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Ein fesselnder historischer Roman über die faszinierende minoische Kultur auf Kreta 1450 v. Chr. – Akija, die jüngere Schwester der Herrin Kretas, ist auserwählt, ihr eines Tages auf den Bergthron zu folgen. Doch die Zeiten haben sich gewandelt – nicht länger sollen Frauen Kretas Geschicke leiten, so fordern es die Könige des griechischen Festlandes. Akijas Bruder soll nach deren Willen der neue Hüter von Knossos werden. Die amtsmüde Mijaro gibt dem Druck nach und verbannt Akija auf eine kleine Insel. Doch Akija will sich mit ihrem Los nicht abfinden. Mit Hilfe des Priesters Temidqe, der ihr zum Freund und Geliebten wird, will sie zurück nach Kreta und ihr altes Recht einfordern. Dies ist der Beginn einer abenteuerlichen Reise: Ihr Schiff zerschellt an der griechischen Küste, und beide fallen schwer verletzt in die Hände des mächtigsten und gefährlichsten Feindes, des Königs von Mykene, der davon besessen ist, Herr beider Reiche zu werden …
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Kurzbeschreibung:
Ein fesselnder historischer Roman über die faszinierende minoische Kultur auf Kreta
1450 v. Chr. – Akija, die jüngere Schwester der Herrin Kretas, ist auserwählt, ihr eines Tages auf den Bergthron zu folgen. Doch die Zeiten haben sich gewandelt – nicht länger sollen Frauen Kretas Geschicke leiten, so fordern es die Könige des griechischen Festlandes. Akijas Bruder soll nach deren Willen der neue Hüter von Knossos werden. Die amtsmüde Mijaro gibt dem Druck nach und verbannt Akija auf eine kleine Insel. Doch Akija will sich mit ihrem Los nicht abfinden. Mit Hilfe des Priesters Temidqe, der ihr zum Freund und Geliebten wird, will sie zurück nach Kreta und ihr altes Recht einfordern. Dies ist der Beginn einer abenteuerlichen Reise: Ihr Schiff zerschellt an der griechischen Küste, und beide fallen schwer verletzt in die Hände des mächtigsten und gefährlichsten Feindes, des Königs von Mykene, der davon besessen ist, Herr beider Reiche zu werden …
Sabine Wassermann
Die Stiertänzerin
Historischer Roman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2018 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2018 by Sabine Wassermann
Lektorat: Dr. Rainer Schöttle
Covergestaltung: XS Werbeagentur
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-171-3
www.facebook.com/EdelElements/
www.edelelements.de/
Liebes Schwesterherz,
Dein Herz hat schon immer für Griechenland und seine Götter geschlagen – auch wenn Du erst im Oktober 2015 endlich einige Stätten Deiner historischen Leidenschaft in natura besuchen konntest.
Ganz ohne Internet (wie hast Du das nur geschafft …?) hast Du Dich bereits in jungen Jahren mit Homers „Ilias“ in frühere Zeiten gebeamt und dort recherchiert. Und fleißig Altgriechisch gelernt. Dein erster Roman „Achill“ ist entstanden und mit ihm einige großformatige Gemälde, auf denen Du Götter und Helden fantasievoll in Öl festgehalten hast.
Du hast Dein Leben lang so gerne gemalt und geschrieben. Hast so viele schöne Geschichten verknüpft mit historischen und perfekt recherchierten Ereignissen an vielen Orten der Erde.
Wir waren so unterschiedlich, wie es Geschwister nur sein können. Doch in so manchen Momenten waren wir ein Team und uns ganz nah.
Deinen letzten Kampf hast Du alleine kämpfen müssen und verloren. Der Krebs kam mit Macht und hat sich viel zu spät gezeigt.
Dein Kreta-Roman „Die Stiertänzerin“ war Dein ganz persönliches Herzensprojekt, Du hast ihn gerade noch fertigstellen können.
Mit der griechischen Mythologie hast Du begonnen und da schließt sich nun der Kreis.
Wir können es immer noch nicht fassen.
Dein Lachen fehlt.
Du fehlst.
Sabine, wir vermissen Dich.
Gabi
Für meine Schwester Sabine Wassermann, gestorben am 31. März 2017 an Krebs.
An diesem Tag sollte Akija zum ersten Mal in ihrem Leben einen Stiertanz sehen. Doch nicht nur das – es war ihre Mutter, die tanzen würde. Akija war mit ihren sechs Jahren alt genug, um den Tanzplatz zu besuchen. Denn mit dem Stier tanzen würde sie eines Tages auch.
Was genau das bedeutete, wusste Akija nicht. Aber da sie natürlich wusste, was ein Stier war, hatte sie eines Tages gefragt, ob der Tanz gefährlich sei. Doch die Mutter hatte sich zu ihr herabgebeugt, ihr über das endlos lange, lockige Haar gestrichen und ihre Furcht beschwichtigt: „Natürlich ist der Stier ein mächtiges Tier, und du solltest noch nicht in die Nähe seiner Hörner kommen. Aber wer darin geübt ist, mit ihm umzugehen, ist nicht in Gefahr. Und ich übe täglich. Ich bin eine der besten Stiertänzerinnen. Du musst dich nicht sorgen.“
Und da ihre Mutter immer die Wahrheit sprach, waren Akijas Bedenken zerstreut. An der Hand ihrer Amme verließ sie ihr Zuhause, den Palast mit seinen bunten Meerestieren und Blumen, die die Wände bevölkerten und jeden in eine zauberhafte, fröhliche Stimmung versetzten. Dort gab es Gänge, in denen Männer und Frauen an den Wänden entlangschritten. Sie waren so groß wie wirkliche Menschen, und wenn Akija an ihnen vorüberlief, glaubte sie sich in die alten Geschichten versetzt, die sich die Priesterinnen erzählten. Blaue Delfine schwammen über Türstürzen, und Greife und Stiere bewachten die Throne der Hüterin. Die Tiere waren so allgegenwärtig wie das Symbol der heiligen Doppelaxt. Sogar Akijas Trinkbecher zierten Tintenfische und Muscheln.
Aber noch schöner war die Landschaft außerhalb der Stadt, wo jetzt die Blütenpracht des Frühlings herrschte, das tiefe Grün der Zypressen mit ihren hellen Trieben die Wege säumte und der von der Küste wehende Wind die Ölbäume silbrig schimmern ließ. Möwen und Schwalben flogen weit über ihr durch den Sonnenschein.
„Weißt du, warum der Stiertanz immer zur Mittagszeit stattfindet?“, fragte die Amme. Akija heftete den Blick wieder auf die Pflastersteine der Straße und wartete auf die Antwort. „Weil dann die Sonne im Zenit steht und die Tänzer auf dem Stiertanzplatz nicht blendet. Schau, Kind, wir sind schon da.“
Neugierig reckte Akija den Kopf. Der Stiertanzplatz war nichts als eine Rasenfläche in einer natürlichen, flachen Erdmulde. Auf einer Seite fiel der Hang zur Tanzfläche steil ab und endete in einer mannshohen Mauer, ähnlich wie ein Brett, das Akija manchmal in einen Bach hielt, um das Wasser zu stauen. Darüber erhoben sich Sitzbänke. Gegenüber war der Hang flacher, dort trennte nur ein Zaun den Platz von der dahinterliegenden Graslandschaft. Dies war die Weide des Stiers.
„Dieser Tanz findet zu Ehren des jugendlichen Gottes statt, des Gefährten der Göttin“, erklärte die Amme. „Im Herbst steigt er in die Unterwelt hinab, um den Tod der Natur zu verantworten. Und im Frühjahr kehrt er zurück in die Arme der Göttin, und sie lässt vor Freude die Welt wieder grünen. Deshalb findet der Stiertanz hier draußen statt. Aber es gibt mehrere Stiertanzplätze.“
„Ich weiß!“, rief Akija eifrig. „Sogar der Hof des Palastes ist einer.“
„Du hast recht, Kind. Aber dorthin wird der Stier nur selten geführt. Er ist jetzt in diesem Haus, dem Haus des Stiers.“ Die Amme deutete auf einen Bau an einer Seite des Tanzplatzes, dem strenger Stallgeruch entströmte. „Wir hätten früher losgehen sollen. Sieh nur, die besten Plätze sind schon besetzt.“
Energisch packte sie Akija am Handgelenk und zog sie hinter sich her. Sie fanden noch zwei Plätze in der dritten Reihe der wacklig wirkenden Holzbänke. Akija setzte sich sehr vorsichtig. Das von unzähligen Zuschauern glatt polierte Holz bewegte sich nicht.
„Nun, wie gefällt es dir?“, fragte die Amme. Akija sah sich um. Aus allen Richtungen strömten die Menschen herbei; es herrschte eine Stimmung wie auf einem der vielen Marktplätze in der Stadt. Gegenüber sah sie die einfachen Fischer und Bauern an den Bretterzaun treten, während hier oben am Hang in bunte Stufenröcke gekleidete Frauen saßen, mit Muschel- und Kupferkettchen und kunstvoll drapierten Locken.
„Ich kann nichts sehen.“ Akija reckte den Hals. Sie sah das Tor des Stierhauses und den gegenüberliegenden Zaun, doch nur wenig vom Tanzboden. Die Sitzreihen vor ihr waren dicht besetzt.
„Ich werde dich nachher auf den Schoß nehmen“, versprach die Amme. „Als Mijaro zum ersten Mal hier war, hat sie auch nicht so viel gesehen.“
Akija fühlte sich nicht dadurch getröstet, dass es ihrer Schwester nicht besser ergangen war. Inzwischen war die vier Jahre ältere Mijaro sicherlich groß genug. Aber sie musste an manchen Tagen den Priesterinnen zur Hand gehen, und heute war so ein Tag. Keines ihrer Geschwister durfte heute dem Stiertanz beiwohnen, und Akija erfüllte es mit Stolz, dass nur sie hier war. Sie freute sich schon auf den Abend, wenn sie ihnen alles erzählen könnte, während sie gemeinsam auf den Palasttreppen sitzen und die Füße in den Regenrinnen kühlen würden. Mijaro jedoch würde sich wenig beeindruckt zeigen, denn sie war schon alt genug, um selbst die Schritte und Sprünge zu üben, die sie eines Tages zur Stiertänzerin machen würden. Nicht nur zur Stiertänzerin – Mijaro war auserwählt, eines Tages den Bergthron zu besteigen.
Und damit bist auch du auserwählt, hatte die Mutter zu Akija gesagt. Denn sie war die nächstältere Schwester. Das Amt wurde immer an die nächste Schwester weitergegeben, bis es keine mehr gab und eine der Priesterinnen erwählt wurde, die dann die neue Herrscherfamilie gründete. So wie Mijaro von der jetzigen Hüterin ausgewählt worden war. Merk dir diese Worte, meine Tochter: Wer Kreta führen will, darf kein Mann sein, darf keine Mutter sein und muss über die Hörner des Stiers springen.
Akija hatte wenig davon begriffen, nur eines: dass sie eines Tages auch lernen würde, mit dem Stier zu tanzen. Die Aussicht, endlich zu erfahren, was genau dies war – es zu sehen –, ließ sie unruhig zappeln. Ihre Mutter hatte sie einige Male mit zur Weide genommen. Dort unten am Holzzaun hatte sie sie auf die Schulter gehoben, damit sie den Stier besser sehen konnte. Und dort war er gewesen; weit entfernt hatte er friedlich gegrast. Dunkel sein Fell, mit ein paar weißen, unregelmäßigen Flecken, seine Hörner riesig, jedes so groß wie ein erwachsener Mann. Oder noch viel größer – einfach ungeheuerlich groß. Und sie hatten in der Sonne wie Schnee geleuchtet.
Eine Priesterin trat aus dem Haus des Stiers. Ihr Mieder war so eng geschnürt, dass es die Brüste anhob, die wie zwei glänzende Äpfel aus dem Ausschnitt ragten. Ihren Kopf zierte eine kegelförmige Bedeckung, um die sich eine Schlange ringelte. War sie echt? Die Schlangen an den ausgestreckten Armen ganz bestimmt, denn sie bewegten sich und ließen die Zungen vorschnellen.
„Dies ist die Hüterin Kretas“, hörte Akija die Stimme der Amme über den Lärm hinweg. „Sie wird nachher den Stier mit der heiligen Doppelaxt opfern.“
Was es bedeutete, wenn ein Tier geopfert wurde, wusste Akija genau, doch sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich sehen wollte, wenn es den stolzen, mächtigen Stier traf. „Dann werde ich die Augen schließen“, erklärte sie unruhig.
Die Amme lachte auf, wandte sich ihrer Sitznachbarin zu und begann ein Gespräch. Es sah so aus, als interessiere die Frauen das Geschehen unten auf dem Tanzplatz nicht sonderlich. Sie unterhielten sich und ließen die Geschmeide an den Handgelenken und Ohren klirren und klappern. Akija rutschte ungeduldig auf ihrem Platz hin und her und drehte den Kopf in alle Richtungen. Überall saßen Frauen, dazwischen einige Männer, doch nur wenige Kinder, und diese waren ein ganzes Stück größer als sie. Akija stellte die Fersen auf das Sitzbrett und stand auf.
Nun konnte sie den ganzen Tanzplatz überblicken. Ihr Herz schlug höher, denn in diesem Augenblick betrat ihre Mutter gemeinsam mit zwei weiteren Tänzerinnen den Platz.
Akija fühlte bei ihrem Anblick unbändigen Stolz. Kraftvoll schritt ihre Mutter aus, und das lange, ungebändigte Haar wirbelte um ihre breiten Schultern. Sie war fast nackt, bis auf einen wulstigen Gürtel und ein weißes Tuch, das kunstvoll um ihre Hüften geschlungen war, sodass eine Ecke wie eine Spitze tief über ihre Schenkel ragte. Diese Tuchecke war mit einer kleinen Figur beschwert, der ersten Figur, die Akija selbstständig aus Speckstein geschnitten hatte. Sie war natürlich nicht gelungen – sie sollte eine kleine Schlange darstellen und sah doch nur aus wie ein irgendwo aufgelesener Stein –, doch ihre Mutter hatte ein Loch hindurchgebohrt und sie an ihrem Springerschurz befestigt. Nun pendelte die kleine Schlange vor ihren Schenkeln hin und her.
Die drei Tänzerinnen blieben in der Mitte des Platzes vor der Hüterin stehen. Mittlerweile hielt sie statt der Schlangen eine bronzene Doppelaxt in den ausgestreckten Händen. Nacheinander berührten die Frauen den Schaft der Axt.
„Akija, setz dich!“
Die Amme zerrte an ihr, sodass sie unsanft auf dem nackten Gesäß landete. Doch weitere Schelte blieb aus; die Amme wandte sich wieder ab.
War dies die Axt, mit der die Hüterin den Stier opfern würde? Werde ich das eines Tages auch tun?, fragte sich Akija. Allein der Gedanke war aufregend. Sie ergriff die Hand der Amme, doch die schien sie nicht wahrzunehmen. Mit einem Mal fühlte sich Akija alleingelassen. Furcht beschlich ihr Herz.
Sie wischte sich über die tränenfeuchten Augen, und als sie wieder hinunterblickte, erschien der Stier im Tor. Zuerst waren nur die weißen Hörner zu sehen. Jetzt erschienen sie ihr nicht mehr ganz so groß wie damals am Weidezaun, aber immer noch gewaltig. Langsam schob sich der mächtige Kopf aus dem Schatten. Die Menschen gegenüber am Zaun schrien auf. Die Amme stockte kurz in ihrer Unterhaltung mit der Sitznachbarin; ihre Hand ballte sich unerwartet und schmerzhaft um Akijas Finger, doch dann redete sie weiter drauflos. Die Mutter hatte einmal erzählt, dass es zum guten Ton gehöre, während der Darbietung zu schwatzen und gute Laune zu zeigen. Doch Akija konnte die Anspannung spüren, die in den Stimmen der Frauen lag.
Der Stier trottete auf den Platz. Wieder schrien die Leute hinter dem Zaun auf. Wo waren die Tänzerinnen? Wo war ihre Mutter? Über den Lärm hinweg vernahm Akija das Schnaufen des Stiers, das Scharren der Hufe und die Schritte der Tänzer.
Sie entzog ihrer Amme die Hand und glitt unter die Bank. An unruhig wippenden Füßen und raschelnden Röcken vorbei kroch sie zum Ende der Reihe, richtete sich vorsichtig auf und warf einen Blick zurück. Die Amme hatte nichts bemerkt. Erleichtert rannte Akija hinter den Bankreihen entlang und den Hang hinunter. Hier saßen die Leute im Gras, darunter auch einige von den feineren Damen, die oben keinen Platz mehr gefunden hatten. In den letzten Reihen hatten sich die Menschen auf den Knien aufgerichtet oder standen, und Akija konnte nichts sehen. Sie lief in Richtung des Weidezauns, wo sie hoffte, zwischen den Beinen der Leute bis an den Zaun kriechen zu können.
Die Leute hier unten unterhielten sich nicht; sie schrien und klatschten laut. Erneut wurde Akija von Furcht erfasst. Sie versuchte sich zwischen den Menschen hindurchzuzwängen, und als das nicht gelang, ließ sie sich auf die Knie und Hände nieder. Nun war es einfacher. Jemand trat ihr auf die Finger und sie unterdrückte einen Schrei, aber bald sah sie zwischen dem Wald der Beine die Zaunbretter hindurchschimmern.
Und hinter den Brettern …
Dort war nur Staub.
Mit einem Mal erklangen aus unzähligen Kehlen Schreie. Stille folgte.
Akijas Angst wuchs. Endlich war sie am Zaun; sie reckte ihre Hände, um eines der Bretter zu greifen und sich daran hochzuziehen. Der Staub lichtete sich. Jemand lag auf dem Platz – eine Frau.
Mutter!
Daneben knieten die beiden anderen Tänzerinnen. Der Stier stand abseits. Er bewegte seinen Kopf, die Sonne ließ seine weißen Hörner aufblitzen. Zwei Männer, Stierpriester vermutlich, standen bei ihm und hielten ihn mit Stricken. Eine der Hornspitzen war nicht mehr weiß. Sie war rot.
Akija schlüpfte zwischen den Brettern hindurch und rannte auf den Platz. Sie nahm noch wahr, dass die Leute hinter ihr herriefen, aber sie hatte nur Augen und Ohren für die leblose Gestalt, die dort im Gras lag. Der Weg zu ihr schien unendlich weit zu sein. Ich will nicht zu spät kommen, dachte sie, und nun wandelte sich die Angst in Entsetzen, als sie diese Worte auch begriff. Es konnte nicht sein, ihre Mutter konnte nicht sterben. Sie hatte es ihr versprochen!
Sie streckte die Hand aus. Ihre Mutter wandte den Kopf in ihre Richtung und öffnete die Augen. Und auch sie streckte die Hand aus. Es war eine langsame Bewegung; Akija ahnte die Mühsal, die es kostete. Die Mutter öffnete den Mund und lächelte beschwichtigend. Es war fast geschafft. Ihre Fingerspitzen berührten einander.
Akija konnte nicht zugreifen. Der Körper der Mutter erhob sich vor ihren Augen, getragen von den Tänzerinnen und noch zwei, drei Priestern. Hatten sie sie nicht bemerkt? Mutters Hand wurde ihr entzogen; Akijas Finger glitten ab, strichen über den weißen Schurz und bekamen nur die seitlich über dem Schenkel baumelnde Schlange zu fassen. Im gleichen Augenblick, als sie sie umschlossen, wurde sie umgestoßen. Endlich schrie sie auf. Ein Priester war bei ihr und hob sie hoch. Akija schrie und streckte die Arme nach ihrer Mutter aus, aber der Mann ließ sie nicht hinunter. Er drehte sich, sodass sie nur noch den Bretterzaun sah, hinter dem sie eben gewesen war – vor wenigen Augenblicken, als sie noch geglaubt hatte, dass das niemals geschehen könne.
Das Licht, ein langsam über den Höhlenboden wandernder Fleck, streifte die in den Fels geritzten Zeichnungen. Eine Frau hielt Schlangen in den Händen, einer anderen fehlten Kopf und Hände, und Blut schien aus den Stümpfen zu tropfen. Die Zeichnungen waren alt, und das Wissen, was es damit auf sich hatte, war verloren gegangen. Nur von der Frau mit den Schlangen wusste man, dass sie eine Priesterin war, denn auch heute wurde die Große Göttin – die Mutter der Insel, die Mutter allen Lebens – verehrt, indem man Schlangen zu ihren Altären brachte. Nur waren es selten lebende Schlangen; heute brachten die Priester und Priesterinnen kleine Figuren aus Stein, Holz oder Ton dar. Allein die Hohepriesterin ließ sich Schlangen um die Arme legen, um zu zeigen, dass sie eins war mit der Göttin, der großen Schlangenmutter.
Auch Akija würde dies eines Tages tun. Noch war sie eine Priesterin von vielen, noch bestand ihre Gabe an die Göttin aus nichts als einer Specksteinfigur. Vor vielen Jahren hatte sie die Figur mühsam geschnitzt, und so sah sie auch aus: ein kleiner, unförmiger Klumpen, geschaffen von der Hand eines Kindes. Noch heute erkannte Akija eine Schlange darin, und die Öse, die ihre Mutter durch den Stein gebohrt hatte, um ihn an ihrem Stiertänzertuch festzunähen, bildete die beiden Augen, die Furchen des Messers das Zackenmuster des Leibes.
Akija legte die Schlange neben all die anderen Bittgaben – schmucklose Tonidole, ein kleiner Delfin aus Alabaster, ein bronzenes Salbgefäß – und blickte den Lichtstrahl hinauf, den die Sonne durch eine winzige Öffnung in der Höhlenwand warf. Außerhalb dieses Strahls herrschte hier unten Dunkelheit.
Es war die Hohepriesterin, für die Akija das Wohlwollen der Göttin erbat. Ihre Schwester war seit einigen Tagen verschlossen und reizbar. Mijaro pflegte nicht mit ihren jüngeren Schwestern über die Sorgen zu reden, die eine Hüterin des Volkes plagten. Aber für gewöhnlich zeigte sie sich tatkräftig und entschlossen und saß nicht stundenlang an den Fenstern ihrer Gemächer, die Hände im Schoß. So blieb Akija das Gebet an die schutzgebende Göttin, dass sie ihrer Schwester beistehen möge. Ein Gebet. Und eine Gabe.
Akija musste sich überwinden, die Schlange liegen zu lassen, und beinahe hätte sie sie wieder an sich genommen. Schnell drehte sie sich um, raffte ihr Kleid und schritt behutsam über den steinigen Boden. Um hinauszugelangen, musste sie durch einen schmaler werdenden Korridor gehen und sich schließlich auf die Knie hinablassen, um durch einen kurzen Tunnel zu kriechen. Unangenehm war ihr das nicht, nur musste sie auf ihr kostbares Kleid achten, das um ihre Beine bauschte und sie behinderte. Die winzige Höhlenöffnung war von außen durch dichtes Buschwerk verborgen. Es gab viele Höhlen auf Kreta, in denen die Göttin verehrt wurde; einige besaßen große Eingänge und mächtige Hallen, in denen Zeremonien abgehalten wurden. Akija kämpfte sich zwischen dornigem Ginster hindurch ins Freie.
Sie richtete sich auf, trat auf den Waldweg und begann Blätter aus dem Haar zu pflücken, das ihr in dichten, schwarzen Locken bis zu den Ellbogen fiel. Während sie nach ihrer säumigen Dienerin rief, versuchte sie ihr Kleid zu begutachten, und als sie aufsah, erblickte sie das Mädchen an der nächsten Wegbiegung. Es schien sich von jemandem zu verabschieden, der gerade fortging und hinter einer Gruppe von Zypressen und Aleppokiefern außer Sicht geriet.
„Wer war das?“
Dann deutete Akija auf den Ziegenschlauch an der Schulter des Mädchens. Es wickelte die Schnur von der Öffnung und streckte ihn vor. Akija setzte ihn an die Lippen und trank so heftig, dass das Wasser ihren Hals hinunterrann. Es war herrlich kühles Quellwasser, wie es hier überall aus den Felsen sprudelte. Jedes Mal, wenn sie aus der Höhle trat, schien es ihr noch besser zu schmecken, der Thymian und Salbei, die im Schutz der Ginsterbüsche wuchsen, kräftiger zu duften und die Sonne strahlender zu sein. Nirgends war es schöner als auf der Insel der Göttin. Akija hatte sie noch nie verlassen, um das behaupten zu können, aber alle anderen sagten es auch: all die Händler und Reisenden von jenseits des Meeres, aus Ägypten, dem nördlichen Festland oder den Ländern der Kanaaniter und Hethiter.
Das Mädchen nahm den Schlauch zurück und verschloss ihn. „Jemand aus dem Palast. Ich soll dir sagen, dass du in den Thronraum gehen sollst. Auch dein Bruder wird sich einfinden. Es klang sehr wichtig.“
Akija blickte erschrocken zur untergehenden Sonne. „Es ist schon spät! In welchem Zustand ist mein Kleid?“
„Es ist zerknittert und hat Risse, wie immer, wenn du durch den Ginster kriechst, Herrin.“
„Komm, wir müssen uns beeilen. In den Thronraum, habe ich das richtig verstanden?“ Akija war erstaunt. Dann musste es sich in der Tat um eine wichtige Angelegenheit handeln. In letzter Zeit hatte die Hüterin die Anwesenheit ihrer Geschwister nur eingefordert, wenn Besuch zugegen war. Oft waren Gesandte aus den anderen großen Palästen Phaistos, Mallia oder Kato Zakros zu Gast, oder sie empfing hochrangige Priester und Priesterinnen der umliegenden Heiligtümer. Manchmal kamen Händler aus den südöstlichen Städten jenseits des Meeres.
Sie folgte dem Pfad, der bald in die nördliche Prozessionsstraße mündete. Dort zog sie die Sandalen mit den keilförmigen Absätzen aus, um schneller laufen zu können. Die silbrig glänzenden Ölbaumfelder wichen den Gärten herrschaftlicher Villen, deren Blumen und Sträucher jetzt im Frühsommer in voller Blüte standen. Weiter nördlich schimmerten die weißen Mauern und roten Säulen des Palastes im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Akija bedauerte, keine Zeit mehr für einen Umweg in eines der Palastbäder zu haben, denn sie schwitzte entsetzlich. Wenigstens hatte sie darauf verzichtet, ihre Augen mit Bleiglanz zu umranden. Ihr Gesicht sähe sonst vermutlich scheußlich aus.
Als sie die kleine Schlucht am Südende des Palastes erreichte, war die Sonne untergegangen. Sie lief über eine Brücke und an dem verfallenen Treppenaufgang vorbei, der von der alten Zeit vor der großen Flut kündete, als die Göttin der Tiefe ihre Schultern geschüttelt hatte und die Schlangen aus ihrem Haar geflüchtet waren. Tagelang hatte damals die Erde gebebt, selbst jenseits der Meere. Zehn Generationen lag das jetzt zurück, und immer noch lagen die roten Zypressenholzsäulen mit den schwarzen Kapitellen zerborsten im Gras.
Der Wachtposten am Westeingang verneigte sich und öffnete ihr die Tür. Sie rannte durch die fahle, von wenigen Kerzen unterbrochene Düsternis des Prozessionskorridors, wo auf einem nicht enden wollenden Wandbild Priester und Priesterinnen aufmarschierten und Gaben trugen. Am Ende des Korridors erhob sich auf rotem Grund das Bild des jugendlichen Gottes mit einem Lilienputz auf dem Kopf, der im erhobenen Arm eine Schlange hielt. Sie erinnerte sich an den Besuch eines festländischen Gesandten, der gesagt hatte, dies müsse wegen seiner Lilienkrone ein Prinz sein. Könige nannten sich die Herrscher der Festländer, und sie gaben ihre Zepter an die Söhne weiter. Diese Leute gebärdeten sich stets wie mächtige Eroberer.
Sie trat hinaus auf den großen Hof. In den Gemächern des Westflügels flammten die Lampen auf und warfen ihren matten Schein auf das Pflaster. Auch aus dem Vorraum, der zum Thronraum führte, floss das Licht der Kerzen ins Freie. Akija blieb abrupt stehen, denn der Hof war nicht leer, wie sie es erwartet hatte. Die Hüterin stand vor den Pfeilern des Vorraums, umringt von einigen priesterlichen Würdenträgern. Offenbar hielt sie jemand auf dem Weg zum heiligen Saal auf.
Es war ein kanaanitischer Händler, der sie mit einem empörten Wortschwall bedachte.
„Hundert Ballen feinstes ägyptisches Leinen!“, rief er mit einem fremdartig klingenden Akzent und hob die Hände zum Abendhimmel, als wolle er seine Götter anklagen.
Mijaro atmete tief aus und presste die Fingerspitzen an die Schläfen. „Allmächtige Göttin“, murmelte sie. „So oft schon habe ich in letzter Zeit solche Klagen gehört. Wo befand sich dein Schiff?“
Akija schlüpfte in ihre Sandalen und trat leise näher. Sie versuchte ihre zerzausten Haare zu ordnen und zu begreifen, worum es hier ging. Ihr Halbbruder Iasa verspätete sich offenbar ebenfalls, denn er war nicht hier. Vermutlich hatte er draußen seine Stiertanzübungen verrichtet, wie so oft, und säuberte sich jetzt im Nordbad.
Der Händler war ein feister Mann, der es trotz der Reichhaltigkeit seines Schmuckes um Hals und Arme verstand, elendig dreinzublicken. „Der Zielhafen des Schiffes war schon in Sichtweite, so berichtete mir mein Schiffsführer, der den Überfall überlebte. Doch dann waren sie plötzlich da, diese festländischen Piraten. Baal möge ihre Seelen auf dem großen Feuer rösten!“
„Und haben sie gesagt, dass sie vom Festland sind?“
„Sie machten sich nicht die Mühe, ihre Herkunft zu verbergen. Allesamt trugen sie Gold an den Ohren und in den Haaren. Und manchmal wechselten sie auch ein paar Worte in ihrer Sprache!“ Er verstummte und drehte den Kopf, wie alle anderen. Schritte hallten auf dem Pflaster. Ein junger Mann trat ins Licht, groß und von schlanker, kräftiger Gestalt. Er genoss es sichtlich, die Augen aller auf sich zu wissen. Vielleicht erschien er nur um dieser Wirkung willen zu spät.
„Langes Leben dir, Schwester“, sagte er und küsste ehrerbietig Mijaros Hand. Dann begrüßte er die Priester mit einem Kopfnicken und wandte sich dem Kanaaniter zu. „Ich habe bereits draußen in der Stadt von dem kanaanitischen Händler namens Buriasch gehört, der angeblich ein Schiff an die Achaier verlor. Dieser Händler bist du, nicht wahr?“
Der Kanaaniter blickte verunsichert drein. Mijaro deutete auf Iasa. „Dies ist Iasa, mein und meiner Schwester Halbbruder. Sein Vater war ein Hequetas, ein Angehöriger des festländischen Kriegeradels. Sein Onkel ist ein festländischer König.“
„Du bist ein Achaier?“, murmelte der Händler betroffen.
„Meine Mutter ist Kreterin, demnach bin ich es nicht“, erwiderte Iasa mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. „Dennoch ist dies wahrhaftig kein leichtes Los in einer Zeit, in der jeder kretische Fischer befürchtet, seinen Nachen an achaiische Piraten zu verlieren.“
Buriasch hob beschwörend die Hände. „Es ist nicht meine Schuld, dass die Bewohner der Inseln Furcht haben müssen, wenn sie hinaussegeln. Ich schwöre bei meinem Gott Baal, dass ich die Wahrheit spreche.“
Iasa schüttelte den Kopf. „O nein, Kanaaniter, deine seltsamen dunklen Götter lassen dich nicht glaubwürdiger erscheinen. Eher hast du dein Schiff unterschlagen, um Ersatz zu fordern und den doppelten Verdienst einzustreichen. Ich glaube dir jedenfalls nicht.“
Des Händlers Blick wechselte von dem jungen ungestümen Mann hin zur Hüterin. Mijaros Brauen waren unheilvoll gerunzelt, aber sie schwieg.
„Doch selbst wenn du die Wahrheit sprichst, was soll es uns kümmern?“, fuhr Iasa kühl fort. Er schien zu genießen, das Wort zu führen, kaum dass er aufgetaucht war. Akija konnte kaum glauben, dass die Hüterin ihm nicht das Wort verbat. Mijaro hatte die Finger in ihre Oberarme gekrallt und rührte sich nicht.
Iasa verschränkte gewichtig die Arme vor der Brust. „Nun, Händler, hör mir zu: Deinesgleichen pflegt sich oft hier zu beklagen, wenn Fahrten misslingen. Ihr werdet uns eines Tages noch für Unwetter verantwortlich machen. Die kretische Flotte beobachtet die Hoheitsgebiete, die zur Insel gehören, aber sie gibt nur in seltenen Fällen Geleitschutz. Den Gewinn eines kanaanitischen Händlers zu mehren, ist ganz sicher nicht solch ein Fall.“
Buriasch riss die Augen auf, seine Lippen bebten. „Gewinn?“, stieß er heiser hervor. „Du irrst dich, Prinz von Kreta, mein Verdienst …“
„Prinz? Kreta hat keine Königin und auch keinen König, also bin ich kein Prinz.“
Der Händler wandte sich Mijaro zu und hob fragend die Schultern. „Du bist nicht die Königin?“
„Ich bin die Hüterin meines Volkes und sein Bindeglied zur Großen Göttin“, erwiderte Mijaro hoheitsvoll. „Eine Hüterin leitet die Geschicke des Volkes zu seinem Wohl, aber sie beherrscht es nicht aus Lust an der Macht.“ Nach kurzem Zögern nickte sie Iasa zu und wandte sich ab. Akija glaubte die Störung hiermit beendet und raffte ihr Kleid, um der Schwester zu folgen, aber Iasas Stimme durchschnitt die Dunkelheit wie ein scharfer Opferdolch:
„Aber du sollst durchaus Hilfe finden, Händler. Morgen schon werden zwei achaiische Könige hier eintreffen, zu freundschaftlichen, nachbarschaftlichen Gesprächen. Mein Onkel, der König von Mykene, ist einer von ihnen. Du wirst also Gelegenheit bekommen, deine Beschwerde an die Brüder des Festlandes zu richten. Sie glauben zwar, dass Kanaaniter schon zweimal gelogen haben, wenn sie einmal den Mund auftun, aber ich bin sicher, sie haben ein offenes Ohr für deine Sorgen.“
Akija drehte sich erstaunt um. Der Händler benetzte mit der Zungenspitze die Lippen, die Hände kneteten fahrig den Gürtel seines steifen, bunten Gewandes. „Nein“, murmelte er. Selbst in der Düsternis war zu sehen, wie fahl sein Gesicht geworden war. „Nein, Herr, das wird nicht nötig sein.“
„Glaubst du, du kannst eine so dreiste Behauptung aufstellen und dich dann entziehen, nur weil dir die Furcht im Nacken sitzt? Wo hast du dich einquartiert?“
„In … in einem Haus im Händlerviertel, Herr.“
„Gut. Es wird bewacht werden. Und ich werde dafür sorgen, dass einer der beiden Könige dich dort findet.“
Schweigen breitete sich aus, nur das hastige Atmen des Händlers war zu hören. Akija wartete auf einen Einwand Mijaros, doch nichts geschah. Sollten die Festländer den Händler wahrhaftig herausfordern, so mochte es sein Tod sein.
Akija blickte Iasa in die Augen. „Dieser Mann ist unser Gast“, sagte sie. „Du hast kein Recht, über ihn zu verfügen, nur weil er eine Äußerung getan hat, die du nicht gern hörst.“
Nun erst schien Iasa seine Schwester wahrzunehmen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, wobei sein Augenmerk einigen Rissen in ihrem Kleid galt. „Die kleine Akija. Sie läuft herum wie eine Tagdiebin und versucht sich an großen Reden. Du hättest dich baden und frisch ankleiden lassen sollen, statt hier herumzustehen und schwierige Gedanken zu wälzen. Hat dich dieser Kanaaniter bisher gut mit edlen Stoffen und kostbaren Schminktöpfen versorgt? Mit Geschmeide aus Ägypten? Es gibt doch so viele andere Händler, die dir alles bringen, was du wünschst.“
Sie bemühte sich, den Spott zu überhören. „Wenn er deinen Onkel sprechen will, so kann er das tun, und wenn er heute noch absegeln will, kann er das auch tun.“
„Ah. Du verrätst deine Gedanken.“ Er lächelte. „Du siehst dich schon an der Spitze der kretischen Priester, du ersehnst bereits die Macht, die das höchste aller Ämter mit sich bringt.“
„Macht? Hast du Mijaros Worte denn nicht gehört? Was bedeutet einer Hüterin Macht?“
„Warum bleibst du nicht in deinen Gemächern, ergötzt dich an deinen schönen Kleidern, lässt dir die Locken kämmen und wartest einfach ab, bis es so weit ist? Hm? Es könnte immerhin noch einige Jahre dauern, und vielleicht wird die Gelegenheit nie kommen.“
Akija starrte ihn an. Es war ihr unbegreiflich, wie er sich so aufführen konnte. Als er ihr in einer herablassenden Geste eine Ginsterblüte aus dem Haar pflückte, schlug sie seine Hand fort.
„Zumindest trage ich meine Gedanken nicht so offen vor mir her, wie du es tust!“
Er legte unbeeindruckt die Hand auf ihre Wange. Sie unterließ es, ihn anzuschreien, denn es war ungebührlich, wenn sich die höchste Familie Kretas inmitten des heiligen Hofes stritt. Es genügte, dass einige Höflinge an ihren Fenstern in den oberen Stockwerken standen und vermutlich neugierig lauschten.
„Dein Zorn ist deiner Schönheit abträglich“, sagte er, noch immer lächelnd. Sein Daumen fuhr über ihre Wange und drückte zu, sodass sie zu ihm aufsehen musste.
„Nun hört auf damit“, rief Mijaro ärgerlich. „Ich habe euch nicht gerufen, damit ihr hier herumstreitet. Auch nicht, damit ihr seht, wie mit einem durchtriebenen Händler verfahren werden soll. Er traf unangekündigt hier ein. Buriasch“, sie deutete auf den Kanaaniter, „nun lass uns allein. Die Gastfreundschaft gebietet, dass du in diesem Haus nächtigen darfst; ein Diener wird dir im Ostflügel ein Zimmer zum Schlafen zuweisen. Und ich wünsche nicht, dass du es heute Nacht verlässt.“
Akija blickte dem eingeschüchterten Händler nach, der sich mit hängenden Schultern verneigte und über den Hof tappte, wo er von den Wachen vor dem östlichen Treppenhaus in Empfang genommen wurde. Sie hatte gehofft, dass Mijaro ihr und nicht Iasa recht geben würde; nun aber lächelte ihr Bruder still und selbstgefällig vor sich hin.
Die Hüterin schritt über drei herabführende Stufen in den Vorraum, nahm dort eine der Kerzen und betrat den Saal der Reinigung. Die Geschwister folgten ihr, begleitet von einer hochrangigen Priesterin. Hier setzten sie sich auf die gemauerten Bänke an den Wänden. In der Mitte einer Längswand stand ein schlichter Stuhl mit wellenförmiger Rückenlehne, auf dem ein Weidenkorb stand. Mijaro steckte die Kerze in einen bronzenen Ständer und wandte sich zu den Geschwistern um.
Der schwache Schein ließ ihre Züge seltsam unnahbar erscheinen. Sie wirkte wie eine der Statuen der Göttin. Sie war sehr schön, wenn auch nicht mehr jung. Das rituelle Priesterkleid, das sie trug, engte ihre Taille ein und verhalf den entblößten Brüsten zu einer aufgerichteten Form. Es war ganz in Purpur gefärbt, wie es nur der Hüterin zustand, und die Volants des Stufenrocks stachen in leuchtendem Blau ab. Auf dem Kopf trug sie eine kegelförmige Mitra, die von einem wulstigen Seil – dem Abbild der Schlange – umschlungen wurde. Die Priesterin öffnete den Weidenkorb, hob die Schlange heraus und legte sie um Mijaros Schultern. Mijaro trat zu den Stufen, die zum Weihebecken hinunterführten, und schien in ihre Gedanken zu versinken. Ihre Finger glitten über den Schuppenleib.
Akija war das Schweigen unangenehm. Wenigstens sorgte das schwache Licht dafür, dass ihr zerzauster Zustand nicht weiter auffiel. Iasa starrte sie missmutig an. Er hatte die Hände abwartend auf die Schenkel gelegt; das Gold seiner Armreife glänzte matt. In seinem weißen Schurz und den langen Locken sah er tatsächlich aus wie das Abbild des jugendlichen Gottes.
Die Flamme knisterte und zuckte und ließ den Schatten Mijaros durch den Saal tanzen. Die heiligen Doppeläxte an den Wänden schienen lebendig zu werden, als wollten sie aus ihren Halterungen springen und eigenmächtig nach Opferblut suchen. Mijaro liebkoste die Schlange; vielleicht hielt sie in diesem Augenblick stumme Zwiesprache mit ihr, um den Willen der Göttin zu erkunden. Endlich wandte sie sich um und blickte nacheinander dem Bruder und der Schwester in die Augen.
„Ihr beide“, sagte sie schließlich, „ihr beide kennt das alte Gesetz, das eine Frau zur Hohepriesterin der Göttin und Hüterin der Insel macht: Die nächstältere Schwester übernimmt das Amt, wenn die Hüterin ein Kind erwartet. Eine Frau, die für ihr Kind sorgt und es hütet, kann nicht ein ganzes Volk hüten, denn ihre Gedanken sind geteilt. So übergibt sie ihrer Schwester die Verantwortung; spätestens dann, wenn die Schwangerschaft zur Last zu werden beginnt.“
Akija begann unter Iasas scharfem Blick zu frösteln. Mijaro sah sie jedoch nicht mehr an, als sie sagte: „Nun ist es so weit, dass ich die Verantwortung übergebe, denn ich erwarte ein Kind.“
Auch wenn dies jederzeit hatte eintreten können, hatte Akija nicht wirklich daran geglaubt, denn es gab derzeit keinen Mann an Mijaros Seite. Gewiss, da war ihr Leibdiener, ein junger, hübscher Kerl, der es verstand, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn zu glätten. Nun ja, auch wenn die Priesterinnen der Göttin es verstanden, einer Schwangerschaft vorzubeugen, so gelang es nicht immer.
Mijaro winkte der Priesterin; die hob den Weidenkorb an, sodass die Schlange von Mijaros Arm in den Korb gleiten konnte.
„Morgen Mittag wird das alte Ritual stattfinden: der Stiertanz zu Ehren der Göttin, der von den besten Tänzern durchgeführt wird. Und wie es das alte Gesetz will, wird unter diesen Tänzern die neue Hohepriesterin sein. Denn nur wer imstande ist, mit dem Stier zu tanzen, kann das höchste Priesteramt erringen. Akija, deine Ausbildung ist noch nicht vollendet, und es wäre wünschenswert, dass eine vollkommene Tänzerin das Amt übernimmt, aber es ist nun in so kurzer Zeit nicht zu ändern.“
„Aber …“, begann Akija, doch Mijaro winkte sofort ab.
„Ich habe es so entschieden und niemand wird das infrage stellen. Morgen ist ein guter Tag. Und es ist gut, dass die achaiischen Könige zugegen sein werden. Iasa wird morgen früh noch ein wenig üben. Wirklich nötig ist es nicht. Er ist in sehr guter Verfassung.“
Sie streckte aufseufzend den Rücken, als zehre die Schwangerschaft bereits an ihren Kräften. „Akija, Iasa, geht in eure Gemächer und ruht euch aus. Ich werde die Nacht hier verbringen.“
Alle erhoben sich, der Raum füllte sich mit dem Knistern der steifen Kleider. Akija zog an ihrem in Hüfthöhe angebrachten Volant, damit das Kleid straff saß. Es war eine allgegenwärtige Bewegung, die sie kaum noch wahrnahm. Sie wandte sich zum Ausgang, blieb aber stehen.
Es ist nicht richtig, dachte sie. So ist es nicht richtig.
Zögernd drehte sie sich um. Mijaro saß inzwischen auf dem Thron mit der Rückenlehne, die den heiligsten aller Berge darstellte, der Korb stand auf einer der Bänke. Die Priesterin verneigte sich vor ihr, küsste ihre Hand und schritt hinaus. Akija wartete, überlegte sich ihre Worte und schüttelte insgeheim den Kopf. Endlich hob Mijaro fragend eine Braue.
„Mijaro“, begann Akija und stockte. Sie hatte sich ihrer Schwester noch nie sehr nahe gefühlt, doch jetzt spürte sie eine Kluft, die sie nicht erschrak, aber doch erstaunte. Mijaros Taten und Entscheidungen waren oft nicht zu durchschauen, aber immer hatte Akija den Eindruck gehabt, dass sie für das Wohl der Insel die richtigen waren.
Aber diesmal war es nicht richtig.
Sie atmete tief ein. „Schwester, warum hast du es so eilig? Eine Frau kann nur Hüterin werden, wenn sie über die Hörner des Stiers gesprungen ist – so ist der Brauch. Ich habe diesen Sprung noch nicht getan, aber wenn ich angestrengt übe, kann ich ihn bald wagen. Ich verspreche dir …“
„Wirklich?“ Mijaros Augen verengten sich. „Ich habe mich immer gefragt, warum du zögerst, dich der Herausforderung zu stellen. Früher hielt ich dich für faul und gleichgültig, aber ich weiß, dass du dir nichts mehr wünschst als das Hohepriesteramt. Nun, wenn du es nach althergebrachter Art erringen willst, hättest du früher anfangen müssen, dich den Hörnern zu widmen. An den hölzernen Modellen bringst du ja immerhin sehr schöne Sprünge fertig. Aber faul bist du auf jeden Fall. Jetzt ist es zu spät. Ich werde nicht warten, nur weil du mir plötzlich ein so dünnes Versprechen gibst.“
Hastig wandte sich Akija ab, damit Mijaro nicht sah, wie sie errötete. Sie fühlte sich tief getroffen; umso schlimmer, da sie nichts erwidern konnte. Sie war nur froh, dass der Raum bereits leer war und niemand sonst, schon gar nicht Iasa, diese Worte gehört hatte. Und sie musste die Zähne zusammenpressen, damit sie nicht auch noch zu weinen begann.
Mijaro schien das nicht wahrzunehmen. „Ich habe es so entschieden, und es ist nicht an dir, das zu bemängeln. Mächtige achaiische Könige werden zugegen sein; wir erwarten sie bereits morgen früh. Du wirst auf dem Stiertanzplatz sein, das genügt. Entscheidend ist, dass du die Doppelaxt aus meiner Hand empfängst und den Stier tötest, damit du deine Hände in sein Blut tauchen und sie der Göttin als Beweis für deinen Mut zeigen kannst.“
Sie blickte geradeaus, hinab ins Reinigungsbecken. Akija neigte höflich den Kopf und ging hinaus auf den Hof. Dort hockte sie sich auf den Boden unterhalb der heiligen Säule, um sich ihren Gedanken hinzugeben. Der nachtdunkle Hof war verlassen, auch brannten nur wenige Lichter in den Fenstern. Vielleicht sollte sie hier ausharren, so wie ihre Schwester dort drinnen.
Ihre Dienerin tappte plötzlich auf blanken Füßen über das Pflaster und entschuldigte sich schweigend dafür, dass sie ihre Herrin aus den Augen verloren hatte. Akija hob den Kopf.
„Warum ist es so wichtig, dass diese festländischen Könige dem Ritual beiwohnen? Warum überhaupt nimmt die Hüterin diese Männer so wichtig?“, platzte sie heraus, und das Mädchen hob verwirrt die Schultern. Akija lauschte auf Geräusche aus den Fenstern, aber niemand schien ihre Worte gehört zu haben. Sie zog die Fersen an, so gut das Kleid es zuließ, und presste das Gesicht auf die Knie. Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Es waren nicht die Festländer, über die sie sich ärgerte, auch nicht die Hüterin. Sie erboste sich allein über ihre eigene Feigheit.
Ich kann nicht über den Stier springen, dachte sie.
Sie glaubte nicht, dass Mijaro das wusste. Niemand wusste es. Niemand wusste, dass sie das von dem Blut ihrer sterbenden Mutter gerötete Horn des Stiers gesehen hatte. Nur ihre Amme war dort gewesen, aber Akija hatte ihr unter Tränen das Versprechen abgefordert, niemals darüber zu reden. Jeder hatte gesehen, konnte es bezeugen, konnte es beschwören, wie ihre Mutter gestorben war. Aber niemals hatte sie jemandem anvertraut, dass sie es gesehen hatte. Und dass sie seitdem den Stier fürchtete.
Es kostete sie stets große Überwindung, einen Stiertanzplatz zu betreten. Sie war nicht faul – und vielleicht war sie nicht einmal feige. Sie konnte sich in der Nähe des Stiers aufhalten, auch wenn ihr Herz vor Furcht jedes Mal zu zerspringen schien. Sie konnte vor dem Stier tanzen, ja, das konnte sie. Aber allein der Gedanke, eines der Hörner zu berühren, um sich von ihnen zum Sprung hinaufheben zu lassen, jagte ihr Angst ein.
Ich wusste, dass das eines Tages auf mich zukommen würde, dachte sie und wischte die Tränen fort. Ich sollte erleichtert sein, dass ich das Amt erringen darf, ohne zu springen. Warum habe ich diese Tragödie für mich behalten? Weil ich wusste, dass ich Mijaro nicht traue?
Es fiel ihr schwer, Ruhe zu finden. Sie starrte auf die Bilder an der Wand, in denen eine Gruppe von Frauen Wiesenblumen pflückte. Ein Affe mit bunten Federn auf dem Kopf hielt sich eine Lilie an die Nase, so zierlich wie eine Hofdame. In seinem Rücken wand sich eine Schlange durchs Gras. Akija war es nie aufgefallen, aber plötzlich störte sie das dunkle Grau der Schlange, das in das bunte Farbenspiel nicht recht passte. Sie tastete nach der kleinen Specksteinschlange an ihrem Hals und erschrak, als sie ins Leere griff. Die Schlange lag jetzt in einer der vielen Höhlen Kretas. Sie hatte ihre eigentliche Trägerin nicht beschützt, und vielleicht war es besser, dass sie fort war.
Akija drehte sich auf die Seite, um das Bild nicht mehr zu sehen. Warum war alles so gekommen? Warum konnte sie nicht springen, wie es alle Tänzer taten? Warum hatten die Hörner des Stiers solche Macht über sie? Das war nicht richtig. Der Stier sollte nicht stärker sein als die Schlangen der Göttin.
Erst im Morgengrauen schlief sie ein, und als sie von einer Dienerin geweckt wurde, war der Palast von Leben erfüllt. Ein Tablett mit frischem Brot, Olivenöl und verdünntem Wein stand bereit. Akija aß ein wenig, obwohl die Aufregung ihr die Kehle zuschnürte. Kaum hatte sie gegessen und sich gewaschen, trat eine Priesterin ein, eine der schweren bronzenen Ritualkannen vor sich hertragend. Eine weitere Frau hielt Tücher bereit. Sie begrüßten Akija und baten sie, in der angrenzenden Badekammer zu knien. Ein kühles Wasserrinnsal, nach Myrrhe duftend, rann durch ihre Haare und den Rücken hinunter. Dazu sprach die Priesterin ein Gebet an die Göttin, in dem sie den Schutz für die Stiertänzerin erflehte. Akija ließ sie ihre Haare kämmen und ölen. Dann öffneten die Priesterinnen Akijas Kleidertruhen und holten goldene, mit Türkisen besetzte Oberarmreife und Perlenarmreife heraus, dazu den Stiertanzschurz und die aus weißem Leder gefertigten Tanzstiefel. Akija hielt still, bis alles an ihr saß und die Priesterinnen zufrieden lächelnd zurücktraten. Lediglich die Stiefel würde sie erst anziehen, wenn sie den Tanzplatz betrat.
Sie schlüpfte in ein lose um die Knie fallendes Hemd und verließ die Kammer im Ostflügel des Palastes. Die große Eingangshalle war von Menschen aus aller Herren Ländern bevölkert, die auf eine Audienz warteten, Geschäfte abwickeln wollten oder Geschenke für die Göttin brachten. Sie alle würden heute lange auf das Erscheinen der Hüterin warten müssen, vielleicht sogar bis zum nächsten Tag. Akija ging unbeachtet zwischen ihnen hindurch, nur der Wächter vor der geöffneten Flügeltür nickte ihr ehrerbietig zu.
Sie begann zu laufen, vorbei an den Sänften der Hofdamen, die sich zum Tanzplatz tragen ließen. Es würde ihre Muskeln erwärmen und ihren Kopf klären. Einige erkannten sie und winkten ihr zu. Es bedeutete Glück, einen Stiertänzer zu berühren. Sogar aus den Fenstern der Häuser winkten die Leute ihr nach. Bald wich Akija von der Straße ab, hinein in die wilde Hügellandschaft, wo nur Hirten und Bauern auf den Wegen wanderten. Gerne wäre sie jetzt südwärts nach Anemospilia oder sogar hinauf zum Gipfelheiligtum des heiligen Berges gelaufen. Dort oben, wo die Luft klar und kalt war, hätte sie vielleicht begriffen, weshalb eine unbestimmte Furcht sie quälte. Nein, es war nicht die Angst vor dem Stier. Es war das sichere Gefühl, etwas zu tun, das sie eines Tages bereuen würde.
Als sie den Stiertanzplatz erreichte, stand die Sonne im Zenit. Anders als die prächtigen, verwinkelten Paläste mit ihren Malereien und den ausgeklügelten Abwasserrinnen wirkte all das hier urtümlich und einfach, wie es das Ritual war. So hatte der Stiertanzplatz in der alten Zeit ausgesehen, vor der großen Flut. Die hölzernen Sitzbänke am Hang waren bereits gefüllt, und gegenüber am Weidezaun standen die Leute aus der Stadt und sahen zu, wie Iasa auf dem Tanzplatz akrobatische Sprünge vollführte.
Nichts hatte sich verändert seit dem Tag vor vielen Jahren, als Akija an der Hand ihrer Amme zum ersten Mal hierhergeführt worden war. Seitdem war sie oft hier gewesen, hatte zugesehen oder selbst unten auf dem Platz gestanden, um vor dem Stier zu tanzen; zuletzt im Frühjahr, als die Rückkehr des jugendlichen Gottes aus der Unterwelt gefeiert worden war. Vor dem Haus des Stiers wartete bereits ein Priester, der ihr die Tür öffnete. Der strenge Geruch nach Moschus raubte ihr fast den Atem. Zu Gesicht bekam sie den Stier jedoch nie. Mannshohe Vorratsgefäße standen an den Wänden, es roch nach Oliven und Heu. An einer Wand standen mehrere Ständer mit den langen, kegelförmigen Ritualkannen. Die heilige Doppelaxt steckte in einer bronzenen Halterung. Der Priester bat sie, sich darunter auf die Bank zu setzen, und öffnete ein kleines Tongefäß.
Er goss einen Tropfen Olivenöl auf seine Handfläche und rieb ihre Füße und Hände ein. „Mögen deine Füße standfest sein, deine Hände sicher und geschickt“, sagte er, nahm ihre Tanzstiefel, zog sie über ihre Füße und umwickelte ihre Fesseln mit einem Band. Auch um ihre Handflächen wickelte er feste Leinenstreifen.
„Hattest du nicht einen Talisman an deinem Schurz?“
Akija verharrte im Gebet; die Doppelaxt schwebte über ihr – sie stand unter ihrem Schutz, aber heute kam sie ihr bedrohlich vor. Nach einiger Zeit öffnete der Priester eine Tür zu einem kurzen, dunklen Gang, der hinaus auf den Tanzplatz führte. Durch diesen Gang würde auch der Stier ins Freie treten.
„Es ist nicht gut, ohne ein Amulett oder dergleichen zu tanzen“, meinte er. „Du könntest dich verletzen.“
Sie biss die Zähne zusammen, um nichts darauf zu erwidern, und ging hinaus. Das Tor, das zum Platz führte, stand offen. In der Kammer war es dunkel gewesen, jetzt legte sie die Hand vor die Augen. Sie ging ein paar Schritte ins Helle, hob einen Stein auf und trat ein loses Grasstück fest. Den Stein warf sie an den Rand, wo er nicht störte. Es kam immer vor, dass Unrat von den Zuschauerrängen herunterfiel, und es oblag den rangniedrigeren Tänzern, den Platz zu prüfen. Derweil spürte sie Iasas Blick auf ihren Schultern. Er saß in der Mitte des Rasens, die Hände aufgestützt, seine Brust hob und senkte sich heftig.
„Komm her, Schwester“, rief er ihr zu.
„Ich mag es nicht, wenn du diesen Befehlston an den Tag legst.“ Akija kauerte in seiner Nähe, strich über das Gras und riss einige Wurzeln aus.
„Das tue ich nur hier“, erwiderte er lächelnd, „denn unter den heutigen Tänzern bin ich der Springer. Der andere Tänzer ist übrigens einer aus der Stadt.“
Es gab Berufstänzer, die ihre Dienste gegen Bezahlung zur Verfügung stellten. Die meisten waren schlecht ausgebildet, denn die Priesterschaft verwahrte argwöhnisch ihr Wissen. Aber es gab einige, die sogar im Auftrag der Hüterin nach Ägypten oder ins Küstenland der Kanaaniter reisten, um die alte kretische Kunst zu zeigen.
„Es spricht für Mijaros überstürztes Handeln, dass sie auf einen Tänzer aus der Stadt zurückgreifen muss“, sagte sie mit bitterem Unterton.
Iasa winkte ab. „Das muss dich nicht bekümmern. Die Hüterin wählt keine schlechten Leute aus.“ Geschmeidig sprang er auf die Füße. „Schon gar nicht, wenn so hoher Besuch unter den Zuschauern weilt. Wirf einen Blick auf die unterste der Tribünenbänke, wo die Schutzwand steht.“
Vor der Mauer war eine kleine Palisade errichtet worden, damit die Tänzer im Notfall dahinter Schutz fanden. Sie wusste sofort, wen er meinte. Auf der unteren Bank, unmittelbar über der Mauer, saßen zwei Männer. Sie fielen allein dadurch auf, dass die Plätze neben ihnen leer blieben, und die Leute in ihrer Umgebung schienen sich leiser und zurückhaltender miteinander zu unterhalten. Die Männer waren Festländer. Akija hatte oft Achaier gesehen, in der Stadt oder unten im Hafen, aber diese beiden wirkten fremd und barbarisch zugleich mit ihren pelzverbrämten Umhängen über nackten Oberkörpern und reichlich Goldschmuck an den Ohren und Hälsen.
„Sind das die achaiischen Könige, die Mijaro eingeladen hat, dem Stiertanz beizuwohnen?“, fragte sie, unwillkürlich flüsternd.
„Der mit dem hellbraunen, ungekämmten Haar ist Menes, der König von Argos. Und der andere, dessen Haar so sorgfältig gelockt und geölt ist, das ist mein Onkel: Kaion, der König von Mykene.“
Es war nicht allein das Haar, das die beiden unterschied. Während Menes neugierig seinen Blick schweifen ließ und den kretischen Damen zulächelte – jedoch erfolglos –, starrte Kaion scheinbar gelangweilt herunter. Akija erschauerte unter seinem Blick.
„Warum tragen sie Schwerter?“
Iasa lachte. „Liebe Schwester, sind dir die Festländer so fremd? Jemand, der sich anschickt, Kreta zu beherrschen, sollte solche Dinge wissen.“
Akija wirbelte zu ihm herum und warf die Wurzeln, die sie noch immer in der Hand gehalten hatte, zu Boden. „Und du solltest wissen, dass eine Hüterin nicht darauf aus ist, Kreta zu beherrschen. Sie erstrebt zuallererst den Dienst an der Göttin. Sie erfreut sich an ihren Geschenken, der Natur, der Liebe, dem Frieden, und sorgt dafür, dass sich die ganze Insel daran erfreuen kann.“
„Ich weiß. Für eine Kreterin gibt es nichts Schöneres als das Durchwandern der Landschaft; nicht um von einem Ort zum nächsten zu gelangen, sondern um sich an all den Farben, Gerüchen und der Schöpfung der Göttin zu erfreuen.“
„So ist es!“
„Aber damit kannst du einen achaiischen König nicht beeindrucken. Sie tragen ihre Schwerter, weil sie ständig auf Raubzüge aus sind. Wenn sie nicht damit beschäftigt sind, ihr Gebiet zu verteidigen, greifen sie ein anderes an. Und wenn sie es noch nicht an Kretas Küsten versucht haben, dann deshalb, weil unsere Flotte ihren einzelnen Schiffen überlegen ist.“
Akija starrte ihn an. „Du … du gibst also zu, dass sie Piraten sind?“, zischte sie.
„Schwester, ich finde, deine Einfältigkeit ist ein liebreizender Zug an dir.“
Zornig wandte sich Akija ab und machte sich wieder daran, den Platz zu begutachten. Es gab Momente, da glaubte sie Iasa zu hassen. Aber er war nur ein dummer junger Mann, der sich von Schwertern beeindrucken ließ. Was kümmerte sie, was er dachte?
Akija überwand sich, zu der Palisade zu laufen. Sie musste sich vergewissern, dass die Pfähle gut im Boden verankert waren. Während sie an dem Holz rüttelte, glaubte sie den hochmütigen Blick der beiden Männer auf sich zu spüren. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht den Kopf zu heben. Plötzlich hörte sie einen Signalton aus einem Muschelhorn, der das Erscheinen der Hüterin ankündigte.
Der Stadttänzer gesellte sich zu ihnen, gemeinsam stellten sie sich in der Mitte des Platzes auf. Iasa schloss die Augen und atmete langsam und laut. Furcht schien er nicht zu kennen. Akija musste zugeben, dass er ein hervorragender Stiertänzer war. Sein Körper, erhitzt von den Aufwärmübungen, war in seiner Geschmeidigkeit und Kraft wie geschaffen für die bevorstehende Gefahr. Er sah großartig aus in seinem golddurchwirkten Schurz mit dem glänzenden Türkis als Talisman. Seine langen, bis auf die Schulterblätter fallenden Haare lagen in kunstvoll gedrehten Locken. In diesem Augenblick dachte sie, dass der jugendliche Gott, der Gefährte der Göttin, nicht schöner sein könne.
Unauffällig versuchte sie ihre klammen Hände am Schurz zu trocknen. Es wurde ruhig, als die Hüterin aus dem Haus des Stiers trat, prachtvoll anzusehen in einem blauen Stufenrock, über dem ein runder, aus türkisfarbenem Leder gefertigter Schurz hing. Das eng anliegende Oberteil ließ die Brüste frei, wie bei einer Priesterin üblich. Die Brustspitzen leuchteten rot: ein Zeichen für die Fruchtbarkeit des Landes und der Herden, aber auch für das Blutopfer. Die Haare waren zu einer hornartigen, mit Schlangenhäuten umwickelten Frisur aufgetürmt. Und in den ausgestreckten Händen hielt Mijaro zwei lebende Schlangen.
Zwei Priesterinnen folgten ihr; eine trug den Schlangenkorb, die andere die heilige Doppelaxt. Mijaro wanderte unterhalb der Zuschauerränge entlang, und am Ende des Platzes drehte sie sich um.
„Volk der schönen Insel!“, rief sie. „Die Göttin hat meinen Leib gesegnet. Ich werde ein Kind gebären.“
Ein Raunen erhob sich. Mijaro ließ die Arme sinken und die Schlangen mithilfe der Priesterin in den Korb gleiten. Dann nahm sie aus den Händen der zweiten Priesterin die Doppelaxt und ging zu den drei Tänzern. „Höre weiter, Volk der schönen Insel! Ihr alle wisst, dass nun die Zeit kommt, das Hohepriesteramt weiterzugeben. Und ihr wisst, dass nur der es erringen kann, der über den Stier springt. Das ist der Grund des heutigen Tanzes.“
Die Stille hielt an. Akija konnte ihr Blut in den Ohren rauschen hören. Warum sagt sie das?, fragte sie sich. Warum sagt sie das, wenn sie doch weiß, dass ich nicht springen werde?
Mijaro deutete auf Iasa. „Er dort ist der zukünftige Hüter Kretas: Iasa, mein Bruder. Nicht nur das – er ist der einzige meiner Geschwister, der imstande ist, den Sprung auszuführen. Es mag euch seltsam erscheinen, dass es ein Mann sein soll, aber ich sage euch, das gab es schon in der alten Zeit vor dem großen Beben. Männliche Herrscher gibt es in allen Ländern, die uns umgeben, und es sind wohlhabende Länder, die sich des Segens ihrer göttlichen Herrscherin, der Großen Göttin, sicher sind. Mag sie Inanna heißen, wie die alte Göttin der Sumerer, oder Anat, die Kanaaniterin. Sie ist diese alle, und diese alle sind eins mit ihr. Ihr Beistand und ihr Rat gelten jetzt ihm. Eine gute Zeit wird für Kreta anbrechen, denn es wird eine Zeit des Friedens mit den Festländern sein. Niemals mehr muss ein Fischer mit Furcht im Herzen auf das Meer hinaus.“
Das konnte nur ein böser Traum sein.
Doch die Worte hallten nach in Akijas Kopf, und das verhaltene Lächeln Iasas brannte in ihren Augen. Dies geschah wirklich. Ihre Schwester hatte sie betrogen. Warum nur?
„Warum nur, Schwester?“, fragte sie, und als keine Antwort kam, wandte sie sich Iasa zu. „Iasa, du wusstest das?“
„Sei still!“, zischte er. „Ja, ich wusste es.“
„Warum … warum wusste ich es nicht?“
Er antwortete nicht mehr. Sie sah zu Mijaro, die mit hartem Blick die Antwort darauf zu geben schien: Weil du Schwierigkeiten gemacht hättest. Sobald Iasa gesprungen ist, ist es vorüber.
Akija rannte zurück ins Haus. Die Dunkelheit des Ganges umfing sie, und sie war froh, aus dem Blickfeld zu sein. Beinahe wäre sie weiter geradeaus gerannt, in den Stall des Stiers, aber dann besann sie sich und drückte die Tür zum Vorratsraum auf. Dort riss sie ihr Hemd an sich, presste es an die Brust und hastete zur gegenüberliegenden Ausgangstür. Doch bevor sie sie öffnen konnte, spürte sie Iasas harten Griff um ihr Handgelenk. Er zerrte sie zu sich herum.
„Was soll das? Dein Platz ist jetzt da draußen!“
„Lass mich los!“ Sie entriss ihm die Hand und wollte ihn von sich stoßen, doch er packte ihre Schultern. Sie wand sich aufschreiend in seinem Griff, versuchte ihm das zerknüllte Hemd vors Gesicht zu halten, und wurde nur selbst heftig durchgeschüttelt.
„Akija! Komm zur Vernunft!“
„Zur Vernunft? Ich soll da draußen tanzen, während du diesen Frevel vollendest? Das meinst du doch?“
Seine Hand wischte das Hemd zu Boden und klatschte gegen ihre Wange. Ihre Fäuste schossen vor, aber er hatte sie bereits losgelassen und war einen Schritt zurückgetreten.
„Du wirst es tun“, antwortete er hart. „Du wirst deine Pflicht erfüllen. Wenn du jetzt wegläufst, änderst du damit nichts. Sieh also zu, dass du deine kleine Aufgabe anständig erfüllst, dann hat das Volk auch nichts zum Tuscheln.“
Akija rieb sich die Wange. Er hatte recht, sie würde nicht fortlaufen. Sie würde sich fügen. Oh, wie dumm war ich!, schalt sie sich. Sie hatte Mijaros Worten geglaubt, dass es genügen würde, am Stiertanz teilzunehmen. Nun aber begriff sie die Wahrheit. Das Volk, die Priester, ja, und auch die Göttin würden es hinnehmen, dass ein Mann den Bergthron bestieg, aber niemals, dass er es ohne den Sprung tat.
Sie senkte unter Iasas bohrendem Blick die Augen.
„Komm jetzt!“ Er ging rückwärts zum Gang und deutete hinaus. Akija starrte ihn an. Schließlich straffte sie die Schultern und ging an ihm vorbei hinaus. Mijaro saß inzwischen auf der Tribüne, ganz in der Nähe der beiden achaiischen Könige. Akija stapfte ans Ende des Tanzplatzes und drehte sich um. Das Muschelhorn erscholl. Kurz darauf bewegten sich die Schatten im Schlund des Ganges, und zwei mächtige, mit leuchtend weißer Farbe bemalte Hörner schoben sich ins Sonnenlicht.
Der Stier schüttelte den Kopf und blieb stehen. Er wurde seit der Nacht im Dunkeln gehalten, damit der plötzliche Wechsel ins Helle seine Angriffslust weckte. Aber noch immer war es möglich, dass nichts geschah. Wenn sich der Stier nicht reizen ließ, was manchmal vorkam, dann würde es auch keinen Sprung geben.
Man konnte ihn aggressiv machen, indem man ihm den Rücken zuwandte. Iasa schien zu überlegen, ob er es tun sollte. Auf den Rängen setzten die üblichen Gespräche ein, doch die Augen der Zuschauer waren unverwandt auf den Tanzplatz gerichtet. Plötzlich lief er zur Tribüne und bat eine der Damen, ihren Pfauenfedernfächer herunterzuwerfen. Sie lachte geschmeichelt, neigte sich vor und ließ den kostbaren Fächer in seine Hand fallen. Er verbeugte sich zum Dank und eilte zurück in die Mitte des Platzes. Noch immer hatte sich der Stier, ein kräftiger schwarzer Jungbulle von drei oder vier Jahren, nicht bewegt. Akija entging nicht, wie seine Augen dem Glitzern des Fächers folgten. Sein Vorderhuf scharrte in der Erde. Doch Iasa schien es nicht zu bemerken; er sonnte sich in der Bewunderung der Zuschauer, und sein Spiel mit dem Fächer galt offenbar mehr den Damen.
Als sich der Stier in Bewegung setzte, stieß Akija einen Warnschrei aus. Iasa ließ den Fächer fallen, ging leicht in die Knie und erwartete mit vorgestreckten Armen die Hörner. Doch er stand schlecht; er bekam nur ein Horn zu fassen, sodass er von dem Stier nur zur Seite gestoßen wurde. Nun rannte das mächtige Tier mit gesenktem Kopf auf Akija zu. Sie öffnete die Hände – der Gedanke durchzuckte sie, die Hörner zu ergreifen und sich hinaufschleudern zu lassen.
„Akija!“, hörte sie Iasa schreien. „Tu das nicht!“
Ich glaube dir, dass dir das nicht gefallen würde, dachte sie. Aber ihre Angst war ohnehin stärker. Ihre Hände würden niemals die Hörner fest umschließen können, denn sie waren feucht von kaltem Schweiß. Aufstöhnend wandte sie sich ab und hastete an der Mauer entlang. Dies war der Tanz, das Umkreisen des Tieres, das Hin- und Herlaufen, um es zu reizen. Der Kopf des Tieres schwang dicht über dem Boden in dem Bemühen, die Richtung zu ändern und ihr zu folgen. Und schnell wurden das Stampfen der Hufe und das Schnauben hinter ihr lauter. Aufschreiend warf sie sich hinter die Schutzpalisade, die nur einen Lidschlag später erzitterte, als eines der Hörner das Holz traf.
Sie kauerte sich zusammen und presste die Hand auf ihr schlagendes Herz. Dann blickte sie zu den Köpfen der Zuschauer hinauf, die weit über ihr schwebten und sie neugierig musterten. Vorsichtig kroch sie zum anderen Ende der Palisade und reckte den Kopf. Der Stier hatte sie vergessen. Er hatte sich Iasa zugewandt, der von seinem Einfall mit dem Fächer nicht lassen wollte und ihn hin und her schwenkte. Der Stier stürmte auf ihn zu. Erneut streckte Iasa die Hände vor, und tatsächlich gelang es ihm, beide Hörner zu packen. Der Stier warf den Kopf hoch, um die Last abzuschütteln. Iasa warf die Füße in die Luft, um sich von dem Schwung hinaufheben zu lassen. Doch er stand zu dicht am Weidezaun. Seine Füße stießen gegen das Holz – die Leute dahinter stoben lachend davon –, und er fiel unsanft zurück.
Noch war der Stier dicht vor ihnen. Beide konnten sich nur mit einem beherzten Sprung über den Zaun retten. Das Gelächter, das nun folgte, konnte Iasa kaum gefallen. Mit gerötetem Gesicht kletterte er zurück auf den Platz. Der Stier war mittlerweile am Zaun entlanggetrottet. Iasa rannte zum anderen Ende des Platzes und schrie ihn herausfordernd an.