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Anno Domini 1066: Friesische Piraten überfallen ein fränkisches Dorf und verschleppen die junge Sophia. Sie landet im Haus der Hurenwirtin Svana in der Wikingerstadt Haithabu. Dort trifft sie auf Askell, einen Nordmann mit tiefschwarzem Haar, der am Ende seiner Handelsreise noch einen letzten Kauf tätigt: Sophia wird seine Sklavin. Unsichere Zeiten führen Askell und Sophia über die raue See in die unwirtlichen Wälder des Nordens. Wo Furcht und Verachtung waren, wachsen allmählich Vertrauen und Zuneigung. Deren Stärke muss sich in einer letzten Herausforderung erst noch beweisen … Ein fesselnder historischer Roman über Stolz und Leidenschaft - und die Mythen des Nordens!
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Seitenzahl: 437
Sabine Wassermann
Die Wikingersklavin
Roman
BOOKSPOT
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Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.
Copyright © 2013 by Edition Aglaia, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH
1. Auflage November 2013
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Lektorat: Sandra Fluhrer
E-Book: Mirjam Hecht
ISBN 978-3-95669-008-2 (EPUB)
ISBN 978-3-95669-009-9 (MOBI)
www.bookspot.de
A. D. 1066. Damals stand über ganz England ein Zeichen, wie es noch nie zuvor ein Mensch gesehen hatte. Manche sagten, es sei der Stern Comet, andere nannten ihn denStern mit langen Haaren. Zum ersten Mal erschien er am Vorabend des Litania major, das heißt acht Tage vor den Kalenden des Mai, und erstrahlte die ganze Woche.
Wie stets, wenn er in Svanas Haus einkehrte, fragte er sich, ob ihr Name ein Scherz der Götter war. Svana – der Schwan – war bei Weitem die dickste Frau, die er je erblickt hatte. Die Hurenwirtin thronte hinter einem Tisch gegenüber des Eingangs und tat, was ihr das Liebste war: Sie zählte, betrachtete und sortierte die Münzen, die ihr die fünf Mädchen einbrachten. Von den exotischsten Münzen hatte sie sich ein Armband fertigen lassen. Es klirrte, als sie die feisten Hände ineinander schlug.
»Du kommst spät dieses Frühjahr, Odins Rabe!«
»Das Wetter war ungünstig.« Er schob die Kapuze von den Haaren, deren Schwärze ihm den göttlichen Beinamen eingebracht hatte, löste die Bronzefibel am Hals und ließ den wollenen Umhang von den Schultern gleiten. Die Glut in der offenen Feuerstelle verbreitete Wärme. Draußen herrschte eine klare, kalte Frühjahrsnacht.
Svana lächelte. Sie besaß vollendet gezeichnete Lippen, um die sie jede Frau beneidet hätte. Doch darunter wölbte sich ein Kinn, das fast bis zum Ansatz ihrer Brüste reichte. Aus dem Ärmel zog sie ein Tuch und wischte sich damit über das stets schweißfeuchte und gerötete Gesicht. »Aber jetzt bist du ja hier, um dich in den Armen einer meiner Frauen aufzuwärmen. Gisla! Gisla, wo steckst du?«
Eine Seitentür öffnete sich. Eine junge, ihm fremde Frau mit zerzaustem Blondhaar steckte den Kopf in den Eingangsraum. Sie musterte ihn von unten nach oben und ließ den staunenden Blick an seinem Rabenhaar hängen.
»Bring Wein. Den guten, gewürzten, und spare nicht mit Honig.«
»Ja, Herrin.« Sie starrte und starrte und trollte sich erst, als Svana mit der Faust auf den Tisch schlug, sodass die Münzen klingelten. Rasch kehrte sie mit einem Krug und zwei hölzernen Bechern zurück.
»Die dir voriges Jahr so zusagte, ist nicht mehr bei uns, aber ich kann dir Gisla empfehlen«, sagte Svana, während sie zusah, wie das Mädchen einschenkte. Es beäugte ihn weiterhin aus dem Augenwinkel, zuckte aber mit keiner Wimper. »Sie ist ruhig und anschmiegsam – so magst du es doch, nicht wahr?«
Er nahm den von Gisla gereichten Becher entgegen. Svana hob ihren, lobte irgendeinen Heiligen und wartete höflich, dass er trank. Wacholder und die Süße des Honigs reizten angenehm den Gaumen. Er verspürte Lust, irgendwo die Beine auszustrecken und die Augen zu schließen. Die Tage in Haithabu waren vom Begutachten der Ware, von stundenlangem Handeln und Streiten ausgefüllt gewesen: Er hatte Zangen, Feilen und ein gutes Schwert verkauft, Silber- und Kupferdraht und günstige Roheisenbarren eingehandelt, sogar ein Stück Himmelseisen. Dazu ein paar Dinge für den Hausgebrauch. Es fehlten noch Segeltuch, gute Taue und der übliche Seidenballen für die Witwe Týra.
Und, bevor er morgen wieder nach Norden aufbrach, eine Frau.
»Ruhig und anschmiegsam, ja«, erwiderte er. »Aber dieses Mal komme ich nicht wegen einer Frau für eine Nacht.«
»Nein?« Svana lehnte sich in ihrem knarrenden Korbstuhl zurück, um staunend zu ihm aufzusehen. »Seit vier Jahren kommst du im Frühjahr hierher nach Haithabu, um deinen Geschäften nachzugehen …«
»Sechs, Svana.«
»Sechs. Seit vier in mein Haus. Und nie in ein anderes, wenn ich dir glauben darf, was ich tue.« Mit einer Handbewegung wischte sie Gisla fort, und die machte, dass sie verschwand. »Sind die Dinge, die du diesmal erworben hast, etwa zu teuer geworden, sodass du dir deine gewohnte Abschiedsnacht nicht mehr leisten kannst? Ich bin sicher, wir werden uns einig, mein schwarzer Rabe.«
Ihr Lächeln war einladend, als wolle sie selbst dafür sorgen, dass er auch dieses Jahr befriedigt wieder aufbrechen konnte. »Das bin ich auch«, erwiderte er. »Aber es geht mir nicht um eine Nacht …«
»Um was sonst? Oh«, sie hob die sorgsam gezupften Brauen. »Du möchtest eine Fraukaufen?«
Er nickte.
»Fürs Bett?«
»Ja, Svana.«
»Beim heiligen Ansgar!« Sie lachte, aber es klang gutmütig. »Warum? Willst du deine jährlichen Handelsfahrten etwa aufgeben? Ich würde dich vermissen.«
»Vor allem meinen Geldbeutel, nehme ich an.«
»Den und deine spitze Zunge.«
Natürlich hatte er nicht vor, zukünftig in seiner kargen Blockhütte auszuharren. Schließlich war er ein Nordmann; in seinen Adern floss die Reiselust der Wikinger. »Ach, weißt du, Svana, ich bin in einem Alter, in dem andere Männer schon fünf Kinder haben und dafür fünf Zähne weniger.«
»Du könntest mein Sohn sein, und deine Zähne sehen nicht aus, als bereiteten sie dir Grund zur Klage. Du willst also, dass eine Frau deine heimischen Felle wärmt.«
»So ist es.«
»Ein Mann wie du müsste genügend Heiratskandidatinnen haben.«
Er entblößte die Zähne und hob eine Faust. »Zu viel Ruß an meinen Schmiedehänden. Zu viel Schwärze in meinem Haar.«
»Und dein Lächeln scheint zu sagen: zu schwarz auch deine Seele. Vielleicht hast du recht.« Svana erwiderte es nachdenklich, als fragte sie sich, was wohl zutage käme, wollte sie die Tiefe seiner Seele ausloten. »Nun, Sklavenhandel ist nur eines meiner Nebengeschäfte. Warum gehst du nicht zu einem der großen Sklavenhändler? Bei denen hättest du viel mehr Auswahl. Schöne Slawinnen, die noch ihre seltsamen Götter anbeten – die müssten dir doch zusagen.«
Er schätzte an ihr, dass sie eine der seltenen ehrlichen Seelen in dieser von gierigen Händlern bewohnten Stadt war. Vielleicht hoffte sie, dadurch ihren Christengott milde zu stimmen, von dem es ja hieß, dass er Huren und Krämerseelen nicht wohlgesonnen war. »Den Tumult des Sklavenmarktes möchte ich mir ersparen, und ich bin satt vom Schwätzen und Feilschen. Außerdem weiß ich, dass du mich nicht übers Ohr hauen wirst.«
Der Vertrauensbeweis ließ sie freudig strahlen, und ihre Gesichtsröte vertiefte sich. »Gisla kann erworben werden, ebenso Haldelind, die du noch kennen müsstest, und dann hätte ich noch eine hübsche rothaarige Friesin. Ach ja, und … Nein.«
»Nein?«
Mit klingelnden Münzen winkte sie ab. »Eine Fränkin, aber ich müsste mich schämen, sie dir anzubieten. Die hat mir heute erst ein Kunde angeschleppt; er hatte sie günstig von friesischen Piraten erworben. Eigentlich wollte ich sie nicht, aber er hatte Schulden bei mir, und bevor ich gar nichts kriege … Ob sie anschmiegsam ist, weiß ich ja nicht, aber ruhig in jedem Falle.«
»Zeig sie mir.«
Svana stemmte sich hoch, ordnete ihr Gewand, während sie sich mühsam hinter dem Tisch hervorschob, und ergriff die Tranlampe in ihrem gusseisernen Gehäuse. Mit schwerfälligem Gang trat sie durch die rückwärtige Tür und bedeutete ihm höflich, ihr zu folgen. Die Räumlichkeiten dahinter kannte er: Die wacklige Treppe führte ins Obergeschoss, aus dem eindeutige Geräusche drangen, und bei den beiden Kammern hier unten handelte es sich um Lagerräume. Von einer schob Svana den Riegel zurück, drückte die Tür auf und streckte die Lampe vor.
Zwischen Säcken und Fässern hockte eine junge Frau auf einer Truhe. Sie hielt einen kleinen schwarzen Otterpelz an sich gedrückt und schmiegte die Wange daran. Langsam hob sie die Lider und ließ sie scheinbar uninteressiert wieder sinken. Wahrscheinlich hatte sie das Fell von dem Stapel auf einem der Fässer genommen, denn sie selbst sah schmutzig und abgerissen aus. Wie ein zerschlissener Vorhang lagen ihre hellbraunen Haare um ihre Schultern. Ihre dunkelblau gefärbte Cotte war am Saum aufgerissen und steif von getrocknetem Schlamm. Als sie einen Fuß bewegte, erklang das kalte Geräusch aneinanderreibender Fußketten.
Svana seufzte laut. »Sie macht meine Pelze dreckig. Aber schimpfen lohnt nicht; sie kommt mir nicht ganz richtig im Kopf vor, als hätte sie einen Schlag zu viel draufgekriegt.«
»Woher kommt sie?«
»Angeblich aus einem Dorf nahe bei Bremen, das ist da, wo der heilige Ansgar geboren wurde.«
Bremen, das war eine reiche Kaufmannsstadt vier oder fünf Tagesmärsche südlich, so viel war ihm bekannt. Und die Frau sah in der Tat aus, als sei sie die ganze Strecke gelaufen. Die Zehen, die unter dem schmutzstarrenden Saum hervorschauten, waren blutig.
Svana stapfte auf sie zu und zerrte ihr den Pelz aus den Händen. »Ihr Vater soll von den Friesen umgebracht worden sein, ihr Zuhause zerstört. Solltest du sie wirklich wollen, dürfte sie froh darum sein und wieder munterer werden. Lächle mal, Frau! Zeig deine Zähne!«
Stattdessen schaute die Fränkin sehnsüchtig auf das Fell in Svanas feisten Armen. Svana warf es auf den Stapel anderer Felle. »Sie versteht die nordische Zunge sehr gut und spricht sie wohl auch. Gesprächig ist sie nicht, aber welcher Mann will schon eine Sklavin, die ständig schwätzt? Komm, Mädchen, mach den Mund auf und lächle.«
Sie rüttelte am Kinn der Frau, die sich zur Seite drehte, um dem Zugriff zu entkommen. Für einen Augenblick blitzte etwas wie Ärger in den Augen auf, die, dunkel und warm, an Bernstein erinnerten. Nur ein Augenblick – danach wirkte sie wieder wie gefangen in ihrer eigenen verlassenen Welt.
»Sie hat ordentliche Zähne, wirklich. Läuse hat sie keine, ich habe das schon überprüft. Ihr Appetit ist gering. Wobei ich dir natürlich nicht sagen kann, ob das so bleibt, wenn sie sich einmal eingelebt hat, aber deine Rabenhaare wird sie dir nicht vom Kopf fressen. Wenn du sie nicht willst … Ich hab schon einen an der Hand, der sie mit nach Nowgorod nehmen würde.«
»In die tiefste Rus? Sie sieht nicht so aus, als könne sie das überleben.«
»O doch, die würde auch einen Marsch an den Rand der Welt überstehen. Ich habe mal gesehen, wie ein Wagenrad über eine Katze gefahren ist. Am Tag darauf sah ich sie wieder: Sie kroch mit gebrochenem Rückgrat umher. Und so ist die da auch.«
»Wie ist ihr Name?«
»Sophia.«
Die Frau hob eine Hand, um eine Strähne beiseitezuschieben, die ihr über die Wange hing. Auch unter den gesplitterten Nägeln steckte Dreck, der aussah wie getrocknetes Blut. Sie hatte sich offenbar heftig gewehrt bei dem, was ihr zugestoßen war – was genau, konnte man sich denken. Die Hand war schmal und ließ erahnen, dass sie einmal gepflegt gewesen war. Aber auch, dass sie zuzupacken wusste. Die ganze dünne, hochgewachsene Gestalt stand unter Spannung. Die Frau äugte nach dem Otterfell, als ersehne sie, wieder allein zu sein und zugreifen zu können.
»Ich werde sie natürlich noch in den Zuber stecken, und danach sieht sie ordentlich aus. Eigentlich dürfte ich als Christin gar keine Christin verkaufen, daher schlage ich dir einen eher symbolischen Preis von zweihundert Silberpennys vor.«
Der war durchaus im üblichen Rahmen. Aber wahrscheinlich würde sich Svana ohne viel Federlesens auf die Hälfte herunterhandeln lassen.
Im Haus polterten Schritte, und er hörte erstaunte Rufe und das Klappen von Fensterläden. Svanas Kopf ruckte hoch, und die Fränkin zog die Schultern ein.
Irgendjemand schrie: »Der Himmel stürzt ein!«
Er durchmaß mit langen Schritten die Kammer, bemerkte, wie die Fränkin vor ihm zurückzuckte, und langte nach dem mit einer Schweinsblase bezogenen Fensterladen hinter ihr. Als er ihn aufgezogen hatte, quoll ihm der Gestank der Gasse entgegen. Svanas Haus stand nicht in der besten Ecke Haithabus. Hier lagen noch einige Häuser in Schutt und Asche, seit Harald der Harte die Stadt vor einigen Jahren halb zerstört hatte. Und hier herrschte auch zu später Stunde Betrieb, denn schräg gegenüber befanden sich ein Gasthaus und gleich daneben ein Mietstall. Saurer Geruch von Bier und Erbrochenem drang ihm in die Nase, dazu der von Eisen und Leder der Sattlerei nebenan. Aus der beschädigten Seitenwand der Schenke quoll Bratendampf. Den Gestank der allgegenwärtigen Pferdeäpfel und des Männerschweißes nahm er dagegen kaum noch wahr. Dunkel war es nicht, wie nirgendwo in dieser großen dänischen Handelsstadt, wo selbst des Nachts noch gearbeitet, gefeilscht, gezecht und gestohlen wurde. Dicht am Haus rannte ein zerlumptes Mädchen vorbei, mit irgendetwas in den Armen, und ein Mann verfolgte es schnaufend. Die beiden waren die Einzigen, die nicht innegehalten hatten und in den Nachthimmel starrten. Selbst die Betrunkenen vor dem Wirtshaus suchten aneinander Halt, um die Köpfe in die Nacken legen zu können. Eine Ziege trottete die Gasse hinunter, weil ihre Halterin, die entsetzt ein Kreuzzeichen schlug, den Halsstrick fahren gelassen hatte.
Was, bei allen Göttern …
Er sah nichts.
»Da!«
Die Fränkin hatte sich erhoben; er hörte die Fußkette klirren und spürte, wie ihr Arm seinen unabsichtlich streifte, als sie in den Himmel deutete.
Da er immer noch nicht begriff, sah er sie an. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Es waren klare, große Augen in einem schmalen, scharfkantigen Gesicht mit einem großen Mund. Jetzt erahnte er auch die Zähne. Sie bemerkte seine Musterung und riss den Arm herunter; dabei berührte sie ihn erneut, und sie zuckte zurück. Ihr Blick verdüsterte sich.
»Ein Zeichen Gottes«, hauchte Svana ehrfürchtig.
Ihre prallen Finger tasteten an der Lederschnur herum, die von ihrem Hals hing, und bekamen die beiden silbernen Anhänger zu fassen: ein Thorshammer, vermutlich ein Erbstück ihres Vaters, und ein Kreuz. Schließlich umfasste sie das Kreuz und hob es an die Lippen. »Vielleicht ist es der Heiland, der zurückkehrt, die Seinen zu holen? Wenn das wahr ist, werden alle Heiden jetzt sterben. Vor allem du, Odins Rabe.«
»War nicht von Musik und Engelsgesang die Rede, wenn das geschieht?«, spottete er. »Ich höre nur das Geschrei der Leute, und so viel anders als sonst klingt es auch wieder nicht.«
»Aber dieser Stern dort – was ist das, wenn nicht ein göttliches Zeichen?«
Endlich erblickte er ihn, und er fragte sich, wie er ihn hatte übersehen können. Ein neuer Stern, der alle anderen überstrahlte und einen Streifen aus Licht hinter sich herzog.
Auch er berührte sein Thorsamulett, ganz unwillkürlich. Trotz des Schweifes stand der Stern still. Ein Stern, der das Ende der Welt einläutete, wäre wohl so groß wie der Mond. Aber ein Zeichen war er gewiss. Sie starrten, und da sich der Stern nicht rührte, nicht veränderte und auch der Himmel nicht einstürzte, trat er schließlich wieder zurück und schloss den Laden.
Svana, den Kopf schüttelnd, sodass ihr doppeltes Kinn wackelte, drückte nacheinander den Thorshammer und das Kreuz an die Lippen und murmelte versonnen ein Gebet. Die Fränkin hatte tatsächlich die Gelegenheit genutzt und das Otterfell wieder an sich genommen. Was lag ihr nur an diesem Ding? Wie zuvor schien sie versunken, und er fragte sich, ob sie wirklich auf den Stern gedeutet und einen Laut von sich gegeben hatte. Oder ob er sich das nur eingebildet hatte und sie in Wahrheit blöd und taub war.
»Sophia!«, donnerte er.
Sie riss den Kopf hoch. Für einen Herzschlag meinte er, durch ihre hellbraunen Augen in diese andere Welt zu blicken, auf Leid und Schmerz. Auch den Tod, doch nicht ihren. Eher sah er die verzweifelte Gier, irgendwie in dieser Welt zu überleben. Unwillkürlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er jener Katze wenigstens die Gurgel umgedreht hätte, um sie zu erlösen.
»Ich nehme sie, Svana.«
Die Hurenwirtin ließ die Schmuckstücke fahren und strahlte; sie schien die seltsame Himmelserscheinung vergessen zu haben, als sie sich die Hände rieb. »Eine gute Entscheidung, Odins Rabe. Eine gute, wirklich!«
Er war sich nicht so sicher. Beging er nicht soeben den gleichen Fehler wie damals der Blutwolf, der durch den unbedachten Kauf einer Sklavin die ganze Sippe ins Unglück gestürzt hatte?
Die Nornen spinnen die Fäden des Lebens, versuchte er sich sogleich zu beruhigen.Nicht ich.
Der Name des Raben war Askell. Askell der Schmied. Seine schwarzen, von der Gischt feuchten Haare wirbelten in der Brise wie kleine Schlangen. Viele Nordmänner hatten dunkles Haar. Doch von solcher Schwärze hatte Sophia noch keines gesehen. Das Schiff hatte am Ufer festgemacht; noch stand er am Bugsteven, die großen rauen Hände auf der Reling und den Kopf im Nacken. Er blickte in den Nachthimmel, leise singend. Es war die dritte Nacht, da der helle Schweifstern am Himmel stand. Nein, das Zeichen war gewiss nicht der Beginn des Weltenendes, denn irgendetwas hätte dann in diesen Tagen geschehen müssen. Nicht einmal ein Sturm hatte das Handelsschiff erschüttert. Die Nordsee war friedlich und der Wind gerade so kräftig, dass es einen Seemann erfreute und nicht ängstigte.
Askell ließ sein fremdartiges Lied ausklingen. Er stieß sich von der Bordwand ab, schritt über das Deck und sprang auf der anderen Seite auf die Laufplanke, die im Sand endete. Die Mannschaft hatte nur wenige Schritte entfernt ein Lagerfeuer entzündet; die Nordmänner steckten gepökeltes Fleisch auf Zweige, um es anzurösten, und packten Schläuche mit Wasser und Bier aus. Entspannt unterhielten sie sich, ließen die Schläuche kreisen und kauten auf Schwarzbrot.
Nur zwei Männer waren an Deck geblieben. Sie hatten sich niedergehockt, um etwas zu sich zu nehmen, und achteten nicht auf Sophia, als sie sich an die geklinkerte Bordwand setzte. Fliehen konnte sie nicht – sie trug immer noch die Fußkette, die ihr nur kleine Schritte erlaubte. Wohin sollte sie auch laufen an dieser wilden Küste? Zumal ihr vom Seegang beständig übel war, selbst jetzt, da sich das Schiff langsam in der Dünung wiegte. Sie lauschte den Gesprächen. In der Gegend daheim lebten viele Dänen, von denen sie die Sprache aufgeschnappt hatte, und derendönsk tungawar der Sprache der Norweger sehr ähnlich. An den ersten zwei Abenden hatten die Männer erzählt, was sie während der Tage in Haithabu getan hatten: getrunken und gefeiert, gehurt und gerauft. Heute drehte es sich um das, was sie erworben hatten, näm-lich Nützliches für die heimischen Häuser und Hübsches für die Daheimgebliebenen. Messer und Schmuck machten die Runde und jeder nickte anerkennend. Ab und zu schaute einer in den Himmel, ob der Stern sich verändert hatte.
Man besprach sich, ob man am nächsten Morgen noch in Kaupangr vorbeischauen wolle. Dem Namen nach –Marktplatz– war dies eine kleine Handelsstadt, aber eine norwegische, keine dänische wie Haithabu. Sophia vernahm, dass Kaupangr auf halber Strecke zum Zielort lag, einem Dorf namens Bisund. Drei Tage würde es also dauern, bis sie wäre, wo die schmerzlichen, harten und eintönigen Tage eines Sklavenlebens auf sie warteten.
Drei Tage, um zu hoffen, dass es nicht so weit kam.
Aber es gab so viele Sklaven, so viele Unglückliche. Auch ihr Vater hatte einen Sklaven besessen. Das nahe gelegene Kloster hatte Sklaven besessen. Der Bischof in Bremen. Warum sollte Gott eingreifen undihrhelfen?
Ein Windstoß fuhr durch ihr zerzaustes Haar. Sie schlang die Arme um sich. Unter dem Kleid spürte sie die Wärme des kleinen Otterpelzes. Askell der Schmied hatte ihn gekauft und ihr in die Hand gedrückt. Mehr noch spürte sie Kälte, Nässe, Übelkeit und den bohrenden Schmerz über den Verlust ihres bisherigen Lebens. Dass sie die Bettgefährtin dieses Mannes werden sollte, war noch nicht recht zu ihr durchgedrungen.
Er hatte noch kaum zu ihr gesprochen. Jene, die sie geraubt hatten, hatten ihr ebenfalls nie mehr als zwei Worte hingeworfen.Bleib stehen! Geh weiter! Beine auseinander!Das würde sie so bald nicht aus den Ohren bekommen. Auch geschlagen hatten sie sie – er noch nicht. Er stand im Kreis der sitzenden Männer und hatte sich leicht vorgebeugt, um im Licht des Lagerfeuers ein Messer zu begutachten, das einer der anderen gekauft hatte. Er redete, ließ dabei die Klinge durch die Luft zischen und fuhr mit Daumen und Zeigefinger über die Schneide. Seine schwarzen Strähnen tanzten, wenn er den Kopf drehte. An den Seiten trug er zwei schmale Zöpfe, deren Enden in silbernen Hülsen steckten; sie pendelten hin und her. Sein kurzer Bart hingegen verriet, dass er ihn oft schor.Er hat ordentliche Zähne, wirklich. Läuse hat er keine, dachte sie im Tonfall Svanas, jedoch voll Bissigkeit.
Ihr Blick glitt über gewaltige Klippen hinweg, die sich endlos in alle Richtungen dahinzogen. Dunkel und feindselig. Am Tage sah die zerklüftete Felslandschaft, das Gewirr von Buchten und Inseln nicht viel anders aus. Ein paarmal hatte sie hoch oben Ziegen und Rinder gesehen. Fischer, die über steile Wege ihren Fang hinaufschleppten, von Möwenschwärmen umringt. Hütten an den Kanten steil abfallender Hänge. Dieses raue Nordland hieß niemanden willkommen.
Bisher hatte sie die Tage am Heck unter einem Öltuch verbracht, das zwischen die Bordwände gespannt war und all die zusammengezurrten Kästen und Säcke vor der Gischt, vor Regen und dem Herumrutschen schützte. Es war ihr stets unangenehm, dieses winzige Versteck verlassen zu müssen, um sich über die Bordwand zu erbrechen oder ihre Notdurft in dem bereitgestellten Eimer zu verrichten, schutzlos allen Blicken ausgeliefert. Dann kam sie sich vor wie eines der Bündel, die Askells eingehandelte Waren enthielten. Wie der Sack voller Erzbrocken, der beim Schlafen in ihrem Rücken drückte, weil es so eng war. Oder die mit Wachs verschnürten Stoffe, auf die sie ihren Kopf bettete. Ein Stück Handelsgut.
Die Laufplanke federte, als Askell darüber lief und an Deck sprang. Sophia wollte unter die Plane flüchten. Doch er war so schnell und plötzlich gekommen, dass sie nur zusammenzucken konnte. Zwei Schritte entfernt baute er sich über ihr auf.
»Du isst viel zu wenig«, sagte er und hob einen Stecken. Sie riss einen Arm hoch, um sich zu schützen. Doch er schlug sie damit nicht, er warf ihn nur in ihren Schoß.
Sie betastete wärmendes Stockbrot. Auch ein Stück Fleisch steckte auf dem Holz. Man gab ihr genug, doch mehr als ein paar Bissen am Tag schaffte sie nicht. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Warum isst du nicht?«, herrschte er sie an.
Sie meinte Groll herauszuhören gegen die Entscheidung, sie sich aufgehalst zu haben. Aber vielleicht ärgerte er sich über etwas ganz anderes oder über gar nichts. Er ging vor ihr in die Hocke. Selbst in der Dunkelheit konnte sie seinen durchdringenden Blick sehen. Sein Haar war schwarz, doch seine Augen von tiefem Blau. »Gegen die Übelkeit hilft, etwas zu essen.«
Hastig zupfte sie ein Stück Brot ab und steckte es sich in den Mund. Sofort wurde ihr wieder schlecht. Sie kaute und würgte und konnte nicht verhindern, es auf seine Brust zu spucken. Mit verkniffenem Gesicht sah er an sich hinunter.
Er stemmte sich hoch, schritt zur Bordwand und neigte sich darüber. Einige Male klatschte er einen Schwall Seewasser gegen sein ledernes Wams, das so schwarz war wie seine Haare. Darunter trug er eine einstmals weiße Tunika, die ihm fast bis zu den in ledernen Beinkleidern steckenden Knien reichte. Von seinem Hals baumelte ein winziges Silberamulett, Thors Hammer. Er richtete es ordentlich vor der Brust, während er zu ihr zurückkehrte.
»Wo ist der Umhang, den ich dir gegeben habe?« Erneut neigte er sich vor; diesmal packte er sie an der Schulter. »Dein Kleid ist klamm. Sieh zu, dass du ihn trägst, nicht dass du krank in Bisund ankommst.«
Wieder kroch ein saurer Geschmack in ihren Mund. Sie konzentrierte sich darauf, ihn herunterzuschlucken.
»Du bist ja ganz kalt.« Plötzlich lag seine Hand an ihrem Hals. Entsetzt keuchte sie auf und schlug nach ihm. Rücklings schob sie sich von ihm fort, kam mühsam auf die gefesselten Füße und wankte mit klirrender Kette zum Heck, wo sie unter die Plane flüchtete. Auf den Knien drehte sie sich, bereit, ihr kleines Reich gegen sein Eindringen zu verteidigen. Doch er stand, wo er war, und sah ihr nur nach. Kopfschüttelnd sprang er auf die Laufplanke und kehrte ans Feuer zurück.
Sie kauerte sich auf den Umhang, den sie deshalb nicht trug, weil sie ihn dazu benutzt hatte, ihr Lager auszupolstern. Das jedes Mal neu zu tun, wenn sie von draußen kam, war ihr zu mühselig. Ebenso, es dem Schmied zu erklären. Oder gar, ihn um eine zweite Decke zu bitten. Niemals. Sie zog das kleine Otterfell aus dem Ausschnitt und legte es sich unter die Wange. Der vertraute Geruch trieb ihr Tränen in die Augen – mit Pelzen hatte der Vater gearbeitet und gehandelt, ihr Duft den Tag begleitet, während sie geholfen hatte, all die schönen Felle von Seehund, Walross, Luchs und Otter auszumessen, zuzuschneiden, zu schlagen und zu kämmen, bis das Deckhaar glänzte. An jenem Tag hatten Blutstropfen auf einem besonders schönen Bärenfell gelegen. Das Blut des Vaters. Während sie hinausgelaufen war, um vergeblich vor den friesischen Räubern zu flüchten, hatte sie gedacht, dass sie fast wie Schmucksteine aussahen.
***
Sie erwachte mit steifen Gliedern. Die inzwischen vertrauten Geräusche drangen nur langsam an ihr Ohr: die Schritte, das Knarren der Taue, das ständige Gekreisch der Möwen. Die Gespräche der Männer drehten sich um die ewig gleichen Dinge: den Zustand derknorr, wie sie dieses Handelsschiff nannten, ihre Häuser, die kleinen Äcker, der fette Wildbraten daheim, die Schenkel der wartenden Eheweiber, Geschichten von ruhmreichen Schlachten, in denenberserkirevon Dämonen besessen wüteten. Sie lachten und stimmten ein unmelodisches Lied an. Sophia schob sich auf den Knien ins Freie und blinzelte gegen den hellgrauen Himmel an, der die Sonne dahinter erahnen ließ. Möglichst unauffällig raffte sie die Kleidschichten und hockte sich auf den Notdurfteimer gleich neben dem Eingang zu ihrem Nest. Manchmal hielt einer in seiner Arbeit inne und glotzte – dieses Mal nicht. Die Männer reckten die Hälse und deuteten zum kiesigen Ufersaum.
»Da ist er endlich – Askell!«, rief der Mann, dessen Haar und Bart von grellem Kupferrot war. Sie nannte ihn bei sich Rotbart. Er winkte Askell, der offenbar fort gewesen war.
Sophia schlug das Kleid herunter und beeilte sich, sich wieder zu verstecken. Kaum war sie im Schatten der Plane verschwunden, hörte sie Askell über die Planke laufen und sah ihn einen schweren Sprung auf die Decksplanken tun.
Der Schmied war nicht allein gekommen. Er hielt den Oberarm eines Mannes gepackt. Dessen Kutte war vorne aufgerissen und glitt nur deshalb nicht an seinem schlaksigen Körper herab, weil seine im Rücken gefesselten Hände sie aufhielten.
»Ein Kahlschädel!«, rief ein anderer mit erstaunlich hellem, glattem Haar. Sein Name war Torolf. »Warum hast du einenMönchangeschleppt?«
Der junge Benediktiner war durchaus nicht kahl; von seinem hellbraunen Schopf fehlte lediglich am Hinterkopf eine handtellergroße Stelle. Die Ränder waren gezackt und vernarbt. Es sah aus, als habe man die kleine Tonsur wieder scheren wollen, doch aus Spaß an der Gewalt. Er hielt den Kopf gesenkt. Seine nackten Schultern zitterten.
»Weil er mir einfach in die Arme lief, und ich wüsste nicht, warum ich ein solches Geschenk ausschlagen sollte.« Askell hatte Sophia den Rücken zugewandt. »Mönche verstehen sich auf viele Dinge; irgendetwas wird mit ihm schon anzufangen sein. Wenn nicht, verkaufe ich ihn.«
Er zog aus seinem Gürtel, an dem auch ein Hiebschwert in einer silberverzierten Lederscheide hing, ein Messer, drehte den Mönch an der Schulter herum und löste ihm die Fesseln. Der junge Mann beeilte sich, seinen schwarzen Habit über die Schultern zu ziehen und unter dem Hals zusammenzuhalten. Mit gekrümmtem Rücken wartete er auf das, was nun mit ihm geschähe, aber Askell fragte zunächst: »Wo steckt die Frau?«
»War eben draußen und hat gepinkelt.« Torolfs Finger wies in ihre Richtung. Sophia drückte sich so weit in die Dunkelheit, wie es ihr möglich war, und zog die Knie dicht an den Körper. Aber da verdunkelten schon Askells mit Bändern umwickelte Beine die Öffnung. Er machte sich nicht die Mühe, sich zu bücken. Das Seil, das die Plane spannte, löste sich mit einem Knall. Er warf die Plane hoch.
Als er grob nach ihr griff, würgte sie an einem Schrei und zappelte. Ihre in dünnen Schuhen steckenden Füße trafen sein Schienbein, aber er schien es nicht einmal zu bemerken. Ehe sie es sich versah, stand sie aufrecht vor ihm. Nur langsam löste er die Hand von ihrer Schulter, wie um sich zu vergewissern, dass sie ohne seine Hilfe nicht zusammensackte. Er tadelte sie mit seinem Blick. Schließlich deutete er auf den Mönch, der ängstlich zusammenzuckte.
»Du, Mönch, wirst darauf achten, dass sie isst und trinkt, da sie es selbst nicht tut. Andernfalls ziehe ich dir deinen nutzlosen Schwanz lang, verstanden?«
Die Männer grölten. Sophia wollte ihm hinwerfen, was sie von seiner Fürsorge hielt, da er sie doch erst in diese Lage gebracht hatte. Doch die Lippen klebten ihr zusammen. Er holte von den Ruderbänken einen der darüber geworfenen pelzgefütterten Wollumhänge und legte ihn über ihre Schultern. Der Geruch von Schweiß und Fett sprang ihr in die Nase.
»Ich will, dass du lebst, Frau.«
Er knurrte es wie ein Wolf.
Dieses Mal spuckte sie ihm auf den Hals. Sie hatte sein Gesicht treffen wollen. Seine Augen verengten sich. Nachdenklich wischte er sich mit dem Handrücken über das stoppelige Kinn. Doch auch jetzt schlug er sie nicht.
***
»Es war so, wie er sagte: Ich lief ihm in die Arme.« Bruder Aidan wischte sich die von der Gischt feuchten Haare aus der Stirn. »In Kaupangrs Gewühl war es mir gelungen, meinen Bewachern wegzurennen. Ich schaffte es sogar durch das Stadttor und lief den steinigen Strand entlang. Und dort schnappte mich dieser Nordmann. Er fragte mich, wer ich sei, und ich hatte schon gehofft, einem guten Christenmenschen zu begegnen, aber dann sah ich seinen Thorshammer und wusste, dass ich meinem Schicksal nicht entkommen war.«
»Aber wie …«, begann sie und verstummte.
Sophia lag in den Umhang gekauert und atmete gegen das Heben und Sinken des Schiffes an, das seine Fahrt gen Norden wieder aufgenommen hatte. Sie hatte die Beine angezogen. So fand er Platz, unter der Plane zu sitzen, an einen der Kistenstapel gelehnt und die Füße gegen den anderen gestemmt.
»Du meinst, wie ich überhaupt auf den Sklavenmarkt von Kaupangr geriet?« Sie nickte, und er seufzte. »Ich stamme aus dem Kloster von Dunwich an der Ostküste East Anglias. Ich war spazieren, um frische Frühlingskräuter zu sammeln … und stieß auf marodierende Dänen, die mich an andere Dänen für ein paar Krüge billigen Biers verschacherten. Die Zeiten sind unruhig in England, seit der gute alte König Edward der Bekenner im Januar starb. Davor gab es seit Jahren keine Wikingerüberfälle mehr, jedenfalls nicht in unserer Gegend.«
Bruder Aidan war also ein Angelsachse, doch er sprach das Nordische tadellos. Sicher hatte er es in seinem Kloster gelernt. Er betastete seine verschandelte Tonsur. »Die Dänen brachten mich übers Meer, um mich in Kaupangr loszuschlagen.« Schmerzlich verzog er das jungenhafte Gesicht. Es drängte sie, eine seiner schmalen Hände zu ergreifen und zu drücken, doch sie wagte es nicht.»Und du?«, fragte er. »Wie kommst du hierher?«
Sie sah ihn nur an. Zu viele Worte wären nötig.
»Ist dir wieder übel? Es hat ordentlich Wellen draußen.«
Sie sagte nichts.
Besorgt sah er sie an. »Es ist wirklich leichter zu ertragen, wenn man an der Bordwand kniet und den Horizont betrachtet. Und dann hört das irgendwann auf. Wie weit es wohl noch ist? Bisund, hat er gesagt. Davon habe ich noch nie gehört.« In seinem ungezeichneten Gesicht zeigte sich ein vorsichtiges Lächeln. »Weißt du, wie eigenartig es sich anfühlt, mit jemandem zusammen zu sein, der einen nicht anschreien und herumstoßen will? Seit ich gefangen wurde, richtet man nur das Wort an mich, wenn ich etwas tun soll.«
Sie zwang die Zähne auseinander. Da war endlich jemand, mit dem sie reden könnte, und sie bekam kaum ein Wort heraus. Sie berührte ihren Hinterkopf. »Haterdas gemacht?« Ihre Stimme kam ihr sperrig vor wie ein ungegerbtes Fell.
»Bist du aus dem Frankenland?«, fragte er, und auf ihr Nicken ging er dazu über, Englisches einzuflechten, das ihrer Muttersprache ähnlich war. »Du meinst die Tonsur? Nein, die haben schon die Dänen in East Anglia so zugerichtet.« Er betastete seinen Hinterkopf und kniff die Augen zusammen. »Ich habe den Eindruck, das Haar will nicht überall mehr nachwachsen. Deines sieht auch mitgenommen aus.«
Er schien sich nicht zu trauen, einfach zu fragen: aus welchem Hause sie kam, welche Menschen sie lebend oder sterbend zurückgelassen hatte. Was mit ihr seitdem geschehen war. Sophia war froh darum. Ihr Haar sah in der Tat aus wie ein zerrupfter Reisigbesen. Sie zog eine kastanienbraune Strähne vor die Augen. Ungebändigt, schmutzig, verfilzt. Auf den Sklavenpodesten in Haithabu hatten ansehnlichere Frauen gestanden.
»War dein Haar … unter einem Schleier?«, wagte er schließlich zu fragen.
Bald hätte sie heiraten sollen. Einen jungen Kaufmann, der mit Pelzen aus dem Norden handelte. Sie war ihrem Vater dankbar gewesen, dass er es so fügte, denn so hätte sie ihre Kenntnisse im neuen Haushalt nutzen können. Er hatte sogar bereits das rote Brautkleid bestellt. An welcher Wunde der Verlobte gestorben war, wusste sie nicht, sie hatte ihn nur bäuchlings liegen sehen. Er war an jenem Tage ins Haus gekommen, ihr ein Geschenk zu machen. Was in seinem Päckchen gewesen war, hatte sie nicht mehr erfahren. Dem Vater hatten die friesischen Räuber den Schädel eingeschlagen. Wenn sie in sich hineinhorchte, hörte sie noch das Geräusch der Bartaxt, als sie aus dem Kopf gezogen worden war.
»Nein«, gelang es ihr zu krächzen.
In den nächsten Tagen zeigte Bruder Aidan, dass er die ihm gestellte Aufgabe sehr ernst nahm. Er brachte ihr getrockneten Hering, vom Salzwasser aufgeweichtes Brot und Tran und überredete sie mit endloser Geduld, davon zu essen. Er kippte den Eimer mit ihren Hinterlassenschaften ins Meer. Und er ertrug die Stöße, wenn er den Männern in den Weg geriet. Er erklärte sogar Askell, weshalb sie den Umhang nicht trug, und bekam einen zweiten. Vielleicht war er so eifrig, damit es ihn von den eigenen Erinnerungen ablenkte. Oft saß er bei ihr unter der Plane und betete still.
Torolf trat von außen gegen seine Hüfte. »Heraus mit dir, Kahlkopf, und schöpfen!«
Aidan beeilte sich, den heranrollenden Eimer aufzuheben und sich zu den anderen Männern zu gesellen, die zwischen den Ruderbänken Wasser schöpften. Das war nichts Ungewöhnliches; die Ladung ließ das Schiff tief auf dem Meer liegen, und ständig war wenigstens ein Mann mit dieser Arbeit beschäftigt. Auch Askell kniete mit seinen guten Kleidern im dichten Regen und arbeitete. Manchmal hatte Sophia ihn auch an den Ruderbänken sitzen sehen, die Ärmel seiner Tunika hochgekrempelt, und das Vor und Zurück hatte die Muskeln seiner Schmiedearme herausgefordert.
Dass sie selbst nie zum Arbeiten angehalten wurde,machte Sophia plötzlich zornig. Noch war sie ein Mensch, kein lebloses, nutzloses Ding. Den Würgereiz unterdrückend, kroch sie aus ihrer Höhle. Niemand hinderte sie daran, einen Eimer zu greifen und sich an Aidans Seite zu gesellen. Seine kläg-lichen Einwände missachtete sie. Bald waren Kleid und Unterkleid feucht von der Gischt, die unteren Säume nass und kalt. Sie scherte sich nicht darum. Auch nicht, dass sie über die Reling spucken musste. Sie wischte sich nur mit dem ohnehin verdreckten Ärmel über den Mund und schöpfte weiter. Irgendwann sanken die grauen Wellen und der Regen ließ nach.
Sie sackte auf die Knie und legte die Unterarme auf die Schiffswand. Den Horizont beobachten? Überall ragten graue, braune, kahle Hänge aus dem Wasser, zerschrundete Felsen, die zu bewaldeten Gebirgen wuchsen. Die Möwenschwärme waren dichter, und hoch droben kreisten Falken. Wann waren sie in einen der Fjorde des Nordlandes eingedrungen? Vorsichtig schob sie den Kopf nach vorne. Schäumend und lockend rauschte das Wasser an den geklinkerten Planken vorbei, nur eine Armlänge entfernt …
»Bitte denk nicht daran.« Bruder Aidan kniete neben ihr.
»Woran?«
Er zögerte betreten. Seine Tunika war so feucht wie ihre. Seine Hand krampfte sich um den Riss vor der Brust. »Es ist nicht alle Hoffnung verloren, schließlich ist das Land, wo wir hinkommen, ein christliches.«
Über seine Schulter hinweg wagte sie einen flüchtigen Blick auf die rudernden Nordmänner mit ihren langen zerzausten Blond- und Braunhaaren. Viele hatten sich schmale Zöpfe ins Haar geflochten, sogar in die Bärte. Eher ähnelten sie Trollen als Christenmenschen. Manche trugen Kreuze und Thorshämmer nebeneinander.
»Diese hier sind aber noch Heiden«, murmelte sie.
»Ja.« Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Vielleicht – vielleicht ist das unsere Aufgabe dort oben: den Boden, auf den das Samenkorn des Gotteswortes bereits gefallen ist, zu festigen.«
Fast hätte sie aufgelacht. Seine war das vielleicht. Sie dachte an den Zweck, für den Askell sie gekauft hatte. »Meine nicht.«
Er verstand. »Nein, bitte …« Äußerst behutsam berührte er ihren Ellbogen. »Willst du mir etwas versprechen? Gib nicht auf, bevor ich es nicht getan habe.«
Er sah kläglich aus, wie er da kauerte und wieder und wieder das Gewand über die Schulter zog, weil es herabrutschte. Diese bescheidene Hartnäckigkeit war es aber womöglich, die ihn nicht aufgeben ließ. Sophia löste den Fürspann, der den Halsausschnitt ihrer Cotte zusammenhielt. Das Schmuckstück war nur aus Kupfer und so winzig und unscheinbar, dass niemand es ihr fortgenommen hatte. Sie verschloss damit den Riss seiner Tunika.
Askell kam heran, durchnässt wie alle. Wie sie diesen durchdringenden Blick hasste! Als wollte er ihr Inneres nach außen kehren. Aidans Adamsapfel hüpfte ängstlich – würde der Schmied ihn schelten, weil sie jetzt fror? Askell ging vor ihr in die Knie und schob ihr Kleid hoch, und bevor sie recht begriff, hatte er ihre Fußkette aufgeschlossen und abgestreift.
»So weit im Nordland wäre es sinnlos, noch fliehen zu wollen; das ist dir sicher klar. Außerdem«, er wandte sich Aidan zu, »bist du ja da, auf sie aufzupassen.«
Er verengte warnend die Augen, und der junge Benediktiner nickte hastig.
***
Der Fjord, in den sie zwei Tage später einbogen, war schmal. Odsfjord nannten sie ihn, den zornigen Fjord. Bedrohlich kamen die Schluchtenwände näher. Immer öfter kam der Peilstein zum Einsatz. Die Felsen warfen die Geräusche zurück und ließen sie scharf und klar wirken, das Klatschen der Wellen, das Krächzen eines Vogels, die Rufe der Männer. Überall flossen Wasserfälle wie geschmolzenes Silber zwischen den Spalten herab. Ihr Dunst lag über den Ufern. Das Nordland war so anders als die flache Landschaft daheim. Hier verkündeten düstere Wälder, sie seien voll von wilden Geschichten. Es war eine eigenartige, kalte Schönheit um Sophia herum. Hier leben – wie sollte sie das können?
Die Männer wirkten konzentriert. Sie ruderten das Schiff zu einem flachen Felsen, der ein Stück in den Fjord ragte. Was wollten sie hier? Seit einem Tag hatte Sophia keinen Menschen am Ufer erblickt, hier siedelte niemand. Sollte es von hier aus zu Fuß ins Landesinnere gehen? Es drängte sie zurück unter die Plane, um sich vor dem Unvermeidlichen zu verbergen, doch sie stand wie angewurzelt. Die Männer warfen den Ankerstein aus und zurrten das Schiff am Felsen fest. Askell sprang auf den Rand der Bordwand und hielt sich an der Schot des Rahsegels fest.
»Ich werde hier Allvater Odin und Njördr ein Dankopfer darbringen, weil sie uns unversehrt zurück nach Hause gebracht haben. Wer sich mir anschließen will …« Er drehte sich auf den Sohlen und blickte die versammelten Männer herausfordernd an. »Ihr könnt natürlich auch Jesus opfern, wenn ihr das wollt.«
»Dem Heiland opfern? Beim heiligen Cuthbert, wie widersinnig!«, hörte Sophia Bruder Aidan neben sich murmeln. »Es wird viel Arbeit werden, im Kopf dieses Mannes aufzuräumen.«
Askell sprang auf den Felsen. Einer brachte eine an den Läufen zusammengebundene Ziege, von der Sophia geglaubt hatte, sie gehöre zum Proviant. Vier, fünf, dann sechs Männer stiegen aus.
Sie wollte das nicht sehen müssen und kniete sich hin, um zurück unter die Plane zu kriechen. Doch irgendetwas zwang sie, sich wieder zu erheben.
Plötzlich zog der Rotbärtige sein Schwert aus dem Gürtel, und als hätten die anderen nur auf dieses Zeichen gewartet, griffen auch sie nach Messern und Äxten und umringten Askell.
Was dann geschah, wirkte wie eine Abfolge grässlicher Traumbilder: Wie er nach dem Griff seines Schwertes langte. Gleichzeitig den Kopf herumwarf, im vergeblichen Versuch, sich allen zugleich zu stellen. Sein Haar umflog seinen Hals, an dem die Sehnen des zornig schreienden Mannes hervortraten. Ein Stück nur zog er sein Schwert, als könne er noch nicht glauben, dass er sich der eigenen Leute erwehren musste.Warum, warum?, rauschte die Frage durch Sophias Kopf, während ihr die Knie nachgaben und sie auf den Boden sackte. Etwas traf Askell am Hinterkopf; eine Faust oder der Griff einer Streitaxt. Er drehte sich, gab den Hieb mit dem Schwert zurück, und ein Mann sank zu Boden. Zugleich trat er nach hinten aus; der nächste kauerte sich nieder, das zertrümmerte Knie haltend. Ein dritter flog nach hinten, gefällt von Askells Ellbogen. Aber sie waren zu viele – Askell sackte auf die Knie.
Sie schlugen ihn bewusstlos. Oder tot. Und warfen ihn in den Fjord.
Sophia drehte sich um und stieg über die Reling. Im nächsten Augenblick war sie von den kalten Fluten umgeben. Schwarz ragte der Schiffsrumpf über ihr auf. Besser war es, zu ertrinken, als von diesen Nordmännern niedergemacht zu werden, vielleicht noch geschändet vorher, weil niemand mehr da war, der einen Anspruch auf sie erhob. Sie machte sich bereit, das Wasser einzuatmen.
Aber da war das leichtfertig gegebene Versprechen.Gib nicht auf …Ihr Körper gehorchte ihr ohnehin nicht; ihr Körper wollte leben. Sie stieß sich mit den Füßen von derknorrab und machte unbeholfene Schwimmbewegungen. Ihr Kopf geriet aus dem Wasser. Regen hatte eingesetzt und prasselte auf ihre Stirn. Überrascht stellte sie fest, dass sie sich ein ganzes Stück vom Schiff entfernt hatte. Regenfäden ließen die Männer seltsam fern und unwirklich erscheinen. Niemand bemerkte Sophia. Alle starrten auf den Felsen und jene Stelle, wo Askell der Schmied im Wasser versunken war.
Wieder war ihr nach Aufgeben zumute. Zu kalt das Wasser, zu schwer Haare und Kleider. Geschwommen war sie zuletzt als Kind in einem hüfthohen Bach. Unbeholfen kämpfte sie gegen die Urgewalt des zornigen Fjordes an, die sie wieder hinabziehen wollte. Ihre Augen brannten, im Mund schmeckte sie Salz; sie sah kaum mehr als weiße, vom Regen aufgewirbelte Gischtschleier. Doch plötzlich bekamen ihre Finger Felsgestein zu fassen. Sie kletterte daran hoch. Das Kleid riss, Schenkel und Knie rieben sich wund an den scharfen Vorsprüngen. Ein Buckel versprach Deckung. Eilig kroch sie über den Fels und verbarg sich zitternd hinter der Erhebung.
Ganz in der Nähe ruckte ein Kopf hoch. Sie wollte vor Schreck schreien. Hastig legte Bruder Aidan einen Finger an die Lippen. Er kroch an ihre Seite.
»Sie haben unsere Flucht nicht bemerkt«, flüsterte er, »aber Flucht wohin? Vielleicht hätten wir auf dem Schiff bleiben sollen.«
Sie schüttelte den Kopf, und er sagte: »Du hast ja recht. Das sind Teufel, sie hätten uns vermutlich schon deshalb umgebracht, weil wir Zeugen wurden. Aber wie es scheint, haben sie uns vergessen. Siehst du? Sie machen sich aufbruchbereit!«
Sophia war überzeugt, dass diesen Männern völlig gleichgültig war, was Aidan und sie gesehen hatten. Sie waren nur Sklaven, Ware, die nichts galt und die man nicht fürchtete. Vielleicht gab es überhaupt niemanden, vor dem sich die Mörder rechtfertigen mussten. Mochten sie Kreuze tragen, in ihren Herzen waren sie eine barbarische Horde.
Ruhig und leise legte das Schiff ab und glitt mit geschmeidigen Ruderschlägen zurück in die Mitte der schmalen Schlucht. Alles war so schnell geschehen, dass Sophia glaubte, sie müsse nur kurz die Augen schließen, dann wäre sie zurück in ihrer Höhle unter der Plane. Die Nässe begann in ihre Glieder zu kriechen. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Plötzlich ersehnte sie nichts mehr als den gefütterten Umhang.
»So viel wie du jetzt schnatterst, hast du all die Tage nicht geredet«, machte Aidan einen unbeholfenen Scherz. »Dort vorn unter dem Felsüberhang finden wir wenigstens Schutz vor dem Regen.«
Sie staksten über den unebenen Felsengrund. Manchmal mussten sie sich bücken und mit den Händen abstützen, und dann rutschten nasse Strähnen vor Sophias Gesicht, sodass sie kaum etwas sah. Als sie an der Felsenzunge vorbei kam, vermied sie es, einen Blick auf die Stelle zu werfen, wo der Nordmann sein nasses Grab gefunden hatte. Unter dem Felsendach wuchs weiches Moos. Es war klamm, aber leidlich angenehm, darauf zu sitzen.
»Wir müssen aus den Kleidern heraus.« Aidan packte den Saum seiner Tunika, schien sich einen Augenblick überwinden zu müssen, sich zu entblößen, und zerrte sie dann über den Kopf. Er breitete sie auf dem Felsen aus. Auch seine Bruche. Nackt wirkte er noch magerer und verletzlicher, jede Rippe ließ sich zählen. Nach kurzem Zögern tat Sophia es ihm gleich. Dann hockte sie sich auf die Fersen, schlang die Arme um die Knie und machte sich so klein wie möglich.
»Und jetzt?«, murmelte sie.
»Warten wir, bis es aufhört zu regnen und unsere Sachen trocken sind.«
Was bei dieser Witterung ewig dauern würde. Sophia war es recht so. Denn was sollten sie danach tun? Vernünftig betrachtet waren sie verloren. Im besten Falle käme ein anderes Schiff, das sie doch noch in die Sklaverei brachte. Sie griff nach dem Otterfell, wrang es aus und rieb sich damit über die Wange.
Ihr entfuhr ein kehliger Laut. Was war das? Eine Hand krallte sich in den Fels. Eine zweite. Ein Kopf tauchte auf, schwarz, nass und mit wasserverdünnten Blutschlieren auf der Stirn.
Askell schob sich auf den Felsen. Die Beine noch im Wasser sackte er bäuchlings hin und rührte sich nicht mehr.
»Heiliger Cuthbert!« Aidan schlug ein Kreuzzeichen. Er starrte ihn an, unfähig wie sie, sich zu rühren. Doch dann besann er sich seiner Christenpflicht; er sprang auf und stieg zu dem Nordmann hinunter. Achtsam beugte er sich über ihn und klopfte auf seine Schulter. Nichts geschah. Er grub die Finger in den Armausschnitt des Wamses, stemmte die Füße in den Fels und wuchtete den großen Leib mit lautem Ächzen herum. Auch das bewirkte nichts. Vielleicht war der Nordmann nun doch gestorben. Nein, seine Brust hob und senkte sich. Hilflos suchte Aidan Sophias Blick. Sie kaute auf den Lippen, schaukelte unruhig auf den Sohlen. Dann überwand sie sich und kam ihm zu Hilfe.
Im Schutz des Felsüberhangs mühten sie sich, ihn zu entkleiden. Sophia stellte fest, dass seine weiße Tunika dick und fest gewebt war. Am unteren Saum und den Enden der Ärmel waren feine Verzierungen in einem verschlungenen nordischen Muster aufgestickt. Darunter trug er eine Bruche und die schwarzledernen Beinlinge, die an den Unterschenkeln mit Bändern umwickelt waren. Sie konnte sich nicht überwinden, auch noch sein Unterzeug zu berühren, also kroch sie zurück und ließ Aidan sich plagen. Dankbar bemerkte sie, dass er zuletzt das Wams über Askells Blöße legte.
»Wenn wir nur Feuer machen könnten! Wenigstens hat der Regen aufgehört.« Er betastete den Kopf des Schmieds. An Stirn und Schläfen klebte Blut. Er riss ein Stück vom Saum der eigenen Tunika und tupfte es ab. »Die Knochen haben sie ihm offenbar nicht gebrochen. Da ist auch keine Schnittverletzung – als hätten sie sich nicht überwinden können, ihn einfach abzustechen. Aber sein Schädel hat einiges aushalten müssen. Hoffentlich erholt er sich.«
Hoffentlich? Sie hob den Kopf von den Knien, und er sah auf.
»Ich sorge mich auch um uns«, erklärte er. »Er mag unser Feind sein, aber ohne ihn wissen wir nicht, wohin mit uns. Wer weiß, vielleicht gibt es nur ein paar Schritte dort oben in den Wald hinein eine Hütte, von der wir nichts wissen. Er aber schon. Das wäre doch möglich?«
Woher nahm dieser dürre Jüngling nur immer die Zuversicht? Er kratzte Moos zusammen und schob es Askell unter die schwarzen Haare.Odins Rabe. Die jetzt offenen, nassverklebten Strähnen erinnerten tatsächlich an schlaff herabhängende Schwingen. Die schmalen Zöpfe waren halb aus den Silberhülsen gerutscht. In seiner Halsbeuge lag der winzige Thorshammer. Mit einem Mal griff er danach und ließ den Arm wieder fallen.
»Bist du wach, Schmied?«, fragte Aidan in der Sprache der Nordmänner. Sophia wünschte sich, er täte nichts, ihn zu wecken. Als sich Askell plötzlich auf die Seite rollte, duckte sie sich tiefer in den Fels. Auch der Mönch war zurückgesprungen.
Askells Rücken war mit Blutergüssen übersät. Nun war er es, der sich halb auf dem Bauch liegend erbrach. Wilde Schadenfreude durchzuckte Sophia.
Dann lag er wieder still. Immer wieder stieg Aidan an den Wassersaum, tauchte den Fetzen hinein und kühlte das geschundene Gesicht des Schmieds. Gegen Abend erwachte Askell wieder. Er kauerte sich nieder wie ein Hund, keuchte und würgte. Er wirkte selbst wie eine nordische Sagengestalt, wie er seinen Muskeln befahl, ihn aufzurichten, dabei wankte und über den Felsen kroch und es doch nicht schaffte. Aidan blieb geduldig an seiner Seite. Einmal empfing er einen Hieb, den Askell offenbar in einem düsteren Traum austeilte. Und während der Schmied längst nicht mehr blutete, kühlte Aidan nun die eigene Lippe.
Sophia graute es vor der Nacht. Hier war es nicht so kalt wie draußen auf dem Meer, dafür düsterer. Fremde Teufel mochten in den Wäldern lauern und nur darauf warten, des Nachts drei nackte, wehrlose Menschen zu zerfleischen. Aidan rieb ihre Füße und Hände und hockte sich an ihre Seite, um ihr ein wenig Wärme zu geben. Sie tat kein Auge zu. Erst bei Morgengrauen erwies sich die Müdigkeit als stärker, und sie fiel in einen bleischweren Schlaf. Als sie die Augen wieder aufschlug, war es hell.
Askell stand nur wenige Schritte vor ihr.
Sie fand im Rücken einen faustgroßen Stein und packte ihn. Aber er schien sie nicht wahrzunehmen. Er hatte die Arme gereckt, suchte Halt am Felsen über ihm. Seine zerzausten Rabenschwingen verdeckten sein Gesicht. Er knirschte mit den Zähnen. Spuckte noch einmal einen Schleimfaden aus. Schließlich wagte er es, eine Hand vom Fels zu nehmen und sich die Benommenheit aus dem Gesicht zu wischen. Auf Handrücken und Unterarm prangten rote Brandnarben. Mit noch unsicheren Bewegungen bückte er sich nach seiner Tunika und zog sie sich über den Kopf. Als er nach der Bruche greifen wollte, hielt er inne. Er hatte die anderen auf den Steinen ausgebreiteten Sachen entdeckt.
»Haben sie euch ausgesetzt?« Er warf die Sachen in Sophiasund Aidans Richtung, ohne die beiden eines näheren Blickes zu würdigen. »Zieht euch an.«
In Windeseile war Sophia in ihre fast trockenen Kleider und die dünnen, noch unangenehm feuchten Schuhe geschlüpft. Askell brauchte um einiges länger, ständig musste er innehalten und durchatmen; sichtlich plagten ihn Schmerzen und Übelkeit. Zuletzt legte er sich den Schwertgurt um die Mitte. Ein ärgerliches Knurren entschlüpfte ihm, als er an die leere Scheide griff. Das Schwert hatte er im Kampf verloren.
»Wohin willst du?«, fragte Bruder Aidan, der auch wieder in seiner Tunika steckte. Er zuckte zurück, als Askell ihn finster ansah.
»Nach Hause«, war die knappe Antwort.
»Dorthin, wo die Männer sind, die dich töten wollen? Warum nicht woandershin? Wir …«
»Ihr?Ihr seid immer noch meine Sklaven!« Askell rieb sich den Schädel, als sei ihm die eigene Stimme zu laut. »Du solltest inzwischen gelernt haben, dass Sklaven keine solchen Fragen stellen.«
Aidans Stimme blieb gewohnt sanft. »Auch Sklaven haben Bedürfnisse, zum Beispiel ihr nacktes Leben zu bewahren. In deiner Heimat wartet ganz offensichtlich der Tod auf uns. Den hätten wir hier in dieser abweisenden Wildnis schneller und leichter haben können, hätten wir dichnichtaus dem Wasser gezogen.«
Askell ballte die vernarbte Hand zur Faust. »Zu jeder anderen Zeit hättest du dir für solche Frechheit die Peitsche verdient. Aber gut, jetzt ist wohl alles ein wenig anders. Bisund ist vorerst wohl in der Tat zu gefährlich für mich, warum auch immer, Thor und Odin mögen die Männer verfluchen! Aber ich muss erst dorthin, um etwas zu holen, das mir lieb und teuer ist. Dabei, so hoffe ich, wird mich niemand bemerken. Wohin ich mich danach wende, weiß ich selbst noch nicht.«
»Du sprichst von dir, aber wir sollen dich bei all dem begleiten.«
»Natürlich. Euch werde ich nicht zurücklassen, denn ihr seid mein einziger Besitz, den ich nicht selbst tragen muss. Noch irgendwelche Fragen,Sklave?«
Aidan senkte die Augen und schüttelte den Kopf. Sophia trat an seine Seite und strich ihre Cotte glatt. Ihr Kopf war voller Fragen, aber sie bekam keine zu fassen. Ihr Mund war trocken, die Zunge dick. »Ich habe Durst.«
Für einen kurzen Augenblick glätteten sich die angespannten Züge des Nordmannes. Er deutete den Hang hinauf. »Quellen und Bäche finden sich genug. Und bis zu einer alten Jagdhütte ist es nur ein Tag.«
Eine Hütte. Sophia blickte zu Aidan, und der lächelte.
»Mit ein wenig Glück finden sich dort ein Feuerstein und trockener Zunder«, fügte Askell hinzu. »Wir werden die Nacht über zu Kräften kommen. Und dann haben wir fünf, sechs Tage zu laufen bis Bisund.«
***
Askell nahm Feuerstein und Pyrit aus Aidans Händen. »Du weißt nicht, wie das geht? Habe ich mich geirrt, als ich sagte, Mönche könnten so viel?«
»Ich war nie in der Klosterküche beschäftigt«, entschuldigte sich Aidan.