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Künstlerin, Geliebte, Hexe Mainz 1631: Seit dreizehn Jahren wütet der große Krieg, Hexenfurcht geht um in deutschen Landen, und in Mainz wird der Malerstochter Henrietta Güntelein bei Todesstrafe verboten, den Pinsel zu führen. Doch ihr Vater ist schwerkrank, und sein Meisterwerk wartet auf die Vollendung. Da besetzen die Schweden die Stadt. Mit ihnen kommt ein Maler, der fasziniert ist von der begabten und ehrgeizigen jungen Frau. Er ahnt nicht, wie weit sie gehen wird, um ihren Lebenstraum zu verwirklichen …
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Seitenzahl: 421
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Kurzbeschreibung
Künstlerin, Geliebte, Hexe
Mainz 1631: Seit dreizehn Jahren wütet der große Krieg, Hexenfurcht geht um in deutschen Landen, und in Mainz wird der Malerstochter Henrietta Güntelein bei Todesstrafe verboten, den Pinsel zu führen. Doch ihr Vater ist schwerkrank, und sein Meisterwerk wartet auf die Vollendung.
Da besetzen die Schweden die Stadt. Mit ihnen kommt ein Maler, der fasziniert ist von der begabten und ehrgeizigen jungen Frau. Er ahnt nicht, wie weit sie gehen wird, um ihren Lebenstraum zu verwirklichen …
Sabine Wassermann
Teufelsmalerin
Roman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2018 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2007 by Sabine Wassermann
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München.
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-166-9
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Die Frau malte.
Gewöhnlich taten das nur Männer.
Er kannte die Symptome unterschiedlichster Krankheiten und wusste, wann jemand an einer Geschlechtskrankheit litt und nicht an der Pest, so wie der Mann, der rasselnd hinter ihm auf dem Strohbett schnarchte. Von Malerei und ähnlichen Dingen verstand er nichts. Aber er wusste, wann eine Frau etwas Unangemessenes tat.
Diese Frau tat zweifellos etwas höchst Unangemessenes. War schon nicht der Pinsel, den sie hielt, mit seinem schlanken Stiel und der geschmeidigen Haarspitze derart beschaffen, dass ein weibliches Wesen die Finger davon lassen sollte? Er reckte den Hals, um besser durch den Türspalt schauen zu können. Die Frau, die er als die Tochter seines Patienten erkannte, saß auf einem Schemel, den Rücken ihm zugewandt, das Kleid üppig um den Hintern gebauscht. Er neigte sich noch ein Stück vor. Den Pinsel hielt sie in der rechten Hand. Wenigstens in der guten, dachte er und bekreuzigte sich. Rechts von ihr war ein Tischchen, auf dem allerlei Näpfe und Tiegel standen. Er vernahm einen scharfen, nicht unangenehmen Geruch nach Terpentin, der ihm wohl vertraut war, da er es selbst benutzte, um Salben zu rühren. Sie streckte die Hand aus und ließ die Pinselspitze scheinbar wahllos über ein Holzbrett gleiten, auf dem Farbkleckse wie bunte Kügelchen klebten. Ihr bloßer Unterarm war mit Farbspritzern besudelt.
Sie isst nicht genug, dachte er, ihre Gliedmaßen sind zu mager – wie bei den Frauen, die sich zerlumpt und bettelnd jedem Spanier und jedem Mönch anboten. Doch die Linie ihres Oberkörpers war ansehnlich, das haselnussfarbene Haar glänzend. Sie hatte es am Hinterkopf hochgesteckt; einige Strähnen hatten sich aus dem Knoten gelöst und streichelten ihren Nacken.
Was malte die Frau? Wenn er mehr als ihren Rücken und den kleinen Ausschnitt des Tisches sehen wollte, musste er sich ein Stück nach vorne wagen. Vorsichtig trat er durch die Tür. Der Dielenboden knarrte leicht, doch die Frau schien es nicht wahrzunehmen. Sie war in ihre Arbeit versunken.
Nun konnte er sie im Profil betrachten. Ihre Wangen waren leicht gerötet und mit winzigen Farbklecksen versehen. Vor ihr stand die Staffelei mit dem Gemälde. Die Leinwand war zum großen Teil noch weiß, und von dem, was bereits gemalt war, erkannte er nur wenig, denn das Licht der mit drei Kerzen bestückten Lampe, die auf einem Ständer links neben der Frau stand, spiegelte sich in den Farbflächen. Er glaubte, ein Gesicht auszumachen, darunter eine Hand, aber er war sich nicht sicher. Dafür sah er jetzt umso deutlicher, was sich auf dem Tisch befand: Töpfchen, ein Humpen, aus dem Pinsel ragten, Lumpen. Und noch etwas.
Was war das? Eine Figur? Narrte ihn das Flackern der Kerzen, oder bewegte sich das Ding? Es wirkte, als spanne es die Muskeln an. Vielleicht eine Katze? Würde ein Tier, welches auch immer, so lange stillhalten?
Nein, dieses Wesen war etwas anderes. Es besaß kein Fell, seine Haut war glatt und grau. Er erkannte eine Fratze, die nur entfernt einer Hundeschnauze glich, Hörner und große, nach hinten stehende Ohren. Es hatte Krallen.
Und dann begriff er.
Es war einer jener Dämonen, die nachts den Frauen die Botschaft des Teufels einflüsterten. Womöglich der Teufel selbst.
Ja, so musste es sein.
Er presste die Hand vor den Mund, um ein Keuchen zu unterdrücken. Er war entsetzt. Vielleicht irrte er sich. Diese Frau war doch unbescholten und von rechter Herkunft, wenngleich noch nicht verheiratet. Wenn er sich nicht täuschte, war sie dreiundzwanzig Jahre alt, für eine Jungfer nicht mehr ganz jung, aber doch alt genug, um für die Einflüsterungen des Widersachers ein offenes Ohr zu haben. Und dieses Wesen – es existierte, es war kein Trugbild! Folgte der Blick aus den trüben, kreisrunden Augen nicht der Bewegung ihrer Hand, wenn sie den Pinsel in den Humpen tauchte und über die Leinwand gleiten ließ? Ja, das Tier starrte sie begierig an, als wolle es jeden Moment aufspringen, die Zähne in das Fleisch ihres Armes pressen und sich an ihrem Blut laben.
Er schloss die Augen, atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Er musste sofort das Haus verlassen, sie durfte nicht merken, dass er sie im Zimmer gesehen hatte. Zwar würde sie es seltsam finden, dass er sich nicht verabschiedet hatte, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen.
Sein Patient, ihr Vater, hatte sich auf die Seite gedreht und atmete in sein Kissen. Die Luft schien plötzlich noch stickiger. Er versuchte, seinen Spitzenkragen zu öffnen, aber das kostete nur Zeit. Draußen konnte er ungehindert atmen, konnte schreien, wenn er es anders nicht mehr ertrug. Vorsichtig verließ er das Zimmer und verfluchte innerlich das Knarren der Dielen.
Die Tür, die zur Treppe führte, war nur ein paar Schritte entfernt. Hinaus, nur hinaus. Und dann sofort in die Kirche, um sich im Beichtstuhl die unglaubliche Entdeckung von der Seele zu reden. Danach zu denen, die mit derlei Dingen vertraut waren. Sie würden wissen, was zu tun war.
Inhalt
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil II
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil III
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Epilog
23. Dezember 1631 bis 4. Januar 1632
Die Gasse war leer. Nicht einmal Hunde ließen sich blicken, um nach Essenskrumen Ausschau zu halten, die die fremden Eroberer aus den Hosentaschen schüttelten. Sieben Stiefelpaare aus wasserdichtem Juchtenleder stampften auf dem Kopfsteinpflaster und ließen den grauen Schnee hoch spritzen. Pelzverbrämte Mäntel wehten, Musketen schlugen gegen Proviantbeutel, Partisanenschäfte klopften im Takt der Schritte auf die Pflastersteine. Einer der Schweden sang ein Kriegslied. Es klang seltsam.
Der Heereszug des Löwen von Mitternacht hatte Mainz erreicht, und wäre dies eine protestantische Stadt gewesen, so hätte sie sich ihm zu Ehren mit Strohbündeln und Laubgirlanden geschmückt, doch hier, in der katholischsten aller Städte, der besonders geliebten Tochter der Römischen Kirche, wurden die fremden Männer feindselig empfangen. Thomas Hartenberg blickte verstohlen zu den Häusern hinauf. Die meisten Fensterläden waren verschlossen, und wenn sich ein Gesicht blicken ließ, verschwand es sofort wieder. Vielleicht gab es in anderen Teilen der Stadt ein paar protestantische Bürger, die das Heer der Schweden zaghaft begrüßten; dieser kleine Trupp jedoch wurde von einem Schweigen empfangen, das eisiger war als die Dezemberluft. Der Rottmeister deutete auf ein kleines Fachwerkhaus inmitten einer Reihe kleinerer Häuser. Über der Tür hing ein verrostetes Eisenschild, das den Schutzpatron der Maler, den heiligen Lukas, zeigte. Er ließ die Hand hochschnellen, und die sechs Soldaten blieben in gefächerter Formation vor dem Haus stehen. Mit fragendem Blick hielt er eine Straßenskizze hoch.
Thomas nickte. «Ja, das muss es sein. Dies ist die Steingasse, und auf dem Türschild steht Anselm Scherer.»
Der Schwede nickte, ging die zwei Stufen zur Haustür hinauf und hämmerte gegen das Holz. «Anselm Scherer! Öffnet!»
Er sprach seinen Befehl mit einem eigentümlichen Akzent aus, der in Thomas’ Ohren immer noch fremd klang. Die Worte durchschnitten die Stille wie zischende Degenklingen, und er meinte zu spüren, wie etliche Augenpaare durch die Ritzen der Fensterläden starrten.
Zunächst geschah nichts, das einzige Geräusch war das Schmatzen eines Schweden, der sich den Rest der Wegzehrung aus den Zähnen pulte. Der Rottmeister rief ein zweites Mal, woraufhin vom ersten Stock ein Geräusch zu vernehmen war. Langsam öffnete sich der Fensterladen zwei Manneslängen über der Tür. Die Schweden blickten nach oben, und mit einem Mal ergoss sich ein Schwall kochenden Wassers über ihnen. Die Männer stoben zurück, einer schwenkte, vor Schmerz und Wut brüllend, seinen nassen Hut.
Der Rottmeister deutete mit dem Kinn in Richtung Tür. Zwei Soldaten nahmen Anlauf und traten fest dagegen. Das Holz knirschte, ein kurzer Knall verriet, dass das Schloss geborsten war, und die Tür flog auf. Die Soldaten liefen ins Haus. Aus dem ersten Stock drang ein angsterfülltes Jammern.
Thomas ging gemächlicher und entledigte sich als Erstes der fast mannshohen Lederrolle auf seinem schmerzenden Rücken. Das Haus war düster, das Holz der Wände von dunklem, glänzendem Braun. Nur einen Schritt von der Haustür entfernt führte eine halsbrecherische Stiege hinauf; geradeaus ging es in die Küche, dem abgestandenen Kohlgeruch nach zu urteilen. Rechter Hand befand sich eine weitere Tür, die Thomas öffnete. Er fand sich in einem großen, von einer blakenden Deckenlampe nur schwach erhellten Raum wieder, der Werkstatt des Malers Anselm Scherer.
Darüber durfte er nun nach Belieben verfügen.
Er wuchtete die Rolle hinein und stellte sie an die Wand. Im Raum standen mehrere Holzkisten, aus denen verschiedene papierene und leinene Rollen ragten. In der Ecke war eine leere Staffelei aufgestellt, und vor den Fenstern stand ein riesiger Tisch. Thomas öffnete die Fensterläden, um mehr Licht zu haben. Die Decke knarrte unter den Schritten der Männer. Er schüttelte den Kopf. Was würden sie dort oben tun? Die schwedischen Soldaten, so wusste er, hatten die Anweisung, nicht zu plündern und zu morden. Taten sie es doch, sah die Obrigkeit meistens weg, und so kam es immer wieder zu hässlichen Zwischenfällen. Thomas kannte die Männer dieser kleinen Rotte nicht, er wusste nur den Namen des Anführers – Sven Persson –, der vor seiner Truppe herstolziert war, als sei er König Gustav Adolf persönlich. Persson war damit beauftragt, ihn in einer Malerwerkstatt einzuquartieren. Die Adresse Anselm Scherers stammte aus den Listen der hiesigen Zunft. Es war bereits die dritte Werkstatt, die sie aufsuchten. Die ersten beiden hatten sie geräumt und verlassen vorgefunden, doch Thomas brauchte Arbeitsmaterial und einen Gehilfen.
Bei Anselm Scherer schien er gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. Thomas öffnete einige Kästchen und fand mit Farbe gefüllte Schweinsblasen, Lederbeutel mit Farbpigmenten, Schlämmkreide und Krappkörnchen, Pinsel verschiedenster Größen, glasierte Fläschchen mit Terpentin und Leinöl. Er sog den Duft ein, den er so liebte, und freute sich plötzlich auf seine Arbeit. Seit die Schweden im Juli seine brandenburgische Heimatstadt Havelberg eingenommen und ihn mehr oder weniger als nützliche Kriegsbeute aufgelesen hatten, begnügte er sich mit dem Zeichnen auf feuchtem, schmutzigem Papier.
An den Gedanken, eine Werkstatt zu nutzen, die der Eigentümer nicht freiwillig hergab, musste er sich allerdings erst gewöhnen. Zwei Soldaten betraten den Raum und begannen den Inhalt der Truhen und Schränke zu inspizieren. Sie entrollten einige Bögen und ließen sie achtlos zu Boden fallen. Es sah nicht so aus, als wüssten sie solche Arbeit zu würdigen. Thomas hatte damit gerechnet und hoffte, dass sich der Schaden auf einige zertrampelte Papiere beschränken würde. Er erhaschte einen Blick auf wunderbar ausgeführte Zeichnungen, die drapierte Stoffe, Hände, Gesichter zeigten, und wandte sich ab. Er konnte nicht mit ansehen, wie respektlos die Schweden damit umgingen.
Plötzlich hörte er eine Frau schreien. Die Stiege knarrte unter hastigen Schritten. Der Schrei wurde lauter und tönte nun aus dem schmalen Flur und dann aus der Küche. Thomas starrte auf eine Zeichnung, die vor seine Füße gesegelt war, eine in Kohle gezeichnete Ansicht der Stadt. Im Vordergrund floss der Rhein. Wie friedlich die Landschaft doch wirkte, nichts verriet die Grauen der Wirklichkeit.
Seit zwei Tagen waren die Schweden innerhalb der Stadtmauern und begannen nun, sich erbarmungslos in Häusern, auf Gassen und Plätzen zu verteilen. Thomas hatte in einigen Skizzen festgehalten, was er sah: lagernde Truppen, Kinder, die zwischen ihnen umherliefen und bettelten. Misstrauische Gesichter in Hauseingängen. Breitgesichtige Dänen, hochgewachsene Stockholmer. Die Wirklichkeit. Er starrte auf die Zeichnung und versuchte, die Geräusche der marodierenden Rotte zu überhören.
Die beiden Schweden befingerten alles, jede Truhe, jeden Schrank, jede Schachtel und vor allem die Papierbögen. Sie hinterließen Schmutzspuren, und wenn sich die Zeichnungen nicht schnell genug aufblättern ließen, halfen sie mit dem Messer nach. Thomas ging zur Tür, er wollte draußen warten, bis das Elend vorbei war, als der Mann, der Anselm Scherer sein musste, in den Raum taumelte. Was er in seiner Werkstatt sah, ließ ihn erzittern.
Der Maler hastete auf den Tisch zu, als wolle er sich darauf werfen und mit seinem Körper schützen, was noch übrig war, aber einer der beiden Schweden packte ihn am Kragen und wirbelte ihn herum, sodass er mit dem Gesäß gegen die Tischkante stieß. Scherer umklammerte mit beiden Händen den Unterarm des Soldaten, aber er vermochte sich nicht zu wehren, zu alt und schwach war er. Als eine Frau, wohl die Schererin, erschien, ließ der Schwede ihn los. Scherer breitete hilflos die Arme aus, als die Frau auf ihn zueilte.
Ihr Kleid war vorne nass und stank nach Kohl. Aber es war nichts verrutscht, lediglich ein kurzer Riss im Ausschnitt verriet, dass die Schweden an ihr herumgezerrt hatten. Ihr Gesicht war vor Zorn gerötet.
Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Protestruf, als sie mit dem Finger auf einen der beiden Schweden deutete, der eine Ölskizze aus einem Leinwandstapel gezogen hatte und damit herumwedelte. Der andere Soldat schrie auf Scherer ein, offensichtlich wollte er ihm eine Auskunft entlocken. Aber Anselm Scherer zuckte nur unter den fremd klingenden Worten zusammen.
Sie wissen, dass er sie nicht versteht, dachte Thomas. Es macht ihnen Spaß.
Der alte Maler starrte den Soldaten an, als versuche er, wenigstens ein paar schwedische Wörter zu verstehen. Der Soldat wiederholte in bellendem Ton seine Frage und schüttelte das Bild. Es zeigte eine gekrönte, das Jesuskind säugende Madonna.
«Er will wissen, welchem Glauben Ihr angehört», sagte Thomas.
«Wir sind gute Christen», antwortete Scherer.
«Was für Christen?»
Das war Sven Perssons schneidende Stimme, der stolzierenden Schrittes die Werkstatt betreten hatte. Hinter ihm drängte der Rest der Soldaten hinein. Die beiden Schweden hielten nun inne und blickten ihren Herrn erwartungsvoll an. Persson streifte einen Handschuh ab und hob einige der Zeichnungen an, jedoch mit lustloser Miene. «Was für Christen?», wiederholte er und ging dicht an Scherer und seiner Frau vorbei. Er näherte sich Thomas, bis nur wenige Handbreit ihre Gesichter trennten. Der Schwede war einen halben Kopf größer als er, hatte blassblondes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und trug wie fast alle Schweden den modischen Spitzbart, um ihrem König nachzueifern. Sven Persson blickte auf Thomas herab, sein rechter Mundwinkel verzog sich zu einem Lächeln. Sein Blick allerdings blieb kalt.
«Meister Hartenberg, Ihr seid zu weich. Glaubt Ihr, diese beiden da werden Euch folgsam sein? Zeigt nicht so deutlich, wie unangenehm Euch die Situation ist. Fast könnte man meinen, Ihr würdet Furcht verspüren.»
«Unsinn», brummte Thomas.
«Oh, natürlich ist es Unsinn. Dennoch werdet Ihr Euch sicherer fühlen, wenn ich Euer künftiges Gesinde beizeiten Respekt lehre.» Persson drehte sich um. «Also, Anselm Scherer: Was für Christen seid ihr? Die dem Papst folgen oder dem Luther?»
«Wem?», sprang es empört aus dem Mund der Schererin. Ihr Mann berührte sie an der Schulter.
Einer der Soldaten deutete auf die Madonna. Persson hob die Brauen. «Da haben wir ja die Antwort. Du hast der Maria eine Krone gemalt. Das sieht doch sehr katholisch aus.»
Scherer zögerte, als überlege er, ob er das respektlose «Du» unwidersprochen hinnehmen solle. «Es ist eine Zeichnung.»
«Wie?»
«Eine Zeichnung – keine Malerei. Malen tut man mit flüssigen Farben.»
Persson zog sich gemächlich den Handschuh wieder über. «Glaubst du, das interessiert mich?», sagte er, und dann, als besinne er sich: «Du bist also ein Maler. Wo sind denn deine Gemälde?»
«Ich ... ich habe keine. Nur ein paar alte Ölskizzen. Leinwand und Farben sind unerschwinglich zur Zeit, wir können uns gerade so ernähren.»
«Ach! Mit dem Papier gehst du aber recht verschwenderisch um, wie mir scheint.»
«Das stammt alles noch aus besseren Zeiten.»
Persson legte lässig die Hand an seinen Degen und begann um den Tisch zu wandern. «Und es geht dir so gut, dass du nichts davon verkaufen musst?»
«Das ist es nicht, Herr.» Scherers Blick folgte dem Schweden. «Es will nur niemand etwas kaufen, weder Zeichnungen noch leeres Papier.»
«Du hast da eine riesige Staffelei stehen. Vermutlich hast du, als du hörtest, dass der König von Schweden deine Stadt zu bekehren gedenkt, deine Bilder versteckt. Ich will sie sehen.» Persson stand jetzt so dicht neben Scherer, dass dem Maler der Schweiß von der Stirn tropfte. Seine Frau vergrub das Gesicht in seiner Schulter. Seine Fingerabdrücke würden sich wohl noch lange auf ihren Armen abzeichnen.
«Ich will es Euch zeigen», flüsterte der Maler. «Wenn Ihr dann nur geht.»
«Aber natürlich.» Persson lächelte. «Glaubst du, es macht uns Freude, hier zu sein? Wir sind immer froh, wenn wir nach dem Tagwerk irgendwo lagern dürfen. Also beeile dich.»
Anselm Scherer schob seine Frau von sich, machte zwei Schritte und blieb mit gesenktem Kopf vor einem der Soldaten stehen, bis dieser begriff, dass er beiseite treten musste. Scherers Kopf senkte sich noch mehr, als er an ihm vorbeiging und ein schmales mannshohes Regal hervorzog. Die Köpfe der Männer reckten sich neugierig. Das Regal hatte den seitlichen Einlass zu einem Hohlraum verborgen, der vom Fußboden bis zur Decke ging.
«Eine doppelte Wand!», rief Persson. «Ist das hier so üblich, oder hast du das eigens unseretwegen gezimmert?»
«Das stammt noch aus der Zeit, als die Spanier kamen», murmelte Scherer. Bedächtig zog er ein auf einen Keilrahmen gespanntes Gemälde heraus. Es überragte ihn um einen Kopf und war fast ebenso breit wie hoch. Er fasste es am Stützkreuz und drehte es zu Persson hin. Thomas hörte, wie der Schwede und seine Schergen die Luft anhielten.
Es war ein wunderbares Bild. Thomas kannte die Gemälde Caravaggios, Renis und die der Caracci-Familie. Er kannte auch einige Kopien holländischer Meister, die sich so gar nicht mit jenen aus Italien vergleichen ließen. Dieses hier war zwar noch im alten deutschen Stil gehalten, aber es war atemberaubend schön. Es zeigte die Madonna mit dem Christuskind auf dem Schoß und den jungen Täufer, der sich an ihr Knie drängte. Ihr edles Gesicht war Johannes zugeneigt und lächelte mit Mutterstolz. Mit filigranen Fingern hielt sie das rosige Gesäß des Gottessohnes, ein rot glänzender seidiger Mantel verbarg ihren Körper. Der Stoff wirkte wie echt, als könne man ihn berühren und knistern lassen. Eine Locke trat aus dem Schleier der Madonna hervor, man wollte dagegen blasen, um sie aufwehen zu lassen. Selbst die Wimpern wirkten echt. Über ihrem Haupt schwebte eine goldleuchtende Krone.
«Das ist ja die gleiche Madonna wie auf der Zeichnung», platzte Persson heraus. «Nach dieser Zeichnung hast du das Bild gemalt?»
Scherer sah hinter dem Gemälde hervor und nickte. Persson gebot ihm mit einer Handbewegung, es an die Wand zu lehnen. In Scherers Augen war die Hoffnung zu erkennen, dass der Schwede beeindruckt genug war, um sich keines weiteren Frevels schuldig zu machen.
Der Maler trat wieder zu seiner Frau, die schutzsuchend seinen Arm umklammerte. Perssons blassblaue Augen wanderten von ihr zu Scherer. Eine Zornesfalte bildete sich auf seiner Stirn.
«So! Du hast also die Götzenmadonna nicht nur gezeichnet, sondern auch noch auf diesem Bild verewigt!»
«Im Auftrag des Kurfürsten», antwortete Scherer. «Leider ist er geflohen, bevor ich es ihm übergeben konnte.»
«Soll dich das entschuldigen?» Der Schwede trat an das Bild, kniff die Augen zusammen und reckte scheinbar neugierig den Kopf. Thomas konnte sich nicht vorstellen, dass Persson sich wirklich für Einzelheiten interessierte. Jede Bewegung des Schweden schien nur dazu zu dienen, Scherer einzuschüchtern.
Oder mich, dachte Thomas.
Persson legte die Hände auf den Rücken, während er sich bückte, um auch die untere Hälfte des Gemäldes betrachten zu können. Schließlich richtete er sich mit einem Seufzer auf.
«So eine kleine Zeichnung ist eine Sache. Dieses Gemälde aber ist ein Götzenbild, das einfältige Leute dazu verführt, eine Sterbliche statt den einen wahren Gott anzubeten. Es muss vernichtet werden.»
Die Gesichtszüge des Malers erschlafften. «Das ist nicht Euer Ernst. Großer Gott, nein.»
«Du willst es nicht einsehen?»
«Ich habe ein ganzes Jahr daran gearbeitet! Es ist mein schönstes Bild.» Der Maler löste sich von seiner Frau, trat einen Schritt vor und hob bittend die Hände. «Ihr könnt es nicht zerstören! Die Zeichnungen meinetwegen, ich zeige Euch gern noch mehr, die könnt ihr zerschneiden. Aber nicht das Gemälde!»
«Ich tu es ja nicht. Du wirst es selbst tun.»
Scherer rang nach Luft. Der Schwede nahm wahllos irgendeine Zeichnung vom Tisch, riss ein Stück davon ab und drehte es zu einer kleinen Rolle. Dann trat er unter die Deckenlampe und öffnete mit spitzen Fingern das Glastürchen.
«Was soll das?», rief Thomas. «Das ganze Haus kann abbrennen.»
Persson runzelte die Stirn und ließ die Rolle sinken. Einer der Soldaten schlug vor, das Bild hinauszutragen und auf der Straße anzuzünden. Die anderen lachten erwartungsvoll, aber der Hauptmann hob die Hand.
«Wir wollen doch nicht die Nachbarn beunruhigen. Außerdem soll es der Maler selbst tun, und was, wenn er da draußen Geschrei macht? Gebt mir ein Messer.»
Sofort griffen alle nach ihren Gürteln, und der Schnellste händigte sein Messer aus. Persson prüfte die Schneide, wendete es ein paar Mal in der Hand und reichte es mit dem Griff voran dem Maler. Scherer nahm es entgegen, aber er schien nicht zu begreifen, was er damit anfangen sollte.
«Ein paar Schnitte, und schon ist es passiert.» Persson lächelte aufmunternd. «Es ist nur dein Fleisch, das sich sträubt, aber deine Seele wird gereinigt sein.»
Jetzt gab er Scherer einen Stoß, sodass er vor das Bild stolperte. Er blickte zur Madonna hinauf, seine Arme hingen schlaff herab. Tränen traten ihm in die Augen.
«Hauptmann Persson», sagte Thomas und hoffte, dass seine Stimme keine Unsicherheit verriet. «Um dieser wundervollen Kunst willen ersuche ich Euch, nicht auf Euerm Vorhaben zu bestehen. Es ist zu wertvoll.»
«Es ist schändlich», erwiderte Persson unbeeindruckt. «Ich halte es da ganz mit Calvin.»
«Ihr könntet verlangen, die Krone zu übermalen. Es geht doch nur um diese unselige Krone.»
«Damit er sie später wieder hinzufügt? Versucht nicht, mich auf den Arm zu nehmen, er könnte brechen. Und nun, Scherer, fang an.»
Scherers Körper wurde von einem plötzlichen Schluchzen geschüttelt. Das Messer entglitt ihm. «Ich flehe Euch an, Herr, begreift doch! Ich kann das nicht.»
Persson verschränkte die Arme und drehte eine weitere Runde um den Tisch. Es bedurfte nur eines Blickes, und schon waren zwei Soldaten zur Stelle, um den Maler zu züchtigen. Einer drehte ihm die Hände auf den Rücken, der andere schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Scherer jaulte auf; sie ließen ihn los, und er fiel hart auf die Knie. Seine Frau wollte zu ihm eilen, aber schon wurde sie hinterrücks von einem Soldaten gepackt.
Sie wand sich in seinem Griff und begann zu heulen. «Was wollt ihr denn von uns? Geht doch zum Güntelein, der hat noch viele Gemälde und ein großes Haus dazu. Brennt’s doch dem ab!»
Persson lachte. «Schuldet er euch noch Geld, oder warum verleumdest du ihn?»
«Er ist Maler. Er hat die Stadt nicht verlassen, weil er mit der gallischen Krankheit im Bett liegt. Hätten wir sie doch nur verlassen!», jammerte sie. Jetzt strampelte sie mit den Füßen, um sich zu befreien.
«Ein zügelloses Mundwerk hast du», befand Persson und wandte sich wieder Scherer zu, der noch immer auf dem Boden kniete. Er nahm den Malstock, der auf der Ablage der Staffelei lag, und schlug ihm damit auf den Rücken. Scherer sackte zusammen und biss sich auf die Finger, doch den Schmerzensschrei konnte er nicht unterdrücken.
«Los jetzt!», schrie Persson und gab ihm einen Tritt mit dem Fuß, sodass er in zusammengekrümmter Haltung zur Seite rollte. «Erbärmlicher Mensch, meine Geduld ist am Ende.»
Thomas sah nicht, wie Persson dem Schweden, der die Frau fest im Griff hatte, einen Wink gab. Vielleicht wusste der Soldat aus Erfahrung, was sein Herr von ihm erwartete. Er wirbelte sie herum und warf sie auf den Tisch. Papiere fielen zu Boden. Er schob ihr den Rock hoch und öffnete seine Hose; schon lag er auf ihr, und als ob sie gerade erst begriff, wie ihr geschah, begann sie zu schreien und zu strampeln. Doch mit wenigen Handgriffen drückte er sie auf den Tisch, während er sein Glied an ihrem entblößten Unterleib rieb.
Thomas trat vor, und sofort deutete Persson mit dem Stock auf ihn. «Stört mich jetzt nicht, Hartenberg, es würde den beiden nur noch schlechter bekommen. Er braucht nur zu gehorchen, dann geschieht ihr nichts.»
«Ich wusste nicht, dass Ihr so durchtrieben seid.» Thomas wischte sich über den Mund, als habe der Schwede ihn angespuckt. «Wen wollt Ihr damit beeindrucken? Mich?»
«Ich zähme diese beiden für Euch, denn sie sollen Euch doch dienen, nicht wahr? Mein Auftrag lautet, dieses Haus für Euch in Besitz zu nehmen. Woher wollt Ihr wissen, dass sie Euch später nicht das Leben schwer machen, hinterrücks Eure kostbaren Zeichnungen beschädigen oder Euch gar vor die Tür setzen? Ich verspreche Euch, dass diese beiden keine Schwierigkeiten machen werden.»
Thomas sah ihn verblüfft an. Aus der Sicht eines Soldaten war dies vielleicht sogar eine einfache, traurige Wahrheit. Er schüttelte den Kopf. «Mir liegt nichts an einem solchen Versprechen. Es sollte mir das Haus übergeben werden, sonst nichts.»
«Ihr werdet mir noch dankbar sein. Und nun haltet Euch zurück.»
Thomas sank auf eine der Truhen. Offenbar blieb ihm nur, zu beten, dass dies schnell und glimpflich ablaufen möge.
Der Soldat kämpfte verzweifelt um eine Erektion. Der Wortwechsel hatte es ihm nicht leichter gemacht. Mit verbissenem Fleiß rieb er sein Glied am Bauch der Schererin, während sich seine Finger in ihre Hüften gruben. Sie lag wehrlos da, leise wimmernd, den Kopf zur Seite gedreht. Ihre Haube hatte sich gelöst und zeigte hellbraune Strähnen, in denen Grau schimmerte. Trotz ihres Alters war sie eine ansehnliche Frau, die so gar nicht zu dem schmächtigen Maler zu passen schien. Als das Stöhnen des Schweden schneller wurde, schlug sie die Hände vors Gesicht. Er war so weit.
«Nein», keuchte Scherer und rappelte sich auf. «Nein, er soll aufhören. Ich gehorche.»
Persson rief einen Befehl aus, und der Soldat richtete sich mit einem enttäuschten Grunzen auf. Die Schererin rührte sich nicht. Der Maler hob das Messer auf und wandte sich dem Gemälde zu. Sein Mund stand offen, Tränen rannen ihm übers Gesicht. Thomas glaubte nicht, dass es ihm gelingen würde, Perssons grausamer Anweisung zu gehorchen. Wahrscheinlich musste Persson ihm das Messer aus der Hand reißen und es selbst tun. Doch plötzlich hob Scherer das Messer und begann, mit wilden Verzweiflungsschreien auf sein Bild einzustechen.
«Ja, gut so, weiter», nickte Persson. Die Soldaten klatschten und johlten, während Scherer wie von Sinnen auf die Leinwand einstach. Thomas schob sich an den Männern vorbei, hastete durch den Flur hinaus in die Kälte. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber er würgte nur. Ziellos machte er einige Schritte. Konnte das alles wahr sein? Diese Frage hatte er sich in den letzten Monaten schon viel zu häufig stellen müssen.
«Meister Hartenberg?»
Thomas hob den Kopf. Zwei Schauerbuben standen vor ihm, in Begleitung eines deutschen Söldners. Sie stellten eine lederne Truhe vor ihm ab und rissen sich die Mützen vom Kopf, in der Hoffnung, einen Heller zu kassieren. Thomas richtete sich auf, wischte sich übers Gesicht und bemühte sich, gefasst zu wirken.
«Wir haben die Truhe nicht aufgemacht», sagte einer der Jungen ernst. «Wir stehlen nicht.»
«Schon gut», murmelte Thomas. Er löste das Tau, mit dem die Truhe verschlossen war, hob den Deckel an und wühlte in seinen Sachen. Wahrhaftig, der Beutel mit dem Schwarzbrot und dem Käse war unversehrt. Er kramte einen Heller unter den Wäschestücken hervor und warf ihn dem Jungen zu. Der rannte sofort in die Richtung, aus der sie gekommen waren, doch der zweite blieb stehen. Thomas nahm an, dass auch er etwas abstauben wollte, um mit seinem Freund nicht um den Heller raufen zu müssen, aber er täuschte sich. Der Junge machte einen Diener und sagte ihm, dass er im Großen Turm zu erscheinen habe, einem der zahlreichen Stadttore am Rheinufer.
«Was soll ich denn da?», fragte Thomas verwundert.
«Das weiß ich nicht. Der Büttel hat mir nur gesagt, dass ich ja nicht vergessen soll, es Euch auszurichten, als er mitbekam, dass wir Euch die Truhe bringen. Ich glaube aber, es geht um eine Hexe. So hab ich’s aufgeschnappt.»
«Eigenartig, mit derlei Dingen habe ich doch sonst nichts zu schaffen.» Thomas kramte einen zweiten Heller heraus. Viel besaß er nicht mehr, da kam es darauf auch nicht mehr an. Der Junge bedankte sich und lief weg. In diesem Moment traten Persson und seine Männer auf die Straße.
«Schlechte Nachrichten?», fragte Persson, schien jedoch keine Antwort zu erwarten. «Ich lasse zwei Männer draußen als Wache zurück. Sollte es Probleme geben, braucht Ihr sie nur zu rufen. Aber das ist unwahrscheinlich.»
«Nehmt sie mit.»
«Wie Ihr wollt.» Persson zupfte zum Abschied an der Hutkrempe. Thomas achtete kaum darauf, wie die Soldaten abzogen. Er nahm die Truhe, ging in den Flur zurück und schloss die Tür hinter sich. Eine Hexe? Er kannte keine Hexe, woher auch? Er war doch ein Fremder in dieser Gegend. Gut, Hexennester konnten überall sein, auch da, wo man sie niemals vermutete. Bloß was hatte er damit zu tun?
Er blieb an der Schwelle zur Werkstatt stehen, lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen und rieb sich die Stirn. Plötzlich herrschte eine so eigentümliche Stille, dass er kurz das Gefühl hatte, er hätte alles nur geträumt. Doch da war das Madonnenbild, das jetzt nur noch in Fetzen im Rahmen hing. Und die beiden gedemütigten Menschen, die ihn wortlos seiner Tatenlosigkeit anklagten. Die Schererin lag noch immer auf dem Tisch, nun auf der Seite in gekrümmter Haltung. Sie tat nichts, ihren entblößten Unterleib zu bedecken, sondern gab sich einem lautlosen Weinkrampf hin. Vor dem Tisch kauerte der Maler, den Kopf in die Hände gestützt und von leisem Schluchzen geschüttelt.
Sie hörte Schritte auf dem Gang widerhallen. Henrietta kroch aus ihrer Ecke und kauerte sich vor die in Bodenhöhe angebrachte Essensklappe. Schon schwang das Holz zurück, und ein Stiefel schob eine tönerne Schale hinein, wobei die faulige Brühe überschwappte. Schnell stellte Henrietta die Schale beiseite und presste die Wange auf den Boden, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Doch sie sah nicht weiter als bis zu den Knien des Soldaten.
«Welcher Tag ist heute?», fragte sie.
«Das fragst du jeden Tag, Weib.»
«Wenn du’s mir auch nie sagst!»
Sie wartete darauf, dass die Stiefelspitze die Klappe energisch zuschlug, doch dieses Mal ließ sich der Mann Zeit.
«Die Alte, die bei dir ist», sagte er, «wird gleich abgeholt. Sie wird hingerichtet. Du weißt doch, was sie getan hat, oder?» Henrietta drehte den Kopf zu der Frau, die in einer Ecke an der kalten Wand kauerte und wirres Zeug vor sich hin flüsterte.
«Ja», murmelte Henrietta. Von einem Angelusfeuer war die Rede, das die alte Frau über einen Bauern und seine Familie geschickt haben soll, sodass sie alle an innerem Fieber verbrannt seien. Henrietta konnte kaum glauben, dass dieses alte verfallene Bündel zu so etwas imstande war, dennoch hatte sie sich von ihr ferngehalten. Gerade die unscheinbaren Alten, so hieß es, waren zu den grausamsten Taten fähig.
«Das soll bis morgen erledigt sein», erklärte der Soldat. «Morgen ist Heiligabend.»
Henrietta atmete erschrocken die stickige Luft ein. War sie tatsächlich schon einen Monat lang hier? Die Zeit war ihr unendlich lange vorgekommen, und doch konnte sie es jetzt kaum glauben.
Der Mann schien ihre Gedanken zu erraten. «Es gibt Unholde, die hausen hier ein Jahr oder länger, also beklag dich nicht.»
«Ich bin keine Unholdin, so hör doch!», rief Henrietta.
Die Klappe flog zu, und ihr Kopf fuhr zurück. «Das sagst du jeden Tag», hörte sie den Mann ein zweites Mal sagen, und seine Worte verklangen im Gang.
Verzweifelt nahm Henrietta die Schale, setzte sich in den Lichtstrahl unterhalb des vergitterten Fensters und trank die Brühe, in der ein paar Brotkrümel schwammen. An diese Art von Essen hatte sie sich nicht erst hier drinnen gewöhnen müssen, auch draußen war es nicht immer besser. Schlimmer waren die Kälte und der Gestank aus der Abtrittecke, vor der nur ein feuchter Stofffetzen hing. Daheim hätte sie den Herd befeuern können, denn Holz besaßen sie noch. So Gott wollte, würde wenigstens die Magd darauf achten, dass ihr kranker Vater nicht in seinem Bett fror. Henrietta zog die Schuhe aus und rieb sich die klammen Füße. Ihr Kleid war feucht und konnte sie nicht wärmen. Sie würde auch an Weihnachten frieren müssen, während die Menschen draußen wenigstens im Kreis der Familie feiern und das bisschen essen konnten, das in diesen Zeiten aufzutreiben war.
Oder würden sie sich aus Furcht vor den fremden Eroberern in ihren Kellern verkriechen? Henrietta hatte den Worten der Wachtposten entnommen, dass ein gewaltiges Heer von Schweden und Männern anderer Völker bei Oppenheim den Rhein überquert und im Handstreich sämtliche linksrheinischen Ortschaften in Besitz genommen hatte, bis es vor den Mainzer Toren aufgetaucht war. Kurz nur hatte die Belagerung gedauert, dann war der König von Schweden, den sie den «Löwen von Mitternacht» nannten, mit allem Prunk eingezogen.
«Aber was mag das für mich bedeuten?», murmelte sie gedankenverloren.
Ein Rascheln aus der Ecke ließ sie aufmerken. Die Alte hatte den Kopf gehoben und lächelte sie aus ihrem faltigen aschgrauen Gesicht an.
«Nichts bedeutet es», sagte die Alte, und ihre Gesichtszüge ähnelten einer Dämonenfratze. «Die Lutheraner sind nicht gnädiger, und das sind sie: Protestanten. Sie sind fast so schlimm wie Juden und Ungläubige.»
Henrietta wollte gerade den Mund öffnen, um sie zu fragen, woher sie das wisse, da hörte sie die Schlüssel klappern. Dieses Mal hatte sie die Schritte nicht bemerkt, obwohl es sogar zwei Männer waren, die das düstere Verlies betraten. Ihr Körper versteifte sich unwillkürlich, doch es war die Alte, die sie umringten und jetzt zum Aufstehen zwangen. «Ich habe nichts getan!», kreischte die Frau, während sie sich in den unbarmherzigen Griffen wand. Doch schnell knickten ihre Beine kraftlos ein, sie fiel zu Boden und wurde wie ein Strohsack hinausgezerrt. Als die Alte aus Henriettas Blickfeld verschwunden war, war nur noch ein herzzerreißendes Heulen zu hören. Henrietta hielt sich die Ohren zu und drückte das Gesicht auf die Knie. Würde sie auch so erbärmlich schreien, wenn es bei ihr so weit war? Aber sie war doch unschuldig, sie war eine gute Katholikin, sie war ...
«Henrietta Güntelein!»
Ihr Kopf flog hoch. Dicht vor ihr stand ein dritter Wächter und blickte auf sie herab. Es war derselbe, der ihr täglich das Essen hineinstieß und sie in den seltenen Momenten, wenn er das Verlies betrat, mit einer Mischung aus Gier und Stumpfsinn anstarrte. Henrietta wusste, dass Angeklagte Freiwild waren und jederzeit den Wachleuten zur Verfügung stehen mussten, aber bisher war sie verschont worden. Vielleicht war es selbst ihm zu schmutzig hier. Oder er hatte nur darauf gewartet, dass die Alte fort war.
«Steh auf», sagte er barsch. «Das Gericht wartet auf dich.»
Hastig versuchte sie, auf die Beine zu kommen. Es fiel ihr nicht leicht, denn ihre Knie zitterten. Am Tag nach der Verhaftung war sie schon einmal vor Gericht erschienen, doch damals hatte man ihren Unschuldsbeteuerungen keinen Glauben geschenkt. Kurz nur war die Befragung gewesen, sie hatte ihren Namen unter ein Dokument setzen müssen und war dann weggesperrt worden. Was würde jetzt geschehen? Sie raffte das Kleid und eilte hinter dem Mann her, der gar nicht darauf achtete, ob sie ihm folgte. Dunkel war es hier draußen, nur eine rußige Fackel in einer Wandhalterung erhellte die Stufen, sodass Henrietta gerade erkennen konnte, wohin sie trat. Am Ende der Treppe war eine dicke Eichenholztür. Sie schwang auf, und der Mann schob sie in einen Raum, der ebenso gut ein Verlies hätte sein können, wären da nicht die hohen Herren gewesen, die an einem Tisch saßen und sie neugierig musterten. Im schwachen Schein der Öllampe schienen die Augen der Männer tief in ihren Höhlen zu verschwinden.
«Wir haben nicht viel Zeit», hörte sie einen von ihnen sagen, einen Glatzköpfigen mit grauem Bart. «In der Gerichtsstube hausen fremde Soldaten. Vielleicht sind es auch die letzten Spanier oder norddeutsche Söldner oder welche aus Schottland. Wir sollten zusehen, dass wir schnell fertig werden, damit sie, wenn sie es denn wollen, diesen verdammten Turm besetzen können. Außerdem stinkt es hier unerträglich nach Pisse.»
Henrietta bemühte sich, gerade zu stehen. Es war nicht gut, Furcht zu zeigen, denn das könnte wie ein Schuldeingeständnis wirken. Der Mann wandte sich ihr zu, als habe er erst jetzt bemerkt, dass sie eingetreten war.
«Ah, da ist sie ja», sagte er und blickte dann auf das Dokument, das vor ihm lag. «Jungfer Henrietta Güntelein, Tochter des Malers Johannes Güntelein.»
«Ja, das bin ich.»
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und zupfte an seinem Bart, als ob er dort nach Läusen suche. «Der König hat heute den Schwager seines Kanzlers, einen Mann namens Johann Eriksson Sparre, zum Statthalter des Erzstifts ernannt. Der hat angeordnet, dass alle Gefangenen bis Heiligabend abgeurteilt sein sollen, also bis morgen. Glücklicherweise seid ihr nur noch zu zweit. Die Alte, die das Antoniusfeuer geschickt hat, wird morgen früh brennen, aber du bereitest uns noch Kopfzerbrechen.»
Es saßen vier Männer am Tisch, ihrer aller Augen waren jetzt auf sie gerichtet. Auf der einen Ecke des Tisches lag ein graues Tuch, unter dem etwas verborgen war. Sie wollte lieber nicht wissen, was es war. Es jagte ihr Angst ein.
«Ich, Jakob Belsenius, meines Zeichens Richter, werde die Befragung durchführen», sagte ein Mann in einem schwarzen Mantel und Radkragen nach alter spanischer Mode. Er wandte sich kurz an den Bärtigen: «Wann wird der Sachverständige kommen?»
«Er wird nicht lange auf sich warten lassen.»
Belsenius winkte ungeduldig ab. «Lasst uns sofort beginnen. Wir brauchen ihn ohnehin nur fürs Protokoll, und wenn sich die Unholdin gefügig zeigt, nicht einmal dafür. Nun?»
«Ich bin keine Unholdin», sagte Henrietta fest und biss die Zähne zusammen. Wie oft hatte sie das nun schon gesagt? Jedoch meist zu den Wachsoldaten, die das ohnehin nicht kümmerte.
«Das werden wir sehen.» Belsenius sah sie mit kalten Augen an. «Du wirst beschuldigt, einen Incubus beherbergt zu haben. Was sagst du dazu?»
«Ich weiß nicht, was ein Incubus ist», erwiderte sie, und er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
«Ein Teufelsdämon! Oder der Teufel selber!»
Henrietta zuckte zusammen. Um Himmels willen, wovon sprach er? Das alles war ein großer Irrtum – zu groß, als dass sie sich dafür hätte verteidigen können. Sie starrte den Richter hilflos an.
Belsenius legte die Hände auf den Tisch und neigte sich vor. Offensichtlich wollte er es jetzt auf die freundliche Art versuchen. «Wie es zu dieser Beschuldigung kam, das weißt du doch wenigstens, oder?»
«Nein. Ich wurde verhaftet, als ich auf dem Markt Gemüse kaufen wollte, und dann haben sie mich hier in den Turm gesperrt. Dabei wurde der ... der Incubus erwähnt, aber was es damit auf sich hat, hat mir niemand gesagt.»
Er blickte flüchtig auf das Dokument. «Du hast aber ein Geständnis unterschrieben.»
«Habe ich das?», flüsterte sie und hielt verwirrt inne. «Man hat mir gesagt, ich könne gehen, wenn ich unterschreibe. Ich habe das Dokument aber nicht lesen dürfen.»
Belsenius runzelte die Stirn. «Gut, dann sage ich es dir jetzt. Jemand hat dich angezeigt. Er hat beobachtet, wie du den Teufelsdämon gemalt hast. Du bist die Tochter eines Malers, und man kennt deine Begabung. Es sollen sogar in einigen Kaufmannshäusern Porträts hängen, die du angefertigt hast.»
Henrietta blickte Belsenius mit großen Augen an. «Ich würde niemals etwas malen, was die heilige Mutter Kirche beleidigen würde, niemals! Ein Dämon? Ich weiß gar nicht, wie ein Dämon aussieht. Bitte, ist denn kein Pfarrer hier?»
Was war das nur für eine Geschichte? Und wer konnte sie angezeigt haben? Für gewöhnlich sah ihr doch niemand beim Malen zu. Außer dem Vater und ihrer Magd, der treuen Priska. Aber die würde sich eher die Zunge herausreißen lassen, als sie zu verleumden. Es konnte nur der Apotheker gewesen sein, der den Vater seit einigen Monaten regelmäßig aufsuchte, um seine französische Krankheit zu behandeln. Normalerweise arbeitete Henrietta nicht, wenn er da war, aber vielleicht hatte sie es doch einmal getan. Manchmal ließ sich die Arbeit nicht unterbrechen, wenn die Farben schnell antrockneten. Aber weshalb hatte er so eine Abscheulichkeit behauptet?
«Dass du nichts weißt, behauptest du ständig», sagte Belsenius verächtlich. «Das hilft dir nicht weiter und kostet uns nur Zeit. Die Geistlichen, die noch in der Stadt sind, haben es abgelehnt, dem Fall beizuwohnen. Sie sind genug damit beschäftigt zu beten, dass die Besatzung für sie ohne Folgen bleiben wird. Da mag sich jetzt keiner mit einem Rechtsfall befassen. Auf Gottes Gnade musst du allein hoffen.»
Die Angst kroch ihr die Kehle hoch. Vielleicht war es tatsächlich gleichgültig, was sie sagte, da sie ohnehin heute noch abgeurteilt würde. Die Schweden hatten es befohlen, und die Fragen des Richters dienten möglicherweise nur noch dazu, den Schein eines ordnungsgemäßen Verfahrens zu wahren. Sie sah es doch in den Augen der Männer: Sie hatte die Tat begangen, und nichts würde sie entlasten können. Die alte Frau kam ihr in den Sinn, wie sie ihre Unschuld aus tiefster Kehle herausgeschrien hatte. Vielleicht war sie so wenig wie ich eine Unholdin, dachte Henrietta bestürzt.
«Du widerrufst also dein Geständnis?», fragte der Richter.
Henrietta nickte.
Er seufzte auf und blickte einen Mann an, der abseits saß und bis jetzt geschwiegen hatte. «Scharfrichter, Nadelprobe.»
Der Mann erhob sich und ging betont langsam zum Tisch, wo er das Tuch zurückschlug. Henrietta musste einen Schreckenslaut unterdrücken, als sie sah, was dort lag. Auch wenn sie so etwas noch nie gesehen hatte, begriff sie sofort, dass es Marterinstrumente waren. Der ebenfalls ganz in Schwarz gekleidete Scharfrichter nahm mit düsterer Miene eine lange Eisennadel und trat hinter sie. Henrietta war kurz versucht, sich umzudrehen, aber die Angst vor dem, was ihr bevorstand, lähmte sie. Mit wenigen Handgriffen hatte er ihr Mieder geöffnet und zerrte ihr das Kleid über die Schultern. Sie wollte es vorne festhalten, doch er riss unbarmherzig daran, bis ihr Rücken ganz entblößt war.
Seine Finger kneteten ihre Haut, hoben die Arme an und befingerten sie vom Hals bis zur Taille. Plötzlich spürte sie einen Stich nahe der Wirbelsäule. Der Schmerz war nicht stark, doch sie hielt vor Schreck die Luft an.
«Es blutet», sagte der Henker. «Sonst ist hier kein Mal.»
Jetzt hob er ihr Kleid mitsamt dem Unterrock hoch. Henrietta presste die Lippen zusammen, niemals zuvor hatte sie etwas so Schamvolles über sich ergehen lassen müssen. Fast sehnte sie sich nach dem Verlies zurück. Der Henker unterließ es nicht, ihr zwischen die Beine zu greifen, sodass sie gezwungen war, die Füße weit auseinander zu stellen. Dann betastete er sie überall, zupfte an ihrer Haut, fand schließlich ein Mal und stach hinein.
«Blut», brummte er tonlos und schlug den Stoff herunter. Gewaltsam drehte er sie um und hob ihr Kleid erneut an. Er war erstaunlich geschickt darin, gleichzeitig die Fülle des Stoffes zu bändigen und ihre bloße Haut abzusuchen. Auch vorne fand er nicht das, wonach er gesucht hatte. Als er sich aufrichtete und nach dem Brusttuch ihres Kleides griff, ließ sie die Hände wehrlos sinken. Weine nicht, ermahnte sie sich, dies alles hat keine Bedeutung. Gott wird wissen, was mir anzulasten ist. Er wird Gerechtigkeit walten lassen. Diese Männer sind Sünder wie ich.
Der Henker hob ihre Brüste an und untersuchte sie. Seine Finger waren grob, verrieten aber kein Vergnügen. Ob eine nackte Frau vor ihm stand oder ein Huhn auf dem Hackklotz, war ihm vermutlich einerlei. Endlich schien er sein Soll erfüllt zu haben und trat zurück.
«Sie hat sehr wenige Male, die alle bluten», gab er zu Protokoll. Die Feder des Schreibers kratzte über das Papier. Dem enttäuschten Blick der Männer nach zu urteilen, schienen sie noch nicht auf etwas gestoßen zu sein, was sie gegen sie verwenden konnten. Doch die schaurige Prozedur hatte noch kein Ende gefunden. Der Henker zog einen Hocker aus einer Ecke hervor und bedeutete ihr, sich darauf zu setzen. Den Männern war offensichtlich nicht daran gelegen, es ihr bequem zu machen.
«Es folgt die Erklärung der Instrumente, mit denen ...», Belsenius wurde mitten im Satz unterbrochen, als die Tür aufflog. Alle Köpfe reckten sich in Richtung des Eingangs, der fast im Dunkeln lag. Ein Mann trat ein, deutete eine Verbeugung an und blickte verblüfft in die Runde. Mit einem solchen Anblick hatte er vermutlich nicht gerechnet. Henrietta kauerte auf dem niedrigen Hocker inmitten des Raumes, die Knie angezogen und das Kleid vorne festhaltend, denn allein konnte sie es nicht wieder zuschnüren.
«Meister Thomas Hartenberg?» Belsenius schien über die Unterbrechung nicht erfreut, wies dem Neuankömmling aber einen Stuhl zu. Hartenberg ging an ihr vorbei, entledigte sich seines umbrafarbenen Umhangs, warf ihn Henrietta über die Schultern, ohne sie anzusehen, und setzte sich.
Etwas an dem Mann kam ihr vertraut vor, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte. Er mochte um die dreißig Jahre alt sein und strahlte mit seinem bartlosen Gesicht und den unordentlichen Haaren, die aus seinem Nackenzopf hingen, etwas Aufrichtiges aus. Bestimmt ein Handwerker, dachte sie, und plötzlich begriff sie, was ihr an ihm bekannt vorkam: Es war sein Geruch. Er roch nach Farbe und Leinöl. Kaum wahrnehmbar, den Männern war es mit Sicherheit nicht aufgefallen, aber sie täuschte sich nicht. Er war ein Maler.
«Der neue Statthalter von Mainz, Johann Eriksson Sparre, hat persönlich angeordnet, Euch als Sachverständigen zu diesem Fall zu bestellen. Woher kennt er Euch?» Der Richter reichte ihm die Anklageschrift.
Hartenberg antwortete mit einem Brummen, nahm das Schriftstück entgegen und hielt es so, dass er es im Licht der Deckenlampe lesen konnte. Belsenius schien zu warten, ob Hartenberg ihm doch noch antworten würde, aber es kam nichts, und so fuhr er fort: «Gleichzeitig forderte er, dass wir den Fall heute noch abschließen. Am schnellsten gelingt uns dies mit einer Besagung.»
«Der Folter?» Hartenberg ließ das Schriftstück sinken. «Bin ich etwa nur gerufen worden, um Euch stillschweigend zuzusehen?»
Der Richter zog die Augenbrauen zusammen. «Alles zu seiner Zeit. Eure Meinung wird zum Tragen kommen, wenn ich es für richtig erachte. Wir haben soeben das Vorkommen von Hexenmalen geprüft, es waren jedoch zweifelsfrei keine zu finden. Die Angeklagte ist bisher nicht geständig. Sollte sich dies mit dem Vorzeigen der Folterinstrumente ändern, hätten wir den Fall schnell und glücklich abgeschlossen.»
Hartenberg nickte resigniert. Er wirkte erschöpft. Etwas unbeholfen nestelte er am Ausschnitt seines Wamses, ihm musste heiß sein. Der schmale Spitzenkragen sah aus, als wäre er seit Wochen nicht gewaschen worden. Henrietta seufzte. Ob der Fremde ihr helfen wollte?
«Die Instrumente», sagte Belsenius, und sie vergaß Hartenberg. Der Scharfrichter trat näher und legte die Folterwerkzeuge eins neben das andere neben sie auf den Tisch.
«Spanischer Stiefel, Daumenschraube und Nagel», erklärte der Richter. «Der Henker wird dir zunächst die Daumenschraube anlegen.»
Der Mann packte ihre linke Hand und schob ihren Daumen zwischen zwei kleine Eisenplatten, die er gerade so weit zusammendrehte, dass das Gerät fest saß.
«Ein wenig fester nur, und der Daumen bricht», erklärte Belsenius. «Wirst du uns nun sagen, was du an jenem Abend getrieben hast? Hast du dir einen Incubus ins Haus geholt und mit in dein Bett genommen?»
Sie musste schlucken, bevor sie antworten konnte. «Ich weiß nicht, was Ihr meint, Herr Richter. Ich bin unschuldig.»
Belsenius drehte sich auf dem Stuhl um und griff hinter sich. Er holte ein Gemälde hervor und stellte es auf den Tisch. Es war das Porträt, das sie gemalt hatte, bevor sie verhaftet worden war. Das zarte Frauengesicht war bereits vollendet, auch der Halsausschnitt und die linke Hand. Vom Körper und den Haaren waren nur die vorgezeichneten Umrisse zu sehen.
«Hast du daran zuletzt gemalt?»
Sie nickte.
«Und davor?»
«Davor?» Sie schüttelte den Kopf, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Thomas Hartenberg stand auf und bat um das Gemälde. Belsenius reichte es ihm, und er betrachtete es aufmerksam.
«Vorzüglich», sagte er. «Wen stellt es dar?»
Belsenius blätterte in seinen Unterlagen. «Die Gattin des Tuchhändlers Johannes Becker, Anna Becker – laut Aussage der Angeklagten.»
«Meine Herren, es ist eine Gabe Gottes, so malen zu können.» In Hartenbergs Stimme klang mehr als Anerkennung mit. «Würde jemand, der so talentiert ist, seine Gabe missbrauchen und dem Teufel schenken?»
Belsenius unterbrach ihn. «Sagt bloß, Ihr wollt Euch in die Gedanken einer Unholdin versetzen!» Hartenberg setzte sich hin, lehnte das Bild an seinen Stuhl und widmete sich der Anklageschrift, wobei er immer wieder den Blick hob, um die Situation weiterverfolgen zu können. Belsenius gab dem Scharfrichter einen Wink. Der nahm nun die Daumenschraube ab und griff zu den beiden Eisenplatten, die wie ein menschlicher Unterschenkel geformt waren. Abrupt packte der Henker Henriettas Fuß und schob ihn unsanft zwischen die Platten. Mit geschickten, routinierten Bewegungen schraubte er die Platten fest. Henrietta stieß einen heiseren Schrei aus.
«Der spanische Stiefel», sagte Belsenius. «Er kann dir das Bein brechen. Oder es verbrennen, wenn man heißes Öl einfüllt. Hast du mit einem Incubus schändliche Dinge getrieben?»
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Niemals würde sie diese Tortur überstehen, aber ebenso wenig konnte sie die Ungeheuerlichkeit bestätigen, derer man sie verdächtigte.
«Wenn du nicht gestehst, wird all das zur Anwendung kommen», sagte Belsenius, plötzlich mit freundlicher Stimme. «Dein Schweigen nützt dir nichts.»
Hartenberg wedelte mit dem Schriftstück, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. «Dieser Zeuge, der Apotheker ... Sollte er nicht erscheinen?»
Belsenius machte über die Unterbrechung ein unwirsches Gesicht. «Wir haben eine Aussage, das genügt. Dort steht alles», er deutete mit dem Finger auf das Papier. «Der Zeuge hat den Incubus gesehen, er saß auf einem Tisch und hat ihr zugeflüstert, was sie malen soll. Für eine Frau ist die Malerei ein gefährliches Unterfangen. Zumal, wenn sie Talent besitzt. Dann wird sie stolz und vom Widersacher verführt, unheilige Dinge zu tun. Es sollte ihr verboten werden, zu ihrem eigenen Schutz.»
«Und niemand weiß, was sie sonst getan hat, außer an diesem Bild zu malen?»
«Die Büttel fanden nichts Verdächtiges. Möglich, dass der Teufel sie gewarnt hat und sie die Beweisspuren vernichten konnte.»
Henrietta hob den Kopf und sah Thomas an. «Das ist nicht wahr.» Wenigstens der Maler musste ihr glauben.
Der Richter ballte die Faust und war im Begriff, sie auf den Tisch zu knallen, aber Thomas Hartenberg hielt ihn davon ab, indem er ihm das Papier zurückreichte.
«Ich möchte mir die Werkstatt ansehen. Irgendeine Spur muss sich ja finden, wenn es so war.»
«Es wurde bereits alles durchsucht», gab Belsenius zähneknirschend zurück. Es war offensichtlich, dass ihm die Verzögerung nicht passte. Hartenberg ließ sich jedoch nicht beirren, und Henrietta verspürte ein Gefühl, das Hoffnung gleichkam.