geheimnisse der Kirche mit sich: das Wissen um die Existenz des Codex Gigas - der Teufelsbibel. Ein Dokument, das drei Päpste das Leben kosten und die Macht haben soll, das Ende der Welt einzuläuten. Sieben schwarz gekleidete Mönche haben geschworen, das Geheimnis der gefährlichen Handschrift zu behüten. Wer zu viel darüber weiß, muss sterben. Denn der Codex, so heißt es, stammt aus der Feder des Teufels ...

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Kurzbeschreibung:

Böhmen 1572. In einem halb zerstörten Kloster wird der achtjährige Andrej Zeuge eines schrecklichen Blutbads. Zehn Menschen, darunter seine Eltern, werden brutal ermordet. Andrej kann fliehen und nimmt eines der am besten gehüteten Geheimnisse der Kirche mit sich: das Wissen um die Existenz des Codex Gigas - der Teufelsbibel. Ein Dokument, das drei Päpste das Leben kosten und die Macht haben soll, das Ende der Welt einzuläuten. Sieben schwarz gekleidete Mönche haben geschworen, das Geheimnis der gefährlichen Handschrift zu behüten. Wer zu viel darüber weiß, muss sterben. Denn der Codex, so heißt es, stammt aus der Feder des Teufels ...

Über den Autor:

Richard Dübell ist als Autor historischer Romane bekannt. Neben seinen schriftstellerischen Aktivitäten leitet er eine Schreibwerkstatt, die er sowohl in Abendkursen als auch als Wochenendseminare und Urlaubsreisen anbietet, und arbeitet als Cartoonist und Grafiker.Dübells Roman „Der Tuchhändler“ wird derzeit in ein Drehbuch adaptiert, an dem der Autor selbst mitarbeitet. Sein Roman „Der Jahrtausendkaiser“ nimmt die These des Erfundenen Mittelalters auf. In „Die Teufelsbibel“ widmet er sich einem der rätselhaftesten Artefakte der mittelalterlichen Kirchengeschichte, dem Codex Gigas. Die gesamte Teufelsbibel-Trilogie, „Die Teufelsbibel“, „Die Wächter der Teufelsbibel“ und „Die Erbin der Teufelsbibel“ sind in 14 Sprachen weltweit übersetzt worden, es gibt Ideen für eine Umsetzung in ein Brettspiel und eine Verfilmung.

Weitere Titel des Autors bei Edel Elements 

Die Wächter der Teufelsbibel (Teufelsbibel-Trilogie Band 2)Die Erbin der Teufelsbibel (Teufelsbibel-Trilogie Band 3)Der JahrtausendkaiserDer TuchhändlerEine Messe für die Medici

Richard Dübell

Die Teufelsbibel

Historischer Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2007 by Richard Dübell

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Hannover

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-272-7

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

„Der Preis deiner Liebe bist du selbst.“

Augustinus

Dramatis personae

Charaktere

Agnes Wiegant

Die Tochter von Niklas Wiegant sieht ihre Zukunft an der Seite von Cyprian Khlesl und ihre Vergangenheit als dunkle Tragödie

Yolanta Melnika

Sie würde ihre Seele dem Teufel verschreiben, um ihr Kind wiederzubekommen, und stellt fest, dass genau das von ihr verlangt wird

Jarmila Andel

Das Schicksal ihrer Familie ist mit dem von Andrej von Langenfels ebenso unlösbar verknüpft wie ihr Herz

Cyprian Wiegant

Verstoßener Sohn eines Bäckermeisters, Agent eines Bischofs und Agnes Wiegants große Liebe

Andrej von Langenfels

Er kennt eine Geschichte, die dem Kaiser gefällt, nur dass diese Geschichte immer wieder sein Herz bricht

Pater Xavier Espinosa

Der richtige Mann am richtigen Platz. Perfekt.

Bruder Pavel, Bruder Buh

Benediktinermönche mit dem Auftrag, die Welt zu retten

Theresia und Niklas Wiegant

Agnes’ Eltern haben wegen eines Akts der Liebe zu Liebe zueinander vergessen

Sebastian Wilfing senior und junior

Freund und Geschäftspartner Niklas Wiegants (Wilfing senior) und Wunschkandidat aller prospektiven Schwiegermütter (Wilfing junior)

Bruder Tomás

Benediktinermönch mit dem festen Willen, die Welt vor ihren Rettern zu beschützen

Historische Persönlichkeiten

Rudolf II. von Habsburg

Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, Alchimist, Kunstsammler und der falsche Mann am falschen Platz

Melchior Khlesl

Bischof von Wiener Neustadt, danach Bischof von Wien, ab 1616 Kardinal, leidenschaftlicher Patriot und Beschützer der Einheit der katholischen Kirche

Martin Korýtko

Abt des Klosters Braunau von 1575 bis 1602; seine Erlaubnis, in Braunau eine neue protestantische Kirche bauen zu dürfen, löst die Ereignisse aus, die letztlich zum Dreißigjährigen Krieg führen werden

Hernando Nino de Guevara

Dominikanerpater, später Kardinal und Großinquisitor

Kardinal Cervantes de Gaete

Erzbischof von Tarragona

Kardinal Ludwig von Madruzzo

Kurienkardinal, Papstkandidat 1590, 1591und 1592

Papst Urban VII

Eigentlich Giovanni Battista Castagna, Papst vom 15.09.1590 bis zum 27.09.1590, zuvor Großinquisitor; als einzige Handlung aus seiner Amtszeit stammt die Einführung der Bezeichnung „Eminenz“ für Kardinäle

Papst Gregor XIV

Eigentlich Niccolò Sfondrati, Papst vom 05.12.1590 bis zum 15.10.1591; führte ein Verbot auf Wetten bezüglich der Wahl eines Papstes, der Dauer eines Pontifikats und der Kreation neuer Kardinäle ein

Papst Innozenz IX

Eigentlich Giovanni Antonio Facchinetti, Papst vom 29.10.1591 bis zum 30.12.1591; bekannt als sittenstreng und asketisch, reformierte das päpstliche Staatssekretariat

Papst Clemens VIII

Eigentlich Ippolito Aldobrandini, Papst vom 30.01.1592 bis zum 03.03.1605; veranlasste eine Neuausgabe des Index der von der Kirche ausdrücklich verbotenen Bücher, verkündete1600 einen Jubiläumsablass, ließ im gleichen Jahr den als Ketzer verurteilten Giordano Bruno bei lebendigem Leib verbrennen und beschäftigte als erster Papst Kastraten.

Giovanni Scoto (John Scott, Hieronymus Scotus)

Hat Anfang der neunziger Jahre des 16. Jahrhunderts eine kurze, glücklose Karriere in Prag als Alchimist und Ehebrecher

John Dee, Edward Kelley

Englische Alchimisten und Sterndeuter am Hof Kaiser Rudolf

Doktor Bartolomeo Guarinoni

Leibarzt für Kaiser Maximilian II und Kaiser Rudolf II

Die Teufelsbibel

Die größte mittelalterliche Handschrift der Welt, geschrieben in einer einzigen Nacht vom Teufel selbst (sagt man)

Als die Archäologen auf die Skelette stießen, waren sie zuerst überrascht. Ihre Überraschung wandelte sich in Entsetzen, als sie weitergruben. Was sie für die sterblichen Überreste von Mönchen gehalten hatten, waren tatsächlich die Gebeine von Frauen – von Frauen und … Kindern. Irgendwann vor Hunderten von Jahren musste in dem Benediktinerkloster in Südböhmen, an dessen ehemaligem Standort sie gruben, eine Katastrophe geschehen sein. Eine Katastrophe, die die Mönche veranlasst hatte, gegen alle benediktinischen Regeln die Leichen von Frauen und Kindern am Rand ihres Mönchsfriedhofs in einem unbezeichneten Massengrab zu verscharren und das Geheimnis ihres Todes zu bewahren, bis das Schicksal das Kloster selbst von der Erdoberfläche tilgte.

Vielleicht wäre diese Geschichte nur eine von den vielen ungeklärten, unbekannten Tragödien der Historie, wenn sich ihr Rätsel nicht mit einem anderen verbinden würde, das noch weiter in die Vergangenheit zurückreicht. Es ist das Rätsel um ein Buch, das noch heute als eine der geheimnisvollsten Handschriften der Kirchengeschichte gilt: der Codex Gigas. Die Teufelsbibel. Das größte Manuskript der Welt wurde im dreizehnten Jahrhundert geschrieben. Schon um seine Entstehung rankten sich Legenden, Männer der Kirche und Alchimisten gleichermaßen suchten darin die Erleuchtung – oder den Weg in die Finsternis.

Das Kloster, in dem das Massengrab gefunden wurde, ist der Ort, an dem die Teufelsbibel entstand.

Diese Geschichte erzählt, was möglicherweise passiert ist …

Inhalt

1572: Die Saat des Sturms

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

1579: Der Schutzengel

Kapitel 1

1590: Tod eines Pontifex

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

1591: Eintritt in die Unterwelt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1592: Die Stadt aus Gold

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

1592: Das Vermächtnis des Satans

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

1592: Das Grösste unter Dreien

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Nachwort

1572: Die Saat des Sturms

„Wenn der Wind weht, löscht er die Kerze aus und facht das Feuer an.“ ARABISCHES SPRICHWORT

1.

ANDREJ BEOBACHTETE DAS Unwetter, wie es in der erdrückenden Finsternis heranschwamm, ein indigofarbener Schatten über dem welligen, welken braunen Land, der den Himmel einhüllte. Es schickte Böen aus Kälte und den Geruch von Schnee voraus, bis es schließlich über der weiten Schüssel hing, an deren Rand das zerfallende Kloster und das jämmerliche Kaff lagen, als seien Hütten und Kirche den Abhang herunter gerollt und dort liegen geblieben, für niemanden mehr von Interesse als für die Geister von Toten, die vor Jahrhunderten gestorben waren.

Andrej drückte sich hinter der Ruine des Torbaus an die Mauer und versuchte die Gruppe aus Frauen und Kindern im Auge zu behalten, die sich frierend zusammendrängte und die von einem Augenblick zum anderen zu vagen Umrissen wurde im Flirren eines Graupelschauers, der im frühen November bereits den Winter vorwegnahm. Mit seinen sieben Jahren wusste Andrej nicht, wo sie sich befanden, und selbst wenn sein Vater oder seine Mutter es ihm mitgeteilt hätten, hätte ihm der Name des Ortes doch nichts gesagt. Von jeher schleppte sein Vater die kleine Familie kreuz und quer durch das Land, und sämtliche Ortsnamen und geografischen Begriffe waren hoffnungslos durcheinander geraten in Andrejs Hirn. Das einzige Faktum, das sich in seiner Seele eingebrannt hatte, war das Jahr, in dem sie sich befanden, und dies auch nur, weil jeder zweite, den sie trafen und den sein Vater eines Gesprächs für würdig befand, versucht hatte, das Omen dieses Jahres auszurechnen, seit die Neuigkeit von der Bluthochzeit in Frankreich bis hierher in diesen entlegenen Zipfel des Reichs gedrungen war.

„Die Katholiken und die Protestanten schlachten sich gegenseitig ab“, hatte sein Vater halblaut gesagt, so dass nur Andrej und seine Mutter es hören konnten, dabei aber herausfordernd in die Runde gegrinst, die in der Herberge gehockt war und der Erzählung eines Reisenden über die Massaker an den französischen Protestanten schockiert zugehört hatte. „Zeit ist es geworden. Da lassen sie uns wenigstens in Ruhe unserer Wissenschaft nachgehen, die abergläubischen Bastarde.“

„Ist die Achimilie eine Wissenschaft?“, hatte Andrej gefragt.

„Nicht nur eine Wissenschaft, mein Sohn“, hatte sein Vater gesagt. „Alchimie ist die einzig wahre Wissenschaft, die es gibt!“

Die einzig wahre Wissenschaft hatte sie nun hierher geführt, in diese Klosterruine, die nicht einmal eine vollständige Mauer besaß, in der die meisten Gebäude wenig mehr waren als Steinhaufen, aus denen das faulende Gebälk ragte wie Knochen aus einem Kadaver, und deren Kirche nur noch mühsam aufrecht stand. Zwischen den leeren Dachsparren über dem Kirchenschiff ballte der Himmel die Fäuste und sandte seine Graupelschauer herab, dass das Prasseln bis zu Andrejs Versteck drang. Die vierschrötige Gestalt seiner Mutter war völlig verschmolzen mit den anderen Frauen, die vor dem einzigen intakten Gebäude standen. War sie vorhin durch ihre gedrungene Figur deutlich von den schlanken, hoch gewachsenen Frauen zu unterscheiden gewesen, unter die sie sich auf Geheiß des Vaters gemischt hatte, konnte Andrej sie nun nicht mehr ausmachen. Er hatte gesehen, wie sie sich von einer zur anderen bewegt hatte, mit Händen und Füßen redend, weil die Frauen eine andere Sprache als sie sprachen, dem einen oder anderen Kind über den Kopf streichend, und wie sie schließlich bei der jungen Frau mit dem kugelrund vorgewölbten Bauch stehen geblieben war. Deren Schultern hingen herab und sie schien so erschöpft, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Dann war der Schauer gekommen, und es drängelten sich nur noch Schatten zusammen.

Andrej bewegte sich unruhig, plötzlich ängstlich geworden. Unvermittelt überkam ihn das Gefühl einer sich nähernden Katastrophe, als sei etwas ins Rollen geraten, das niemand würde aufhalten können. Vielleicht ahnte er zu diesem Zeitpunkt, dass, was immer heranrollte, sich auch über die kleine Familie Langenfels wälzen und sie auslöschen würde.

Über das Prasseln des Graupelschauers hörte Andrej plötzlich ein dumpfes Röhren. Es kam aus dem Inneren des intakten Klosterbaus. Es war das Brüllen eines angreifenden Stiers, das Fauchen eines Luchses, das Heulen eines Wolfs; aber Andrej wusste im gleichen Moment, dass es von einem Menschen stammte – wenngleich nichts Menschliches darin zu sein schien. Die Kehle des kleinen Jungen in seinem Versteck an der Klostermauer schnürte sich zu. Er wollte seiner Mutter eine Warnung zuschreien, doch er blieb stumm; er wollte aufspringen und in den Bau stürmen, um nach seinem Vater zu sehen, doch seine Beine waren taub. Die durchnässten Schattengestalten weiter vorn erstarrten und lauschten.

Das unmenschliche Gebrüll hörte nie auf, selbst als die ersten Schreie aus der Gruppe der Frauen ertönten. Andrej sah nur undeutlich, was sich abspielte. Wäre er älter gewesen, hätten die Erfahrungen, die jeder Mensch in einer Zeit wie dieser zu machen hatte, die richtigen Bilder geliefert. So war es seine Fantasie, die in Bilder übersetzte, was seine Augen sich weigerten zu sehen; die Realität wurde dadurch um nichts weniger grässlich.

Die Schattengestalten flüchteten in alle Richtungen auseinander. Ein größerer Schatten war zwischen ihnen. Dieser schwang etwas, holte aus und traf eine der schlanken, fliehenden Gestalten, die sich krümmte und zu Boden fiel. Das Flirren, das Prasseln und die Düsternis verzerrten alle Wahrnehmung. Vielleicht war es nur ein Trugbild, dass die gestürzte Gestalt mit erhobenen Armen um Gnade flehte

– pitiè, pitiè, fait rien de mauvais …!

Und womöglich war es nur eine Täuschung, dass der große Schatten noch einmal zuschlug und die flehenden Arme leblos nach unten sanken, und wahrscheinlich war das Geräusch, das über die Kakophonie von Gebrüll, Gekreisch und Geprassel zu Andrej drang, das Geräusch von einer scharfen Klinge, die sich in Fleisch und Knochen gräbt und dann auf dem Boden darunter auftrifft, auch nur Einbildung. Der Schatten riss sein Mordwerkzeug heraus und lief weiter. Die Frauen rannten panisch im Klosterhof durcheinander, stießen zusammen, zerrten ihre Kinder mit sich, ein Aufprall, jemand ging zu Boden und bewegte sich nicht mehr, ein Ausholen, und eine kleine Gestalt flog beiseite und verschwand

– ayez la pitié, épargnez mon enfant …!

Die Frauen fielen eine nach der anderen, niedergehackt in der Flucht, auf den Knien erschlagen, während sie um Gnade flehten, im Versuch davonzukriechen auf den Boden genagelt. Wo Andrejs Mutter in all der Panik war, ließ sich nicht erkennen. Andrej wusste nicht, dass er die Hände an die Ohren gepresst hatte und wie ein Wahnsinniger ihren Namen kreischte, seit er den ersten Mord mit angesehen hatte. Der große Schatten bewegte sich zwischen seinen Opfern wie ein riesiger, dunkler Wolf, verschwamm vor Andrejs Augen und wurde zu einer Gestalt mit Kutte und Sense, die erbarmungslos durch das menschliche Korn zwischen ihren Füßen mähte, verlief wieder zurück zu dem finsteren Schatten, der eine Beute an den Haaren gepackt hatte und niederrang, die Waffe erhob …

Jemand sprang dem Schatten auf den Rücken und drosch auf ihn ein, und er fasste nach hinten und zerrte den Angreifer herunter, warf ihn auf den Boden, hielt ihn mit dem Fuß fest, schlug mit seiner Waffe immer und immer wieder zu. Das Geräusch der Schläge, das Zerschmettern, das Zerbersten, das Röhren, die Schmerzensschreie …Andrejs Hände auf seinen Ohren nützten gar nichts.

Mit einem weiten Schwung fuhr die Waffe nach oben – Andrej glaubte die Spur wie einen rot schimmernden Bogen durch das Geflimmer zu sehen – und zuckte auf die erste Beute herab, die der Schatten niemals losgelassen hatte und deren Schreien und Winden vergeblich waren…

Andrej merkte erst, dass er aus seinem Versteck geklettert war und vor der Mauer im Freien stand, als die Graupel ihn wie tausend Nadelstiche im Gesicht trafen. Er schrie mit seiner grellen Jungenstimme und weinte und ballte die Fäuste, dass das Blut aus den Handflächen trat. Der mörderische Schatten vorne wirbelte herum. Außer ihm stand kein anderer mehr aufrecht auf dem Schlachtfeld. Er riss seine Waffe aus dem Körper des letzten Opfers und rannte ohne zu zögern auf Andrej los. Wenn er sein tierisches Brüllen weiterhin ausstieß, konnte Andrej es wegen seines eigenen Kreischens nicht hören. Andrej stand da, als hätte der Akt des Herauskrabbelns aus seinem Versteck endgültig all seine Kräfte gekostet. Der Schatten stürmte durch den Schauer, und mit jedem Schritt schmolz er zusammen und verwandelte sich von einem amorphen Monster in einen Menschen mit wehender Kutte und von einem Menschen in einen Mönch … die vermeintliche Sense wurde zu einer Axt … die riesige Gestalt zu einer hageren Figur, um deren Körper die von Blut durchnässte und von den Eispartikeln verkrustete Kutte schlotterte. Der Sensenmann wurde zu einem jungen Klosterbruder, der von einigen der Frauen, die er soeben zerstückelt hatte, der Sohn hätte sein können. Andrejs Blicke fielen in das Gesicht des heranstürmenden Mönchs, und mit der Weitsicht des Todgeweihten erkannte er, dass es zwar der Körper eines jungen Benediktiners war, den er ansah, aber dass die Seele, die sich darin befunden hatte, nicht mehr vorhanden war. Was in dem Körper steckte und ihn vorantrieb, war ein Dämon, und der Dämon hieß Wahnsinn.

Der Mönch war fast heran, eine blutbesudelte Figur, aus deren Mund Geifer spritzte und aus deren Augen Tränen liefen; die Axt war hocherhoben. Andrej wusste, dass er im nächsten Moment sterben würde. Seine Blase entleerte sich. Er schloss die Augen und ergab sich.

2.

„Wir machen es wie immer“, hatte Andrejs Vater am Vorabend in der Herberge gesagt. „Ich gehe vor und rede mit den Mönchen. Ich bin sicher, dass ich sie bequatschen kann, mich in die Bibliothek zu führen. Wenn ich den Codex finde, schnappe ich ihn mir; wenn ich an seiner Stelle was anderes finde und wir es zu Geld machen können, schnappe ich es mir auch. Dann renne ich raus und stoße draußen mit deiner Mutter zusammen. Sie wird so tun, als versteckte sie was. Währenddessen … was passiert währenddessen, mein Junge?“

„Sie rennen an meinem Versteck vorbei und werfen mir die Beute zu“, leierte Andrej herunter. „Dann laufen Sie zum Tor hinaus und tun so, als würden Sie hinfallen. Während die Leute Sie und die Frau Mutter durchsuchen und nichts finden, schleiche ich mich mit der Beute zu unserem Quartier.“

„Der Kleine ist ein Naturtalent.“ Andrejs Vater strahlte.

„Du bringst deinem eigenen Kind das Stehlen bei“, sagte Andrejs Mutter. „Stehlen ist eine Sünde und hat nichts mit der Wissenschaft zu tun.“

„Dass man Forscher wie unsereinen zwingt zu stehlen, um an das Wissen zu kommen, das man braucht – das ist eine Sünde!“, erwiderte Andrejs Vater. „Wenn man ein Unrecht mit einem anderen vergilt, hebt es sich auf. Das ist ein wissenschaftliches Faktum!“

„Gegensätze heben sich auf“, sagte Andrejs Mutter. „Wasser löscht Feuer. Eine volle Schüssel füllt einen leeren Magen. Recht besiegt Unrecht.“

„Du verstehst nichts von den Geheimnissen der Wissenschaft“, sagte Andrejs Vater und begann auszurechnen, ob die Sterne seinem Vorhaben günstig gestimmt wären. Andrej, der ihm dabei zusah, hörte ihn leise vor sich hinmurmeln: „Wenn der Codex hier wäre … das wäre was … wenn ich ihn morgen finde … alles Wissen der Welt … alle Weisheit des Teufels …“

„Herr Vater?“

„… die Geheimnisse, die Moses vom Berg Sinai mitbrachte und nicht verriet …“

„Herr Vater?“

„Hm?“

„Was ist ein Codex?“

Andrejs Vater war kein schlechter Mensch. Wenn er einer gewesen wäre, hätte er seine Frau und sein Kind schon vor Jahren ihrem Schicksal überlassen und wäre seinem Traum alleine nachgejagt. Er mochte ein Dieb sein, wenn man ihm nicht freiwillig gab, was er zu benötigen meinte, und er mochte ein Betrüger sein, wenn die Leute leichtgläubig genug waren, sich von ihm betrügen zu lassen – doch was er tat, tat er um eines hehren Zieles willen: der Wissenschaft.

Er schaute auf, musterte seinen Sohn und war wie stets nicht imstande, sich seinen Stolz auf ihn nicht anmerken zu lassen.

„Ein Codex … das sind viele Blätter, die man zusammengebunden hat, so dass man sie umschlagen und hintereinander lesen kann. Etwas, das man mitnehmen kann, ohne dass man eine ganze Truhe voller Schriftrollen mit sich führt.“

„Warum ist dieser Codex so wichtig für uns?“

Der alte Langenfels grinste plötzlich. Er rubbelte seinem Sohn durch die Haare. Dann lehnte er sich zurück und holte Atem.

„Es ist die Geschichte eines Mönchs, der den Glauben verlor. Und der eine schreckliche Sünde auf sich geladen hatte.“

Andrej starrte ihn an.

„Das war vor vierhundert Jahren. Vierhundert Jahre sind eine lange Zeit, mein Sohn, und wer damals lebte, von dem ist heute nur noch Staub übrig – Staub, eine Geschichte und ein Buch. Das mächtigste Buch der Welt.“ Der alte Langenfels beugte sich nach vorn, damit seine Frau ihn nicht hören konnte. „Was verleiht den Menschen die größte Macht?“

Andrej wusste, was seine Mutter geantwortet hätte, wenn sie dem Gespräch gefolgt wäre: der Glaube. Er wusste auch, was sein Vater hören wollte. „Wissen“, flüsterte er.

Andrejs Vater nickte. „Der Mönch war bereit, Buße zu tun. Eine Buße, die ebenso schrecklich war wie seine Schuld.“

„Was hatte er getan?“, flüsterte Andrej mit weit aufgerissenen Augen.

„Die Gemeinschaft, in der dieser Mönch diente, lebte in einem Kloster, das weit und breit berühmt war für seine Bibliothek. Viele der Werke dort waren so alt, dass niemand wusste, woher sie kamen oder wer sie geschrieben hatte; und nur die wenigsten hatten auch nur eine vage Ahnung von ihrem Inhalt. Die Traktate der ersten Päpste, die Briefe der Apostel, die römischen und griechischen Philosophen, die ägyptischen Priester, die Schriftrollen der Israeliten, die in der Bundeslade verwahrt waren … Von all dem gab es Abschriften in dieser Bibliothek. Und der Mönch, von dem wir sprechen, war der einzige Mensch, der sie alle kannte.“

„Er hat sie alle gelesen?“

„Er konnte sie alle auswendig, so intensiv hatte er sie studiert! Aber weißt du, mein Sohn, das Wissen verträgt sich nicht mit jedem Geist. Man muss ein Wissenschaftler sein, um nicht vor den Geheimnissen zu erschrecken, die hinter den Dingen liegen, und manches Wissen sollte nur solchen Leuten zuteil werden, die damit auch umgehen können. Der Mönch jedoch war ein einfacher Mann. Als er alles studiert hatte, was sich in der Bibliothek befand, machte er sich auf die Suche nach neuem Wissen. Es heißt, dass er schließlich ein Buch fand, versteckt in einer Höhle, eingemauert in einer Nische, verborgen vor der Welt … und es wäre besser für ihn gewesen, wenn er es nie gefunden hätte. Besser für ihn – aber sein Verderben und das der anderen machte der Welt das größte Geschenk.“

„Sein Verderben?“

„Um dieses einen Buches willen ermordete er zehn seiner Mitbrüder.“

Das rauchige Licht in der Schankstube schien sich zu verdunkeln, die Schatten traten plötzlich deutlicher hervor. Andrejs Blicke saugten sich an einer Gestalt fest, die eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte wie ein Mönch und allein für sich an einem Tisch saß. Die Schatten schienen sich um sie herum zusammenzuballen. Andrejs Mund wurde trocken. Dann trat eine weitere Gestalt hinzu. Die Kapuze wandte sich um und offenbarte das Gesicht einer jungen Frau, die den Neuankömmling anlächelte und seine Hand nahm, als er sich neben sie setzte.

„Ein Wissenschaftler, mein Sohn“, sagte der alte Langenfels, „betrachtet jede Erkenntnis, die ihm zuteil wird, als ein neues Licht in der Dunkelheit der Ignoranz. Der Mönch jedoch … Nachdem er dieses letzte Buch gelesen hatte, verstand er plötzlich, was in all den anderen gestanden hatte. Er sah das letzte kleine Licht verlöschen, das in der Dunkelheit seiner eigenen Welt brannte, das Licht des Glaubens. Als es aus war, umgab ihn Finsternis.“

„Aber es war doch nur ein Buch …“

„Es war eben nicht ‚nur’ ein Buch! Wer weiß, was in diesem Traktat stand, das jemand vor der Welt versteckt hatte? Vielleicht war es das, was Gott Moses verboten hatte zu schreiben? Vielleicht waren es die Erkenntnisse, die Adam festhielt, als er vom verbotenen Baum gegessen hatte? Unterschätz nie die Macht von Büchern, mein Sohn!“

„Warum hat der Mönch seine Mitbrüder getötet?“

„Ihnen war seine Verwandlung aufgefallen. Sie stellten ihn zur Rede, und als er schwieg, machten sie sich auf den Weg in die Bibliothek, um nachzusehen, weshalb ihn seine Studien dort so verändert hatten. Aber der Mönch wollte nicht, dass jemand das Wissen, das er erworben hatte, mit ihm teilte, und versuchte sie aufzuhalten …“

„Vielleicht wollte er die anderen nur beschützen, damit sie nicht ebenfalls ihren Glauben verloren, Vater?“

„Ja, Söhnchen, wer weiß? Aus guter Absicht entsteht ebensoviel Böses wie aus schlechter. Jedenfalls … es gab einen Kampf, eine Fackel fiel zu Boden, eine Ölschale wurde umgestoßen, was weiß ich … Die Bibliothek fing Feuer. Alles brannte auf einmal lichterloh. Als der Mönch sah, dass er die Bücher nicht retten konnte, floh er, verschloss die Tür hinter sich und überließ seine Mitbrüder den Flammen. Sie kamen elend darin um.“

Andrej schluckte und schüttelte sich.

„Der größte Teil des Klosters konnte gerettet werden, aber die Bibliothek brannte völlig nieder. Der Mönch ging zu seinem Abt und gestand alles. Als Buße bat er sich aus, seine Erkenntnisse niederzuschreiben und so all das Wissen, das er aus der Bibliothek gewonnen hatte und das im Feuer verloren gegangen war, zu erhalten. Als der Vater Abt ihn fragte, worin in dieser Tat die Buße bestand, sagte der Mönch, er wolle dazu eingemauert werden. Während seines langsamen Verschmachtens wollte er das Werk schreiben, und mit seinem letzten Seufzer wollte er das letzte Wort festhalten. Dann mochten sie seine Zelle wieder aufbrechen, seinen Leichnam begraben und das Buch aufbewahren.“

„Das ist aber schlimm“, flüsterte Andrej.

„Ja“, sagte sein Vater. „Das war die grässlichste Buße für eine Sünde wie die seine, die man sich ausdenken konnte. Der Abt willigte ein. Doch schon am Abend des ersten Tages wusste der Mönch, dass er mit seinem Werk nie zu Ende kommen würde, bevor er starb, und er verzweifelte.“

„Hat ihn der Abt wieder herausgelassen?“

„Nein.“

„Oder ihm wenigstens Essen und Trinken gegeben, damit er länger durchhielt?“

„Andrej, der Mann war eingemauert worden. Was er drinnen tat oder was immer er rief, konnte draußen niemand hören. Sie würden die Zelle erst wieder aufbrechen, wenn soviel Zeit vergangen war, dass er mit Sicherheit tot war.“

„Aber was konnte er denn tun, der arme Mönch?“

Andrejs Vater lächelte kaum merklich. „Er betete.“

„Aber …“

„Genau. Wie konnte er beten, wenn er doch den Glauben verloren hatte? Weißt du, um sich die Zuversicht an das Gute zu bewahren, braucht man den Glauben. Um sich klarzumachen, dass es auch das Böse gibt, braucht man ihn nicht – das weiß man, wenn man auch nur ein Zipfelchen der Welt kennt.“

„Heißt das …“

„Ja. Der Mönch betete zum Teufel.“

„Heilige Maria Mutter Gottes, beschütze uns vor allen bösen Geistern“, stieß Andrej hervor und klang dabei wie seine Mutter. Sein Vater verdrehte die Augen.

„Es heißt“, sagte er schließlich, „dass der Teufel zu dem Mönch in die Zelle kam. Aber das Böse kommt ja immer schneller zu einem als das Gute, also halte ich das nicht für unwahrscheinlich. Der Teufel erbot sich, dem Mönch zu helfen und das Werk für ihn zu schreiben. Dafür wollte er noch nicht mal eine Belohnung; die Seele des Mönchs gehörte ihm ohnehin, und dass die meisten, die das Werk lesen würden, ebenfalls vom Glauben an Gott abfallen und sich ihm zuwenden würden, war ihm Lohn genug. Der Mönch offenbarte dem Teufel sein Wissen, und der Fürst der Hölle machte sich an die Arbeit. Als der Mönch am nächsten Morgen aus einem unruhigen Schlaf erwachte, lag das Buch fertig geschrieben auf dem Pult.“

Andrej schwieg.

„Aber …“, sagte sein Vater.

„Aber was?“

„Der Mönch hatte den Teufel hereingelegt.“

Andrej keuchte überrascht.

„Der Mönch wusste, dass der Teufel alles verdrehen würde, was er ihm offenbarte, und dass es dem Teufel nur darum ging, mit der Verbreitung des Wissens Verderben zu säen. Also setzte sich der Mönch hin und versteckte auf drei Seiten in dem Buch den Schlüssel zu all den verdrehten, verderbten Worten, die der Teufel niedergeschrieben hatte; er lieferte die Aufklärung dazu, wie man dieses Testament des Satans verstehen musste. Dann zeichnete er in die Mitte des Buches ein Bild des Teufels, um alle zu warnen, die sich damit abgaben, legte sich hin und starb. Als nach vielen weiteren Tagen die anderen Mönche die Mauer durchbrachen, waren sie entsetzt. Das Buch lag dort wie versprochen, aber der Leichnam ihres Mitbruders war so verbrannt, wie es die anderen gewesen waren, die er zum Tod in den Flammen verdammt hatte.“

Andrej gab einen erschreckten Laut von sich. Die Augen seines Vaters glitzerten im Schein der wenigen Talglichter, die in der Herberge flackerten und ihren Teil zu dem Geruch von verbranntem Essen beitrugen, der unter der Decke hing. Die meisten anderen Herbergsbesucher hatten sich in den Schlafraum zurückgezogen oder schnarchten, über die Tische hingestreckt, in der Schankstube.

„Wer besonders würdig oder besonders weise war, durfte in dem Buch studieren“, flüsterte Andrejs Vater. „Was glaubst du, woher all die Fortschritte kamen, all die neuen Ideen, die immer wieder im Dunkel der Zeit aufblitzten? Was glaubst du, woher das erste alchimistische Wissen kam?“

„Aus dem Buch …?“

„Und woher all die schrecklichen Gedanken kamen, die Kriege, die Intoleranz, die Verfolgungen, die Morde, die schlechten Päpste und die bösen Herrscher? Schließlich wurde es immer schwieriger, Zugang zu dem Buch zu erhalten, und das Wissen darüber ging verloren.“

„Und woher wissen Sie das alles, Herr Vater?“

„Bevor ich deine Mutter kannte und bevor du geboren wurdest, traf ich einen alten Alchimisten.“ Andrejs Vater zögerte einen winzigen Augenblick. „Ich traf ihn im Gefängnis in Wien, wenn du es genau wissen willst, wohin mich die Missgunst schlechter Menschen gebracht hatte. Der Alte war noch schlimmer dran als ich – man hatte ihn zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. In der Nacht vor seiner Hinrichtung erzählte er mir diese Geschichte.“

„Und haben Sie sie ihm geglaubt?“

„Natürlich habe ich sie ihm geglaubt. Wissenschaftler belügen sich nicht, und der Unglückliche stand bereits mit einem Fuß im Grab.“ Andrejs Vater lächelte verzerrt, aber seine Augen funkelten. „Ich habe ihm schwören müssen, es niemals jemandem zu verraten. Ich werde meinen Schwur halten. Aber sobald das Buch mir gehört, wird all das Wissen, werden all die Geheimnisse der Schöpfung mir gehören, mir, einem Wissenschaftler, und ich werde nicht nur ein kleines Licht in der Dunkelheit entzünden, ich werde einen Flächenbrand entfachen, und es wird eine neue Ära beginnen, in der alles Unwissen und aller Aberglaube verbrennen und die Menschen im Licht der Wissenschaft leben! Mein Werk wird das sein, mein Werk!“

„Wissen Sie denn, wo dieser Codex ist, Herr Vater?“

„Er ist immer noch in dem Kloster versteckt, in dem er geschrieben wurde.“

„Und haben Sie herausgefunden, welches Kloster das ist?“

„Erinnerst du dich an das Dorf oben im Norden, das am Rand der Felsenstadt im Wald?“

„Das, wo wir mitten in der Nacht aus der Herberge geflohen sind, ohne die Rechnung zu bezahlen?“

„Nun, mein Junge, ich wollte den guten Wirtsleuten ersparen, mit mir am nächsten Morgen um das Geld streiten zu müssen.“

„Sie haben aber auch den Schinken und den kleinen Mehlsack aus der Vorratskammer mitgenommen.“

„Darüber zu streiten wollte ich ihnen auch ersparen.“

„Mutter sagt, wir haben die Leute betrogen.“

„Willst du nun wissen, wo das Kloster ist, oder nicht?“

„Ist es in der Nähe dieses Dorfes?“

Andrejs Vater schnaubte und schüttelte den Kopf. „Da war doch dieser Dorfpriester …“

„Der grässlich betrunkene Kerl!“

„Ich weiß ja nicht viel über das Leben eines Dorfpriesters, besonders nicht dort oben, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen … Aber ich kann mir vorstellen, dass man da gern zum Wein greift, wenn er einem angeboten wird.“

„Sie haben ihm eine ganze Menge Wein angeboten, Vater.“

„Ja … der Bursche war nicht gerade schüchtern.“

„Über das Geld für den Wein zu streiten haben Sie den Wirtsleuten auch …“

„… aber das alte Weinfass war jeden Schluck wert, den ich in es hineingeschüttet habe.“

„Er hat Ihnen verraten, wo das Kloster ist?“

Das Gesicht des Vaters verzog sich zu einem Grinsen.

„Und wo ist es, Herr Vater?“

Andrejs Vater deutete in die Finsternis der bitterkalten Novembernacht außerhalb der Fensteröffnungen. Seine Augen waren jetzt Spiegel der kleinen Feuer, die in den Transchalen brannten. Er grinste immer breiter. Das Schattenspiel verzerrte sein Gesicht zu dem eines Mannes, den Andrej nicht kannte. „Morgen wirst du dich wie verabredet bei seinem Tor verstecken und darauf warten, dass ich dir die Teufelsbibel zuwerfe.“

3.

PRIOR MARTIN WÄRE der Erste gewesen, der den Klosterhof erreichte, wenn er nicht bei dem toten Mönch vor dem Ausgang angehalten hätte. Während er sich nach dem schwarzen Kuttenbündel auf dem Steinboden bückte, rannten die beiden Novizen, die er aus Braunau mitgebracht hatte, an ihm vorbei und in den Hof hinaus. Martin fasste die zusammengekrümmte Gestalt bei der Schulter und drehte sie herum. Er zuckte zurück. Wo ein Gesicht gewesen war, klaffte eine Wunde, die den halben Schädel auseinandergehauen hatte. Der Prior unterdrückte ein Ächzen und fühlte, wie sich sein Magen hob. Der Kopf des Leichnams rollte herum und kam halb auf Martins Fuß zu liegen, bevor dieser ihn zurückziehen konnte, und für Momente stand er wie festgenagelt. Der mörderische Lärm von draußen war fast verstummt; es hatte eine Weile gedauert, bis sie ihn über das Prasseln des Unwetters und ihre hitzig geführte Diskussion im Kapitelsaal gehört hatten. Weitere Augenblicke waren verstrichen, in denen sie sich alle fassungslos angestarrt hatten, bis Martin sich herumgeworfen hatte und aus dem Saal geeilt war, gefolgt von den Novizen. Stöhnend zog Martin den Fuß unter dem Kopf des Toten hervor, erschauerte, als dieser weiter herumrollte und die Bewegung einen Schwall Blut, Knochensplitter und Zähne auf den Boden schwemmte. Er drückte sich an der Wand entlang um den Toten herum und bemerkte kaum, dass er die Lippen wie im Gebet bewegte. Als er an dem Leichnam vorbei war, raffte er die Kutte und rannte weiter.

Draußen prallte er auf eine Mauer aus schwarzen Mönchskutten. Hände hielten ihn fest; er kämpfte sich durch die Männer hindurch. Es waren fünf; der Tote im Gang war der sechste, und der siebte Kustode …

Der Anblick des großen, dicken Novizen, der von allen Buh genannt wurde und der jetzt auf den Knien lag und sich erbrach, während der magere Novize namens Pavel neben ihm stand, das Gesicht eine Maske des Horrors, verzerrte sich vor Martins Augen, ebenso wie das Schlachtfeld aus zerschlagenen, zerstückelten Körpern, als ihm klar wurde, dass der siebte Kustode derjenige war, der das Blutbad angerichtet hatte. Ihm war zumute, als fiele er in einen Abgrund. Der Graupelschauer peitschte in sein Gesicht. Er wischte sich das Wasser aus den Augen. Der siebte Kustode war fast am anderen Ende des Klosterhofs und riss seine Axt aus einem Körper zu seinen Füßen, hob sie über seinen Kopf und rannte brüllend in Richtung Klosterpforte. Martin war sicher, dass er versuchte ins Freie zu fliehen … und wenn er das Freie erreichte und das Dorf jenseits der Felder, dann würde das Massaker erst beginnen. Er fuhr herum.

Die übrig gebliebenen Kustoden standen eng beisammen. Wo die Kapuzen von den Köpfen geglitten waren, waren die Gesichter über den schwarzen Kutten Spiegelbilder des Schocks, der auch den jungen Pavel bannte. Derjenige der Kustoden, der für die Armbrust verantwortlich war, hatte sie gehoben und zielte, und die Spitze folgte dem dahinstürmenden Verrückten mit seiner Axt. Martin verstand innerhalb eines Herzschlags, dass die Spitze auf den Wahnsinnigen gerichtet war, seit die Kustoden bei seiner Verfolgung im Hof angekommen waren, und dass der Gedanke an die eigene Unberührbarkeit, die den Kustoden eingehämmert worden war, verhindert hatte, dass die Armbrust ausgelöst worden war und dem Schlachten ein Ende gemacht hatte. Martin stöhnte vor Entsetzen. Wie hatte das passieren können, nach all den Jahren, in denen die Kustoden ihren Wert als Wächter der Christenheit bewiesen hatten? Aber er wusste genau, wie es hatte passieren können – noch niemals in all der Zeit hatte jemand den Kustoden den Befehl gegeben, einen Menschen zu töten. Er, Prior Martin, war der Erste. Die Augen des Schützen über der Rinne der Armbrust waren weit aufgerissen. Der Hagel prasselte in sein Gesicht.

„Drück ab!“, schrie Martin.

Die Augen des Schützen zuckten, und seine Blicke klammerten sich an ihn. Ihr Ausdruck traf Martin wie ein Schlag. Er wusste, dass er eine weitere Seele zerstörte, und er wusste, dass er keine Wahl hatte. Der Rasende hatte das Tor fast erreicht und wirbelte die Axt.

„Drück ab!“

Die Armbrust löste mit einem Knall aus. Martins Kopf flog herum. Der Bolzen hatte sein Ziel schon erreicht, bevor er seinen Blick fokussieren konnte. Der Verrückte fiel zu Boden. Für einen Augenblick dachte Martin, ein Kind dort stehen zu sehen, wohin der Wahnsinnige gelaufen war, aber als er blinzelte, war es verschwunden. Es war unmöglich, in dem Flirren etwas Genaueres zu erkennen. Eine kalte Hand strich Martin über den Rücken, als der Gedanke in ihm emporstieg, einen Blick auf die Seele des Getöteten geworfen zu haben, bevor diese sich auf den Weg gemacht hatte. Er erschauerte und bekreuzigte sich. Langsam wandte er sich um.

Die Armbrust war immer noch erhoben. Die Augen des Schützen blinzelten krampfhaft. Als Martin die Hand hob und dann die Waffe langsam nach unten drückte, verstärkte sich das Blinzeln, und die Augen begannen zu schwimmen. Der Graupelschauer ließ so plötzlich nach, wie er begonnen hatte. Die Stille, die ihm folgte, schien aus dem verschmierten Boden des Klosterhofs aufzusteigen. Er spürte die Blicke Pavels und der Kustoden. In den Geruch nach Kälte und nasser Erde mischte sich der von frischem Blut. Martin wusste, dass er etwas tun musste, wenn er nicht zulassen wollte, dass die Einrichtung der Kustoden hier und heute endete, doch er hatte das Gefühl, durch seinen Befehl über einen Abgrund geschritten zu sein, über den zurückzukehren für einen Menschen unmöglich war. Etwas in ihm rief entsetzt: Herr im Himmel, hilf mir, ich habe es doch nur für Dich getan und um die Menschen zu schützen!

„Kustoden!“, schrie er. Die fünf Männer in den schwarzen Mönchskutten zuckten zusammen. „Kustoden! Was ist Eure Aufgabe?“

Sie sahen ihn an. Ihre Münder bewegten sich lautlos.

„Genau!“, schrie Martin, „Und was tut ihr stattdessen?“

Der Mönch mit der Armbrust versuchte etwas zu sagen. Er deutete auf das Schlachtfeld.

„Wozu seid ihr ausgewählt worden?“

Der Mönch mit der Armbrust stammelte etwas.

„Eure Aufgabe ist es, die Christenheit zu schützen. Die hier könnt ihr nicht mehr schützen, sie sind tot! Zwei eurer Brüder sind ebenfalls tot. Eure Gemeinschaft ist zerbrochen, der Schutzwall ist zerstört, das Verderben kann von hier aus in die Welt sickern! Geht zurück an eure Aufgabe! Erinnert euch an euren Schwur!“

Langsam kehrte so etwas wie Leben in die glasigen Augen der Männer zurück. Sie sahen sich an. Sie sahen Martin an.

„Der Herr hüte und beschütze euch“, flüsterte Martin.

Sie wandten sich wortlos ab und schlüpften zurück in den Klosterbau. Einer nach dem anderen verschmolz mit der Dunkelheit im Inneren des Gebäudes, die um so schwärzer wirkte, je mehr sich die Sonne oben am Himmel einem Loch in den dunklen Wolken näherte und das Licht zu gleißen begann. Als Martins Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, in die er blickte, sah er Bruder Tomás jenseits der Türschwelle stehen. Das zerklüftete Gesicht des alten Tomás war unverwandt auf ihn gerichtet. Martin wurde bewusst, dass er vor der Schlachtszene stand, als wäre er dafür verantwortlich. Und in gewisser Weise bin ich das auch, dachte er. All diese Frauen und Kinder sind von einem Wahnsinnigen ermordet worden, doch wenn ich einst vor dem Richter stehe, werden ihre Seelen gegen mich gewogen … Er fühlte eine Angst, die ihm übel werden ließ, und kämpfte darum, sich nichts anmerken zu lassen. Tomás’ Gesicht war wie aus einem altersdunklen Knochen geschnitzt. Er sah, wie der alte Mönch die Lippen bewegte, und ohne sie hören zu können, wusste er, was seine Worte waren: „Ihr Blut kommt über dich, Vater Superior.“

Martin wandte sich ab und stolperte in den Hof hinaus, vorbei an dem ersten Opfer. Er schluckte und versuchte krampfhaft, nicht in das zerstörte Gesicht zu blicken; er richtete seinen Blick auf das dunkle Kuttenbündel beim Tor. Die Wasserlachen glänzten im Sonnenlicht, die Blutlachen waren stumpf wie Stellen geschundener Erde. Die Axt des Kustoden blitzte; der letzte Rest des Schauers hatte das Blut von der Klinge abgewaschen, und sie sah aus, als wäre sie nie benutzt worden. Martin fixierte die Waffe und ertappte sich dabei, wie er betete, alles möge eine Wahnvorstellung gewesen sein, doch er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass seine Hoffnung eitel war. Er dachte an die Erscheinung, die er gesehen zu haben meinte, das Kind, das plötzlich an der Stelle stand, an der der verrückt gewordene Kustode zusammengebrochen war. Die Augen des Mannes waren offen; sie schienen dorthin zu starren, wo Martin das Kind gesehen zu haben glaubte. Es schauerte ihn erneut. Er wollte sich bücken, um dem Toten die Augen zu schließen, aber die Kraft dazu fehlte ihm. Ein Kloß saß in seiner Kehle und würgte ihn.

„Christus erbarme Dich seiner“, flüsterte er.

„Der Herr erbarme sich unser aller“, sagte eine leise Stimme an seiner Seite. Bruder Tomás starrte gleich ihm auf den Toten hinunter.

„Wir tun des Teufels Werk“, sagte der alte Mann.

„Nein, wir behüten die Welt davor.“

„Nennst du das behüten, Vater Superior? Warum haben wir nicht diese unseligen Frauen behütet?“

„Manchmal wiegt das Wohl aller mehr als das Wohl einiger weniger“, sagte Prior Martin und glaubte selbst nicht daran.

„Der Herr sagte zu Lot: Gehe hin und bring mir zehn Unschuldige, und ich will um ihretwillen alle Sünder verschonen.“

Martin schwieg. Er musterte das entstellte Gesicht des Toten auf dem Boden, die Spitze des Bolzens, der aus seinem weit aufgerissenen Mund ragte. Die Tränen in seinen Augen brannten.

Tomás kniete plötzlich nieder und drückte dem Toten die Lider zu. Er fuhr in den Halsausschnitt seiner Kutte und zog eine glitzernde Kette hervor. Das Ende baumelte lose in Tomás’ Fingern.

„Das Siegel“, sagte Prior Martin. „Er hat es verloren. Vielleicht war das der Grund, warum er …“

Tomás sah aus seiner knienden Stellung zu Martin hoch.

„Es gibt nichts, was dies hier rechtfertigen könnte“, sagte er. „Weder seinen Tod, noch den des Bruders, der ihn aufzuhalten versuchte, noch den der Frauen und Kinder.“ Er gestikulierte zum Klostergebäude. „Und auch nicht den des Mannes dort unten in den Gewölben.“

„Er wollte den Codex stehlen“, sagte Martin.

„Er hätte ihn niemals von hier fortbringen können.“

„Was ich befohlen habe, diente dem Schutz des Codex und dem Schutz der Welt vor ihm.“

Tomás schüttelte den Kopf. „Vater Superior, ich werde für dich beten.“

Das Schluchzen entkam Martin, noch bevor er es unterdrücken konnte. Er war sich plötzlich sicher, verdammt zu sein und seine unsterbliche Seele der Hölle ausgeliefert zu haben. Wieder wallte der Gedanke in ihm auf: Ich habe es in Deinem Dienst getan, o Herr!, und er war noch weniger tröstlich als zuvor. Tomás’ Gesicht war gleichzeitig steinern und mitleidig. Martin wusste, dass er nun ein für alle mal außerhalb der Gemeinschaft stand. Er mochte ihr Oberer sein, und sie mochten ihm den Gehorsam leisten, den die Ordensregel ihnen vorschrieb, aber er würde nie mehr zu ihnen gehören. Es hat mich berührt, dachte er voller Selbstekel. Es liegt so tief in all den Truhen, die es verstecken, und hinter all den Ketten, die es fesseln, und doch hat es mich berührt. Er fragte sich, ob einer seiner Vorgänger jemals einen ähnlichen Gedanken gehabt hatte, und erinnerte sich an die Chroniken, die sie hinterlassen hatten. Keine Spur von Selbstzweifel … und kein einziger Hinweis, dass jemals einer von ihnen gezwungen gewesen wäre, die Kustoden so einzusetzen, wie es ihr Schwur vorsah. Sie waren gemeinsam alt geworden in ihrem Dienst, die Klosteroberen und die Kustoden, beschirmt von der immer kleiner werdenden Gemeinschaft der anderen Mönche um sie herum und verborgen in dem zerfallenden Kloster hier am Rand der christlichen Zivilisation. Er war sogar von seinen Vorgängern getrennt; ein Mann ganz allein, der zugleich wusste, dass er nicht anders hatte handeln können und sich nichts sehnlicher wünschte, als anders gehandelt zu haben. Er starrte mit aufgerissenen Augen auf Bruder Tomás nieder und wusste nicht, dass die Tränen über seine Wangen liefen.

„Gott erbarme sich deiner“, flüsterte Bruder Tomás.

Plötzlich drangen das Gestammel Buhs, das wie üblich niemand verstand außer Pavel, und Pavels helle Stimme, die noch schriller war als sonst, an Martins Ohren. Pavels Stimme haspelte: „Da ist noch jemand am Leben.“

Im nächsten Moment hörte er das Greinen des Neugeborenen.

4.

DER GOTTESDIENST ZUR Komplet stand unter dem Eindruck des Geschehens vom Tag. Nicht alle Anwesenden zitterten allein wegen der Kälte der Novembernacht, die von den bloßen Dachsparren auf die kleine Kongregation herunter sank. Prior Martin hatte zum Beginn des Stundengebets die Versikel „O Gott, komm mir zu Hilfe!“ ausgewählt; es schien mehr Bedeutung zu haben als sonst – und es war weniger Hoffnung zu spüren, dass Gott auf den Hilferuf antworten würde. Die Worte der Psalmen, die darauf folgten, wogen ebenfalls schwerer als sonst: Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott, der du mich tröstest in Angst! und: Lobet den Herrn, alle Knechte, die ihr steht des Nachts im Hause des Herrn! und: Meine Zuversicht und meine Burg sind mein Gott, auf den ich vertraue! Ein oder zwei Brüder weinten offen, und das Gesicht des Priors war das eines Mannes, der kein Entrinnen vor dem Höllenfeuer sehen kann. Pavel gab es bald auf, unter die Kapuzen der Mönche um ihn herum zu spähen; was er sah, ließ seine Eingeweide vor Angst zu Wasser werden. Prior Martin stimmte selbst den Lobgesang an; doch seine Stimme klang falsch, und er brach nach nur einer Strophe ab. Dann schlug er die Bibel auf, starrte auf die Seiten, klappte sie wieder zu und räusperte sich.

„Tun wir, wie der Prophet uns befiehlt“, sagte er. „Custodiam vias meas, ut non delinquam in lingua mea. Ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. Ich stelle eine Wache vor meinen Mund, ich verstumme, ich demütige mich und schweige sogar vom Guten.“

„Amen“, sagten die Brüder. Pavels Gedanken holten unwillkürlich nach, was er in der Zeit vor dem Beginn seines Noviziats so oft gehört hatte: Regula Sancti Benedicti, Caput VI: De tacitunitate. Von der Schweigsamkeit.

„Was zeigt uns der Prophet? Man soll der Schweigsamkeit zuliebe bisweilen sogar auf gute Gespräche verzichten. Umso mehr müssen wir von bösen Worten lassen. Mag es sich also um gute und aufbauende oder um schlechte und unheilbringende Worte handeln: dem vollkommenen Jünger ist nur selten das Reden erlaubt wegen der Bedeutung der Schweigsamkeit. Steht es doch geschrieben: Beim vielen Reden wirst du der Sünde nicht entgehen!, und: Tod und Leben stehen in der Macht der Zunge!“

Der Prior schien jeden einzelnen von ihnen zu mustern. In der langen Stille hörte Pavel das Räuspern und Atmen der kleinen Gemeinschaft. Er fühlte den Blick des Priors auf sich und versuchte genug Mut zu sammeln, ihm zuzulächeln und ihm damit zu bedeuten, dass – ganz gleich was auch geschehen war oder noch geschehen würde – Prior Martin im Herzen des Novizen Pavel immer den Platz des weisesten, frömmsten und besten Menschen auf der Erde einnehmen würde. Als er endlich wagte, den Kopf zu heben, war der Blick des Priors längst weitergewandert.

Der Prior holte Atem, doch statt das Nunc dimittis zu singen, sagte er: „Nun lass, Herr, Deinen Knecht in Frieden scheiden. Meine Augen haben heute das Werk des Bösen betrachten müssen, aber ich weiß um das Heil, das Du vor allen Völkern bereitet hast.“

Die Gemeinschaft rappelte sich von den Knien auf und machte sich still auf den Weg aus der Kirche. Pavel schlurfte mit Buh an seiner Seite hinterher. Die Botschaft Prior Martins war klar bei ihm angekommen: dass über die Tragödie des heutigen Tages Stillschweigen zu bewahren war. Indem er das Vorkommnis nicht erwähnte, sondern nur die Ordensregel rezitierte, schien er bereits den ersten Schleier des Vergessens davor gezogen zu haben. Das Massengrab, das den ganzen Nachmittag lang in einer Ecke des Mönchsfriedhof geschaufelt worden war, würde eine weitere Stufe des Vergessens einleiten. Er fragte sich, ob die getöteten schwarzen Mönche ebenfalls dazugelegt würden, und mit einer Art Schock wurde ihm klar, dass Prior Martin befohlen haben könnte, auch das lebende Neugeborene dort mit seiner toten Mutter zu begraben. Er blickte auf und sah plötzlich das grimmige Gesicht Bruder Tomás’ vor sich.

„Der Vater Superior wünscht dich zu sprechen“, sagte er. „Dich und deinen Freund.“

Die Furcht schoss in Pavel hoch und machte seinen Mund trocken. Nicht einmal in all den Monaten war Prior Martin unwirsch gewesen; nicht ein einziges Mal, seit er das tagelange Warten zweier junger Burschen namens Pavel und Petr (dessen wahrer Name über seinen Spitznamen Buh selbst bei Pavel in Vergessenheit zu geraten pflegte) vor dem Braunauer Klostertor damit belohnt hatte, dass er sie als Postulanten in die Klostergemeinschaft aufgenommen und ihnen zuletzt die Kutte der Novizen ausgehändigt hatte. Obwohl Buh meistens so arg stotterte, dass seine eigene Mutter ihn nicht verstanden hätte, und obwohl Pavel das Verständnis der Benediktinischen Regeln solche Mühe bereitete, dass er sie sich ständig vorsagen musste, um sie nicht durcheinander zu bringen… Doch in der heutigen Situation jagte der Gedanke, dass Prior Martin ihn und Buh zu sprechen wünschte, Pavel Angst ein. Vielleicht würde der Vater Superior ihnen eröffnen, dass angesichts der Umstände kein Platz mehr für sie im Kloster war? Pavel ahnte, dass Buh es nicht ertragen würde, auch diese letzte Heimat zu verlieren; von sich selbst wusste er es. Er nahm sich vor, zur Not auf den Knien zu flehen, wenn es zu dieser schrecklichen Entwicklung kommen würde; und war sich gleichzeitig mit sich selbst uneins, ob dies nicht ein Zeichen von Ungehorsam wäre und Prior Martin noch mehr in Verlegenheit brächte. Und war es nicht ein Zeichen sündiger Selbstsucht, diese Gedanken überhaupt zu denken, nach allem, was heute im Klosterhof geschehen war? Er nahm Buh, der wie stets an seiner Seite stand wie ein Bulle neben seinem Hüterbuben, an der Hand und trat beiseite.

Schließlich hatten sie die Kirche für sich: Prior Martin, Bruder Tomás, Pavel und Buh. Buh hielt sich hinter dem Rücken seines Freundes in dem vollkommen hoffnungslosen Versuch, sich dort zu verstecken; er war zwei Köpfe größer und fast doppelt so breit wie der magere kleine Pavel.

„Du hättest nie diese protestantischen Weiber in unsere Klause lassen dürfen, Vater Superior“, sagte Bruder Tomás.

„Ich hätte mich nie darauf verlassen dürfen, dass die Aufgabe der Kustoden einen Mann nicht irgendwann einmal zerbrechen würde“, erwiderte der Prior.

„Diese Aufgabe ist Gott ein Gräuel.“

Der Prior starrte Bruder Tomás in die Augen. Nach einem Moment des stummen Zweikampfs senkte der alte Mann den Blick.

„Die Aufgabe, die Welt vor dem Wort Luzifers zu schützen?“, sagte Prior Martin. „Gibt es ein wichtigeres Werk, das ein gläubiger Christ und Bruder in benedicto verrichten kann? Die Morde mögen auf mich kommen, aber die Seelen der beiden toten Kustoden werden von Gott dem Herrn erkannt werden, ganz gleich, was einer von ihnen heute an Grauenvollem getan hat. Der Verderber hat seine Schritte gelenkt, nicht er selbst.“

„Wir sollten es verbrennen“, murmelte Bruder Tomás. „Du weißt, was ich von diesem … Ding halte. In aller Demut, Vater Superior: Was den Glauben bedroht, muss im Feuer geläutert werden.“

„Wenn es sein Geschick gewesen wäre, verbrannt zu werden, dann hätten es unsere Vorgänger schon vor vierhundert Jahren dem Feuer übergeben. Gottes Wege sind wunderbar; indem er zugelassen hat, dass das Wort des Teufels in die Welt kommt, will er uns zeigen, dass es die Aufgabe der Menschen ist, Luzifers Werk zu stören. Wir haben die Wahl zwischen dem Guten und Bösen; da sieht Gott es auch als unsere Arbeit an, uns selbst vor dem Bösen zu schützen.“

Bruder Tomás schwieg. Pavel versuchte nicht zu atmen und nicht zu denken, doch sein Hirn drehte sich im Kreis. Er verstand nur eines, aber das hatte er schon gewusst, kaum dass ihm das besondere Geheimnis dieser sterbenden Klostergemeinschaft klar geworden war: es gab keine wichtigere Aufgabe für einen Benediktiner als die, die die schwarzen Mönche in den Gewölben unterhalb des Klosterbaus verrichteten.

„Werden die Brüder schweigen?“, fragte der Prior.

„Die Brüder werden gehorchen, Vater Superior.“ Bruder Tomás’ Stimme hörte sich feindselig an.

„Und falls etwas davon nach draußen in das Dorf gelangt?“

„Schweigen überall“, sagte der Torhüter.

„Regula Sancti Benedicti, Caput VI“, sagte Prior Martin.

“Das hat der heilige Benedikt nicht damit gemeint!”

“Regula Sancti Benedicti, Caput V: De oboedientia”, sagte Prior Martin und lächelte freudlos.

Das Gesicht von Bruder Tomás fror ein. „Gehorsamkeit“, flüsterte er. „Ich kenne die Regel, Vater Superior.“

Der Prior wandte sich abrupt ab. Pavel sah ihn erschrocken an, als er einen Schritt auf ihn zu trat.

„Du hast dich heute gut gehalten, mein junger Bruder“, sagte Martin und lächelte. Pavel sah den Schweiß auf der Stirn des Mannes und blinzelte, als sein goldenes Kruzifix Reflexe warf, aber hauptsächlich sah er das Lächeln. Er spürte, wie er vorsichtig zurücklächelte. „Du hast Ruhe bewahrt, und du warst der Einzige, der bemerkte, dass die Frau noch atmete …“

„Wenn du es sagst, Vater Superior“, stammelte Pavel. Dann: „Buh hat sie zuerst gesehen; ich wollte ihn auf die Beine ziehen und ihm seine Würde zurückgeben, doch er deutete immer in ihre Richtung und sagte: 'Dort, dort drüben, dort drüben, sie lebt, sie lebt …'“

„Wer ist Buh?“, fragte der Prior.

Pavel deutete verlegen hinter sich.

„Bruder Petr“, sagte der Prior. „Stimmt das, Bruder Petr? Du hast dein Herz Bruder Pavel anvertraut?“

„U-u-u-und …“, stammelte Buh und zeigte auf den Prior. „U-u-u-u-unnnd …!“

„Und mir?“ Der Prior lächelte. „Vertraue zuerst auf Jesus Christus, Bruder Petr; dann auf den heiligen Benedikt; und dann auf die Brüder um dich herum. Das ist die richtige Reihenfolge.“

„Gnnn …“, machte Buh. Er nickte heftig. „Gnnnn …!“

„Vater Superior“, sagte der Torhüter, „bei allem Respekt, die beiden sind Novizen.“

„Der Schritt vom Novizen zum Bruder ist ein Schritt des Glaubens und des Verstehens“, sagte der Abt. „Ich zweifle nicht daran, dass die beiden den rechten Glauben haben. Ich habe heute gesehen, dass sie auch den nötigen Verstand besitzen.“

„Der da“, sagte Bruder Tomás und zeigte auf Buh, „hat noch nicht erkennen lassen, dass er auch nur den geringsten Verstand besitzt.“

„Er hat Verstand genug, sich auf seinen Freund zu verlassen, und der hat Grips für zwei. Nicht wahr, Bruder Pavel?“

Pavel hatte Verstand genug, den Kopf zu schütteln und zu murmeln: „Ich bin nur ein unbedeutender Diener des Herrn.“

„Das kannst du nicht machen, Vater Superior“, sagte Bruder Tomás.

„Morgen ist die Profess“, sagte Prior Martin. „Ich habe es so beschlossen. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Hört zu, Bruder Pavel, Bruder Buh: Ich biete euch an, morgen die Profess abzulegen. Anders als sonst üblich beim Übertritt aus dem Noviziat wird es keine zeitliche Profess sein. Wenn ihr morgen den Eid ablegt, wird es für immer sein. Ihr habt die Nacht über Zeit, es euch zu überlegen.“

„Aber … warum …?“, stammelte Pavel.

„Weil ihr, wenn ihr euch so entscheidet, gleich danach die Aufgabe übertragen bekommt, die Welt vor dem Wort des Teufels zu schützen. Es müssen sieben Kustoden sein, die das Geheimnis unserer Gemeinschaft bewachen. Nach heute sind es nur noch fünf – gerade genug, um das Böse in Bann zu halten, aber nicht genug, um die Macht des Buches auf lange Sicht zu binden. Hast du verstanden, was ich gesagt habe, Bruder Pavel?“

Die wichtigste Aufgabe, die ein Benediktiner in dieser Welt erfüllen konnte. Die wichtigste Aufgabe … die wichtigste Aufgabe … In Pavels Kopf drehten sich die Gedanken, ohne Fuß fassen zu können. Er hörte, wie jemand: „Ja, ich habe verstanden!“, sagte, und stellte fest, dass er es selbst gewesen war.

„V-v-v-v-v…“, echote eine tiefe Stimme hinter ihm.

Der Prior lächelte. Er wandte sich um.

„Schön“, sagte er. „Es soll geschehen, wie ich gesagt habe.“

„Ich gehorche“, sagte Bruder Tomás zwischen den Zähnen.

„Und … Bruder Tomás? Was ist eigentlich aus dem Kind geworden?“

Der Torhüter kniff die Augen zusammen. „Eine Frau aus dem Dorf hat sich seiner angenommen. Sie hat ihr eigenes Kind vor ein paar Wochen verloren, aber da ihr die Milch schon eingeschossen war, stillt sie es.“ Bruder Tomás zögerte einen winzigen Moment. „Das Kind hat keinen Vater und das Weib keinen Mann.“

„Du hast klug gewählt, Bruder Tomás. Ich möchte, dass du Folgendes tust: Such die Frau auf und nimm ihr das Kind weg. Bestimme einen Knecht aus dem Dorf; dieser soll es in den Wald legen und seinem Schicksal überlassen. Solange es lebt, wird jemand Fragen stellen; solange jemand Fragen stellt, ist unser Geheimnis nicht sicher. Ich werde dir Geld geben, für die Frau und den Knecht. Der Betrag wird reichlich sein; er soll sie in der Welt ausstatten und daran hindern zu plaudern. Das alles ist bis zur nächsten Prim erledigt. Hast auch du mich verstanden?“

Das Gesicht des Priors war regungslos, doch Pavel hätte schwören können, dass es in den letzten Augenblicken um Jahre gealtert war. Die Augen des alten Mönchs funkelten vor Hass.

„Ich gehorche“, sagte Bruder Tomás schließlich. Er stapfte hinaus.

Der Prior drehte sich zu Pavel und Buh um. „Geht und sucht Rat in euch selbst und im Zwiegespräch mit Gott“, sagte er. „Morgen zur Prim will ich eure Entscheidung hören.“

Pavel und Buh schlurften durch die Kirche und öffneten das Portal, das Bruder Tomás geräuschvoll hatte zufallen lassen. Pavel drehte sich noch einmal um. Prior Martin kniete vor dem Altar, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Seine Schultern zuckten. Pavel schloss das Portal ohne einen Laut und schlich an der Seite von Buh in die Nacht hinaus.

1579: Der Schutzengel

„Du hast mein Leben dem Tod entrissen, meine Tränen getrocknet, meinen Fuß bewahrt vor dem Gleiten.“ Psalm 116.8

1.

AGNES WIEGANT SAH sich vorsichtig um. Niemand in der Nähe – gut. Oder auch schlecht, ganz wie man es betrachtete. Gut war es, weil es niemanden gab, der ein wissenschaftliches Experiment schon im Ansatz vereiteln konnte, indem er seine Ausführung verbot. Schlecht war es, weil auf diese Weise auch niemand zu Hilfe eilen konnte, falls einem das Experiment über den Kopf wuchs. Agnes starrte die Abflussröhre nachdenklich an. Das Leben war zuweilen kompliziert für ein sechsjähriges Mädchen.

Der Winter hatte sich letztes Jahr schon Anfang November in Wien breit gemacht. Jetzt war Lichtmeß durch, und die Kälte schien immer noch zuzunehmen. Für Agnes, der jeder Tag, der im Inneren eines Hauses zu verbringen war, wie ein Tag im Kerker dünkte, hatte der Winter eindeutig keine Berechtigung, sie weiter zu tyrannisieren. Da der Winter nicht genügend Einsehen besaß, das von selbst zu merken, hatte Agnes beschlossen, ihn mit Verachtung zu strafen und so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Sie war in ihren kurzen, dünnen Mantel geschlüpft und hinaus auf die Kärntner Straße geschlichen. Begünstigt wurde ihre Flucht durch den Umstand, dass die Dienstboten wegen Lichtmeß Urlaub hatten und die Aushilfen, die Agnes’ Mutter für diese Zeit beschäftigte, ihre Arbeit sogar noch schlechter besorgten als das fest angestellte Gesinde – welches, ging man nach Agnes’ Mutter Theresia, ohnehin schon das Letzte vom Letzten war und bei einem weniger gutmütigen Herrn als Niklas Wiegant bereits vor Jahren auf die Straße geschickt worden wäre. Dementsprechend hatte Theresia Wiegant ihren Feldherrnhügel in der Küche aufgebaut, regierte dort auf schreckliche Weise und ging so in ihrer Tätigkeit auf, dass sie die Existenz ihrer Tochter vollkommen vergessen hatte.

Am Kindermädchen, das vor der Stube im seligen Glauben, drinnen befinde sich eine friedlich schlafende Agnes, auf einer Truhe sitzend eingeschlummert war, vorbeizuschleichen war ein Klacks gewesen. Draußen hatte Agnes das Abflussrohr erblickt, und ein Experiment hatte sich ihr förmlich aufgedrängt, das der einzige Grund war, warum es dem Winter erlaubt sein sollte, noch ein paar Augenblicke zu verweilen. Süß oder sauer?