ENGEL DER SCHWERKRAFT - Michael Swanwick - E-Book

ENGEL DER SCHWERKRAFT E-Book

Michael Swanwick

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Beschreibung

Als Das Fest der Heiligen Janis 1980 in New Dimension 11 erschien, war allen klar, dass mit Michael Swanwick am Himmel der US-amerikanischen Science Fiction ein neuer Star aufgetaucht war. Die meisterhafte Erzählung gelangte prompt in die Entausscheidung zum Nebula Award und machte Appetit auf mehr. Aber man musste sich auf die Suche begeben, um zu entdecken, wo der Autor weitere Stories publizierte, denn nur die wenigsten erschienen in den üblichen SF-Magazinen.In Engel der Schwerkraft sind nun dreizehn der herausragendsten Erzählungen Michael Swanwicks aus den Jahren 1980 bis 1989 zusammengefasst! Darunter Die Kirche der göttlichen Verheißung, wo eine belagerte Kirche zum Schauplatz eines Wunders apokalyptischen Ausmaßes wird, während sich in der Raumfahrer-Story Der blinde Minotaurus High-Tech und Mythos vermischen und in Die Drachenlinie einem Abgesandten aus mythischer Vergangenheit die Aufgabe zufällt, die abgewirtschaftete Erde zu retten. Von der alptraumhaften Landschaft Pennsylvanias nach einer Kernschmelze bis zur interstellaren Reise durch Schwarze Löcher bietet diese einmalige Collection eine faszinierende Palette bester Science Fiction auf höchstem stilistischem Niveau.

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Seitenzahl: 584

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MICHAEL SWANWICK

Engel der Schwerkraft

Erzählungen

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Der Autor

Danksagungen

Ein Wintermärchen

Das Fest der Heiligen Janis

Der blinde Minotaurus

Die Seelenwanderung des Philip K.

Die Kirche der göttlichen Verheißung

Die Drachenlinie

Mummenkuss

Das trojanische Pferd

Schnee-Engel

Der Mann, der Picasso kannte

Weitsicht

Ginungagap

Der Rand der Welt

Einzelrechte

Das Buch

Als Das Fest der Heiligen Janis 1980 in New Dimension 11 erschien, war allen klar, dass mit Michael Swanwick am Himmel der US-amerikanischen Science Fiction ein neuer Star aufgetaucht war. Die meisterhafte Erzählung gelangte prompt in die Entausscheidung zum Nebula Award und machte Appetit auf mehr. Aber man musste sich auf die Suche begeben, um zu entdecken, wo der Autor weitere Stories publizierte, denn nur die wenigsten erschienen in den üblichen SF-Magazinen.

In Engel der Schwerkraft sind nun dreizehn der herausragendsten Erzählungen Michael Swanwicks aus den Jahren 1980 bis 1989 zusammengefasst! Darunter Die Kirche der göttlichen Verheißung, wo eine belagerte Kirche zum Schauplatz eines Wunders apokalyptischen Ausmaßes wird, während sich in der Raumfahrer-Story Der blinde Minotaurus High-Tech und Mythos vermischen und in Die Drachenlinie einem Abgesandten aus mythischer Vergangenheit die Aufgabe zufällt, die abgewirtschaftete Erde zu retten. Von der alptraumhaften Landschaft Pennsylvanias nach einer Kernschmelze bis zur interstellaren Reise durch Schwarze Löcher bietet diese einmalige Collection eine faszinierende Palette bester Science Fiction auf höchstem stilistischem Niveau.

Der Autor

Michael Swanwick, Jahrgang 1950.

Michael Swanwick ist ein US-amerikanischer Fantasy- und Science-Fiction-Schriftsteller, der u.a. mehrfach mit dem Hugo-Award für die beste Kurzgeschichte/Erzählung ausgezeichnet wurde.

Er begann seine literarische Karriere im Jahre 1980 mit der Veröffentlichung der Erzählungen Ginungapap (dt. Ginungapap, 1991) und The Feast Of St. Janis (dt. Das Fest der Heiligen Janis, 1991).

In seinem Roman Die Todesschneise (In The Drift, 1985 – dt. 1993) schildert Swanwick die Auswirkungen eines Katastrophe, welche jene von Harrisburg im AKW Three Mile Island (1979) noch übertrifft; in Vakuumblumen (Vacuum Flowers, 1987 – dt. 1990) zeichnet er ein Bild der Menschheit, die zum 'Einschluss' erstarrt ist, einem zentral gesteuerten kybernetischen Kollektivwesen; In Zeiten der Flut (Stations Of The Tide, 1991 – dt. 1997) hat einen Bürokraten zum Protagonisten, der auch im gesamten Buch nur 'der Bürokrat' genannt wird: Dieser jagt mit Hilfe seiner Aktentasche einen Zauberer, der 'verbotene Technik' nutzt. In Zeiten der Flut gewann 1991 den Nebula-Award und wurde 1992 sowohl für den Hugo- als auch den Campbell Award nominiert; 1993 wurde der Roman überdies für den Arthur-C.-Clarke-Award nominiert.

In Die Tochter des stählernen Drachen (The Iron Dragon's Daughter, 1994 – dt. 1996) beschreibt Swanwick eine Welt, in der die Elfen Mode von Armani tragen und Drachen kybernetische Flugmaschinen sind, und die Piloten sich mit dem Bewusstsein des Drachen verkoppeln können. Auch dieser Roman wurde im Jahre 1994 für diverse Literatur-Preise nominiert: für den Clarke-, den Locus-Award in der Kategorie Fantasy und den World Fantasy-Award.

Swanwicks Roman Jack Faust (1997) wiederum ist eine Adaption des Faust mit moderner Technik und Wissenschaft – und brachte ihm erneut Nominierungen für den BSFA-Award (1997) sowie für den Hugo und Locus (beide 1998) ein.

Viele seiner Kurzgeschichten sind ebenfalls gewürdigt worden: Er gewann den Theodore-Sturgeon-Memorial-Award für The Edge of the World (1989), den World Fantasy-Award für Radio Waves (1996) sowie mehrfach den Hugo-Award für The Very Pulse of the Machine (1999), Scherzo with Tyrannosaur (2000), The Dog Said Bow-Wow (2002), Slow Life (2003) und Legions in Time (2004).

Darüber hinaus hat Michael Swanwick Sachbücher über Science-Fiction- und Fantasy-Literatur geschrieben. So schrieb er The User's Guide to the Postmoderns (1986) über den aktuellen Stand der Science Fiction und In The Tradition... (1994) über jenen der Fantasy. Das erste Werk ist nicht unumstritten, weil er neue SF-Autoren in die Kategorien Cyberpunk und literarische Humanisten einsortierte. 1997 wurden beide Bücher in The Postmodern Archipelago zusammengefasst.

2001 veröffentlichte Swanwick ein buchfüllendes Interview mit Gardner Dozois unter dem Titel Being Gardner Dozois.

Besondere Aufmerksamkeit wurde auch seiner gemeinsam mit William Gibson verfassten Kurzgeschichte Luftkampf (Dogfight, 1985 – dt. 1989) zuteil.

Seine aktuellsten Werke sind die Romane The Dragons of Babel (2008) und Dancing With Bears (2011) sowie The Best Of Michael Swanwick (2008), eine Zusammenstellung von Kurzgeschichten und Erzählungen.

Weil du beim Gehen lernen

abgesetzt werden wolltest und

unverzüglich wegliefst,

über den Gehsteig entschwandest

und ich verblüfft zurückblieb,

eine perfekte Allegorie,

widme ich den in diesem Buch enthaltenen

wichtigen Teil meines Lebens

meinem tapferen

und furchtlosen Sohn

Sean William Swanwick.

Danksagungen

  Der Autor ist folgenden Personen zu Dank verpflichtet:

  Jack Dann für ausgewählte Teile seiner persönlichen Geschichte, die in Ein Wintermärchen verwendet wurden; John Muller, dessen Wein in Das Trojanische Pferd auf den Mond transportiert wurde, eine Erzählung, die ebenfalls viel den Mühen verdankt, die Marta Randall wegen der legendären Anthologie New Dimensions 13 auf sich genommen hat; dem notwendigerweise namenlosen Protagonisten aus Der Mann, der Picasso kannte für die Zauberprüfung, der er sich

unterzogen hat; Patrick McGrath für lange Nachtdiskussionen über Tolkien; Sandy Meschkow für technische Recherchen; Bill Franz für die Schwarze-Loch-Technik aus Ginungagap; John DeChancie für den Post klauenden Robot aus Die Seelenwanderung des Philip K.; Jim Turner für Korrekturen und viele technische Hinweise; Sheila Williams, George Scithers, Ellen Datlow, dem leider so früh verstorbenen Terry Carr, Robert Silverberg und Spectra-Team für seine Arbeit; und Virginia Kidd, weil diese sie davon abhielt, ihre Arbeit allzu gut zu machen.

  Viele Worte und Ideen in diesem Buch sind geklaut von Susan Casper, Meg und Thierry Phillips, Tim Sullivan, Greg Frost, den Workshop-Teilnehmern von Philford und neben vielen anderen, die hier nicht aufgeführt sind, Tom und Sara Purdom. Die Figur des Mordred in Die Drachenlinie beruht ursprünglich auf einer unveröffentlichten Fantasy-Erzählung der ebenfalls inzwischen verstorbenen Anna Quindsland über die Artus-Sage.

  Wie gewöhnlich schulde ich den meisten Dank Gardner Dozois, dem Story-Berater par excellence, dessen Einfluss in den meisten der hier veröffentlichen Erzählungen, die allerletzten ausgenommen, spürbar ist.

  Die Krankenversicherung wurde bezahlt aus einem Stipendium der M. C. Porter Endowment of the Arts.

Ein Wintermärchen

  Vielleicht sollte ich dir von jenem Weihnachtsfest im Steinernen Haus, damals in meiner fernen Kindheit, gar nichts erzählen. Seit ich am Hirnfieber erkrankt bin, ist auf mein Gedächtnis kein Verlass mehr. Bald werde ich kräftig genug sein, um zu einem obskuren, Lichtjahre entfernten Planeten jenseits des melancholischen Mondes verschickt zu werden, der hinter der Scheune deines Vaters aufgeht, aber Wieviel ist mittlerweile aus meiner Erinnerung ausgebrannt! Vielleicht hat sich in Wirklichkeit nichts von alledem ereignet.

  Setz dich auf meinen Schoß, dann erzähl' ich's dir. Na ja, auf mein Knie. Ein Knie hat noch keiner Frau geschadet. Du lachst, aber es stimmt. Wäre es doch nur so leicht!

  Das Schlimme am gegenwärtigen Krieg ist, dass es dabei nicht so sehr um Geländegewinne oder um die Vernichtung des Gegners geht und dass es darum stets besser ist, zu verstümmeln als zu töten. Eine Leiche kann man einsacken, verbrennen und vergessen, aber die Verwundeten bedürfen der besonderen Pflege. Sie brauchen Regenerationstanks, synthetische Haut, medizinisches Personal, einen langen Genesungsurlaub auf der Farm deiner Eltern. Das ist der Grund, warum sie verschiedene Waffen einsetzen, altertümliche Steinäxte, Toxine oder Strahlung, um das Oberkommando zu bewegen, die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen und spezielle Arzneien und Fachpersonal mit obskuren Fertigkeiten bereitzustellen. Senfgas eignet sich hervorragend für diesen Zweck, und das gleiche gilt für das Hirnfieber.

  Die ganzen Monate über lag ich im Krankenhaus, von Schmerzen gequält, manchmal halluzinierend. Ich träumte vom Eis. Wenn ich aufwachte, schwach und kaum überzeugt davon, dass ich lebte, waren Teile meines Lebens verschwunden, wahllos aus meinem Gedächtnis ausgebrannt, Ich erinnere mich daran, wie ich lachend ganz oben auf der Eisenbrücke über die Zveltaya stand und meine Bücher eins nach dem andern in den Fluss warf, während mein bester Freund Fennwolf mich zu beruhigen versuchte. »Ich gehe zur Miliz! Ich werde Soldat!«, schrie ich hysterisch. Und das tat ich auch. Ich erinnere mich ganz genau daran, aber der Anlass für diese Exaltiertheit ist mir völlig entfallen. Ebenso wenig erinnere ich mich an den Namen meiner zweitältesten Schwester, obwohl mir ihr Gesicht so klar wie deines jetzt vor Augen steht. Mein Gedächtnis hat seltsame Lücken,

  Jener Weihnachtsabend ist eine Insel der Ruhe in meinen meerbewegten Erinnerungen, ebenso beständig in meiner Vorstellung wie das Steinerne Haus, diese neolithische Höhle, in der wir ein so archaisches Leben führten, dass ich nie genau wusste, in welcher Epoche wir eigentlich lebten. Manchmal, wenn die Männer von der Jagd heimkehrten, ein oder zwei Larle zufrieden und müde ein paar Schritte vorneweg, und blutige Speere an die Wand lehnten, war es beinahe so, als lebten wir wieder auf der Alten Erde Dann wieder, wenn sie Projektoren mitbrachten und der Gemeinschaftsraum mit farbigem Licht erfüllt war, wenn Lichtfünkchen im Gezweig des Jahreszeitenbaums nisteten und kalte, harmlose Flammen über die Geschenke tanzten, schienen wir einem viel späteren Zeitalter anzugehören, irgendeiner mythologisierten Provinz der Zukunft.

  Im Haus war es rappelvoll, wenn sich die fünf Familien für dieses eine Mal im Jahr versammelten und ferne Verwandte und sogar ein paar Fremde bei uns übernachteten, so dass wir Schlafgelegenheiten an Stellen unterbringen mussten, die den Winter über normalerweise Verschlossen waren, und Möbel auf die Speicher stellten, sogar in blinden Gängen standen Pritschen mit dicken Polstern herum. Die Frauen eilten durch die Korridore, schwatzten hier mit einem Onkel, setzten dort jemanden in einen Sessel, indem sie ihn wie ein Kissen hineinplumpsen ließen, deckten hier einen Tisch und richteten dort einen Schnauzbart auf.

Eine angenehme Zeit.

  Nach einem Besuch in der Küche, aus der mich eine riesige, mir unbekannte Frau mit mehlbestäubten sommersprossigen Armen verscheucht hatte, überraschte ich Suki und Georg dabei, wie sie sich in einer Nische hinter dem großen Herd küssten. Sie hatten die Arme umeinander gelegt, und ich schaute ihnen zu. Suki lächelte, ihre Wangen waren rund und gerötet. Sie strich sich mit einer Hand das Haar zurück, damit Georg an ihrem Ohrläppchen knabbern konnte, wobei sie sich ein wenig herumdrehte und mich bemerkte. Sie schnappte nach Luft, und beide lösten sich voneinander und wurden rot.

  Suki gab mir ein Plätzchen, das dunkel war von Zuckersirup und mit einer einzelnen klebrigen, verzuckerten Rosine verziert, während Georg schmollte. Dann schob er mich weg, und ich hörte Suki auflachen, als sie Georgs Hand nahm und ihn zu einem finstereren Schlupfwinkel des Hauses führte.

  Vater kam herein, mit Völlig verdreckten Stiefeln, und legte eine Schlinge mit Wildvögeln auf den Jagdschrank. Er hängte seinen Bogen mit ausgehängter Sehne und den Köcher an ihre Haken, dann stützte er sich mit dem Ellbogen auf den Schrank, um von Mutter Bewunderung und ein heißes Getränk einzuheimsen. Der Larl tappte vorbei, still und schwer und zufrieden. Ich folgte ihm um eine Ecke, während sich in mir ein archaisches Verlangen regte, auf dem Tier zu reiten. Ich sah mich bereits vor meinen Cousins triumphierend auf dem Rücken des schwarzen Fleischfressers sitzen. »Flip!«, rief mein Vater streng. »Lass Samson in Ruhe! Er ist ein stolzes und edles Tier, und ich möchte nicht, dass du ihn belästigst.«

  Mein Vater hatte Augen im Hinterkopf. Ja, das hatte er.

  Bevor ich wütend werden konnte, rannten meine Cousins vorbei, unterwegs nach draußen, wo sie die Strohpuppen in die Bäume hochziehen wollten, und ich ließ mich von ihnen mitreißen. Onkel Chittagong, der aussah wie eine Eidechse und aus gesundheitlichen Gründen in einem Glastank bleiben musste, blinzelte mir zu, als ich an ihm vorbeifegte. Aus den Augenwinkeln sah ich neben ihm meine von blauem Feuer umflorte zweitälteste Schwester.

  Entschuldige. So wenig von meiner Kindheit ist mir geblieben; große Teile davon sind in den blauen Eiswüsten verlorengegangen, die ich während meiner Krankheit durchmessen habe. Meine Vergangenheit ist wie ein versunkener Kontinent, von dem nur die Bergspitzen noch sichtbar sind, ein verstreuter Archipel von Ereignissen, von denen ich auf den vergessenen Rest schließen muss. Diese übriggebliebenen Fragmente schätze ich umso mehr und muss regelmäßig mit der Hand darüberstreichen, um mich zu vergewissern, dass etwas überdauert hat.

  Wo war ich stehengeblieben? Ah, ja: Ich war im nördlichen Glockenturm, in meinem damaligen Schlupfwinkel, hockte hinter dem Alten Matten Chorgestühl, der Bassglocke in unserer Glockentriade, und weinte, weil ich angeblich zu jung war, um eine der Weihnachtsfackeln anzuzünden. »Hallo!«, rief jemand, und dann: »Komm raus, du Heini!« Ich rannte zum Fenster und vergaß die Tränen, als ich vor dem gelb werdenden Himmel die Gestalt meines Bruders Karl entdeckte, der mit ausgestreckten Armen wie ein Seiltänzer über den Dachgiebel balancierte.

  »Deswegen wirst du Ärger kriegen!«, schrie ich. »Nicht, wenn du keinem was erzählst!« Sich der Tatsache wohl bewusst, dass ich ihn verehrte. »Komm da runter! Ich hab' einen der Küchenschränke leergeräumt. Wir können von der Speisekammer aus reinkriechen. Unter der Tür ist ein Spalt - da können wir alles mitansehen!«

  Als Karl sich umdrehte, verhedderten sich seine Beine. Er stürzte. Mit den Füßen voran rutschte er das Dach hinunter.

  Ich schrie auf. Karl bekam die Dachrinne zu fassen und schwang sich in ein darunterliegendes offenes Fenster. Sein grinsendes Gesicht tauchte in der Düsternis auf. »Wir treffen uns am Jade-Ibis. Wer als erster dort ist, hat gewonnen!«

  Er verschwand, und ich rannte die Wendeltreppe hinunter, um als erster am Ziel zu sein.

  Es war nicht meine Schuld, dass wir erwischt wurden, denn wenn Karl mich nicht gekitzelt hätte, um zu sehen, wie lange ich würde still bleiben können, hätte ich nie gekichert. Ich hatte Angst, nicht jedoch Karl. Er warf den Kopf zurück und lachte, bis ihm die Tränen kamen, auch dann noch, als er von drei aufgebrachten Großmüttern weggeschleppt wurde. Sein Schelmenstreich ergötzte ihn mehr als alles, was er möglicherweise zu Gesicht bekommen hätte.

  Ich wurde von der nachsichtigen Katarina weggeführt, die mir anschaulich die Prügel beschrieb, die ich bekommen würde, und die es anschließend fertigbrachte, mich in dem Gewühl, das im Gemeinschaftsraum herrschte, zu verlieren. Ich versteckte mich hinter dem Wandteppich mit den Ziegen drauf, bis es mir langweilig wurde – nicht lange! -, und dann läuteten Pummelchen, der Kosmonaut und das Chorgestühl, und der Raum leerte sich.

  Ich latschte unbeachtet inmitten der sich bewegenden Beine herum, wie ein Marschvogel durchs sich wiegende Gras. Auf der Osttreppe hallten Stimmen wider, wir stiegen zum obersten Balkon empor, um uns den Sonnwendtanz anzuschauen. Ich umklammerte die bröcklige Brüstung und zog mich auf die Zehenspitzen hoch, damit ich mitbekam, wie die Prozession das Haus verließ. Lange Zeit geschah nichts, und ich weiß noch, dass es mich wütend machte, wie beiläufig die Erwachsenen über alles redeten, wie sie mit ihren Getränken dastanden und kaum einen Blick für die Vorgänge um sie herum übrig hatten. Pheidre und Valerian (die

kleineren Kinder hatte man gegen ihren Willen vor einer Stunde ins Bett gesteckt) spielten Fangen und rannten zwischen den Erwachsenen herum, bis man sie bei den Armen nahm, heftig durchschüttelte und ermahnte, endlich Ruhe zu geben.

  Dann öffnete sich unten die Tür. Die Frauen, die sich als Hexen verkleidet hatten, schritten feierlich heraus, angetan mit Kapuzenmänteln aus Frottee, als kämen sie gerade aus dem Bad. Allerdings waren sie so still, dass mich Angst überkam. Es war, als sei eine Art Kälte in die rosigen, kichernden Frauen eingesickert, die ich kurz zuvor bei den Essensvorbereitungen in der Küche beobachtet hatte, und habe ihre Wärme oder ihr Gelächter mit sich fortgenommen. »Katrina!«, rief ich in Panik, und sie wandte ihr mondkaltes Gesicht zu mir empor. Ein paar Männer brachen in Gelächter aus, Weißer Dampf quoll aus den bärtigen Mündern, und einer rieb seine Knöchel an meinem Haar. Meine zweitälteste Schwester zog mich vom Geländer weg und erklärte mir flüsternd, ich solle den Hexen nichts zurufen, dies sei wichtig, und wenn ich erst mal älter sei, werde ich alles verstehen, und wenn ich bis dahin nicht brav wäre, werde es Prügel setzen. Um ihre Worte abzumildern, bot sie mir ein Stück Kristallzucker an, ich aber wandte mich finster und ungetröstet von ihr ab.

  Im Gänsemarsch schritten die Frauen über den Fels zur Ostseite des Hauses, wo der Meereswind den nackten Schiefer vollständig blankgefegt hatte, und legten in großer Entfernung - man konnte ihre Gesichter nicht erkennen - ihre Gewänder ab. Einen Moment lang standen sie reglos im Kreis und schauten einander an. Dann begannen sie zu tanzen, bekleidet nur mit einem roten Band, das sie um die Taille gebunden hatten und dessen langes Ende in der Brise flatterte.

  Während sie im Kreis tanzten, schauten die Familien größtenteils schweigend zu. Hin und wieder, wenn einer der jüngeren Männer eine schlüpfrige Bemerkung machte, vernahm man gedämpftes Gelächter, doch überwiegend schauten sie den Frauen mit großem Respekt zu, sogar mit einer Art Angst. Der böige Himmel war finster und mit kleinen Wolken bedeckt, die an Widder mit purpurfarbenen Köpfen erinnerten. Auf dem Dach herrschte eisige Kälte, und mit war schleierhaft, wie die Frauen das aushielten. Sie tanzten schneller und schneller, und die Familien wurden immer leiser und drängten zum Rand des Balkons, bis ich vom Geländer weggedrängt wurde. Ohne dass mir jemand nachgeschaut hätte, ging ich frierend und gelangweilt nach unten und zum Gemeinschaftsraum, wo im Kamin immer noch ein Feuer schwelte.

  Vorher war der Raum voller Menschen gewesen, jetzt war es darin kühler. Ich legte mich vor dem Kamin auf den Bauch. Die Kacheln rochen nach Asche, fühlten sich sandig an und beschmutzten meine Fingerspitzen, als ich müssig Kreise darauf beschrieb. Die Steinplatten waren an den Rändern kalt und wurden allmählich wärmer und dann auf einmal zu heiß, so dass ich meine Hand wegnehmen musste. Die Hinterseite des Kamins war schwarz verrußt, und ich schaute den Feuerwürmern zu, die über das in den Stein eingemeißelte Herz-und-Hand-Muster krochen, als die Kohle plötzlich Feuer fing und ausbrannte. Der Holzklotz war völlig verkohlt und würde noch stundenlang brennen.

  Irgendetwas hustete.

  Als ich mich umdrehte, sah ich, wie sich im Schatten etwas bewegte, ein Tier. Der Larl war schwärzer als schwarz, ein Loch in der Dunkelheit, und als ich ihn anschaute, tränten mir vor Anstrengung die Augen. Langsam, behäbig trat er auf die Steinplatten hervor, streckte den Rücken, gähnte und rollte die Zunge zusammen, und dann starrte er mich mit seinen riesigen grünen Augen an.

  Er sprach.

  Ich wunderte mich natürlich, jedoch nicht so, wie mein Vater sich gewundert haben würde. Einem Kind ist ja so vieles unerklärlich. »Frohe Weihnachten, Flip«, sagte das Wesen in ruhigem, flüsterndem Ton. Ich vermochte seinen Akzent nicht einzuordnen; so etwas hatte ich noch nicht gehört. Sein Blick drückte eine ungeheure, fremdartige Belustigung aus.

  »Dir ebenfalls«, erwiderte ich höflich.

  Der Larl setzte sich hin, wobei er seinen Leib eng um mich zusammenrollte. Hätte ich weglaufen wollen, wäre ich nicht an ihm vorbeigekommen, obwohl ich in dem Moment gar nicht daran dachte. »Es gibt eine uralte Legende, Flip, wonach die Tiere zu Weihnachten die Sprache der Menschen zu sprechen vermögen, und ich frage mich, ob du sie wohl kennst. Haben dir die Älteren schon davon erzählt?«

  Ich schüttelte den Kopf.

  »Sie vernachlässigen dich.« Ein seltsamer Humor regte sich in seiner Stimme. »In manchen alten Legenden steckt ein wahrer Kern, aber man muss wissen, wie man dazu vordringt. Für alle gilt das wohl nicht. Manche sind halt nur Geschichten. Vielleicht bildest du dir das alles bloß ein; vielleicht unterhalte ich mich gar nicht mit dir?«

  Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand ihn nicht. Ich sagte es ihm.

  »Das ist der Unterschied zwischen euch und uns. Unsereins weiß alles über euch, aber ihr wisst so gut wie gar nichts über uns. Ich würde dir gern eine Geschichte erzählen, eine kurze Geschichte. Möchtest du sie hören?«

  »Ja«, sagte ich, denn ich war jung, und ich mochte Geschichten.

  Er begann:

  Als die großen Schiffe landeten...

  Ach, Gott. Als...  nein, nein, nein, warte. Entschuldige. Ich bin erschüttert. Gerade eben hatte ich eine Vision. Mir kam es so vor, als wäre es Nacht und ich stünde am Eingangstor eines Friedhofs. Auf einmal war die Luft voller Licht, voller Flugzeuge und Lichtkegel, die aus dem Boden brachen und sich zwitschernd in den Bäumen niederließen. Die den Himmel zerbrachen. Ich wollte vor Freude tanzen. Aber der Boden schien unter meinen Füßen zu zerbröckeln, und als ich hinunterschaute, reichte der Schatten des Tores bis an meine Füße, ein kaltes Rechteck aus tiefstem

Schwarz, so tief wie die Ewigkeit, und ich war benommen und meinte zu fallen, und ich, und ich...

  Es reicht! Ich hatte diese Vision schon einmal, viele Male. Das muss irgendetwas sein, das mich in meiner Jugend stark beeindruckt hat, der feuchte Geruch der frisch umgegrabenen Erde, der Kalkanstrich des Lattenzauns. So muss es sein. Ich glaube nicht an Kobolde, Gespenster oder Vorahnungen. Nein, es lohnt sich nicht, überhaupt daran zu denken. Unsinn! Ich will lieber weitererzählen.

  - Als die großen Schiffe landeten, tat ich mich gerade gütlich am Gehirn meines Großvaters. All seine Nachkommen hatten sich respektvoll um ihn versammelt, und mir als dem Jüngsten stand der erste Bissen zu. Mich durchströmte seine Weisheit und die Weisheit all seiner Vorfahren und die Erinnerungen der Tiere, die er verspeist hatte, und der Geist der tapferen Feinde, die er getötet und anschließend dadurch geehrt hatte, dass er sie verzehrte, so als gehörten sie zur Familie. Ich glaube nicht, dass du das verstehst, mein Kleiner.

  Ich schüttelte den Kopf.

  Das Volk stirbt nicht, weißt du. Bloß die einzelnen Personen. Manchmal geht ein kleiner Teil einer Person verloren, die Taten einiger Dekaden, aber der Großteil ihres Lebens wird bewahrt, wenn nicht in ihrem Körper, dann in einem anderen. Bisweilen entehrt sich auch jemand, und dann weigern sich seine Nachkommen, von ihm zu essen. Das ist sehr betrüblich, und dann zieht sich diese Person zurück, um irgendwo allein zu sterben.

  Die Schiffe senkten sich so hell wie neugeborene Sonnen herab. Das Volk hatte so etwas noch nicht gesehen. Wir schauten sprachlos zu, denn damals konnten wir noch nicht sprechen. Du hast die Bilder gesehen, die barocken Wirbel aus farbig lackiertem Metall, die stolzen Menschen, die das Land betraten. Aber ich war dabei, und das kannst du mir glauben, deine Leute waren krank. Als sie die Gangway heruntergestolpert kamen, ging der beißende Gestank der Strahlenkrankheit von ihnen aus. Wir hätten sie damals auf der Stelle vernichten können.

  Das war zu Anfang des Frühlings.

  Die Hälfte der Überlebenden war in der Mitte des Winters gestorben, einige an der Krankheit, andere am Nahrungsmangel. Uns war das egal. Doch dann hat die Frau in der Wildnis unser Universum für immer verändert.

  Wenn du älter bist, wird man dir von der Frau und von der Verzweiflung, die sie in die Wildnis getrieben hat, erzählen. Das ist Teil unserer Geschichte. Was mich betrifft, der ich winterschlank draußen im Gebirge war, so meinte ich eine Vision der Winterkönigin zu erblicken, als ich sie in ihren Pelzen durch den Schnee stapfen sah. Ein nahrhaftes Geschenk in der Hungerperiode, das Blut des Lebens zur Feier der Sonnenwende.

  Als ich ihren Gefährten verzehrte, sah ich die Frau zum ersten Mal. An diesem Abend hatte er wie stets bei Sonnenuntergang seine Hütte verlassen, das Gewehr in

der Hand und ohne aufzusehen. Ich hatte ihn fünf Tage lang beobachtet, und sein Verhalten hatte sich in dieser Zeit nicht verändert. Am sechsten Abend hockte ich auf dem Dach, als er herauskam. Ich ließ ihn ein paar Schritte von der Tür weggehen, dann sprang ich ihn an. Ich spürte, wie ihm beim Aufprall der Hals brach, schlitzte ihm zur Sicherheit die Kehle auf und zerriss den Parka, um seine Innereien zu kosten. Sie hatten keinen Geschmack, aber im Winter nehmen wir auch mit Wild vorlieb, dessen Gehirn wir niemals essen würden.

  Ich hatte den Mund voll und vom Blut eine angenehm feuchte Schnauze, als die Frau auftauchte. Als ich aufblickte, erschien sie gerade auf der Anhöhe, auf einer eurer unbegreiflichen Maschinen sitzend, die man, wie ich inzwischen weiß, Schneegleiter nennt. Die untergehende Sonne brach hinter ihr durch die Wolken, und einen Moment lang war sie von einem Glorienschein umgeben. Ihr schmaler Schatten berührte mich, eine Brücke aus Dunkelheit, die uns beide verband. Wir sahen uns in die Augen

  Als Magda die Anhöhe erreicht hatte, überkam sie eine grimmige, freudlose Genugtuung. Jetzt bin ich eine Jägersfrau, dachte sie. In Landfall werden wir wegen des Fleisches, das wir mitbringen, stets willkommen sein, aber man wird sich nie wieder zivilisiert mit mir unterhalten. Gut. Ihr Geschwafel wäre mir sowieso zuwider. Das Baby regte sich, und ohne hinzuschauen streichelte sie es durch den Pelz hindurch und murmelte: »Es dauert nicht mehr lange, mein tapferer kleiner Schreihals, wir sind gleich in unserem neuen Heim. Das wird dir bestimmt gefallen, was meinst du?«

  Die Sonne brach hinter ihr durch die Wolken und ließ den Schnee rot aufleuchten. Als sich ihre Augen angepasst hatten, sah sie die dunkle Gestalt über dem Leichnam ihres Geliebten hocken. Noch weit davon entfernt, drosselte sie den Schneegleiter und brachte ihn zum Halten. Die flache Mulde vor ihr war kahl, der Schnee rund um den Leichnam schwarz von Blut. Ein letzter Rauchfaden kräuselte sich aus dem Schornstein der Hütte. Das Untier hob die Schnauze und schaute sie an.

  Die Zeit erstarrte und gerann zu schwarzer Agonie.

  Der Larl schrie. Er rannte auf sie zu, schneller als erwartet. Vom Kind behindert, das sie über dem Bauch festgeschnallt hatte, zog Magda unbeholfen das Gewehr aus der Halterung hinter dem Sattel. Sie zog ihre Fäustlinge aus, legte ihre Hände auf das Metall, das wie Hornissen stach, entsicherte das Gewehr und zielte. Der Larl hatte bereits die Hälfte der Strecke bis zu ihr zurückgelegt. Sie zielte und schoss.

  Der Larl ging zu Boden. Mit einer zerschmetterten Schulter wurde er auf die Seite gerissen. Er taumelte und rollte durch den Schnee. »Du Scheißkerl!«, schrie Magda triumphierend. Gleich darauf kämpfte sich das Tier mühsam wieder hoch, machte kehrt und lief davon.

  Vom Gewehrknall aufgeschreckt, begann der Säugling zu weinen. Magda fuhr den Motor hoch. »Schhhh, kleiner Krieger.« Eine Art Wahnsinn überkam sie, eine blinde, betäubende Wut. »Das wird nicht lange dauern.« Sie wandte den Motorschlitten hangabwärts und fuhr dem Larl hinterher.

  Trotz seiner Verletzung war der Larl immer noch schnell. Sie vermochte ihn kaum einzuholen. Als er das lichte Wäldchen am Ende der Wiese erreicht hatte, hielt Magda wieder an, um abermals zu feuern, und hätte den Larl beinahe am Kopf getroffen, aber er sprang in dem Moment beiseite. Von da an verlegte er sich auf abrupte Richtungswechsel und unerwartete Seitwärtssprünge. Er lernte rasch. Doch er konnte Magda nicht entkommen. Sie war schon immer ein Heißsporn gewesen, und jetzt war ihr Blut in Wallung. Solange der Mörder ihres Geliebten am Leben war, würde sie nicht zu dem ausgeweideten Leichnam zurückkehren.

  Die Sonne ging unter, und im verblassenden Licht verlor sie den Larl aus den Augen. Im Mondschein, der doppelte Schatten warf, vermochte sie aber seiner Spur

zu folgen, den tiefen, purpurfarbenen Fußabdrücken und den dunkleren Blutspritzern, die Tropfen für Tropfen im Schnee zurückblieben.

  Es war Sonnenwende, und beide Monde waren voll - eine geheiligte Zeit. Das fühlte ich sogar noch bei meiner Flucht durch die Wildnis. Der Schnee reflektierte

das Mondlicht. Ich spürte, wie sich die Bedrohung des Gejagtwerdens auf mich herabsenkte, und auf meine sprachlose Art kam ich mir gesegnet vor.

  Dennoch hatte ich große Angst um meine Leute. Wir hatten die Menschen als unverständlich abgetan, als nicht besonders interessante Wesen, die sich langsam

bewegten, schlecht rochen und ziemlich dumm waren.

  Jetzt, wo ich von dieser Wahnsinnigen auf der schnellen Maschine verfolgt und mit einer unbekannten Waffe bedroht wurde, die aus der Ferne tötete, kam es mir so vor, als sei die natürliche Ordnung zusammengebrochen. Sie war eine Göttin der Jagd, und ich war ihre Beute.

  Das Volk musste davon erfahren.

  Der Abstand zwischen uns vergrößerte sich, aber ich wusste, dass mich die Frau am Ende einholen würde. Sie war ein Jäger, und ein Jäger gibt ein verwundetes Beutetier niemals auf. So oder so, sie wurde mich kriegen.

  Im Winter müssen sich jene, die zu stark verletzt oder zu alt sind, der Gemeinschaft darbieten. Bis zum Opferstein war es nicht weit, er lag bei einem Hügel, der seit Urzeiten von unseren Höhlen durchlöchert war. Mein Wissen musste weitergereicht werden: Die Menschen waren gefährlich. Sie würden gute Beute machen.

  Ich erreichte mein Ziel, als die Monde am höchsten standen. Der flache Stein, auf den ich humpelnd zu rannte, war unbedeckt von Schnee. Von meinem Blutgeruch angelockt, kamen mehrere Leute aus den Höhlen hervor. Ich legte mich auf dem Opferstein nieder. Eine Großmutter des Volkes trat vor, leckte meine Wunde, kostete, überlegte. Dann stupste sie mich mit der Stirn an. Sie meinte wohl, die Wunde werde wieder heilen, und der Winter hatte gerade erst begonnen; mein Fleisch wurde noch nicht gebraucht.

  Ich blieb trotzdem liegen. Abermals stupste sie mich an. Ich weigerte mich wegzugehen. Sie winselte verwirrt. Ich leckte am Stein.

  Diesmal hatte sie mich verstanden. Zwei Leute traten vor und drückten mich mit ihrem Gewicht nieder. Ein dritter hob seine Tatze. Er zertrümmerte mir den Schädel, dann aßen sie.

  Magda schaute mit ihrem Nachtglas von einem benachbarten Höhenkamm aus zu. Sie sah alles mit an. Der Stein wimmelte von schlanken, schwarzen Ungeheuern. Es wäre gefährlich gewesen, zu ihnen hinunterzufahren, darum wartete sie und beobachtete das verwirrende Schauspiel. Sie hätte schwören mögen, dass der Larl hatte sterben wollen, und nun bewegten sich die Tiere zögerlich, beinahe mit ritueller Langsamkeit vor, um vom Gehirn zu kosten, die Jungen zuerst und dann die Alten. Sie hob das Gewehr, mit der Absicht, ein paar von diesen Bestien aus der Ferne zu erlegen.

  Dann geschah etwas Eigenartiges. Sämtliche Larle, die vom Gehirn gegessen hatten, sprangen fort und zerstreuten sich. Diejenigen, die noch nicht gegessen hatten, warteten verständnislos ab - leichte Ziele. Dann senkte wieder einer den Kopf und schleckte ein Fitzelchen vom Gehirn auf, schaute mit plötzlichem Begreifen hoch. Sie bekam es mit der Angst.

  Der Jäger hatte häufig von den Larlen gesprochen und gemeint, sie wären so schwer zu fassen, dass sie ihm manchmal intelligent vorkämen. »Ich freue mich schon drauf, im Frühling, wenn ich Munition für Fleischfresser erübrigen kann, ein paar von diesen Prachtexemplaren zu erlegen«, hatte er gesagt. Er war der Xenobiologe der Kolonie, und er liebte die Tiere, die er tötete, er verehrte sie, sogar dann, wenn er ihr Fleisch räucherte, ihre Haute gerbte und detaillierte Zeichnungen ihrer inneren Organe anfertigte. Magda hatte sich immer lustig gemacht über seine Theorie, wonach die Larle dadurch Einblick in die Gewohnheiten ihrer Beutetiere gewönnen, indem sie deren Gehirn verzehrten, obwohl er viel Zeit darauf verwandt hatte, die Tiere aus der Ferne zu beobachten und Beweise zu sammeln. Nun überlegte sie, ob er vielleicht doch Recht gehabt hatte.

  Als ihr Baby zu wimmern begann, steckte sie eine Hand unter ihren Pelz und gab ihm die Brust. Auf einmal erschien ihr die Nacht kalt und gefährlich, und sie dachte: Was mache ich hier eigentlich? Plötzlich schaltete sich ihr gesunder Menschenverstand wieder ein, ihr Zorn brach in sich zusammen wie ein Turm aus Eis, der unter der Gewalt des Sturms zerschellte. Weiter unten rannten schlanke schwarze Gestalten über den Schnee auf sie zu. Nach ein paar Sätzen wechselten sie die Richtung, um ihrem Gewehrfeuer auszuweichen.

  »Halt dich fest, mein Kleiner«, murmelte sie und wendete den Gleiter. Sie gab Gas.

  Magda hielt sich nach Möglichkeit an offenes Gelände, während ihr die Wesen in einigem Abstand folgten, Zweimal hielt sie unvermittelt an und richtete das Gewehr auf ihre Verfolger. Diese verschwanden augenblicklich in Schneewolken, duckten sich, ohne innezuhalten, und gruben sich unter der Oberfläche weiter auf sie zu. In der unheimlichen nächtlichen Stille vernahm Magda das flüsternde Geräusch der grabenden Tiere.

  Sie floh.

  Eine grauenhafte, zeitlose Weile später - der Himmel war im Osten immer noch nicht hell geworden - machte Magda einen Satz über einen zugefrorenen Bach, als der linke Ski des Gleiters gegen einen Felsen stieß. Die Maschine wurde nach oben geschleudert, die Stabilisatoren heulten auf, als sie das Gleichgewicht wiederherzustellen versuchten. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen setzte der Gleiter auf. Der eine Ski war verdreht und verbogen. Es würde umfangreiche Reparaturen erfordern, den Gleiter wieder einsatzbereit zu machen.

  Magda stieg ab. Sie öffnete ihren Pelzmantel und sah auf ihren Sohn hinunter. Er lächelte sie an und gab ein gurgelndes Geräusch von sich.

  Irgendetwas starb in ihr ab.

  Eine Närrin. Ich habe mich verhalten wie eine kriminelle Närrin, dachte sie. Magda war eine stolze Frau, die es stets abgelehnt hatte, irgendetwas im Nachhinein zu bedauern, selbst in ihrem Privatleben. Jetzt bedauerte sie alles: ihren Zorn, den Jäger, ihr ganzes Leben, alles, was sie bis an diesen Punkt gebracht hatte,

den daraus resultierenden Wahnsinn, der ihr Kind zu töten drohte.

  Auf der Anhöhe erschien ein Larl.

  Als Magda das Gewehr hob, duckte er sich. Sie wandte sich bergab und folgte dem Bach. Der Schnee war knietief, und sie musste aufpassen, damit sie nicht ausglitt und hinfiel. Kleine Schneelawinen rollten vor ihr her, wurden von anderen Schneelawinen überholt.

  Im Gehen schob sie eine Bugwelle vor sich her. Bis zur Jagdhütte war es gar nicht so weit; wenn Magda sie erreichte, würden Sie überleben. Aber eine Meile war im Winter ein weiter Weg. Sie hörte die Larle einander zurufen, leise, hustenähnliche Laute beiderseits der Schlucht. Sie folgten dem Geräusch, das sie beim Gehen machte. Sollten sie ruhig. Sie hatte immer noch das Gewehr, und dass bloß noch ein paar Patronen übrig waren, nun, das wussten die Larle jedenfalls nicht. Schließlich waren sie bloß Tiere.

  So weit oben in den Bergen gab es nur wenige Bäume. Magda stieg eine gute Viertelmeile weit ab, als ihr auf einmal Buschwerk den Weg versperrte und sie bergauf klettern musste, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Wo lang?, überlegte sie. Als zur Rechten dreimal gehustet wurde, kletterte sie den linken Hang

empor, wachsam und beklommen.

  Wir trieben sie vor uns her. Die ganze lange Winternacht über ließen wir uns jedes Mal, wenn sie sich zur falschen Seite wenden wollte, flüchtig blicken, und ließen sie ansonsten unbehelligt. Wir zeigten ihr, wie wir uns in der Ferne in den Schnee eingruben und reglos, unsichtbar warteten. Wir füllten den Wald mit unseren Schatten.

  Ganz allmählich bewegten wir sie zur Umkehr. Sie bemühte sich, die Hütte zu erreichen, aber sie schaffte es nicht. Wie benommen sie vor Angst und Verzweiflung war! Das witterten wir. Hin und wieder weinte ihr Kind, dann tröstete sie das nach Milch duftende Wesen mit einer vom Gefühl der Zwecklosigkeit ausgedörrten Stimme. Wir zwangen die Frau wieder in die Berge zurück. Gegen Ende versagten ihr mehrmals die Beine; es mangelte ihr an unserer Kraft und Ausdauer. An Geduld und Gerissenheit war sie uns jedoch ebenbürtig. Als wir uns einmal ihrer reglosen Gestalt näherten, tötete sie zwei von uns, bevor wir uns zurückziehen konnten. Wie wir sie liebten! Wir umkreisten sie, überzeugt davon, dass sie früher oder später fallen würde.

  Zur finstersten Stunde der Nacht hatten wir die Frau zu dem ausgehöhlten Hang zurückgetrieben, zu dem geheiligten Ort des Volkes, wo der Opferstein lag. In dieser Nacht erklomm sie zum zweiten Mal die Anhöhe und erblickte den Stein. Eine Weile stand sie hilflos da, dann brach sie in Tränen aus.

  Wir warteten, denn dies war der heiligste Moment der Jagd, der Zeitpunkt, da die Beute ihr Schicksal erkennt und sich damit abfindet. Nach einer Weile hörte ihr Schluchzen auf. Sie hob den Kopf und straffte den Rücken.

  Langsam, beharrlich schritt sie die Anhöhe herunter.

  Sie wusste, was sie zu tun hatte.

  Bei ihrem Anblick zogen sich die Larle in die Höhlen zurück, ihre funkelnden Augen verschmelzen mit der Dunkelheit. Magda beachtete sie nicht. Wie betäubt,

mit schmerzenden Gliedern und zu Tode erschöpft näherte sie sich dem Opferstein. Es gab keine andere Möglichkeit.

  Magda öffnete den Mantel, schnallte ihr Baby los. Sie wickelte es fest in den Pelz und legte das Bündel auf eine Seite des Steins. Als sie benommen das Bündel aufschlug und den süßen Kopf ihres Sohnes küsste, knurrte er. »Gut für dich, Kleiner«, sagte sie heiser.

  »Nur weiter so.« Sie war so müde.

  Sie zog ihren Pullover aus, ihre Weste, ihre Bluse. Die unbarmherzige Kälte biss mit Eiszahnen in ihr Fleisch. Sie streckte sich ein wenig, denn vom vielen Laufen hatte Sie Schmerzen am ganzen Leib. Gott, tat das gut. Sie legte das Gewehr ab. Sie kniete sich hin.

  Der Stein war schwarz von getrocknetem Blut. Sie legte sich flach darauf, so wie es zuvor der Larl getan hatte. Der Stein war kalt, so kalt, dass er den Schmerz beinahe auslöschte. Ihre Verfolger warteten in der Nähe und verfolgten gespannt, was sie da tat; sie hörte ihr leise schnaufendes Atmen. Ein Larl tappte geräuschlos an ihre Seite. Sein Geruch stieg ihr in die Nase. Er winselte fragend.

  Sie leckte am Stein.

  Als erst einmal klar war, was die Frau wollte, ging ihre Opferung rasch vonstatten. Ich hob die Tatze und zerschmetterte ihr den Schädel. Abermals war ich der Jüngste. Unschuldig beugte ich mich vor und kostete. Die Nachbarn versammelten sich gerade, hämmerten an der Tür, kletterten übereinander, um durch die Fenster zu spähen, wobei sie in ihrer Ungeduld die Wand ausbeulten und zum Atmen brachten. Ich grunzte und brüllte, und das Scheppern des Silbergeschirrs und das Klirren von Tellern vor der Tür wurde lauter. Wie bäurische Tiere versuchten die Angehörigen meines Mannes meine Schmerzenslaute mit Trinksprüchen und betrunkenen Witzen zu übertönen.

  Durch die Tür sah ich die knochenweiße, straff gespannte Schädelhaut von Tevin-dem-Narr, und hinter ihm einen Streifen Gesicht - eine scharfe Nase, weiße Wangen -, wie eine Maske. Die Türen und Wände pulsierten vom Gewicht, das dagegen drückte. Im Nebenzimmer rangelten Kinder miteinander, und die Älteren streichelten ihre langen weißen Bärte und schauten besorgt auf die geschlossene Tür.

  Die Hebamme schüttelte den Kopf, rote Linien zogen sich von ihren Mundwinkeln bis zum strengen Kinn. Ihre Augenhöhlen waren schattige Tümpel aus Staub. »Und jetzt pressen!«, schrie sie. »Mach hier nicht die faule Sau!«

  Ich stöhnte und machte einen Buckel. Als ich den Kopf zurückwarf, wurde er kleiner, wurde von den Kissen verschluckt. Mein Mann warf mir über die Schulter einen wütenden Blick zu, die Finger hinter dem Rücken ineinander verknotet.

  Ganz Landfall trieb sich draußen herum und lärmte.

  »Es kommt!«, kreischte die Hebamme. Sie griff an meinen blutigen Schoß und zog einen winzigen Kopf heraus, purpurfarben und wütend, wie ein Gnom.

  Und dann erglühten die Wände rot und grün und entfalteten riesige Blumen. Die Tür wurde orangefarben und sprang auf, und die Nachbarn und die Besatzung strömten herein. Die Decke wölbte sich empor, und Luftakrobaten stürzten zwischen den Dachsparren hervor. Ein Junge, der sich unter dem Bett versteckt hatte, flog lachend empor, dorthin, wo der uralte Himmel und die Sterne durchs Dach hindurchschienen.

  Sie hielten das blutige Kind auf einem Tablett hoch.

  An dieser Stelle berührte mich der Larl zum ersten Mal und legte mir seine schwere schwarze Tatze wie Samt aufs Knie, mit eingezogenen Krallen. »Hörst du mir auch zu?«, fragte er. »Kannst du die Wahrheit von der Einbildung trennen, erkennst du die Tatsachen in dem wilden Taumel von Emotionen, die uns vollkommen fremd waren? Ich konnte es genauso wenig. Dies alles, die erste Geburt eines menschlichen Jungen auf diesem Planeten, erlebte ich in einem Augenblick. Wie betäubt vor Ehrfurcht begriff ich die persönliche Tragödie und den kollektiven Triumph, der mit diesem Ereignis einherging, dazu die Bedeutung der dahinterstehenden Lebensweise und Kultur. Eben noch hatte ich gelebt wie ein Tier, mit den simplen Gedanken und Hoffnungen eines Tieres. Dann aß ich von deiner Vorfahrin und wurde in einem Augenblick zum Göttlichen emporgehoben.

  Was die Frau natürlich beabsichtigt hatte. Sie war gestorben in Gedanken an die Geburt ihres Kindes, damit wir Teil daran hätten. Das war ihr Vermächtnis an uns. Und sie gab uns noch mehr. Sie schenkte uns die Sprache. Bevor wir ihr Gehirn aßen, waren wir kluge Tiere, und hinterher waren wie denkende Wesen. Soviel verdankten wir ihr. Und wir wussten, was sie von uns gewollt hatte.« Der Larl streichelte meine Wange mit seiner großen, weichen Tatze, die elfenbeinernen Krallen verdeckt, aber sachte bebend, als wollten sie jeden Moment erwachen.

  Ich traute mich kaum zu atmen.

  »An diesem Morgen betrat ich Landfall, wobei ich den Gurt des Babys im Maul trug. Die meiste Zeit über hatte es geschlafen. In der Morgendämmerung ging ich so leise, wie ich es vermochte, über die leere Straße. Ich gelangte zum Haus des Ersten Captains. Drinnen vernahm ich Stimmengemurmel, die ganze Siedlung hatte sich zum Gottesdienst versammelt. Ich tippte mit der Tatze gegen die Tür. Auf einmal herrschte verblüfftes Schweigen. Dann wurde die Tür langsam und vorsichtig geöffnet.«

  Der Larl schwieg eine Weile. »Das war der Anfang der Beziehung zwischen dem Volk und den Menschen. Wir wurden freundlich in ihren Wohnungen aufgenommen, und wir halfen ihnen bei der Jagd. Niemand brauchte zu wissen, wie die Frau ums Leben gekommen war oder warum wir euch so gut verstanden.

  Dieses Kind, Flip, war dein Vorfahr, Alle paar Generationen nehmen wir einen der deinen mit auf die Jagd und kosten von seinem Gehirn, um die Nähe zu euch zu wahren. Wenn du ein braver Junge bist und einmal ebenso tapfer und rechtschaffen, ebenso intelligent und stattlich wirst wie dein Vater, dann werden wir dich vielleicht verspeisen.«

  Der Larl streckte mir seine stumpfe Schnauze entgegen, was vielleicht als freundliches Lächeln gemeint war. Vielleicht auch nicht; auch heute noch erscheint

mir sein Gesichtsausdruck unergründlich. Dann erhob er sich und tappte in das freundliche Dunkel des Steinernen Hauses davon.

  Ich starrte noch eine Weile in die Glut, bis meine zweitälteste Schwester - ihr Gesicht ein verschwommener Lichtflecken, wie das eines Engels - ins Zimmer kam und mich sah. »Komm schon, Flip, du verpasst ja alles.« Und ich ging mit ihr mit.

  Ist das alles wirklich geschehen? Das frage ich mich manchmal. Aber es wird spät, und deine Eltern sind nicht da. Mein Zimmer ist klein, aber gemütlich, mein Bett warm, aber leer. Wir können uns in den Decken vergraben und die Höhlenbären verscheuchen, indem wir die ältesten Winterspiele spielen, die es gibt.

  Du errötest! Nimm deine Hand nicht fort. Bald werde ich auf einer fernen Welt sein und für Leute, die du ebenso wenig kennst wie ich, in den Krieg ziehen. Soldaten altern langsam, weißt du. Wir werden in gefrorenem Zustand von Stern zu Stern transportiert. Wenn du einmal alt und rundlich und von deinen Enkelkindern umgeben bist, werde ich immer noch jung sein und an dich denken. Dann wirst du dich an mich erinnern, und deine Gedanken werden in die Leere hinaus ausstrahlen. Wirst du dann auch nichts bereuen? Willst du es wirklich tun?

  Früher habe ich mal geglaubt, ich könnte der Dunkelheit entkommen. Ich dachte... ich muss wohl gedacht haben, dadurch, dass ich zum Militär gehe, könnte ich meinem Schicksal entgehen. Doch dafür habe ich mein Zuhause und meine Familie aufgegeben, und am Ende kam trotzdem das Tier und fraß mir das Gehirn weg. Jetzt bin ich allein. In einem Monat wirst auf der ganzen Welt nur du dich noch an meinen Namen erinnern. Lass mich in deiner Erinnerung leben.

  Komm, sei nicht schüchtern. Lass die Vergangenheit Vergangenheit sein und lass uns weiterleben. So ist's gut. Bias die Kerze aus, Liebes, damit meine Geschichte auch einen Schluss hat.

  Dies alles geschah vor langer Zeit, auf einem Planeten, dessen Name aus meinem Gedächtnis gelöscht wurde.

Das Fest der Heiligen Janis

»Take a load off, Janis

And

You put the load right on me...«

THE WAIT (trad.)

  Wolf schaute im Morgennebel zu, wie der Yankee Clipper aus dem Hafen von Baltimore auslief. Die Ellbogen hatte er auf eine kühle, klamme Mauer gestützt, deren Oberfläche von den Berührungen zahlloser Hände geglättet worden war und die mit ziemlicher Sicherheit aus der Zeit vor dem Zusammenbruch datierte. Ein graues metallisches Funkeln an der Spitze des Fockmasts lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Antennenschüssel, die das Schiff mit dem geostationären Trickster-Meeressatelliten verband, der die Wind- und Strömungsverhältnisse übermittelte.

  Für viele war der ganz aus Holz erbaute Clipper mit seinen computerberechneten Tragflächen und handgenähten Segeln ein Symbol des Neuen Afrikas. Wolf hingegen, der ihn mit Meer und Himmel verschmelzen sah, wusste bloß, dass er ohne ihn nach Hause fuhr.

  Er drehte sich um und ging zurück zu einer Ansammlung von Nutzbauten, die sich am Ufer drängten. Das Klappern der Handkarren mischte sich mit einem Durcheinander exotischer Schreie und Rufe, der fremdartigen Musik eines Dutzends amerikanischer Dialekte. Hauptsächlich mit Overalls bekleidete Arbeiter wimmelten umher und ächzten und fluchten vor Erschöpfung, wenn ein Eisenrad in einer Schlammpfütze steckenblieb. Trotzdem hatten sie etwas Heimlichtuerisches und Verschlossenes an sich, als bewahrten sie ein uraltes Geheimnis.

  Als er den Kopf verdrehte, um einen Blick in die dunklen Tiefen eines Lagerhauses zu werfen, stieß Wolf mit einer Frau zusammen, die von Kopf bis Fuß in einen Chador gehüllt war. Sie wich vor ihm zurück, ihre Augen über dem schwarzen Schleier funkelten ihn an, dann eilte sie weiter. Sie hatten kein einziges Wort gewechselt.

  Wer Baltimore aus seiner ruhmreichen Zeit kannte, hätte die Stadt nicht wiedererkannt. Wo man die alten Gebäude nicht abgerissen und vergraben hatte, nahmen Baracken den Platz auf den Straßen in Beschlag, den früher die Autos für sich beansprucht hatten. Manchmal waren sie sogar über der Straße errichtet, so dass aus Gassen Tunnel wurden, und diese stürzten bisweilen ein, was jedes Mal zu viel Geschrei und großer Bestürzung unter den Einheimischen führte.

  Wieder ein Tag, an dem es nichts zu tun gab. Er konnte sich eine Filtermaske aufsetzen und die Ruinen von Washington besichtigen, aber das hatte er bereits getan, und außerdem würde es ein heißer Tag werden.

  Dass er etwas über die Mission erfahren würde, schien nach dem monatelangen Warten auf die amerikanischen Beamten, die nicht mit ihm reden wollten, unwahrscheinlich. Wolf beschloss, in seiner Herberge nachzusehen, ob es irgendwelche Nachrichten für ihn gab, und den Rest des Tages in den Basaren zu verbringen.

  Kinder spielten vor dem Gasthof auf der Straße. Als er näher kam, zerstreuten sie sich. Ihm fiel auf, dass eines hinter den anderen zurückblieb, weil es von einem verunstalteten Bein am Laufen gehindert war. Er zwängte sich an einem alten Mann vorbei, der am Fuß der Treppe saß, und stieg die unbehandelten Holzstufen hoch. Der alte Mann legte gerade mit fatalistischem Desinteresse für ihre Botschaft Tarotkarten aus; er sah nicht auf.

  Die Glocke über der Tür tat bimmelnd Wolfs Eintreffen kund. Er betrat das dunkle Foyer.

  Rechts und links von ihm tauchten zwei Männer in den schwarzen Uniformen der politischen Polizei auf. »Wolfgang Hans Mbikana?«, fragte der eine mit routinierter Langeweile in der Stimme; er kannte die Antwort. »Sie müssen mit uns kommen«, sagte der andere.

  »Das muss ein Irrtum sein«, wandte Wolf ein.

  »Nein, Sir, das ist kein Irrtum«, meinte der eine sanft.

  Der andere öffnete die Tür. »Nach Ihnen, Mr. Mbikana.«

  Der alte Mann schaute blinzelnd zu ihnen hoch, sah wieder weg und verschwand von der Treppe.

  Die Polizisten geleiteten Wolf zu einem alten Verwaltungsgebäude. Sie stiegen die im Laufe der Jahrhunderte von zahllosen Füßen abgewetzten Marmorstufen hoch und durchquerten eine leere Lobby. Tief im Innern des Gebäudes blieben sie vor einer unscheinbar wirkenden Tür stehen. »Sie werden erwartet«, sagte der erste Polizist.

  »Ich bitte um Verzeihung?«

  Die Polizisten gingen fort und ließen ihn einfach stehen. Behutsam klopfte er an die Tür. Als niemand antwortete, öffnete er sie und trat in den Raum.

  Mitten im Zimmer saß hinter einem Schreibtisch eine Frau. Obwohl sie modern gekleidet war, trug sie einen Schleier. Möglich, dass sie jung war; das ließ sich kaum sagen. Ein kurzes Blinzeln und eine Handbewegung wiesen ihn zur offenen Tür eines Hinterzimmers. Es war, als dränge man bis zum Mittelpunkt einer Zwiebel vor, durch eine geheimnisvolle Schicht nach der anderen.

  Hinter dem letzten Schreibtisch saß ein kräftig gebauter Mann. Er trug einen konventionellen Anzug und eine Krawatte, wie sie für amerikanische Geschäftsleute typisch waren. Sein bewegliches, ausdrucksstarkes Gesicht oder der durchdringende Blick, mit dem er Wolf musterte, hatten jedoch nichts Wunderliches oder Altmodisches an sich.

  »Nehmen Sie Platz«, brummte er und deutete auf einen alten, dickgepolsterten Stuhl. Dann: »Charles DiStephano. Comptroller bei der Northeast Regional. Sie sind Mbikana, stimmt's?«

  »Jawohl, Sir.« Wolf setzte sich bereitwillig auf den angebotenen Stuhl, der keineswegs sauber schien. Allmählich wurde ihm alles klar; DiStephano war einer der Männer, auf die er seit Monaten wartete, genaugenommen der wichtigste von allen. »Ich vertrete...«

  »Die Handelsgesellschaft von Südwestafrika.« DiStephano hob einige Dokumente vom Schreibtisch hoch. »Hier steht, unter anderem hätten Sie im Austausch für das Recht, Studenten auf der John Hopkins unterzubringen, von Ihrem über Nordamerika stationierten Cojote-Bodensatelliten stammende Informationen über Bodenschätze anzubieten. Ich finde, das ist ein seltsames Angebot für Ihre Organisation.«

  »Das sind meine Papiere«, entgegnete Wolf. »Als Bürger von Südwestafrika bin ich eine derart rücksichtslose Behandlung nicht gewöhnt.«

  »Jetzt hören Sie mir mal zu, junger Mann, ich bin Geschäftsmann. Ich habe keine Zeit, über Ihre Rechte zu diskutieren. Die Papiere liegen mir vor, ich habe sie gelesen, die Leute, die Sie geschickt haben, wussten, dass ich's tun würde. Okay? Daher weiß ich, was Sie wollen und was Sie zu bieten haben. Was ich wissen will, ist, warum Sie uns dieses Angebot machen.«

  Wolf war durcheinander. Er war ein zivilisierteres, bedächtigeres Geschäftsgebaren gewohnt. Die Oldtimer von der HSWA hatten ihn gewarnt, dass man hier ein anderes Tempo anschlagen würde, doch es mangelte ihm an der nötigen Erfahrung, um ihre versteckten Hinweise und Andeutungen zu verstehen. Schmerzhaft deutlich war er sich der Tatsache bewusst, dass er diesen hochdotierten Auftrag mit dem Versprechen eines Bonus nur deshalb bekommen hatte, weil er bei den Älteren keinen Anklang gefunden hatte.

  »Amerika wurde am schwersten getroffen«, sagte er, »aber der Zusammenbruch war weltweit.« Er überlegte, ob er das System der kollektiven sozialen Verantwortung erläutern sollte, auf dem die afrikanische Wirtschaft beruhte. Dann entschied er sich dagegen, selbst wenn DiStephano nichts darüber wissen sollte. »Es gibt immer noch Probleme. In Afrika kommen überdurchschnittlich viele Kinder mit Behinderungen zur Welt.« Weil Amerika seine Gifte exportiert hat; seine Chemikalien und Pestizide und seine Nahrung mit einem Hexengebräu an Konservierungsstoffen. »Wir hoffen, das Problem lösen zu können; wenn wir eine größere Anstrengung unternehmen, können wir den Genpool in weniger als hundert Jahren säubern. Dafür sind jedoch Spezialisten nötig - Eugeniker, Embryonenchirurgen -, und die, die wir haben, sind zweite Wahl. Die besten kommen immer noch von Ihren medizinischen Hochschulen.«

  »Wir können keine erübrigen.«

  »Wir beabsichtigen nicht, Ihnen die Ärzte zu rauben. Wir würden unsere eigenen Studenten herschicken - voll ausgebildete Ärzte, die nur noch eine Spezialausbildung brauchen.«

  »Die Kapazitäten der Hopkins-Universität sind beschränkt«, meinte DiStephano. »Und die der U von P oder des UVM-College desgleichen.«

  »Wir sind bereit...« Wolf fasste sich kurz. »Das steht in den Papieren. Wir werden so viel bezahlen, dass Sie die Kapazitäten auf die doppelte Anzahl der von uns benötigten Studienplätze erweitern können.« Der Raum war düster und bedrückend. Wolf brach unter der Kleidung der Schweiß aus.

  »Das mag sein. Aber mit Geld kann man keine Lehrer kaufen.« Wolf sagte nichts. »Außerdem habe ich große Bedenken, Ihre Leute auch nur in die Nähe unserer Mediziner zu lassen. Sie haben ihnen Geld und Grundbesitz zu bieten - Dinge, die sich unser Land nicht leisten kann. Und wir brauchen unsere Ärzte. So wie's aussieht, können sich nur die ganz Reichen die erforderliche Korrektivchirurgie leisten.«

  »Wenn Sie Sorge haben, dass wir Ihre Spezialisten ködern könnten, so kann man da doch Vorkehrungen treffen. Wir könnten beispielsweise eine Klausel vereinbaren, die besagt...« Wolf wurde zunehmend sicherer. Er kam voran. Wenn keine Aussichten auf einen Abschluss bestanden hätten, wäre das Gespräch niemals so weit gekommen.

  Die Zeit verstrich, DiStephano rief Berater hinzu und schickte sie wieder hinaus. Zweimal ließ er Getränke hereinbringen. Einmal legte er eine Essenspause ein. Die Hitze nahm allmählich zu, bis drückende Schwüle herrschte. Schließlich dunkelte es draußen, und die Hitze war nicht mehr so unerträglich.

  DiStephano teilte die Dokumente in zwei Stapel, reichte den einen Wolf und legte den anderen in eine Schreibtischschublade. »Ich werde mir das mal anschauen und von unseren Anwälten durchsehen lassen. Eigentlich dürfte es keine Probleme geben. Wenn alles geklärt ist, werde ich mich wieder an Sie wenden - sagen wir, in einem Monat. Am einundzwanzigsten September bin ich in Boston, und wenn Sie ein bisschen herumfragen, werden Sie mich ohne Schwierigkeiten finden.«

  »In einem Monat? Aber ich dachte...«

  »In einem Monat. Die Verwaltung lässt sich nicht scheuchen«, sagte DiStephano mit Nachdruck. »Ms. Corey!«

  Die verschleierte Frau erschien in der Tür, unnahbar, unzugänglich. »Sir.«

  »Holen Sie Kaplan aus seinem Büro. Sagen Sie ihm, wir hätten hier einen jungen Mann, der die VIP-Behandlung verdient. Vielleicht eine kleine Show. Es geht um die Hopkins, und er soll was tun für sein Geld.«

  »Ja, Sir.« Und weg war sie,

  »Ich danke Ihnen«, sagte Wolf, »aber Sie brauchen wirklich keine...«

  »Hören Sie auf meinen Rat, junger Mann, nehmen Sie an Zerstreuungen mit, was Sie kriegen können. Gott ist mein Zeuge, soviel davon gibt's nicht mehr. Kaplan wird Sie in einer Stunde in Ihrem Gasthof abholen.«

  Kaplan entpuppte sich als ein schmächtiger Mann mit sich lichtendem Haar und nervösen Gesten, irgendeine Art von Verwaltungsangestellter im Dienste der Hopkins-Universität. Wolf wurden die Zusammenhänge nie ganz klar. Kaplan war von Wolfs Status jedoch ebenso verwirrt, und Wolf machte sich ein Vergnügen daraus, ihn darüber im Unklaren Zu lassen. Das war eine Art Entschädigung dafür, dass man ihm die Papiere entwendet hatte.

  Kaplan führte Wolf durch die abendlichen Straßen. Ein leuchtender Sonnenuntergang umspannte die Welt, und das Gedränge hatte erheblich nachgelassen. »Wir werden das elektrifizierte Gebiet nicht verlassen«, meinte Kaplan. »Ansonsten rate ich von nächtlichen Ausflügen generell ab. Gibt eine Menge Blödies dort draußen.«

  »Blödies?«

  »Stumme. Ausschuss. Die wirklich schweren Fälle. Manche können sich tagsüber nicht mal in Overalls umherbewegen. Oder im Chador - viele sind Frauen.« Das Gesicht des Mannes nahm einen leicht perversen Ausdruck an, von dem nur ein schmieriger Abdruck zurückblieb.

  »Wo gehen wir hin?«, fragte Wolf. Er wollte das Thema wechseln. Eine leise böse Vorahnung sagte ihm, dass er den Grund für Kaplans Gesichtsausdruck gar nicht wissen wollte.

  »Zu einem Lokal namens Peabody's. Haben Sie schon mal von Janis Joplin gehört, unserer berühmten Nationalsängerin?«

  Wolf nickte, was eigentlich nein bedeutete.

  »Die Show bringt sie wieder auf die Bühne. Maggie Horowitz ist die beste Janis-Darstellerin, die ich je gesehen habe. Es ist fast unmöglich, an Eintrittskarten heranzukommen, aber die Hopkins verfügt in diesem Fall über besonderen Einfluss - ah, da wären wir.«

  Kaplan geleitete ihn eine Betontreppe hinunter und in ein schummriges Backsteingebäude hinein. Wolf fühlte sich kurzzeitig desorientiert. Sie befanden sich in einer Buchhandlung. Um ihn herum waren Regale und Kisten voller Bücher, das papierene Durcheinander einer Packratte.

  Wolf wäre am liebsten noch geblieben und hätte die alten Wälzer durchstöbert, Überbleibsel einer Zeit und Kultur, die rasch der Vergessenheit und dem Mythos anheimfielen. Kaplan jedoch stürmte daran vorbei, ohne ihnen auch nur einen Blick zu gönnen, und Wolf musste sich beeilen, um ihn wieder einzuholen.

  Sie kamen durch einen zweiten Raum voller Bücher, dann gelangten sie in einen Korridor, wo ihnen ein grauhaariger Mann seine schwielige Hand entgegenstreckte und sagte: »Die Eintrittskarten, bitte.«

  Kaplan reichte dem Mann zwei steife Pappkarten, worauf sie in einen dritten Raum eingelassen wurden.

  Es war ein Cabaret. Holzstühle waren um kleine Tische gruppiert, auf denen flackernde Kerzen standen. An der Decke waren Holzbalken, und die eine Wand nahm ein großer unbenutzter Kamin ein. Eine andere Wand hatte man anscheinend irgendwann eingerissen, um Platz für eine kleine Bühne zu schaffen. Die im Laufe eines Jahrhunderts angehäuften Erinnerungsstücke bedeckten die Wände oder hingen von den Deckenbalken, wie barbarische Schmuckstücke aus versunkenen Reichen.

  »Das Peabody's ist eine örtliche Institution«, meinte Kaplan. »Im zwanzigsten Jahrhundert war es eine Flüsterkneipe. H. L. Mencken persönlich hat hier verkehrt.« Wolf nickte, obwohl ihm der Name nichts sagte. »Die Buchhandlung war die Fassade, und getrunken wurde hier hinten.«

  Der Ort war vergangenheitsschwanger. Er beschwor Amerikas verflossene Zeit als Weltmacht herauf. Wolf hätte sich nicht gewundert, wenn Theodore Roosevelt oder Henry Kissinger hereinspaziert wären. Als er diesbezüglich eine Bemerkung machte, lächelte Kaplan selbstgefällig.

  »Dann wird Ihnen die Vorstellung gefallen.«

  Ein Ober nahm ihre Bestellungen auf. Sie hatten kaum Zeit gehabt, an ihren Drinks zu nippen, als zwei Scheinwerfer angingen und sich der Bühnenvorhang teilte.

  Eine Frau stand allein mitten auf der Bühne. An den Handgelenken hatte sie Armreifen und -spangen, außerdem trug sie auffällige Halsketten. Ihre Brustwarzen drückten gegen das dünne Kleid. Wolf begaffte sie mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Sie hatte ein zweites Paar Brüste, gleich unter dem ersten.

  Die Frau stand vollkommen reglos da. Wolf konnte nicht aufhören, ihre Brüste anzustarren; das lag nicht bloß an ihrer Anzahl, sondern eher daran, dass sie überhaupt zu sehen waren. So rasch hatte er die Tabus dieses Landes verinnerlicht.

  Die Frau warf den Kopf zurück und lachte. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte, schob die andere Hüfte vor und führte das Mikrofon an die Lippen. Sie sprach, und ihre Stimme war rau und krächzend.

  »Vor etwa einem Jahr lebte ich noch in einem Reihenhaus in Newark, stimmt's? Ich wohnte im dritten Stock, und ich dachte, ich hätte meine Nummer fertig. Aber nichts lief richtig, es fehlte irgendwie an Ausdruck. Wisst ihr, was ich meine? Es kam einfach nichts rüber. Und da war diese Kleine ein paar Häuser weiter, war nicht viel an ihr dran, kam aber trotzdem gut zurecht, und ich dachte mir: Was ist los, Janis? Wie kommt's, dass die so gut klarkommt, und du trittst auf der Stelle? Also beschloss ich, herauszufinden, was sie hatte und ich nicht. Eines Tages stehe ich also früh auf, gucke aus dem Fenster und seh die Kleine auf der Straße rackern! Ich meine, sie fegte mittags den Bürgersteig! Also sagte ich mir, Janis, Schätzchen, du probierst es ja nicht mal. Und wenn du Action willst, musst du's probieren. Yeah. Try just a little bit harder.«

  Aus dem Nichts erklang die Musik, und sie sang: »Try-iii, Try-iii, just a little bit harder...«

  Es war unerwartet gut. Es war anders als alles, was er je gehört hatte, aber er verstand es, beinahe auf einer instinktiven Ebene. Es war Weltmusik. Es war universell.

  Kaplan grub seine Finger in Wolfs Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Sehen Sie? Sehen Sie?« Wolf schüttelte ihn ungeduldig ab. Er wollte die Musik hören.

  Das Konzert dauerte ewig, und es war im Nu vorbei. Anschließend fühlte Wolf sich verschwitzt und emotional erschöpft. Die Frau auf der Bühne war die personifizierte Energie. Sie tanzte, sie stolzierte umher, sie heulte mit übermenschlicher Eindringlichkeit in ihr Mikrofon. Obwohl er das Original nicht kannte, war Wolf überzeugt davon, dass es eine perfekte Imitation war. Genauso fühlte es sich an.

  Das Publikum war begeistert. Sie musste drei Zugaben singen und dann noch eine vierte. Schließlich kam sie wieder heraus und keuchte ins Mikrofon: »Ich liebe euch, Leute, ehrlich. Aber, bitte - jetzt reicht's. Ich kann einfach nicht mehr.« Sie warf den Zuschauern eine Kusshand zu, und dann war sie von der Bühne verschwunden.

  Das Publikum war geschlossen von den Plätzen aufgesprungen, auch Wolf, der begeistert applaudierte. Als sich eine Hand auf Wolfs Schulter legte, blickte er erbost zur Seite. Es war Kaplan. Mit gerötetem Gesicht meinte er: »Kommen Sie.« Er zog Wolf aus der Menge hervor und bugsierte ihn hinter der Bühne zu einer kleinen Garderobe. Die Tür stand offen, darin drängten sich mehrere Personen.

  Eine davon war die Sängerin, die mit strähnigem, wirrem Haar lachte und mit einer Flasche Southern Comfort gestikulierte. Es war eine antike Flasche mit lackiertem Etikett, die zu drei Vierteln mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.

  »Janis, das ist.«, setzte Kaplan an.

  »Ich heiße Maggie«, sang sie ausgelassen. »Maggie Horowitz Ich bin keine tote Bluessängerin. Dass ihr das bloß nicht vergesst.«

  »Das ist ein Fan von dir, Maggie. Aus Afrika.« Er versetzte Wolf einen kleinen Schubs. Verlegen grimassierend stolperte Wolf nach vorn.

  »Juppi-Juuuh!«, frohlockte Maggie. Sie genehmigte sich einen Schluck aus der Flasche. »Echt nett, dich kennenzulernen, Ace. Ziemlich hellhäutig fürnen Afrikaner, wie?«

  »Meine Mutter stammte von deutschen Siedlern ab.« Und man hatte gemeint, ein hellhäutiger Abgesandter käme mit den empfindlichen Amerikanern besser zurecht, doch das sagte er nicht.

  »Und wie heißte, Ace?«

  »Wolf.«

  »Wolf!«, schrie Maggie. »Yeah, du siehst aus wien richtiger Herzensbrecher, Schätzchen. Schätze, ich muss wohl aufpassen in deiner Nähe, stimmt's? Sonst legst du mich noch flach und deflorierst mich.« Sie stupste ihn mit dem Ellbogen an. »Das war ein Witz, Ace.«

  Wolf war fasziniert. Maggie war lebendig, zehnmal lebendiger als ihre Landsleute. Im Vergleich zu ihr wirkten sie wie Zombies. Außerdem machte sie ihm ein bisschen Angst.

  »Hey. Wie fandste eigentlich meinen Gesang?«

  »Er war wunderbar«, sagte Wolf. »Er war...« Er suchte nach Worten. »Bei mir zuhause ist die Musik leiser, nicht so emotional.«

  »Yeah, also