Die Todesschneise - Michael Swanwick - E-Book

Die Todesschneise E-Book

Michael Swanwick

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Beschreibung

Todeszone Pennsylvania

1979 kommt es zur Katastrophe im amerikanischen Atomreaktor Three Mile Island in Pennsylvania. Die freigesetzte Radioaktivität verwandelt den Osten der USA in eine nuklear verseuchte Wüste. Hundert Jahre nach dem Super-GAU leben in der Todesschneise, der Fallout-Zone um das Kraftwerk, nur noch Mutanten und Ausgestoßene. Philadelphia ist die größte Stadt direkt an der Grenze zur Schneise. Dort sind nach dem Zusammenbruch der Machtstrukturen in den USA direkt nach dem GAU die Karnevalisten, einstmals ein Verein, der die Paraden zum Neujahrstag organisiert hat, an der Macht. Sie müssen immer häufiger Mutanten, die sich der Stadt nähern, erschießen. Das fällt Keith Piotrowicz, Fahrer eines Giftmülltrucks, und dem Journalisten Fletch auf. Sie stellen Nachforschungen in der Todesschneise an – die den Karnevalisten jedoch überhaupt nicht gefallen …

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MICHAEL SWANWICK

 

 

 

DIE TODESSCHNEISE

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

1979 kommt es zur Katastrophe im amerikanischen Atomreaktor Three Mile Island in Pennsylvania. Die freigesetzte Radioaktivität verwandelt den Osten der USA in eine nuklear verseuchte Wüste. Hundert Jahre nach dem Super-GAU leben in der Todesschneise, der Fallout-Zone um das Kraftwerk, nur noch Mutanten und Ausgestoßene. Philadelphia ist die größte Stadt direkt an der Grenze zur Schneise. Dort sind nach dem Zusammenbruch der Machtstrukturen in den USA direkt nach dem GAU die Karnevalisten, einstmals ein Verein, der die Paraden zum Neujahrstag organisiert hat, an der Macht. Sie müssen immer häufiger Mutanten, die sich der Stadt nähern, erschießen. Das fällt Keith Piotrowicz, Fahrer eines Giftmülltrucks, und dem Journalisten Fletch auf. Sie stellen Nachforschungen in der Todesschneise an – die den Karnevalisten jedoch überhaupt nicht gefallen …

 

 

 

 

Der Autor

Michael Swanwick wurde am 18. November 1950 in Schenectady im US-Bundesstaat New York geboren. 1973 zog er nach Philadelphia, um Schriftsteller zu werden, doch es sollte sechs Jahre dauern, bis er seine erste Story beendete. 1980 veröffentlichte er seine ersten beiden Kurzgeschichten, die für den Nebula Award nominiert wurden. 1985 folgte sein Debütroman, »Die Todesschneise«, in dem der Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island deutlich nachhallt. »In Zeiten der Flut« gewann 1991 den Nebula Award. Michael Swanwick wurde zudem mit dem Theodore Sturgeon Memorial Award, dem World Fantasy Award und insgesamt fünf Hugo Gernsback Awards ausgezeichnet. Neben Science-Fiction- und Fantasy-Romanen schreibt Swanwick Reviews für die Zeitschrift New York Review of Science Fiction und veröffentlichte mehrere Biografien, Essays und Monografien zum Genre. Er lebt mit seiner Frau Marianne Porter und dem gemeinsamen Sohn Sean in Philadelphia.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

IN THE DRIFT

Aus dem Amerikanischen von Irene Holicki

Die Karten zeichnete Mirjam Wehner

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1985 by Michael Swanwick

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Winfried Brand

 

ISBN 978-3-641-20044-2V002

INHALT

 

ERSTER TEILKARNEVALSKUSS

 

ZWEITER TEILNIGGERVORSTELLUNG

 

DRITTER TEILKNOCHENKRIECHER

 

VIERTER TEILMUTAGEN-JAHRMARKT

 

FÜNFTER TEILSTRAHLENTOD

Der Autor bedankt sich bei Gardner Dozois, ohne dessen Hilfe und Ermutigung dieses und andere Bücher nicht entstanden wären, außerdem bei Jack Dann, bei der Philford Phafia, bei Ellen Datlow, Terry Carr und (fast überschwänglich) bei Virginia Kidd. Sie alle standen mir mit Rat und Tat zur Seite und versetzten mir gegebenenfalls auch den nötigen Tritt. Ihr seid ein so ungewöhnlicher und buntgemischter Haufen von Hebammen, wie ihn diese Welt noch nicht erlebt hat.

Für Marianne:

meinen Ozean, meine Katze

»Überlebende wird es immer geben.«

 

ROBERT A. HEINLEIN

ERSTER TEIL KARNEVALSKUSS

Keith Piotrowicz wanderte über den Italienischen Markt, als er das Janus-Monster sah. Es war am Tag vor Karnevalsabend, und auf der Neunten Straße herrschte reger Betrieb, drei Schlangen von Kauflustigen wälzten sich zwischen den vier Budenreihen hindurch.

Die Patrouille, die das Monster geschnappt hatte, war nun unterwegs zur Karnevalshalle, um den Leichnam abzuliefern. Sie hatten ihre Trophäe an zwei lange Stangen gebunden, die sich in ihrem Rücken kreuzten, und ließen sie nun mehr oder weniger aufrecht dicht über den Köpfen der Marktbesucher auf- und abschwanken.

Straßenhändler, die ihr Gemüse anpriesen oder sich an den kleinen Feuern in den Mülltonnen die Hände wärmten, drehten die Köpfe und gafften. Kinder lasen verfaulte Kartoffeln und schmierige Salatblätter aus dem Straßendreck auf und warfen damit unter lautem Hohngeschrei nach dem Monster. Die Karnevalisten mit ihren keck schief sitzenden, weißen Baskenmützen grinsten geschmeichelt und warfen sich in die Brust. Scherzworte flogen hin und her, und dann und wann ließen die Träger das Gerüst mitsamt dem Monster auf die zurückweichende Menge herunterkippen. Das Hemd der Missgeburt wies drei kleine Löcher auf, wo das Laserfeuer den verkohlten Stoff mit den schwarzen, kauterisierten Wunden verschmolzen hatte. Über eine Backe zog sich eine Linie von Brandblasen, die Folge eines Streifschusses. Das Wesen mochte vielleicht sieben Jahre alt sein.

Wie gebannt starrte Keith den breiten Schädel mit den zwei Gesichtern an. Die beiden Münder waren klein und gedunsen, fast als schmollten sie. Er versuchte sich vorzustellen, was für Worte über diese Lippen gekommen sein mochten, welche aberwitzig oder göttlich widersprüchlichen Aussagen die Kreatur zu Lebzeiten wohl von sich gegeben hatte. Dann wurde der Leichnam weitergezerrt, und ihn überlief unwillkürlich ein Schauer.

Neben ihm stand eine alte Frau in Schwarz, die sich erst bekreuzigte und dann das Hörnerzeichen machte, um sich vor Mutationen zu schützen.

Die ganze Straße war ein Hexenkessel von Gerüchten und Spekulationen. »Ich habe gehört, sie hätten es auf den Docks gefangen«, erzählte ein Händler, der sich weit über ein Tablett mit scharf riechenden Zwiebeln beugen musste, um sich verständlich zu machen. »Dort hat es sich herumgetrieben und von Abfall und toten Fischen gelebt.«

Schon in einiger Entfernung fiel der Anführer der Patrouille unvermittelt in den Paradeschritt der Karnevalisten und tänzelte vor der Leiche auf und ab. Jemand schlug mit einem Stock nach dem Ding und wurde zurückgestoßen.

»Unmöglich«, widersprach Keith. »Zwischen den Docks und der Todesschneise liegt schließlich ganz Philadelphia.«

»Ich hab’s aber so gehört.« Der Händler richtete sich auf. Er zögerte, den Verdacht zu äußern, den sie beide teilten, dass das Monster nämlich in Philadelphia geboren und in aller Stille von Eltern aufgezogen worden sein könnte, die das Genetikgesetz umgehen wollten. Manche Dinge behält man besser für sich. Also warf er den Kopf zurück und leierte: »Ja, ja, ja! Zwiebeln und Rote Bete! Frisch wie …«

Keith ging weiter. Vorsichtig schob er sich durch das Gewimmel von Kauflustigen, die Stofftaschen voll unverpackter Waren, aber auch Flaschen und Krüge schleppten, um sie mit Sirup, Essig oder Wein füllen zu lassen. Drei Straßen weiter wurde er vor Gambiosis Fleischerei gegen die Becken mit Fluss- und Seebarschen aus Aquakulturen gedrückt. Die Fische waren billig, aber sie verkauften sich nicht gut, weil viele Leute fürchteten, sie könnten aus dem Schuylkill oder dem Delaware stammen.

Einer von Gambiosis Söhnen stand draußen auf dem Gehsteig, wog Fische ab und wickelte sie in Zeitungspapier. Keith zog seinen Blick auf sich. »Ist dein alter Herr zu sprechen, Tony?«

»Er ist drin. Hast du das Monster gesehen?« Tony grinste, das Verlangen in seinem schmalen Jungengesicht war unübersehbar. »Mann, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.« Er hob beide Hände, als hielte er eine Maschinenpistole, duckte sich und gab ratternde Geräusche von sich.

»Danke«, sagte Keith. »Sie hatten übrigens Laser.« Damit drängte er sich in den Laden.

Drinnen war es düster, hinter den Theken, die man wie ein raffiniert unvollständiges Puzzle in der Mitte zusammengeschoben hatte, lagen auf spärlichen Eisschichten bratfertige Hühner und Kaninchen. Sie durften auf Stadtgebiet gehalten werden und wurden so preiswert verkauft, dass die meisten Leute sich diese Sorte Fleisch mindestens einmal pro Woche leisten konnten. An den Deckenbalken waren an langen Schnüren importierte Käselaibe aus Wisconsin und Fleischwaren aufgehängt, die nur für die Reichen erschwinglich waren: Räucherschinken aus Virginia, Kochwürste und Salami aus Maine in der Grünstaaten-Allianz, je weiter weg, desto kostspieliger.

Gambiosi war gerade mit einem Kunden beschäftigt. In der Hand hielt er ein abgezogenes Kaninchen, das sich vor seinem massigen Leib lächerlich nackt und mager ausnahm. »Ob es sauber ist, fragen Sie?« Er hob es noch höher. »Der kleine Kerl da wurde keine zwei Straßen von hier von meinem eigenen Schwager aufgezogen.«

»Mr. Gambiosi?«

»Warte hinten auf mich, mein Junge«, befahl Gambiosi mit einer Kopfbewegung. »Wenn Sie natürlich etwas suchen, was mehr Fleisch auf den Knochen hat …«

Keith trat durch eine türlose Öffnung in den dunklen Lagerraum. Dort war es warm und angenehm muffig. An den Wänden stapelten sich Kisten mit lebendem Geflügel, aus denen ein ständiges Rascheln und Glucksen drang. Gelegentlich sah man verängstigte Kaninchenaugen rötlich aufblitzen. Es dauerte ein paar Minuten, bis Gambiosi herauskam.

»Ja?«

Keith zog einen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke und sagte: »Mein Straßenwart schickt Ihnen den Anwesenheitsplan für die Parade – Namen und Zeiten – zur Genehmigung.«

Gambiosi blätterte die Seiten durch, ohne wirklich hinzusehen. »Du bist Petrowitsch, richtig?« Er betonte den Namen auf der ersten, anstatt auf der zweiten Silbe, wie es richtig gewesen wäre. »Ich hab’ dich schon öfter gesehen. Wie alt bist du, Kleiner?«

Keith wusste nicht recht, was er davon zu halten hatte, und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Einundzwanzig.«

»Einundzwanzig.« Gambiosi nickte vor sich hin. »Und immer noch im Wochenenddienst, richtig? Mein Sohn Tony – du hast ihn draußen gesehen – er ist erst siebzehn, aber er geht schon zweimal die Woche Streife. Dabei ist er ein Dummkopf.«

»Das würde ich nicht …«

»Ein Dummkopf! Glaubst du, ich als sein Vater weiß nicht, was mit ihm los ist? Aber Tony wird seinen Weg machen. Eines Tages wird er in der Parade mitmarschieren. Und weißt du auch, warum? Hm?«

»Nein, Sir«, murmelte Keith.

»Weil er ehrgeizig ist, deshalb. Verstand hat er leider keinen, aber wenigstens dafür konnte ich sorgen. Was hältst du von dem Monster, das eben vorbeigetragen wurde?«

Auf diese Frage war Keith nicht gefasst, und so sprudelte er heraus, was ihm gerade durch den Kopf ging. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich bis zu den Docks durchgeschlagen haben soll.«

Gambiosi seufzte schwer. »Ganz einfach. Es wurde in der Stadt geboren. Seine Eltern waren arme Irre – glaubten, sie könnten es einfach in irgendein Hinterzimmer sperren, bis es erwachsen war. Und als sie endlich kapierten, dass das nicht ging, haben sie es einfach ausgesetzt. Was sagst du zu solchen Leuten, he? Was haben sie sich dabei gedacht, als sie das Baby nicht im Krankenhaus abgegeben haben?«

»Ich – ich schätze, sie haben überhaupt nicht gedacht.«

»Genau«, sagte Gambiosi. »Sie haben nicht gedacht. Jahr für Jahr haben sie einfach nicht gedacht. Genau wie du, Petrowitsch.«

Seine Schweinsäuglein fixierten Keith, als wollten sie ihn durchbohren. Der junge Mann senkte den Kopf, starrte angelegentlich auf seine Schuhspitzen.

»Ich kenne viele junge Leute wie dich, mein Sohn. Mein Großvater hätte gesagt, du bist einer, der sich mit einem Tagesausflug zufriedengibt – weißt du, was das heißt? Du tust gerade so viel, um über die Runden zu kommen, aber keinen Handschlag mehr. Du könntest längst in der Patrouille sein, wenn du dich nur ein bisschen ins Zeug gelegt hättest. Aber du spielst immer noch den Laufburschen am Wochenende. Meinst wohl, wenn du das Leben in Ruhe lässt, tut es dir auch nichts. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

Keith hielt den Blick gesenkt und schwieg. Gambiosi wartete eine Weile, dann sagte er wegwerfend: »Verzieh dich. Kannst dir den Rest des Tages freinehmen.«

»Danke«, murmelte Keith. »Ich werd’s meinem Straßenwart ausrichten.«

»Nun sei kein Waschlappen – du nimmst dir frei, und damit basta. Aber hör zu, Kleiner – denk über unsere kleine Unterhaltung ein wenig nach, ja? Du bist nicht dumm, und die Karnevalisten brauchen jeden guten Mann, den sie kriegen können.«

Als Keith wieder auf der Straße war, ging er verärgert all die Argumente durch, die er hätte vorbringen können, aber nicht vorgebracht hatte. Weil es Argumente waren, die man besser nicht laut aussprach: Wozu soll ich mich mein ganzes Leben lang abstrampeln, nur um den Gipfel eines Müllhaufens zu erreichen? Warum sollte ich mich darum reißen, Kinder zu töten? Wenn ich eure dummen Spielchen schon mitmachen muss, brauche ich doch nicht auch noch so zu tun, als hätte ich Spaß daran.

Aber etwas beunruhigte ihn. Gambiosi wusste nicht nur, dass das Janus-Monster nicht aus der Todesschneise gekommen sein konnte, er hatte es auch ohne Umschweife zugegeben. Bisher war Keith immer davon ausgegangen, die Handlungen der Mächtigen seien auf Dummheit oder Unwissenheit zurückzuführen. Die Erkenntnis, dass vielmehr er selbst derjenige war, der nie über den Tellerrand hinausschaute, nie jene gefährlichen Wahrheiten aussprach, die jedermann kannte, ohne es einzugestehen, war nicht angenehm.

In dieser Nacht träumte er von dem Kind mit den zwei Gesichtern. Es hielt ihm einen Vortrag darüber, warum es hatte sterben müssen, wobei immer wieder ein Mund den anderen unterbrach, um etwas klarzustellen, und manchmal alle beide im Chor sprachen. Die Argumente waren alt und abgedroschen, und Keith hatte sie alle schon einmal gehört.

 

Hell und klar dämmerte der Tag vor Karneval herauf, aus der Todesschneise blies ein kalter Nordwind. Vorsichtig manövrierte Keith den Tanker durch die Sperren, die Nukleopormaske hing ihm lose vor der Brust. Jimmy Bowles war neben ihm auf dem Beifahrersitz eingenickt, sein schwarzes Gesicht wirkte völlig entspannt.

Der Wächter winkte mit seinem Klemmbrett. Keith nickte, gab dem Motor mehr Alkohol, legte den Gang ein. Mit leisem Brummen schoss der Wagen nach vorne. Wächter, Grenzstation und die rotweißen Schilder mit der Aufschrift TODESSCHNEISE und dem Symbol für Radioaktivität hüpften noch ein paar Mal auf und ab, dann waren sie auch im Rückspiegel nicht mehr zu sehen.

»He!« Keith stieß seinen Kollegen an. »Hol mal die Karte raus und erklär mir, wo wir eigentlich hinfahren.«

Bowles prustete und riss die Augen auf. Unbeholfen fingerte er eine Karte heraus, entfaltete sie, bis sie zwei Drittel des Führerhauses einnahm, und sagte: »An King of Prussia vorbei nach draußen. Du kennst die Strecke doch schon, oder?« Der Wagen holperte über die verfallene Straße.

»Ja.«

»Dann lass mich weiterschlafen, bis wir da sind.«

 

Sie stießen zurück, bis der Tanker dicht an der Kante einer kleinen, vielleicht zehn Fuß hohen Klippe stand, legten ihre Schutzkleidung an und stiegen aus. Ein Blick in die Runde ergab, dass sich höchstens ein Eichhörnchen unbemerkt an sie heranschleichen konnte. Bowles schob die Schrotflinte aus dem Führerhaus wieder in die Halteklemmen unter dem Armaturenbrett. Fast jedes Jahr fiel ein Team der Schneise zum Opfer, aber bisher hatten er und Keith noch keinen Anlass gehabt, die Waffe zu gebrauchen.

Keith machte den Schlauch los und rollte ihn ab, während Bowles nach einem Schraubenschlüssel griff, um ihn an den Tank anzuschließen. Dann trat er dicht an den Klippenrand und grätschte die Beine, um einen festen Stand zu haben. Unter ihm lag zwischen kleinen Schneefeldern verlassen eine hundert Jahre alte Wohnsiedlung. Zum Horizont hin stieg das wellige Land mit dem schwarzen Stoppelbewuchs aus verkümmerten, manchmal grotesk verdrehten Bäumen langsam an.

Bowles bekam wegen der Kälte das Hauptventil nicht gleich auf und fluchte.

Der Schlauch war so dick, dass Keith ihn mit seinen behandschuhten Händen kaum umfassen konnte. Endlich gab das Ventil mit metallischem Klirren unter Bowles’ Schraubenschlüssel nach. Ein Zucken durchlief den Schlauch. Keith taumelte, fing sich aber schnell wieder. Die milchigweißen Industrieabwässer spritzten aus der Düse.

Die Brühe schoss in weitem, flachem Bogen auf die gefrorene Erde zu. Dort floss sie träge weiter, die dürren, braunen Halme verschwanden in einer immer größer werdenden Pfütze. Gelbliche Kristalle entstanden und lösten sich zum Teil wieder auf, wenn neue Flüssigkeit über sie hinwegströmte. Die Fahrer hatten Anweisung, jedes Mal an einer anderen Stelle abzuladen, doch gewöhnlich war es am einfachsten, die alten Müllkippen aufzusuchen.

Das Land war von trostloser Öde. Der Anblick bedrückte Keith, erfüllte ihn mit dumpfem Nihilismus. Alte Geschichten fielen ihm ein, von toxischen Chemieabfällen, die Verbindungen mit früher abgeladenen Stoffen eingingen, was zu den merkwürdigsten alchimistischen Interaktionen führte. So schlugen etwa plötzlich Flammen aus dem Boden, oder grausige, orangefarbene Würmer krochen hervor. Oben in Bucks County hatte er eine Stelle gesehen, wo sich die Erde regelrecht verflüssigt hatte und nun jahrein jahraus brodelte und blubberte.

Geh in Flammen auf, befahl er stumm dem Boden. Aber nichts geschah. Die letzten, klaren Tropfen sickerten aus dem Schlauch. Er schüttelte ihn aus und machte sich daran, ihn wieder aufzurollen.

 

Oben im Führerhaus hatte Bowles bereits die orangefarbene Kapuze seines Schutzanzuges abgenommen und die Nukleopormaske vor Mund und Nase weggezogen, ehe Keith die Luftfilteranlage in Gang setzen konnte. Wie die meisten alten Hasen glaubte Bowles nicht daran, dass etwas, das weder zu riechen, noch zu schmecken, zu spüren oder zu sehen war, ihm schaden könnte, und daher trug er die Maske nur selten. Nun setzte er sich ans Steuer und manövrierte den Tanker auf die Straße.

»Freust dich wohl schon auf die Parade, was, Junge?«, fragte er.

»Kann schon sein. He, pass doch auf!« Der Wagen geriet ins Schlingern, als sie im Karacho durch eine Schlammlawine fuhren, die auf zwanzig Yard die Fahrbahn unter sich begraben hatte. Bowles lachte nur keckernd.

Bowles war der einzige Schwarze auf der Lohnliste der Industriemüllentsorgung Quaker City. Den Job konnte er nur durch Protektion ergattert haben. Allerdings marschierte er in einer zweitklassigen Tanzkapelle aus Philadelphia Nord mit, und bei solchen Beziehungen konnte sogar ein Schwarzer einen guten Job an Land ziehen. »Du führst dich allmählich auf wie meine alte Tante«, sagte er. »Siehst du hier draußen irgendwo Verkehr?«

»Schon gut. Trotzdem wäre mir wohler, wenn …« Bowles fuhr plötzlich Schlangenlinien, wobei er zweimal den Fahrbahnrand streifte, und Keith hielt den Mund.

Sie rasten an den Trümmern einer Bank vorbei. Der Wind fuhr in einen Haufen Asbestrückstände, den jemand auf dem Parkplatz abgeladen hatte, und wirbelte eine weiße Staubsäule auf.

»Abseits der Müllhalden gibt’s da draußen ein paar hübsche Flecken«, sagte Bowles nachdenklich. »Wenn ich so jung wäre wie du, würd’ ich ’ne alte Farm übernehmen und mich selbständig machen. Oder glaubst du etwa wirklich, dass es da draußen gefährlich ist, Sohn?«

Das Gerede höre ich nicht zum ersten Mal, dachte Keith. Das war das Unangenehme an Philadelphia – nichts als Iren und Italiener. Und natürlich teilt der irische Fahrdienstleiter immer den Nigger und den Polacken zusammen ein. Damit man am eigenen Leib erfährt, wie gründlich man einen Menschen satt bekommen kann.

»Wenn du da draußen Landwirtschaft treiben willst, mutieren dir die Eier, bis du irgendwann nur noch grünen Schimmel in der Hose hast«, sagte er und ärgerte sich gleichzeitig, weil er sich mit dieser Bemerkung auf Bowles’ Niveau begeben hatte.

Bowles lachte und zeigte dabei die wenigen, kariösen, gelben Zähne, die er noch hatte. Gleichzeitig riss er das Steuer herum, um einen mutierten Baumstamm zu umfahren, der wie eine Kletterpflanze über den Boden kroch und auch vor der Fahrbahn nicht haltgemacht hatte. »Dann solltest du dich aber wenigstens bemühen, bei den Karnevalisten weiterzukommen. Wetten, dass du das schaffst, wenn du dich ein bisschen ins Zeug legst?«

»Komisch«, meinte Keith. »Fast das Gleiche hat mir Gambiosi empfohlen.«

»Gambiosi? Ehrlich? Und was hast du darauf gesagt?«

»Was hätte ich schon groß sagen können?«

Bowles schlug sich mit seiner schwieligen Handfläche gegen die Stirn und starrte ihn ungläubig an. »Es ist doch nicht zu fassen, Bruder im Herrn! Das war ein Signal – ein Hinweis. Der Mann wollte dir zu verstehen geben, dass er ein Auge auf dich geworfen hat. Du hättest nur den Mund aufzumachen brauchen, und er hätte dich auf der Stelle befördert, Sohn. Auf der Stelle.«

Wenn Keith ihm nun erklärte, er sei an einem Aufstieg bei den Karnevalisten gar nicht interessiert, würde Bowles ihn nur verspotten und ihm einen Vortrag über seinen mangelnden Ehrgeiz halten; es wäre nicht das erste Mal. Stattdessen sagte er: »Ich habe nicht genug Geld für Kostüme, und ich will mich auch gar nicht aufdonnern. Außerdem interessiere ich mich nicht für Politik.«

Keiths Vater hatte einem Karnevalsverein angehört und es so weit gebracht, dass er im letzten Glied mitmarschieren durfte, und was hatte er davon gehabt? Ständig musste er den letzten Groschen für Pailletten und Straußenfedern ausgeben, und seine Frau war trotz aller medizinischen Vergünstigungen an Leukämie gestorben. Letztlich war dieses Engagement wahrscheinlich sein Tod gewesen. Jedenfalls war der alte Mann an einer sehr merkwürdigen Krankheit gestorben, und Keith hatte immer den Job dafür verantwortlich gemacht, den ihm die Karnevalisten verschafft hatten. Dieser Job war übrigens alles gewesen, was er seinem einzigen überlebenden Sohn hatte hinterlassen können …

Bowles fuhr in weitem Bogen um eine unübersichtliche Kurve, wandte sich Keith zu und sagte: »Ich mein’s ernst. Wenn du …«

»Jesus, pass doch auf!«

Bowles erschrak und schlug das Lenkrad stark ein. Der Laster kam mit den Vorderrädern auf eine Eisplatte und geriet ins Schleudern. Keith wurde gegen die Tür geworfen, seine Nukleopormaske schlenkerte wild hin und her.

Etwas schoss an der Windschutzscheibe vorbei, eine Frau auf einem Motorrad. Sie war dabei gewesen, die Straße zu überqueren, als der Laster um die Ecke bog und aus der Spur kam. Nun beugte sie sich tief über den Lenker um der Maschine das letzte bisschen Schnelligkeit abzuringen. »Lieber Gott«, betete Keith, als sie mit dem vorderen Kotflügel das Motorrad nur um Haaresbreite verfehlten.

Ehe die Fahrerin die Straße freimachen konnte, drehte sich der Laster und streifte den Hinterreifen des Motorrads. Ein unerträglich lautes Knirschen war zu hören. Keith sah einen Schatten durch die Luft fliegen.

Bowles bremste und bemühte sich gleichzeitig mit aller Kraft seiner Arme, den Wagen auf der Straße zu halten. Schließlich brachte er ihn, immer noch aufrecht, ein Rad auf dem Bankett, mit kreischenden Reifen zum Stehen.

Bowles sprang aus dem Führerhaus und ließ die Tür hinter sich offen. Keith schaltete automatisch den Motor aus, zog sich die Maske über und folgte ihm.

Die Frau war in einem dürren Strauch gelandet und reglos, zusammengerollt wie ein Bündel Altkleider liegen geblieben. Das Motorrad war ein Stück weitergerutscht. Es war so verbogen, dass sich eine Reparatur gewiss nicht mehr lohnte.

»Ein Mutie ist sie nicht«, sagte Bowles. Er hatte sich nach einer flüchtigen Untersuchung aufgerichtet, doch nun beugte er sich wieder hinab, um die Finger der Frau zu zählen. »Nee. Verstehst du was von Erster Hilfe?«

»Ein bisschen«, sagte Keith. »Du lieber Gott.« Erschrocken starrte er auf das blutige Rinnsal, das aus ihrem Nasenloch sickerte. Die glänzende, rote Flüssigkeit lähmte ihn. Er schüttelte sich, beugte sich seinerseits über die Frau.

»Zuerst achten wir auf äußerlich sichtbare Knochenbrüche, hm, starke Blutungen – lange her, dass ich das Zeug gelernt habe.« Sie war schlank und muskulös, irgendwo Ende dreißig oder Anfang vierzig. Slawische Backenknochen, ein Gesicht, das selbst in bewusstlosem Zustand grimmige Entschlossenheit ausstrahlte. Das schwere, kaftanartige Gewand hatte sich ein Stück weit geöffnet, darunter trug sie hellgrüne Khakihosen, wie sie vor zwanzig Jahren zur Uniform der Nördlichen Befreiungsfront gehört hatten. Die Nukleopormaske war ihr halb vom Gesicht gerutscht. Keith vergewisserte sich, dass sie noch atmete, dann zog er den Mundschutz wieder hoch. »Nun, ich sehe nichts.«

»Was dann?«

»Hm, dann behandeln wir sie auf Schock. Ein Polster unter den Kopf, und die Füße hoch.« Er wollte schon seine Jacke ausziehen, um sie als Kissen zu verwenden, doch dann hielt er inne. »So hat das keinen Sinn. Wir müssen sie in die Stadt bringen.«

Sie trugen sie ins Führerhaus und schafften es mit viel Mühe, sie sich quer über die Oberschenkel zu legen. Keith saß am Steuer und fuhr vorsichtig an.

»Was hat sich da um ihren Hals gewickelt?«, fragte Bowles. Er schnallte ein ledernes Futteral auf und sah hinein. »Fernglas«, gab er selbst die Antwort. Er stellte es behutsam auf das Armaturenbrett und ging daran, ihre Taschen zu durchsuchen. »Hier ist ein Pass, in Philadelphia abgestempelt. Beruf: Wissenschaftlerin.« Er zögerte. »Wusste gar nicht, dass man davon leben kann. Sondergenehmigung für die Todesschneise und einen Besuch in Souderton.«

»Souderton ist aber ziemlich weit weg. Das liegt ja fast schon außerhalb der Schneise.«

»Wem sagst du das?« Bowles steckte das Dokument zurück und kramte weiter. »Holla. Da ist ja noch einer von der Sorte.« Aus einer Innentasche zog er einen zweiten Pass.

»He, vielleicht solltest du nicht einfach so in ihren Sachen rumschnüffeln.« Keith war nicht ganz wohl in seiner Haut, aber Bowles hörte nicht auf ihn.

»Beide lauten auf den Namen Suzette Fletcher. Größe und Haarfarbe gleich. Alter: Zweiundvierzig. Ein und dieselbe Frau. Beruf: Reporterin. Ist das nicht komisch? Sie arbeitet als Reporterin für den Globe in Boston, oben im Norden. Und dieser Pass hier ist nicht in Philadelphia abgestempelt.«

»He, Mann, ehrlich, es wär’ mir sehr viel lieber, wenn du damit aufhören würdest.«

»Okay, okay.« Bowles steckte den Pass zurück und strich den Kaftan wieder glatt. Dann studierte er das Gesicht unter dem wirren, schmutzigen Blondhaar in Keiths Schoß. »Verdammt hübsche Frau. Wie fühlt man sich, wenn man so was auf dem Schoß hat?«

Keith bremste ab, denn nun kam ein tückischer Straßenabschnitt, wo der Beton dank einer Nachlässigkeit beim Abladen von einer gefrorenen Schicht Chemieschlamm überzogen war. »Ach, komm«, murmelte er, unwillkürlich verlegen. »Sie könnte meine Mutter sein.«

»Sieht aber immer noch putzmunter aus«, sagte Bowles leichthin. »Ein junger Mann wie du könnte von einer älteren Frau noch einiges lernen.«

 

Sie überquerten den kahlen, vom wiederholten Abbrennen geschwärzten Geländestreifen, der Philadelphia von der Todesschneise trennte. Grelle, magische Zeichen leuchteten ihnen von der rückwärtigen – äußeren – Seite des Grenzzauns entgegen, und jenseits davon erhob sich die Stadt, ein sicherer Hort nach allem, was hinter ihnen lag.

Gelangweilte Wächter winkten sie durch die Sperren, dann rollte der Wagen gemächlich durch die Außenbezirke. Hier lag fast alles in Trümmern, nur ein paar viktorianische Häuser ragten einsam wie ländliche Grabsteine gen Himmel. Hier hatten sich selbsternannte Hexen und Geisterbeschwörer eingenistet, die behaupteten, die Nähe zu den verseuchten Gebieten verstärke ihre Macht.

»He. Wir kommen an einem Krankenhaus vorbei; vielleicht sollten wir sie dort abliefern. Womöglich hat sie eine Gehirnerschütterung.«

Keith überlegte. Hier standen die Gebäude dichter beieinander, auf den Straßen herrschte mehr Betrieb. Er bremste, um nicht ein Zigeunerkind zu überrollen, und fuhr langsamer weiter. »Warten wir lieber noch ein wenig, vielleicht kommt sie zu sich. Ins Krankenhaus können wir sie immer noch bringen.«

Fußgänger spritzten auseinander, Handkarren wurden aus dem Weg gezogen. Ein Karrengaul scheute, und Bowles kicherte vor sich hin, er freute sich immer, wenn er den Reichen Unannehmlichkeiten bereiten konnte. »Der kürzeste Weg von hier wäre über die Spring Garden Street-Brücke.«

Keith nickte. »Okay.«

Einbalsamierte Monster baumelten von den alten, längst nicht mehr funktionierenden Brückenlampen, eine ständige Mahnung an die Schrecken des Draußen. Die meisten hingen schon seit Jahrzehnten hier, Wind und Wetter hatten ihnen die Kleidung zerfetzt und gelegentlich einen nackten Knochen freigelegt. Als Keith bewusst wurde, dass er an jedem der vorübergleitenden Masten nach dem gestrigen Janus-Monster suchte, zwang er sich, seine Aufmerksamkeit von den grausigen Gestalten ab- und wieder der Straße zuzuwenden. Nicht einmal der Karnevalshalle gönnte er einen Blick.

Die Sonne war nur noch ein verschmierter, roter Streifen am Horizont, als der Laster endlich die Two Street überquerte. Ihr schwacher Widerschein ließ die Schmutzspuren im Rückspiegel und den breiten Schmierfleck am Rand der Windschutzscheibe aufleuchten. Da und dort reinigten Straßenkehrer für die morgige Parade die Fahrbahn vom radioaktiven Staub, den der Wind von der Todesschneise hereingetragen hatte.

Die Frau stöhnte und begann sich zu regen. Sie schlug die Augen auf, zog sich unter Schmerzen zum Sitzen hoch. »Philadelphia«, sagte Bowles. »Ich heiße Jimmy Bowles, und das ist mein Partner Keith Piotrowicz.«

Sie beugte sich vor und betastete vorsichtig ihre Stirn. »Mein Gott, tut das weh.« Sie schniefte, nahm das Taschentuch, das Bowles ihr reichte, und hielt es sich an die Nase.

»Jimmy ist bisher der erste Mensch, dem es gelungen ist, in der Schneise einen Verkehrsunfall zu verursachen«, erklärte Keith mit leichtem Spott. Bowles warf ihm einen giftigen Blick zu, sagte aber nichts.

Die Frau streckte sich ein wenig. Die Sonne erfasste eine Strähne ihres blassblonden Haares und ließ sie rot aufleuchten. »O ja, allmählich kommt alles wieder.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »S.J. Fletcher. Alle nennen mich Fletch.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Fletch«, sagte Keith. Fast gleichzeitig fragte Bowles: »Was hatten Sie da draußen in der Schneise eigentlich zu suchen?«

Fletch betrachtete die schäbigen Hafengebäude, an denen sie vorbeiglitten. Oben leuchteten die Ziegelwände in warmem Rot, weiter unten lagen sie im Schatten. »Private Ahnenforschung«, sagte sie. »Ich habe mir das Archiv in Souderton angesehen – es ist fast unberührt, eine richtige Fundgrube – und dabei habe ich die Heiratsurkunde meiner Großmutter gefunden. Demnach wurde sie in King of Prussia geboren, und deshalb …« Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte mir Hoffnungen auf die Familienbibel gemacht, aber das scheint aussichtslos zu sein. He, Sie haben doch wohl meine Sachen mitgenommen, oder etwa nicht?«

»Auf der Ablage«, sagte Bowles. Keith steuerte den Laster im Schritttempo durch die schmalen Straßen am Fluss. Als er in die enge Kurve zum Firmenparkplatz einbog, hätte er fast zwei Gebäude gerammt.

»Doch nicht dieses Zeug! Meine verdammten Satteltaschen. Da ist – da sind meine sämtlichen Vorräte drin. Mein ganzes Geld, mein Kreditbrief.«

Keith wechselte einen Blick mit Bowles und zuckte die Achseln. Der Parkplatz war voll besetzt mit Lastern, die schon vor ihnen eingetroffen waren, und er musste sich auf das mühsame Geschäft des Einparkens konzentrieren. Sie waren spät dran, nur Platz 23 war noch frei.

»Die sind wohl noch auf dem Motorrad«, sagte Bowles. »Das haben wir uns nicht näher angesehen.«

Sie schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel. »Verdammt, verdammt, verdammt!« Mit einem Mal klang ihre Stimme gebieterisch: »Dann müssen Sie mich eben noch einmal hinausfahren, damit ich sie holen kann.«

»Nun mal langsam!«, protestierte Bowles.

Keith schaltete den Motor aus und zog den Zündschlüssel ab. »Sehen Sie sich um«, sagte er. So weit das Auge reichte, erstreckten sich lange, gleichmäßige Reihen von weißen, im letzten Sonnenlicht matt schimmernden Tankern. »Die Firma wird uns nicht erlauben, bei Nacht mit dem Ding in die Schneise zu fahren.«

»Ich …«

Bowles sprang aus dem Führerhaus. »Keith, komm mal nach hinten und lies mir die Zähler ab«, sagte er. »Dann gehe ich Meldung machen, und ihr beiden könnt inzwischen weiterdiskutieren.«

»Einverstanden.« Keith stieg aus und atmete genüsslich in tiefen Zügen die Stadtluft ein, die zwar verpestet, aber nicht gefährlich war. Er öffnete seine Jacke und ließ die kalte Luft an sich heran, ehe er nach hinten schlenderte. Dabei überlegte er kurz, was Bowles eigentlich von ihm wollte, denn der Wagen hatte natürlich gar keine Zähler. Entweder war der Tank leer, oder er war voll.

»Hör zu!«, zischte Bowles wütend. »Du kannst mit der Frau machen, was du willst, und ihr erzählen, was du magst. Aber du wirst kein Wort davon verraten, dass ich mir ihre Papiere angesehen habe. Kapiert? Das ist eine Sache für die Karnevalisten, mein Junge, und ich kann dir nur raten, das nicht zu vergessen.«

Keith nahm es mit einem Achselzucken und einem halben Nicken zur Kenntnis. Bowles sah ihn empört an. »Heiland der Welt! Du weißt einfach nicht, was eine Chance ist, nicht einmal, wenn sie dich in den Hintern beißt!« Er drehte sich um und machte sich auf den langen Weg zur Hütte des Fahrdienstleiters.

Keith kehrte zum Führerhaus zurück, er fand die ganze Geschichte eher komisch. Sollte Bowles doch den Geheimagenten spielen, wenn er wollte, er hatte nichts dagegen.

»Ich habe mir die Sache überlegt«, sagte er zu Fletch. »Wenn es Sie nicht stört, einen ganzen Tag umsonst im Laster zu hocken, könnten wir Sie übermorgen noch einmal rausfahren. Der Fahrdienstleiter wird nicht begeistert sein, aber Jimmy kann das einrichten. Er hat Einfluss.«

»Warum nicht morgen?«

»Morgen ist der erste Januar – Karnevalstag. Da läuft gar nichts.«

»Und was, zum Teufel, soll ich bis übermorgen anfangen? In der Gosse schlafen?«

Er wich ihrem wütenden Blick aus. »Vielleicht legen Sie sich in ein Krankenhaus?«

»Ich habe Ihre sogenannten ›Krankenhäuser‹ gesehen, nein, vielen Dank. Gibt es hier keinen Ort, wo ich eine reelle Chance habe, lebend wieder rauszukommen?«

»Wahrscheinlich könnten Sie bei mir übernachten«, schlug Keith ohne große Begeisterung vor. »Ich habe eine Couch.« Er wusste nicht so recht, ob ihm die Frau sympathisch war, und hatte das unangenehme Gefühl, dass er dieses Angebot noch bereuen würde. Aber er sah einfach weit und breit keine andere Möglichkeit.

Als Bowles zurückkam, teilte Keith ihm mit, wie die Dinge standen. Der alte Mann klopfte ihm auf den Rücken. »Benehmt euch«, sagte er grinsend.

 

Zu Keiths Wohnung war es nicht weit, nur eine gute Meile durch das Recycling-Viertel, ehemals Queen Village. Er hatte es nicht besonders eilig und schlenderte gemächlich dahin.

Fletch sah sich alles aufmerksam an, die Stöße mit Ziegeln von den Abbruchhäusern, den rostigen Stahl, den man wiederverhütten, die mit Grünspan überzogenen Kupferrohre, die man einschmelzen und zu neuen Bank-Pennies umgießen würde – einfach alles. Bei einem Bottich mit faulendem Stoff, aus dem einmal Papier werden sollte, rümpfte sie die Nase, und auf eine bunte Figur, die auf die Holzdauben gemalt war, deutete sie mit dem Finger. »Was bedeutet dieses Bild? Man sieht es überall.«

»Es bedeutet, dass der Besitzer seinen Beitrag an die Karnevalisten entrichtet hat. Das schützt ihn vor Dieben.«

»So, so?« Fletch nahm einen Ziegelstein vom nächsten Haufen und warf ihn wieder zurück. Es schepperte laut, und eine dichte Wolke Mörtelstaub wirbelte auf. »Ich hätte ihn ohne weiteres mitnehmen können – wenn ich gewollt hätte.«

»Aber Sie hätten ihn nicht verkaufen können. Die Karnevalisten haben ihre Ohren überall. Wenn Sie versucht hätten, ihn an den Mann zu bringen, hätten sie es erfahren. Nachbarschaftshilfe wird hier nämlich großgeschrieben.«

Fletch hatte nicht zugehört. Sie musterte einen zweiten Bottich, der Berge von Plastikschrott in einer wässrigen Lösung enthielt. Neben dem aufgemalten Karnevalisten stand in großen Druckbuchstaben PLASTECOLI auf den Holzdauben. »Ihr habt gentechnisch manipulierte Bakterien!« Sie fand den Hahn und die Filteranlage zur Abscheidung des Alkohols aus dem verrottenden Plastik. »Ich dachte, in Philadelphia ist jegliche Hochtechnologie verboten?«

»Nur, wenn der Stadt damit Geld verloren geht.« Sie hatten seinen Wohnblock erreicht. Drei Tore führten zu den Innenhöfen, und Keith wies mit einer Kopfbewegung auf eines davon. »Da hinein.«

Seine Wohnung lag im vierten Stock, einen Lift gab es nicht. Er ging voran, und oben hielt er Fletch die Tür auf und ließ sie eintreten. Seine Nukleopormaske hängte er an einen Haken gleich neben der Wohnzimmertür. »Sie können das Schlafzimmer haben«, sagte er. »Ich schlafe wohl am besten auf der Couch.«

Sie sah sich in den unordentlichen Räumen um. »Das ist ja eine Bruchbude. Machen Sie hier niemals sauber?«

»Nun …« Keith sammelte ein paar schmutzige Kleidungsstücke vom Fußboden auf und warf sie in einen ohnehin schon überquellenden Schrank. Fletch betrachtete ein gerahmtes Bild der Muttergottes mit Kind und lächelte nachsichtig. Dann trat sie an das einzige Fenster, das nicht gegen die Winterkälte mit Brettern verschlagen war, und riss die Läden auf.

»Hübscher Blick auf den Hafen, wenn man sich den Hals verrenkt und dort links zwischen den Gebäuden durchschaut«, bemerkte sie spöttisch. Keith legte ein paar armselige Kohlebrocken in den Ofen und entzündete mit dem zu Papierstreifen zusammengedrehten Inquirer der letzten Woche ein Feuer. Er sagte ihr nicht, dass er für die Wohnung einen Aufpreis bezahlen musste, weil sie nicht zur Schneise hin lag.

Fletch hob ihr Fernglas an die Augen. Ohne sich umzudrehen, wusste Keith, was sie sah: die Schaluppen und Schoner, die mit geborgenen Segeln im Hafen vor Anker lagen. Dazwischen dümpelten gewiss auch ein paar alte Pötte vor sich hin, die man wieder aufmöbelt hatte.

»Man sieht so schlecht, es ist schon zu dunkel«, murmelte Fletch. »Aber ich könnte schwören, dass ein oder zwei von diesen Schiffen Kohlenbrenner sind. Sogar – Gütiger Himmel! Das sieht aus wie ein umgebauter Öltanker.«

»O ja, wir haben alles, was schwimmt.« Er blies sachte auf das Feuer und freute sich schon auf die Wärme. Noch ein paar Minuten, und er würde seinen Mantel ausziehen können.

»Aber die Dinger sind uralt! Einrumpfkonstruktionen, mit durchrostendem Boden und abspringenden Nieten. Wie könnt ihr diesen Schrott in euren Hafen lassen?«

»Was können sie schon anrichten?«, fragte Keith. »Alles, was vielleicht ausläuft, wird flussabwärts gespült. Der Delaware bezieht sein Wasser sowieso aus der Schneise – fischen geht da in den nächsten tausend Jahren bestimmt niemand.«

 

Das Geschirr vom Abendessen stand in der Spüle und wartete auf die nächtliche Wasserzuteilung, als es an der Tür klopfte. Fletch, die einen von Keiths alten Pullovern über ihre Khakihosen gezogen hatte, ging öffnen.

Mehr als ein Dutzend Mieter standen im Flur und riefen mehr oder weniger einstimmig: »Karnevalsgabe! Karnevalsgabe!« Vor ihnen hatte sich ein einzelner Karnevalist postiert. Er trug einen mit grünen Pailletten besetzten Zylinder, eine weite Bluse und Hosen, die mit Spiegelchen und bunten Stickereien in geometrischen Mustern verziert waren. Mit dem Umhang, den er morgen bei der Parade tragen würde, hätte er niemals durch die Tür gepasst, also hatte er notgedrungen darauf verzichtet. Als er nun eintrat und forsch den Hut zog, sah er aus wie ein aufgetakelter Hollywood-Indianer.

»Sie sind wegen der Karnevalsgabe gekommen«, erklärte Keith. Der Karnevalist hielt einen Musselinbeutel in die Höhe, und Keith holte hastig zwei Rollen Silberdollar aus einer Schublade der Anrichte und überreichte sie ihm.

Mit elegantem Schwung brach der Mann die Rollen auf und ließ die Münzen in den Beutel fallen. Seine Lippenbewegungen verrieten, dass er lautlos mitzählte. Keith lächelte wehmütig. Die Gabe hatte den größten Teil seiner Ersparnisse aufgezehrt.

Der Karnevalist war ein kleiner Mann mit leicht gedunsenem Gesicht. Sein Teint war vom Alkohol gerötet, wodurch die geplatzten Äderchen auf seiner Nase noch deutlicher hervortraten. »Beitrag voll entrichtet«, verkündete er. Dann winkte er gnädig, und die anderen Mieter drängten herein. »Der Schutz der Karnevalisten liegt für ein weiteres Jahr auf diesem Haus. Das Fest mag weitergehen!«

Jubelnd belegten die Mieter beide Räume mit Beschlag. Einer schaufelte mehr Kohle in den Ofen, ein anderer schwenkte einen Krug mit Getreidebranntwein. Keith holte hastig den restlichen Apfelwein vom letzten Oktober zum Mixen. Die wandernde Party war ein altehrwürdiger Brauch, und in einer Stadt, die mehr von Traditionen als von konkreten Absichten regiert wurde, war es ratsam, sich bei solchen Anlässen nicht auszuschließen.

Nicht alle Gäste wohnten im gleichen Haus wie Keith. Auch Cynthia Doring war dabei, obwohl ihre Wohnung mehrere Straßen entfernt war. Sie machte sich zielstrebig wie ein Hai an ihn heran, und als sie sich an seinen Arm hängte, war es ihm, als würde er von weißen Zähnen zerfetzt. »Keith, mein Schatz«, flötete sie. »Wo versteckst du dich nur die ganze Zeit? Ich habe dich buchstäblich seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Keith wich dem Blick dieser grünen Augen mit den goldenen Pünktchen und den unergründlichen Pupillen beharrlich aus. »Tja, du weißt doch, wie es so geht.«

»Aber das ist nicht gut. Dagegen muss man etwas tun.«

Keith spürte, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Er drehte sich um und sah sich Jerry vom dritten Stock gegenüber. Jerry war nicht völlig betrunken, seine Augen glänzten eher vor Aufregung. »Du musst mich deiner blonden Freundin vorstellen«, flüsterte er. »Ist sie deine neueste Flamme? Wo hast du sie kennengelernt?«

»Ich mache euch bekannt.« Keith war froh über die Störung. »Entschuldige uns, Cynthia.« Er führte Jerry zu Fletch hinüber und brachte das Vorstellungsritual hinter sich. »Man könnte sagen, wir sind uns in der Schneise über den Weg gelaufen«, schloss er. Wohl wissend, dass er damit eine mittlere Bombe gezündet hatte.

»Das ist nicht wahr!«

»Tatsächlich?«

»Was wollte sie da draußen? – die Schneise ist gefährlich.«

Fletch setzte ein höfliches, fast mütterliches Lächeln auf. »Die Strahlung ist nur direkt am Katastrophenschauplatz gefährlich. Ansonsten hat man es in der Schneise hauptsächlich mit Teilchenstrahlung zu tun. Solange man nicht isst, trinkt oder atmet, kann einem gar nichts passieren.«

Alles lachte, aber es klang ein wenig beklommen. Trotzdem hatte Fletch eine ganze Schar faszinierter Zuhörer. Cynthia nützte die Gelegenheit, um sich abermals Keiths Arm zu schnappen. »Keith, du machst mir Sorgen«, sagte sie. »Anfangs dachte ich, es läge nur an mir, ich hätte etwas Falsches gesagt oder getan. Aber in letzter Zeit stolpere ich ständig über deine alten Freunde, und bei ihnen hast du dich auch nicht mehr gemeldet.

Wovor versteckst du dich? Mit mir hättest du dich doch aussprechen können. Ich bin nicht umgezogen. Verdammt, ich arbeite sogar noch in der gleichen Schicht im Krankenhaus; wir hätten uns auch dort treffen können.«

Irgendwo im Hintergrund erklärte Fletch die Grundbegriffe der Ahnenforschung. »Wo warst du, als Joey starb?«, fragte Keith.

Die grünen Augen wurden groß. »Keith, ich bin nur eine einfache Krankenschwester – ich leere Bettschüsseln aus. Aber ich habe deinen Bruder betreut, und ich weiß, dass er wirklich nicht mehr zu retten war.«

»Niemand stirbt an Rattenbissen.«

»Es war Tollwut. Tollwutvirus 2017 B – dass man ihn überhaupt identifizieren konnte, war schon ein Glücksfall.« Als Keith schwieg, packte sie seinen Arm fester und schmiegte sich mit ihrem weichen, jungen Körper an ihn. »Ich bin mit Timothy hier«, murmelte sie. »Aber du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich schiebe ihn ab. Ich dachte, mit uns beiden liefe etwas, Keith. Man sollte von der Vergangenheit nur das Gute bewahren und alles übrige vergessen.«

Mit einem heftigen Ruck riss er sich los. Eine Hand ballte sich zur Faust, hob sich in Schulterhöhe, und nur seine tief verwurzelte Hemmung, eine Frau zu schlagen, hielt ihn davon ab, ihr die Faust tatsächlich ins Gesicht zu schmettern.

Er starrte die erhobene Hand an, zwang sich, sie zu senken, und versteckte sie in seiner Tasche. Cynthia war kreidebleich geworden. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich wieder gefasst hatte, bis Schock und Angst aus ihren Zügen verschwunden und durch die altbekannte Härte ersetzt worden waren.

Dann lächelte sie, eiskalt und sachlich. »Wie ich sehe, magst du dein Fleisch inzwischen gut abgehangen.« Eine Kopfbewegung zu Fletch hin beseitigte jeden Zweifel.

»Du verstehst das völlig falsch«, sagte Keith. Und plötzlich sehnte er sich wieder danach, sich ihr anzuvertrauen, obwohl er aus Erfahrung wusste, wie wenig empfehlenswert das war. Er sehnte sich danach, ihr zu erklären, wie tief ihn der Tod seines Bruders getroffen, wie er ihm fast ein ganzes Jahr seines Lebens geraubt hatte. Doch als er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass es keine Erklärung gab, keine Worte, keine Begründungen. Nur Leere, einen bohrenden Schmerz und einen Rest von Weltekel. »Ich …« Er streckte die Hand nach ihr aus.

»Die Party muss nun weiterziehen!«, brüllte der Karnevalist. »Auf die Beine, Leute, wir können nicht die ganze Nacht hier vertrödeln!«

Ein Gast nach dem anderen verschwand nach draußen. »Nichts liegt mir ferner, als dir bei deiner Suche nach einer Mama in die Quere zu kommen«, höhnte Cynthia und ging ebenfalls.

Der Karnevalist stand neben der Tür und trieb die Mieter in den Flur hinaus. Hinter den letzten Nachzüglern blieb Keith stehen und wartete auf den traditionellen Segensspruch.

Der Karnevalist haspelte ihn schnell und in verkürzter Form herunter: »Hier stehen wir vor deinem Tor, genauso wie im Jahr zuvor, und sagen unseren tiefsten Dank, für riesige Mengen Speis’ und Trank. Du siehst uns wieder in einem Jahr, doch brauchst du Hilfe – schon sind wir da.« Er verneigte sich flüchtig, dann fiel die Tür hinter ihm zu.

Keith stand da wie vom Donner gerührt. Die Feiernden stapften lärmend die Treppe zur nächsten Wohnung hinauf. Der Karnevalist hatte ihn nicht aufgefordert, sich der Party anzuschließen, und das war unerhört. So etwas hatte er noch nie erlebt.

Er wandte sich von der Tür ab. Die Wohnung kam ihm leer vor, seit er mit Fletch wieder allein war.

Verwirrt fragte Fletch: »Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Was haben Sie denn gesagt?«

»Ich weiß nicht. Jemand fragte, wo ich nach meinen Unterlagen suchen wollte, und ich erklärte, angefangen hätte ich in Souderton, und dann schrie der Mann in dem komischen Kostüm plötzlich, jetzt müssten alle gehen.«

»O Gott«, sagte Keith. »Souderton.«

Er musste versuchen, es ihr begreiflich zu machen.

Souderton ging als letzte Stadt innerhalb der Schneise zugrunde. Die Verseuchung hielt sich in Grenzen, und man hatte starke, entschlossene Führer. Souderton überlebte die ersten zwanzig Jahre nach der Reaktorkatastrophe und blühte in gewissem Sinne sogar auf. Die Bürger produzierten ihre Nahrungsmittel selbst, und wenn sie auch von den Gemeinden außerhalb der Schneise gemieden wurden, so brauchten sie doch wenigstens nicht in den Flüchtlingslagern wieder ganz von vorne anzufangen.

Frei von radioaktiven Isotopen waren Wasser und Lebensmittel freilich nicht. Krebserkrankungen, Erbschäden und Leukämie traten gehäuft auf, und nach zwei Jahrzehnten ließen sie sich nicht mehr ignorieren. Zu zahlreich waren die Fälle in allen Schichten der Bevölkerung, und sie beeinflussten jede Überlegung, jede Maßnahme.

Dem Vernehmen nach brach die Hysterie bei einer Bürgerversammlung aus, die man angesetzt hatte, um die Probleme zu erörtern. Einer anderen Version nach war der Auslöser eine alte Frau, die mit einem Herzanfall zusammenbrach. Jedenfalls führte die entstandene Panik rasch zu einer wilden Massenflucht, Tausende von verängstigten Menschen verließen die Stadt und rannten kopflos wie die Lemminge auf Philadelphia zu.

An der Stadtgrenze wurden sie von einer selbsternannten Schutztruppe empfangen, bestehend aus Bürgern, die Angst vor Mutationen hatten, vor Strahlenkrankheit, vor allem, was aus der Schneise kam.

Am nächsten Tag marschierten Männer mit Masken und Kapuzen, mit Filtern, Atemschutzgeräten und Gewehren in Souderton ein und erledigten den Rest.

»Weißt du, ich fahre oft genug hinaus, deshalb denke ich mir weiter nichts dabei. Aber ich vergesse wohl zu leicht, wie alle anderen über die Schneise denken«, schloss Keith. »Außerdem hat sich hier die Angst vor Souderton selbst und vor dem, was hätte geschehen können, wenn der Pöbel durchgebrochen wäre, über Generationen vererbt.«

»Klingt eher nach einem ererbten Schuldgefühl.« Fletch setzte sich auf die Bettkante, schnürte ihre Stiefel auf und ließ sie zu Boden fallen. »Höchste Zeit, dass ich mich aufs Ohr haue.« Sie zog sich den Pullover über den Kopf.

Unter dem Hemd wippten ihre Brüste. Ein wenig schlaff waren sie schon, aber für eine Frau ihres Alters nicht allzu sehr. Keith versuchte unwillkürlich, sie sich plastisch vorzustellen. Im Zimmer war es unangenehm warm, sogar stickig. Der einzige Schluck Alkohol hatte ihn fast schwindlig gemacht.

»Hm, hör mal«, sagte er. »Das Bett ist groß genug für zwei.«

Fletch lächelte verächtlich. »Bleib mir vom Leib, Söhnchen«, sagte sie. »Du brichst dir bestimmt nichts ab, wenn du eine Nacht auf der Couch schläfst.«

 

Keith erwachte im Morgengrauen, weil draußen Holz auf Holz klapperte, Metall über Ziegel kratzte und schrille Kinderstimmen kreischten. Die Jugend der Stadt war auf den Beinen, um das neue Jahr zu begrüßen und, wie es ihr gutes Recht war, einmal im Jahr einen Heidenlärm zu machen und die Erwachsenen aus dem Schlaf zu reißen.

Er kam gerade von der Toilette am unteren Ende des Flurs zurück, als Fletch das Schlafzimmer verließ. Der Morgen war kühl, und sie rieb sich langsam die Arme und sah so zerknittert und schmuddelig aus wie ihre alten Khakihosen. »Frühstück ist gleich fertig«, versprach Keith. »Wie geht’s dir heute?« Er machte sich daran, den Ofen anzuheizen.